Evita Perón - Alicia Dujovne Ortíz - E-Book
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Evita Perón E-Book

Alicia Dujovne Ortiz

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Beschreibung

Hure, Heilige, Idol?

Eine Frau, die noch faszinierender war als ihr Mythos 

Evita, die idealisierte Gestalt des großen Musicals, Heilige der besitzlosen Massen, skrupellose Intrigantin für ihre Gegner: Wer war diese Frau wirklich, die aus ärmlichsten Verhältnissen stammte und bei ihrem Tod mit ganzen 33 Jahren als eigentliche Herrscherin Argentiniens gelten konnte? Beharrliche Recherche und sensible Annäherung verbinden sich in dieser definitiven Biographie zum Bild einer Frau, die faszinierender war als ihr eigener Mythos. 

»Diese Biographie ist kein sprödes Geschichtsbuch, ein Roman könnte kaum fesselnder sein.« Süddeutsche Zeitung 

»Eine historisch fundierte Biographie; Dujovne Ortiz gibt einen Einblick in den kuriosen Prozess der Legendenbildung.« Frankfurter Rundschau

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Seitenzahl: 697

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Über Alicia Dujovne Ortíz

Alicia Dujovne Ortíz, geboren in Buenos Aires, lebt seit 1978 in Frankreich. Ihre Buchveröffentlichungen umfassen Gedichtbände, erzählende Prosa und Biographien. Sie schrieb regelmäßig Beiträge für das Feuilleton großer südamerikanischer und europäischer Zeitungen, besonders für »Le Monde«.

Petra Strien-Bourmer, promovierte Romanistin, lebt als Übersetzerin von Belletristik und Lyrik in Köln. Sie hat zahlreiche Romane, Erzählungen, Lyrik spanischer und lateinamerikanischer Autoren übersetzt (u.a. Laura Esquivel, Angeles Mastretta, Bioy Casares, Lugones, Rosario Castellanos, Enrique Vila-Matas, Juan Gelman, José; Angel Valente).

Informationen zum Buch

Evita, die idealisierte Gestalt des großen Musicals, Heilige der besitzlosen Massen, skrupellose Intrigantin für ihre Gegner: wer war diese Frau wirklich, die aus ärmlichsten Verhältnissen stammte und bei ihrem Tod mit nur 33 Jahren als eigentliche Herrscherin Argentiniens gelten konnte? Beharrliche Recherche und sensible Annäherung verbinden sich in dieser definitiven Biographie zum Bild einer Frau, die faszinierender war als ihr eigener Mythos.

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Alicia Dujovne Ortíz

Evita Perón

Die Biographie

Aus dem Spanischen von Petra Strien-Bourmer

»Über Evita wurde schon alles gesagt. – Oder vielleicht muss noch alles gesagt werden«.

Eva Perón kurz vor ihrem Tod.

Inhaltsübersicht

Über Alicia Dujovne Ortíz

Informationen zum Buch

Newsletter

1 Uneheliche Geburt

Die Krise findet ihren Ausdruck im Tango

Norma Shearer in Junín

2 Schauspielerin

Ein Prinz kann sich als ein anderer entpuppen

Tränen im Radio

3 Die Geliebte

Ein Erdbeben, das die Geschichte erschüttert

Peróns Lebensgeschichte

Jähzorn

Die blonde Madonna

Befreiende Ohrfeige

Ein Hahnentrittkostüm für eine bessere Welt

4 Anerkennung

Das Mekka der Nazis

Büffel; Musketiere und wütende Militärs

Ein Paar in Not

Evita verwaist

Ein Liebesbrief

Venus macht sich schuldig

5 Die Gattin

Im Zug

Die nackten Schultern der Präsidentin

Die Orange der Macht

Erste Waffen

Der Biss in die Juwelen

Fliegenhaar

Späße und gute Ratschläge

6 Botschafterin

Abschiednahme

Das Lächeln von Carmen Franco

Gottes Stellvertreter

Nebelschleier

Die Ureinwohner von Paris

Tomaten und Rätsel

Roter Teppich

7 Stiftungsgründung

Folter

Ausschaltung

Ein Goebbels-Abklatsch

Der Mate aus Schlamm

Unermessliche Liebe

Tiefe Liebe

Der Bonbonkrieg

Evita am frühen Morgen

8 Verzicht

Der zensierte Sinn

Bilder und Trugbilder

Hinter dem Vorhang

Informationsaustausch: Die Krankheit

Informationsaustausch: Die Macht

Der Ruhm des Scheiterns

Peróns Hemd

Der Arm in Gips

9 Märtyrerin, Mumie, Heilige und Großmutter

Schön für immer

Die Frau gehört mir

Der Herbst des Patriarchen

Eine Kugel im Kopf

Ewiges Exil

Weiß, Schwarz und Rot

Der versehrte Leichnam

Rückkehr ins Land des Vergessens

Impressum

1Uneheliche Geburt

Evitas Kindheit. Der Geburtsort. Die Indios. Der Großgrundbesitzer und die Köchin. Die Geschwister. Die Beerdigung des Vaters. Abgeschiedenheit. Die lahme Puppe. Das verbrannte Gesicht. Die Flucht nach Junín. Eintausendachthundert glückliche Argentinier. Evita möchte eine andere sein. Regentage. Das Kino. Evita und das Theater. Die bösen Jungens. Evita geht fort.

Die Hanfschuhe waren schwarz und die Schürze weiß. Doch im Laufe der Woche wurde alles grau. Am Freitag hatte der Straßenstaub diesen sozialen Unterschied aufgehoben. Der Präsident Domingo Fausto Sarmiento, ein Idealist des neunzehnten Jahrhunderts, hatte weiße Schürzen als Schuluniform eingeführt, da er keine Klassenunterschiede wünschte. Die Kluft zwischen reichen und armen Landeskindern sollte nach europäischem Muster mit diesem Schneeweiß auf wundersame Weise verschwinden. Mit seinem Buch FACUNDO, CIVILISACION O BARBARIE (Facundo, Zivilisation oder Barbarei) hatte Sarmiento dem nationalen Bewusstsein diese Idee unauslöschbar eingebrannt: Europa war die Zivilisation, und in Argentinien herrschte Barbarei. Sarmientos Traum schien mit den adretten, kultivierten Schürzen dieser kleinen freien, gleichen und brüderlichen Schüler wahr zu werden, obwohl die ewig zerlöcherten Hanfschuhe, die Alpargatas, aus denen stets ein Freiheit suchender Zeh lugte, dann doch ihre tatsächliche Barbarei verrieten. In seiner Begeisterung hatte Sarmiento die Füße vergessen: der tiefe Graben, der den Schüler mit Lederschuhen von dem mit Alpargatas trennte.

Evita gehörte zu letzteren, wenn auch nicht unwiderruflich. Denn im Gegensatz zum Überfluss ist die Armut kein definitiver Zustand (daher ihre Ängste und Hoffnungen). In dieser ungewissen Lage war alles denkbar: spiegelnde Lackschuhe, von den Schwestern geerbt, oder die Spuren der Hanfsohlen auf dem lehmigen Schulweg. Was immer gleich blieb, war die Sauberkeit: Doña Juana, ihre Mutter, eine robuste, doch hübsche, immer nach Seife duftende Frau, stärkte und bügelte die Schürzen ihrer Töchter zweimal pro Woche. Am Donnerstag kamen Eva und ihre Schwester Erminda so adrett in die Schule wie am Montag. Ein seltener Luxus: Selbst die Schürzen der Schülerinnen, die nie Alpargatas trugen, waren am Donnerstag voller Tintenflecken. Aber auch ein verdächtiger Luxus: Welche Sünden wollte die reinliche Frau auf diese Weise wohl fortwaschen?

»Du bist gar keine Duarte, du bist eine Ibarguren«. Beim Betreten der Klasse hatte Erminda diese gefürchteten Worte an der Tafel entdeckt. Sie war in Tränen ausgebrochen, und die anderen Schüler hatten entweder Mitleid gezeigt oder sie ausgelacht. Jetzt hockte Erminda auf einem künstlichen Felsen auf dem Dorfplatz und schilderte ihrer jüngeren, stumm lauschenden Schwester Evita diesen schlimmen Augenblick.

Der Platz von Los Toldos unterschied sich in nichts von allen anderen argentinischen Dorfplätzen. Schule, Kirche, Rathaus, Bank und Kramladen säumten ihn, und mitten auf dem freien Gelände, das zum Flanieren und Spielen gedacht war und wo jeder jeden bespitzelte, thronte das Standbild. Natürlich das von General José de San Martín, dem Helden, der zwei Länder vom spanischen Joch befreit und dann die argentinische Tradition des Exils begründet hatte. Sein Heldentum wurde bewundert, aber sein Rückzug nach Boulogne-sur-Mer warf auch unbequeme Fragen auf: Was bedeutete »freiwilliges Scherbengericht?« Wie viele argentinische Kinder hatten sich über diese Frage schon den Kopf zerbrochen! Blieb die Zivilisation damals in Europa? War der Befreier aus freien Stücken dort zu den Austern gegangen? Das war alles irgendwie merkwürdig! Aber vielleicht handelte es sich gar nicht um San Martíns Standbild. In diesen Pampanestern, die sich hinziehen wie ein langes Gähnen, schenkte man den Toten kaum Aufmerksamkeit. Es gab sicher einen Grund dafür, dass der Nationalheld mitten auf dem Platz thronte, mit seinem Säbel hoch zu Ross. Auf dem Felsen kauernd, interessierten sich die Mädchen nicht dafür. Sie hatten andere Probleme: Warum hieß es in Los Toldos, ihr Name sei nicht Duarte?

Der aus Gleichgültigkeit für San Martín gehalten wurde, war nicht das einzige Standbild. Es gab noch andere, unbedeutendere Helden und, senkrecht auf dem Rasen, zwei Wappen: das argentinische mit Jakobinermütze und Lorbeerzweig und das des Ortes General Viamonte, der seinen Namen einem anderen Kriegshelden des neunzehnten Jahrhunderts, Juan José Viamonte, verdankt. Dieses Wappen zeigte eine Kuh, einen Maiskolben, eine Indianerlanze und eine weiße Hand, die eine andere – mehr oliv- als kupferfarbene – schüttelte. Die gesamte Stadtgeschichte kam darin zum Ausdruck. Los Toldos trug seinen Namen wegen der Indios und ihrer Zelte (TOLDERIAS), und die dunkle Hand erinnerte an die Indios. Früher war der Ort ein kleines Dorf, in der Provinz Buenos Aires gelegen, einem fruchtbaren, doch melancholischen Landstrich, weshalb man auch von »feuchter Erde« spricht. Evita lebte mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern nicht mehr auf der Estancia La Unión, die ihrem Vater Juan Duarte gehörte. In früheren, glücklicheren Tagen war sie von dort mit ihrem Vater ins Dorf gefahren. Er hatte sie auf den leichten, zweirädrigen Wagen gehoben und neben ihr Platz genommen. Durchgerüttelt beim Trab der Pferde, die der Vater immer wieder mit den Zügeln antrieb, sah Evita lange den Indios nach, die auf halbem Weg zwischen der Estancia und dem Dorf lebten. Fuhrleute, die Weizen für ihren Vater zum Bahnhof transportierten. Man nannte sie Coliqueos.

Dass sie hier mitten in der Provinz Buenes Aires lebten, war ungewöhnlich. Bis 1879 hatte General Rosas’ »Wüstenkampagne« die gesamte Pampa von den letzten Indios »gesäubert«. Außerdem waren die Coliqueos Mapuche-Indianer aus Chile. Sie hatten sich 1862 in der Gegend niedergelassen. Ihr Cacique, Ignacio Coliqueo, hatte sich mit seinem Stamm den Truppen von General Urquiza angeschlossen, dem Gouverneur des Zweistromlands Entre Ríos und Sieger über den Tyrannen Rosas. (Später sollte Evita die Coliqueos verurteilen, wenn auch nicht allzu streng, weil sie ihnen immer noch zugetan war: denn der Peronismus rehabilitierte Rosas, den Caudillo der Föderalen, der sich 1830 zum Diktator des Landes aufschwang und den die Gauchos und die Dunkelrassigen verehrten. Er war ein großer Feind Englands, wohin er dann doch später ins Exil ging, obwohl die Geschichtsbücher in seinem Fall zur großen Verwirrung der Schüler nicht von Scherbengericht sprechen, was ausschließlich San Martín vorbehalten ist). Nachdem die Coliqueos also mit ihrer olivfarbenen Hand zum Sieg über Rosas beigetragen hatten, gründeten sie ein Dorf an der Stelle des heutigen Los Toldos, das zweimal hintereinander von anderen Stämmen, die Rosas folgten, zerstört wurde.

All das konnte Evita nicht wissen. In der Schule hatte sie es nicht gelernt. Die meisten Schulbücher beschränkten sich darauf, die traditionellen Muster indianischer Töpferarbeiten zu beschreiben. Weder in der Schule noch im Dorf hatte Evita von diesen Dingen erfahren. Wer wusste das denn noch in Los Toldos? Argentinien hat eine kurze Geschichte und versteht es meisterhaft zu vergessen.

Um die Gegenwart jener aus Gewohnheit nicht mehr wahrgenommenen Überlebenden zu bemerken, brauchte man einen ebenso unvoreingenommenen wie einen verzweifelten Blick: den Blick eines einsamen kleinen Mädchens. Bei den Indios entdeckte Evita jene Spuren der Trostlosigkeit, an denen sie Jahre später ohne Zögern ihr »Volk« erkennen sollte. Sie konnte sie kaum übersehen, wo doch ihrem eigenen kleinen Mädchenkörper eben diese untrüglichen Zeichen eingebrannt waren. Andererseits waren Verstehen und Dankbarkeit für sie eins: erkennen hieß auch dankbar sein. Und gerade den Indios war sie verpflichtet. Am 7. Mai 1919, dem Tag ihrer Geburt, war ihrer Mutter eine Hebamme zu Hilfe geeilt. Es war ein regnerischer Morgen gewesen. Die Geburtshelferin, die sich Unwetter und verschlammten Wegen ausgesetzt hatte, gehörte zum Stamm. (Sie hieß Juana, wie die Gebärende, Juana Guaquil. Wie hätte sie auch anders heißen können? Es ist der Name aller, die in Evitas Leben eine Rolle spielten. Juan hießen ihr Vater, ihr Bruder, ihr Mann, und selbst dessen Mutter hieß Juana.) Die Voraussetzung, um eine bis zur Geburt zurückreichende Schuld zu begleichen, ist allerdings, dass man sich erinnert. Und Evita erinnerte sich: Sie war jemand, der nie vergisst. Ihrem Herzen blieben Freund und Feind auf immer eingebrannt. Eine Indiofrau hatte sich im Morgengrauen aufgemacht, um ihr auf die Welt zu helfen? Also waren die Indios gut. Die hingegen, von denen diese beschämenden Worte an der Tafel stammten, sollten dafür büßen.

Don Juan Duarte stammte aus Chivilcoy, einer – für die riesigen Entfernungen der Pampa – relativ nahe bei Los Toldos gelegenen Kleinstadt. Scheinbar hatte er die Estancia »LA UNION« von dem konservativen Bürgermeister Malcolm gepachtet, der ihn auch zum Untersuchungsrichter ernannt hatte. Doch laut Aussage von Pater Meinrado Hux, einem schweizer Benediktinermönch, der sich mit Regionalgeschichte befasst, lagen die Dinge nicht ganz so einfach. Zum einen scheint Duarte die Estancia, um die Steuer zu umgehen, über einen Strohmann gekauft und nicht gepachtet zu haben. Außerdem enthob ihn Malcolm persönlich seines Amtes wegen Veruntreuung von Geldern. Duarte war ein konservativer Caudillo mit persönlichen Ambitionen: ein konservativer Duartist. Auf »LA UNION« führte er, ohne auf die Kosten zu achten, seine eigene Wahlkampagne durch. Für ein Fest hatte er ein ganzes Orchester aus der Stadt kommen lassen. Die Gauchos mit ihren schwarzen Hüten, ihren Münzgürteln und ihren Pluderhosen brauchten nicht zu hungern, wenn sie ihn wählten: Dafür sorgte Duarte der Große mit Unmengen von blasig-prallen, goldgebackenen Empanadas. Auch die Hände von Doña Juana, der Köchin und Konkubine, die die Empanadas geknetet, ausgerollt und eine nach der anderen mit Fleisch gefüllt hatte, waren blasenübersät.

Duartes Freigiebigkeit beschränkte sich nicht auf die Fest- und Feiertage. Auch unter der Woche konnte jeder Besucher auf »LA UNION« essen und trinken und kostenlos auf Don Juans Wohl anstoßen. Er war ein gutaussehender, kräftiger Mann, fröhlich und leichtlebig: Die Gelder, die er für sein Vergnügen verschwendet hatte, gehörten der Stadt. Evita entsann sich nicht mehr, ob der Betrunkene, der ihr diese Schreckensnachricht zugeraunt hatte (was uns von Pater Hux bestätigt wurde), ein Gast ihres Vaters gewesen oder ob er schwankend aus einer Dorfkneipe gekommen war, doch seine Worte hatte sie nicht vergessen: »Deine Mutter wurde für eine Stute und ein leichtes, zweirädriges Gespann verkauft.«

Der rechteckige Dorfplatz war nicht nur dem bärtigen Nationalhelden vorbehalten. Er bot auch gute Möglichkeiten zum Verstecken: den künstlichen Felsen mit seinen Höhlen, seinem grün schimmernden Brunnen, wo man die roten Fischchen mit den Fingern berühren und einen nackten Gott bewundern konnte; die für das Orchester gedachte Rotunde mit ihren dickbäuchigen Säulen und Liebesgirlanden; und schließlich die Kermesbeere, der riesige Pampabaum mit seinen dicken, überbordenden Wurzeln. Die Kermesbeere ergießt ihre Wurzeln über den gesamten Erdboden. Wenn wir Argentinier uns über unsere Wurzellosigkeit beklagen, so vergessen wir die Kermesbeere, in deren Schutz wir spielen, wie in Mutters Schoß.

Höhle, Rotunde, schützender Mutterschoß: Evita versteckte sich, um über das Gesagte und das Nichtgesagte nachzugrübeln. Über den abwesenden Vater, der sie verlassen hatte, als er mit seiner Frau und seinen ehelichen Kindern, denen niemand ihren Namen absprechen konnte, nach Chivilcoy heimgekehrt war. Ihre drei Schwestern – Elisa, Blanca, Erminda –, ihr Bruder Juan und sie, Evita, im mütterlichen Schutz der Kermesbeere kauernd. Eine Familie aus lauter Frauen und einem einzigen, zu sehr verwöhnten männlichen Mitglied: einem zukünftigen Don Juan, unwiderstehlich mit seinem pechschwarzen Haar und den langen, samtigen Wimpern, der einzige schwache Punkt seiner Schwester. Es braucht nicht viel, um eine Familie zu einem um ein Oberhaupt gruppierten Clan zusammenzuschweißen: das Verbot anderer Eltern, mit diesen Kindern von zweifelhaftem Ruf zu spielen (egal, ob sie erst sechs oder sieben Jahre alt sind, wenn die Mutter als schlechtes Beispiel vorangeht); böse Dinge, die einem auf den Straßen voller Lehm und Staub über die Großmutter zugezischelt werden. Mehr braucht es nicht, um unlösbare Bande zu knüpfen. Als Mitglied eines Frauenclans zog Evita sich in sich selbst zurück, wie alle Entrechteten des Volkes hin- und hergerissen zwischen der Solidarität zur Familie und der Scham, dazuzugehören. Nach innen fröhlich und voller Phantasie, doch nach außen spröde und wortkarg. Und mit einer ungeheuren Wut! Bei ihren Wutausbrüchen fragte man sich, wie ein so zarter Körper sich so schütteln konnte. Weder die feuchten Grotten noch die ausladenden Wurzeln der Kermesbeere waren wie Evita: so war ihre Mutter. Evita glich eher einem seltsamen Baum mit verkümmerten, eingerollten Blättern und Zweigen, den man mit Recht »elektrische Weide« nennt.

Jenseits des Dorfes wohnte die Familie der Mutter, »diese Nuñez«, wie die rechtschaffenen Leute mit einer verächtlichen Handbewegung sagten, als wollten sie sie verscheuchen.

Die Nuñez standen für die andere Seite von Los Toldos, für den anderen Teil des Dorfes. Seit jeher waren sie anders gewesen. Seit 1892, als Don Electo Urquizo den Ort gründete. Eigentlich hieß der Begründer von Los Toldos Urquiza wie der General, der den Diktator Rosas besiegte. Doch Don Electo meinte trotz seines gewichtigen Namens, ein Mann wie er könne keinen auf »a« lautenden, keinen Frauennamen tragen, und änderte Urquiza um in Urquizo.

Urquizo also eröffnete einen Laden mit Ausschank, eine PULPERIA, genau dort, wo die Coloqueos einstmals versucht hatten, ein Dorf zu gründen. Als er hörte, dass hier eine Eisenbahnstrecke geplant war, kaufte Urquizo Land. Er ließ einen Landvermesser kommen, der ihm das rechteckige Gelände ausmaß, wo San Martín oder wer auch immer im Zentrum des Dorfplatzes, an diesem Nabel der Welt, thronen sollte. Er ließ auch die erste Kirche errichten.

Doch ein Dorf braucht Einwohner. Die Coliqueos wagten keinen neuen Versuch und blieben in ihren Zelten. Da rief Urquizo die Kreolen. Nach den Kreolen tauchten zahllose Italiener, Spanier, Basken, Franzosen auf. 1895 wurde in Los Toldos der Spanisch-Französische Verein gegründet. 1903 löste er sich wieder auf. Die Einwanderer, egal aus welchem Herkunftsland, hatten alle die gleichen vom Regen zerdellten Hüte und den gleichen Glanz in den Augen. Alle beklagten sie den Verlust eines Landes, eines Heims, einer Verlobten, eines Hundes. Die Mischung aus all diesen Sehnsüchten ließ den Tango entstehen.

Juanas Vater war ein baskischer Fuhrmann und hätte wie die anderen Juan heißen sollen, um die Symmetrie der Story zu wahren. Doch er hieß Joaquín. Vielleicht war das der Grund, warum er sich jenseits der Grenzen des Platzes ansiedelte, wo die rechtschaffenen Leute wohnten. Statt sich an Don Electo Urquizo zu wenden, entzog er sich und geriet an einen anderen Ortsgründer, Espíritu Núñez, der einen womöglich noch angeseheneren Namen trug, einen Namen mit neutraler Endung, der glücklicherweise unverändert bleiben konnte.

Espíritu Núñez war das Oberhaupt der dortigen Núñez. Evitas Großmutter, Petrona Nuñez, war möglicherweise seine uneheliche Tochter.

Mütterlicherseits stammte Petrona, wie es in Borronis und Baccas Biographie heißt, »von diesen umherziehenden Marketenderinnen« ab, »die den Soldaten während der Wüstenkampagne zu Willen waren«. War Evita auch eine Art Marketenderin, oder hatte sie das Unstete nur im Blut, ein ererbtes Vagabundentum, eine Fähigkeit zu überleben, indem man »zu Willen ist«?

Der Baske Ibarguren, der eine Vorliebe für ausgefallene Orte hatte, liebte Petrona, wie viele andere auch. Sie brachte zwei Kinder zur Welt: Juana Ibarguren, die sie laut Aussage des Trunkenboldes für eine Stute und ein zweirädriges Gespann hergab, und Liberata Nuñez de Valenti. An dem Tag, als Evita sich mit Perón verheiratete, beeilte sich Doña Juana zu vergessen, dass sie eine Schwester hatte.

Ihrem Beispiel folgend löschte Evita in ihrer offiziellen Geschichte Los Toldos von der Landkarte. Ihre Schwester Erminda erzählt in ihren Memoiren, Evita habe 1927 als ganz kleines Mädchen aus ehrlicher Verzweiflung über Petronas Tod fürchterlich geweint. Die Schilderung des in Tränen aufgelösten Mädchens klingt überzeugend. Wem soll man glauben? Wenn der Betrunkene Recht hatte, ist es nur zu verständlich, dass der Frauenclan die alte Petrona auf dem armseligen Rancho verborgen hielt und ihren Tod um zwanzig Jahre vorverlegte. Pater Hux meint hingegen, Petrona habe sich eines langen Lebens erfreut. Laut seiner Aussage starb sie erst am 29. Mai 1953, genau ein Jahr nach dem Ableben ihrer berühmten Enkelin. Wer war dann aber die Petrona Nuñez, die 1927 starb und deren Grab wir auf dem Friedhof von Los Toldos ausfindig gemacht haben? Geheimnisse und ein schwaches Gedächtnis, was uns im Laufe dieser Geschichte noch öfter überraschen wird, als wollte jeder Evita-Biograph und jeder Zeuge mit seiner Version sein eigenes Leben erzählen. Auch Frauengeheimnisse. Evita lebte in einer Zeit der Geheimnisse und verbotenen Worte. Die Familien verschwiegen Namen und Daten, verheimlichten Liebesaffären und Krankheiten. Doch über die lebens- und überlebensnotwendigen Lügen hinaus eint Petrona, Juan und Eva ihre bedingungslose Treue.

Juanas Lebensumstände verlangten Mut. Als Juan Duarte sie verließ, zog sie mit ihren fünf Kindern nach Los Toldos, wo sie in der Calle Francia eine Lehmhütte mietete. Sie bestand nur aus einem einzigen, durch eine Stellwand geteilten Raum. Die Küche hatte einen gestampften Lehmboden. Doch immerhin war Juana stolze Besitzerin einer wunderbaren Singer-Nähmaschine mit schmiedeeisernen Verzierungen. Mit der Singer konnte sie im Auftrag eines Ladenbesitzers, der sie ihr fertig zugeschnitten lieferte, Pluderhosen für die Landbevölkerung nähen. Sie saß so viele Stunden an der Nähmaschine, dass ihr die Venen an den Beinen platzten. Jeden Morgen griffen die Mädchen ihr unter die Arme, um ihr aufzuhelfen. Und dann begann die Nadel wieder in gleichmäßigem Takt zu rattern, maß die Zeit zentimeterweise.

Doch trotz ihrer Korpulenz, ihrer Krampfadern und ihrer Kinder gefiel sie den Männern immer noch. Sie brauchte einen Beschützer und fand mehrere. Der wichtigste war Don Carlos Rosset, ein Großgrundbesitzer, der um 1928 die Wahlkampagne des Bürgermeisters von Los Toldos, Doktor Heubert, finanzierte. Unterstützte er auch Doña Juana? Dass sie ununterbrochen das Pedal ihrer Singer betätigte, zeigt, dass es damit nicht so weit her war. Doch als Besitzer des Hauses scheint Rosset großzügig mit der Miete gewesen zu sein. Außerdem bat er Bürgermeister Heubert, Elisa im Dorfpostamt einzustellen und Juancito, das einzige männliche Familienmitglied, als Laufburschen im Schulamt. Blanca war nach Bragado gegangen, um Lehrerin zu werden.

In Evitas Augen tat Don Carlos mehr, als ihnen die Miete zu erlassen. An Regentagen hatte sein Chauffeur den Auftrag, bei Juana vorbeizufahren, um die Kinder in die Schule zu bringen. In einen Chevrolet einzusteigen, der nach Leder und Zigarre roch, war ein herrliches Abenteuer! Während der gesamten Fahrt sang Evita und streichelte die blankgeputzten Polster. Sehnsüchtig wartete sie auf den nächsten Regen, um sich wie eine Prinzessin zu fühlen.

Nachbarn aus Los Toldos, die anonym bleiben wollen, haben uns anvertraut, Don Carlos sei Jahre später in Doña Juanas Bett gestorben. Zu jener Zeit lebte die vorwiegend aus Frauen bestehende Familie in Junín. Alfredo, Rossets Sohn, kam, um den Leichnam abzuholen. Später protegierte Doña Juana diesen Jungen, und als sie die Macht hatte, verhalf sie ihm zu einem Bürgermeisterposten. Eva hingegen zeigte sich unversöhnlich und vereitelte einen Auftritt von Alfredos Schwester Lina Rosset als Sängerin im Teatro Colón.

Widersprüche, Launen oder mysteriöse Gründe bei Evita? Die anonymen Zeugen sprechen auch von einer erstaunlichen Ähnlichkeit zwischen Lina Rosset (die weltweit Karriere gemacht und sogar in der Scala in Mailand gesungen hat) und Evita. Ihre offiziellen Halbschwestern hat Eva hingegen häufig besucht und ihnen geholfen, vielleicht, um sich selbst weniger unehelich zu fühlen.

Und doch war ihr erstes Zusammentreffen nicht leicht zu vergessen. Die ehelichen und die unehelichen Kinder lernten sich am Tag der Beisetzung ihres Vaters kennen. 1926 kam Don Juan ausgerechnet durch einen Autounfall ums Leben. Es war, als habe er sie zum zweiten Mal verlassen. Zumindest für das Mädchen. Wie sollte Evita ihm beides verzeihen: fortzugehen und nicht zu warten, bis sie heranwuchs? Oder als er auf dümmste Art vorzeitig starb und damit ihren Traum zunichte machte, ihn eines Tages hübsch und elegant wie eine Königin aufzusuchen. Der Verräter hätte sie auf Knien um Verzeihung gebeten, doch sie wäre stolz geblieben wie eine Marmorstatue. Verlorene Illusionen.

Es ist nicht bekannt, wann er sie freiwillig verließ. Die Meinungen hierzu sind widersprüchlich. Manche Autoren nehmen an, er sei nach Evitas Geburt nach Chivilcoy heimgekehrt. Borroni und Vaca deuten sogar einen Zusammenhang zwischen dieser Geburt und seinem Verschwinden an. Hegte er etwa Zweifel an seiner Vaterschaft? Doch die Berichte einiger Zeugen, darunter Pater Hux und der Historiker Fermín Chávez, lassen vermuten, dass Evita ihren Vater in den ersten Lebensjahren kannte. Wir neigen ebenfalls zu dieser Annahme, da sie uns logisch erscheint. Die Tatsache, dass Evita sich Jahre später einen Mann suchte, der wie der Vater, wenn auch in größerem Stil, von Anhängern und Getreuen umgeben war, bekräftigt diese Hypothese. Sie fühlte sich als Tochter einer »Vagabundin«, doch auch als die eines Caudillo.

Man nimmt an, Duartes legitime Ehefrau sei 1922 gestorben, drei Jahre nach Evitas Geburt. Vielleicht ersetzte Evita deshalb bei ihrer Hochzeit mit Perón ihre Geburtsurkunde durch eine gefälschte, nach der sie 1922 und nicht 1919 geboren war. Um sich jünger zu machen? Nach Ansicht von Chermín Chávez ist der wahre Grund ein ganz anderer: Da sie zu Lebzeiten der rechtmäßigen Ehefrau ihres Vaters geboren war, galt sie nicht nur als unehelich, sondern auch als Frucht eines Ehebruchs. Und ein Berufsoffizier konnte unmöglich die Tochter einer Ehebrecherin heiraten. Dieser Schandfleck musste beseitigt, das Geburtsjahr in die Zeit nach dem Tod der Señora Duarte verlegt, und, da man schon dabei war, sie gleich noch ehelich gemacht werden.

Nach dem Tod der rechtmäßigen Ehefrau machte sich Doña Juana auf nach Chivilcoy, um dort zu triumphieren. Nach der Aussage von Pater Hux wurde sie nicht in allen Ehren empfangen. Ihre auftrumpfende Geste zeigt, wie sehr sie verletzt war. Hatte die Verstorbene auch nur geahnt, dass es im Leben ihres Gatten eine Doña Juana gab? Sie hat wohl so getan, als wüsste sie nichts, und sich gedacht, dass ein Mann so weit entfernt von seiner Familie eine Frau braucht. Ihrer Ehe zuliebe drückte sie ein Auge zu. Von Zeit zu Zeit erschien sie auf »LA UNION«, um Don Juan zu sehen und die ehelichen Bande aufzufrischen. Dann verstellte sich auch die andere Frau, versteckte ihre Kinder und spielte tagsüber die Rolle der Köchin.

Duarte und seine Frau trugen erstaunlicherweise den gleichen oder doch ähnlichen Familiennamen. Fermín Chávez meint, sie habe D’Huart und nicht Duarte geheißen; schuld seien die Verwirrung eines Hafenangestellten von Buenos Aires und die Verständigungsschwierigkeiten im Umgang mit den des Spanischen nicht mächtigen Einwanderern. Als die baskische Familie Duarte, D’Huart, Diuart oder Douarte aus Pau argentinischen Boden betrat, stammelte jeder seinen Namen vor einem anderen kreolischen Beamten, der ihn nach Gutdünken notierte. Hinzu kam die Erschöpfung von der Reise und die Verzweiflung, sich nicht ausdrücken zu können. Bei solchen Kommunikationsschwierigkeiten resigniert der Einwanderer: »Wie wollen Sie, dass ich heiße? D’Huart? Duarte? Was soll’s. Jetzt will ich nur ein Bett zum Schlafen«.

Juanas Vater hatte mehr Glück: ein baskisch-spanischer Name war in Buenos Aires nicht schwer zu schreiben. Überdies hieß Juan Duartes Mutter María Echegoyen, woraus wir schließen können, dass Evita von drei Seiten her baskischer Abstammung war. Selbst ihr Pate und ihre Patin gehörten diesem eigenwilligen Volk an: Don Antonio Ochotorena und Doña Paz Michotorena füllen eine ganze Linie ihrer Geburtsurkunde aus, des einzigen authentischen Dokuments, das zu fälschen sie nicht für nötig hielt (denn Evita besaß alle Eigenschaften außer der, die Wahrheit zu sagen).

Don Juan starb also als Witwer. An dem Tag bewies Doña Juana ihre Hartnäckigkeit: sie sah sich wider alle Vernunft als Duartes Witwe, trug Schwarz, nähte eilig vier Kleider und einen Traueranzug und zog mit ihrem Clan nach Chivilcoy.

Ihr musste bewusst sein, auf was sie sich einließ, und sie tat es, ohne zu zögern, aus Trotz, um der Welt zu zeigen, dass sie ihre Pflicht tat und ihr Platz dort war. Selbstbewusst bot sie ihnen die Stirn. Doch ihre Kinder waren die Leidtragenden, als eine Halbschwester ihnen den Zutritt zum Haus verwehrte und alle fünf auf der Straße blieben.

Sie waren an Beleidigungen gewöhnt. Manch einer grüßte sie in Los Toldos nicht. Andere meinten, wenn sie Elisa oder Blanca mit ihren Freunden flirten sahen, voller Schadenfreude: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Das hatte sie nicht gerade abgehärtet. Beleidigungen in Maßen stärken die Willenskraft, doch in dieser massiven Form verletzen sie, graben sich auf immer ins Gedächtnis ein. So war es bei Evita.

Sie war sieben Jahre alt, als sie sich nach Chivilcoy aufmachten. Ohne Rücksicht hatte ihre Mutter sie mitgeschleift, nur um ihres Stolzes willen. Evita musste sie allesamt hassen: die ehelichen Kinder, weil sie sie ansahen, als käme sie von einem anderen Stern, und ihre Mutter, weil sie tatsächlich von einem anderen Stern war.

Schließlich durften die fünf Ibarguren, die Duartes sein wollten, den Aufgebahrten küssen und dem Trauerzug im Gänsemarsch gemeinsam mit ihrer Mutter folgen. Eva war die Kleinste und lief daher als Letzte hinterher. An jenem 8. Januar mitten im Sommer war der Weg zum Friedhof weit. Für einen waschechten Basken ist das, wenn überhaupt, der Augenblick, sich zu schwören, eines Tages vorneweg zu schreiten.

So wurde in dem Dorf im eigentlichen und übertragenen Sinn so viel Staub aufgewirbelt, dass man notgedrungen die Fensterläden schloss. Die Ibarguren-Duartes lebten zurückgezogen und schlugen sich irgendwie durch. Zum Glück hatte Doña Juana nicht nur die Tugend, sich halbtot zu arbeiten. Obwohl sie zu jedem Opfer bereit war. Wenn man bat, sie möge die Singer auch mal ruhen lassen, lautete ihre Antwort immer gleich: »Ich habe keine Zeit zu verlieren.« Worte, die Evita, vielleicht unbewusst, später oft wiederholen sollte.

Doch sie opferte sich auch nicht nur auf. Anders als ihre Tochter war Doña Juana den fleischlichen Gelüsten nicht abgeneigt. In Los Toldos verteidigen die Alten sie und meinen: »Sie hat alles, was sie tat, nur für ihre Kinder getan«, und vergleichen sie mit »einer Löwin, die ihre Jungen verteidigt«. Mit »alles, was sie tat« sind ihre Affären gemeint. Vielleicht war das die einzige Abwechslung in ihrem tristen Dasein.

Ihre Töchter hingegen sollten adrett, wohlerzogen, anständig sein und eine ordentliche Partie machen. Ehrgeizige Pläne, ganz anders als die Episode mit der Stute und dem zweirädrigen Gespann. Nur Juancito begann ihr Sorgen zu machen mit seiner großspurigen Art. Woher hatte er nur das blaue Auto, einen Ruby, zu einer Zeit, als nur die Reichen Autos besaßen? Doch wenn Doña Juana Herumlungern und leicht verdientes Geld auch nicht billigte, so übte sie doch keinen Druck aus. In dem Backsteinhäuschen auf dem großen, von gelbblühenden Dornensträuchern eingezäunten Stück Land schien der Traum von einem anderen Leben möglich.

Eva und Erminda hegten ihre Träume (Erminda berichtet davon in ihrem Buch MI HERMANA EVITA, Meine Schwester Evita). Dabei konnten sie auf Juancito zählen, der ihnen geholfen hatte, aus einer Holzkiste ein Klavier zu basteln, das echte Töne erzeugte, und der ihnen Drachen und kleine Gartenlauben baute. An Regentagen lauschten die Mädchen hier, wie die Regentropfen auf das Blechdach trommelten. Und wenn Evita in einem improvisierten Zirkus als Seiltänzerin auftrat, hätte man meinen können, das Seil, das zwischen der Trauerweide und dem Paradiesbaum gespannt war, sei ganz ihr Element. Ihre ältere Schwester Elisa nähte ihnen schließlich die Clowns- und Karnevalskostüme. Ein unvergessenes Jahr, in dem Erminda als Zigeunerin ging. Evita, ganz in sternenübersäten, dunkelblauen Tüll gehüllt, ging als Fee der Nacht.

Ein Stoff und etwas Flitter genügten, um Wunder zu wirken. Am Dreikönigstag, wenn die Heiligen Drei Könige den Kindern Geschenke bringen, kamen ihre Neigungen ans Licht: Evita wünschte sich eine riesige Puppe. Doña Juana bemühte sich redlich, im Dorfladen eine aufzutreiben, bis sie eine überdimensionale Puppe entdeckte, allerdings mit einem zerbrochenen Bein. Wegen des Schadens kostete sie fast nichts. Am 5. Januar legte sie die Puppe, als Evita schlief, auf ihre Schuhe oder besser auf ihre Alpargatas. Am nächsten Morgen nahm Evita sie in die Arme und sah sie nachdenklich an. Auf diesen Augenblick hatte die Mutter gewartet, um ihr alles zu erklären. Die arme Puppe! Sie sei einbeinig, seit sie vom Kamel gestürzt sei, doch deshalb brauche sie umso mehr Liebe. Als Evita das hörte, drückte Evita die Puppe mit dem Manko heftig an sich. Aber was fehlte ihr? Die Psychologen, die nie zögern, mächtige Frauen als »phallusfixiert« einzustufen, haben sich auf diese Episode aus Evitas Kindheit gestürzt, um prompt daraus zu folgern, der Puppe habe ein Bein gefehlt und Evita ein Phallus.

Interessanter als Evita scheint uns in dieser Anekdote die Mutter. Doña Juana fehlte es nicht an Phantasie. Eine strenge, einfallslose Mutter hätte eine kleine Puppe gekauft und Evita eine Standpauke über das wahre Leben gehalten. In dieser Familie hingegen trieb man das Spiel noch weiter, indem man die kleine, hinkende Puppe unendlich behutsam an der Hand führte. Die Familie schürte die Illusion. Elisa nähte der Puppe ein langes Kleid, um den Defekt zu kaschieren, denn ein solches Manko muss man ebenso wie die Scham verheimlichen.

Evita war brünett und blass und trug das dunkle, kastanienbraune Haar zum Pagenkopf geschnitten. Das beweist wiederum den Sinn der Mutter für das Praktische, so verständnisvoll sie auch mit Puppen war. Doch die Mädchen träumten von langem, möglichst goldgelocktem Haar. So bald sie konnte, machte die kleine Dunkelhaarige ihren Mädchentraum wahr, ein Detail, das die Psychologen übersehen haben. Das ist bedauerlich, denn Evitas Frisuren erzählen ihre Geschichte, und der Wechsel von der zarten Lockenpracht zur festen Einschlagfrisur spricht Bände.

Sie hatte einen fahlen, elfenbeinfarbenen Teint ohne rosigen Hauch: die typische Haut einer blassen Brünetten. War ihre Haut seit jeher so durchscheinend, oder wurde sie erst später so? In ihren Memoiren erzählt Erminda eine seltsame Anekdote. Eines Tages beobachtete Evita in der Küche, wie die bläulichen Flammen auf dem blank polierten Kupferbecken tanzten. Nehmen wir an, der Ofen habe einen eleganten lateinischen Namen, wie man ihn in der Messe hörte: Primus. Fasziniert vom Feuer und vom Gold (anderes Metall gab es für sie nicht), ging das Mädchen so nahe heran, bis die Pfanne voller Fett ihr ins Gesicht kippte. Sie weinte kaum. Die brennende Wunde versetzte sie in einen Schockzustand. Die weit aufgerissenen Augen leuchteten aus dem schwarz verkrusteten Gesicht wie aus einer Maske hervor. Nach einigen Tagen trocknete die Kruste aus und wurde faltig. Als sie abfiel, war Evitas Haut fast zu makellos: glatt und schön, wie die Haut einer verführerischen Sirene, wie die Haut einer Toten.

Die Politik hatte Doña Juana dazu verholfen, mit Rossets Unterstützung Elisa und Juancito unterzubringen, die Politik sollte diese unsichere Konstruktion auch wieder zunichte machen. Das glaubte sie zumindest oder gab vor, es zu glauben, um die neue Lage auszunutzen. Tatsächlich war Heubert von einem Bürgermeister der radikalen Partei abgelöst worden: Pascual Lettieri.

Sein Zeugnis ist aufschlussreich. Er beschreibt sie als eine mutige und intrigante Frau, mit der Gabe, den Ereignissen zuvorzukommen. Man kann sich die Szene folgendermaßen vorstellen: Nach Littieris Sieg erscheint die mollige, immer noch adrette Señora im Rathaus. Schon von weitem riecht man das Eau de Cologne. Sie ist eine der wenigen Frauen im Dorf, die sich parfümieren. (»Immer schien sie eben dem Bad entstiegen«, hat uns die Fotografin Anne-Marie Heinrich erzählt.) Der Bürgermeister erwartete sie mit zwei Zeugen. Er hat eingewilligt, sie zu empfangen, doch um sich abzusichern, hat er zwei Männer mit Namen Castagnino und Azcárate kommen lassen. Mit anderen Worte, er kennt sie und rechnet mit einer Szene. Sie kommt gleich zur Sache: »Und jetzt«, sagt sie, die Fäuste in die Hüften gestemmt, »was wird aus Elisa? Werden Sie sie entlassen?«

»Ich fürchte, ja«, gab Lettieri zu. Da brach Doña Juan in Schluchzen aus. Er fühlt sich hilflos angesichts dieser üppigen, vom Weinen geschüttelten Fleischmassen unter dem geblümten Kleid. Verführerisch aufreizendes Fleisch, wie er bemerkt: In einem Provinznest wie diesem besuchen alle Männer, ob Konservative oder Radikale, das gleiche Café. »Na ja, ich könnte vielleicht eine Versetzung erwirken«, lenkt er kleinlaut ein. Bei diesen Worten schaut Doña Juana auf und erwidert mit listig funkelnden Äuglein ohne zu zögern und in verdächtig triumphierendem Ton: »Ja, nach Junín.«

»Sie hatte also alles seit langem geplant, diese Teufelin«, sollte der Bürgermeister später erzählen, als die Geschichte von unerwartetem Interesse geworden war. Dieser Mann, der im Grunde seine neue Macht auskostete und sich zunächst streng zeigte, um sich dann großzügig zu geben, er, der zwei Männer als Schutzschilde brauchte, verstand am Ende: Doña Juana hatte ihn an der Nase herumgeführt, als sie das Opfer spielte. Sie war es, die fortwollte.

Am Abend verließ die Frau mit ihrer Familie Los Toldos. Was blieb, waren ihre unbezahlten Rechnungen. Evita ließ ihre Schulfreundin, Ema Vinuesa, zurück, eine der wenigen, der man nicht verboten hatte, mit ihr zu spielen. Zurück blieben auch die arme, kranke Frau, die Evita mit Gesang, Tanz und Clownereien getröstet hatte, und die einsame Señora, die zu Hause einen richtigen Altar hatte. Jeden Sonntag lud die fromme Frau die Kinder ein, um ihnen das Jesuskind zu zeigen, wobei sie jedesmal wieder vor Rührung erschauderte, wie schon beim ersten Mal. Die Kinder erschauderten ebenfalls, genossen immer aufs neue diese Ergriffenheit (wie das Volk später auf der Plaza de Mayo immer wieder diesen Schauder bei Evitas magischen Worten neu erleben wollte).

Wir wissen nicht, mit welchem Transportmittel der Umzug erfolgte, nur, dass ihr Weg sie durch die Pampa führte, die sich von Los Toldos nach Junín endlos hinzieht. Die Pampa schleppt sich dahin »wie ein Verblutender«, nach den Worten am Schluss von Ricardo Güiraldes’ Roman DON SEGUNDO SOMBRA. Wenn man durch die Pampa fährt, scheinen Vergangenheit und Zukunft in diesem Land mit seinem endlosen Horizont ewig. Obwohl die Pampa völlig flach ist, glaubte die Familie, eine Steigung zu spüren. Der Wechsel von Los Toldos nach Junín bedeutete einen Aufstieg. In Junín war Doña Juana weniger bekannt. Niemand würde mehr von der Stute oder dem zweirädrigen Gespann sprechen. Das Schlimmste hatten sie hinter sich.

Die Krise findet ihren Ausdruck im Tango

Ein echter Argentinier ist nur, wer Land besitzt, worunter man sich nicht etwa einen kleinen Garten vorstellen darf. Um die Dimensionen zu erfassen, muss man wissen, dass Argentinien 1930 laut Navarro y Fraser unter 1804 Landbesitzern aufgeteilt war. Diese 1804 glücklichen Argentinier hatten ihre Ländereien von den Vorfahren geerbt, die sie wiederum den Indios gestohlen oder im Laufe der Bürgerkriege erhalten hatten. Die Regierung war es ihnen schließlich schuldig. Hatten sie nicht als Zeichen für jeden getöteten Indio ein blau verfärbtes Ohr ausgestellt?

Bevor sie aufgeteilt wurde, hatte die Pampa niemandem gehört: Sie war das Land von Nomaden, die es in dieser Unendlichkeit immer weiterzog. Je länger man reitet, desto mehr weicht der Horizont zurück. Man setzt den Weg fort, nur um zu erfahren, ob der Horizont einmal endet oder nicht. (Sagt der argentinische Schriftsteller Héctor Bianciotti nicht, dass man sich bei dieser Endlosigkeit gleichsam gefangen fühlt?) Als Söhne vergewaltigter Frauen setzten die Gauchos in ihrer Zerrissenheit als Mestizen das Nomadenleben der Indios fort. Sie waren nicht dazu geschaffen, Väter, Ehemänner oder Teil einer Gemeinschaft zu sein. Sie zeugten Kinder und gingen fort. Wenn sie Hunger hatten, brauchten sie nur eines der unzähligen herrenlosen Rinder einzufangen, von denen es auf dem flachen Land wimmelte. Dann stiegen sie vom Pferd, schnitten ihm die Kehle durch und die Zunge heraus, grillten das begehrte Stück Fleisch über dem Feuer und ritten wieder davon. Das ganze Rind ließen sie den Raben.

Doch seither hatte sich das Land verändert. Jetzt lebten nur noch die Oligarchen in Freiheit, die 1804 Glücklichen, wie sie sich nannten: sechs Monate auf der Estancia und sechs in Paris. Wenn sie sich zur Überfahrt nach Europa einschifften, erwogen die Luxusnomaden ernsthaft, ob sie nicht eine Kuh mitnehmen sollten, um in Biarritz gute Milch zu trinken.

Die restlichen zweieinhalb Millionen Argentinier, die nicht nach Frankreich reisen konnten, schwebten, welches Schicksal auch immer sie ereilte, im luftleeren Raum. Da sie kein Land besaßen, fühlten sie sich nicht als echte Argentinier. Sie waren »Heimatlose«, Einwanderer im eigenen Land. Die landlose Mittelklasse stammte unmittelbar von Einwanderern ab. Manche hatten Land von den 1804 Glücklichen gepachtet und die argentinische Landwirtschaft erfunden: Dank der Italiener entdeckte dieses Land von Fleischessern die Tomate und den Salat. Doch der überwiegende Teil der Bevölkerung hatte sich an wenigen Stellen über das Land verteilt, Buenos Aires und einige unbedeutendere Städte. 1930 kamen immer noch europäische Einwanderer. Doch das Landesinnere setzte sich bereits in Bewegung. Die Landlosen schulterten ihr Bündel und machten sich auf nach Buenos Aires, oder schlimmstenfalls auf den halben Weg, etwa nach Junín.

Warum diese Bewegung in den Provinzen? Die Weltwirtschaftskrise hatte Argentinien nicht verschont. Das Land war von seinen Exporten abhängig. Die Münzen zeigten die beiden Symbole des argentinischen Reichtums: einen Rinderkopf und eine Weizenähre. Doch das Gewicht richtete sich nach dem Pfund Sterling. Durch Spekulationen hatte das Land im ersten Weltkrieg Gewinne gemacht. Argentiniens Neutralität bestand nur auf dem Papier: wirtschaftlich hing Argentinien völlig vom Commonwealth ab. Sie waren reich geworden, indem sie die Engländer ernährten und sie mit Schuhwerk belieferten. Die zwanziger Jahre waren die goldenen Jahre. Buenos Aires, die königliche Stadt am La Plata, war die größte Stadt Lateinamerikas und die drittgrößte des gesamten Kontinents nach New York und Chicago. Wirtschaftlich stand Argentinien auf dem Niveau von Kanada. Die liberale Oligarchie befürwortete weiterhin die Einwanderung aus Europa und machte sich gleichzeitig über die Immigranten lustig: Wie komisch waren doch diese sentimentalen Neapolitaner, die ihr Gemüse singend, mit einer Nelke hinter dem Ohr, verkauften! Und wie finster diese Galizier mit ihren zusammengewachsenen Augenbrauen und der niedrigen Stirn!

Doch man brauchte sie noch. Als freilich die Radikalen unter der Führung von Yrigoyen 1916 und 1926 die Wahlen gewannen, begann die Oligarchie, sich ernstlich Sorgen zu machen. Die Radikalen vertraten die Mittelschicht, die von dem Neapolitaner mit der Nelke im Ohr und dem Galizier mit den finsteren Augenbrauen abstammte. Wollten sie etwa das Land regieren? fragten sich die alteingesessenen Großgrundbesitzer Argentiniens. So war der Stand, als die Weltwirtschaftskrise ausbrach.

Da beschlossen die 1804, die Zügel wieder in die Hand zu nehmen, und unterstützten 1930 den Staatsstreich von General Uriburu, Yrigoyens siegreichem Gegenspieler. Den 1804 waren die Veränderungen innerhalb des Militärs nicht entgangen: Die gehorsamen Soldaten, die sich damit zufriedengaben, bei Staatsfeierlichkeiten aufzumarschieren und ihre nach unten gezwirbelten Schnauzbärte zu kämmen, gaben nicht mehr den Ton an. Jetzt ahmte man die Deutschen nach und benutzte sogar preußische Pickelhelme. Bisher hatte die anglophile und frankophile Oligarchie sie problemlos benutzt. Doch angesichts von deren wachsender Deutschenfreundlichkeit und ihres Machtstrebens hatte die Oligarchie die Militärs schließlich fallenlassen, wie sie es mit ihren Dienstmägden machten, und hielt sich dank eines Wahlbetrugs ein ganzes Jahrzehnt an der Macht.

Aber was hatte diese Situation mit der Migration zu tun? Die Antwort ist einfach: Um die aus anderen Teilen der Welt importierte Krise zu bekämpfen, wechselte die Oligarchie vom reinen Liberalismus zu einer Politik des Protektionismus, die zu einer beschleunigten Industrialisierung führte. Fortan musste man die Produkte, die man bisher von Europa bezogen hatte, selbst herstellen. Die meisten Firmen ließen sich in Buenos Aires nieder. Ein Überschuss an Arbeitskräften in der Provinz brachte auch die Nachteile des Fortschritts mit sich: Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot. Enttäuschungen, auf die der Tango mit der Kleidung anspielt: kein Tango der 30er Jahre, der nicht das brave Mädchen vom Viertel im Perkalkleid erwähnt, und die böse Frau im Hermelinmantel.

Der Tango spricht auch von den Mietskasernen, diesen heruntergekommenen Häusern, wo viele Familien zusammenwohnten, die sich im Hof versammelten. Jeder sprach ein anderes Spanisch. Auf der Weltbühne des Hinterhofs entstand das argentinische Theater: ein Ort der Begegnung der Mustafas, Giuseppes, Manolitos oder Dimitris, denen es an allem mangelte, außer an Witz. Das Theater, das sie inspirierten, hieß SAINETE und ließ reichlich Tränen fließen, aber vor Lachen.

Seltsamerweise werden im Tango weder der Hunger noch die Volksküchen erwähnt, die auf den Straßen von Buenos Aires die Opfer der Krise ernährten: Schamhaft und aristokratisch klagte der typische Argentinier damals nicht über Dinge, die kein Luxus waren. Er weinte niemals, weil die Seinen kein Brot hatten; wie für den Gaucho existierten auch im Tango weder die Frau, noch die Kinder. Auch nicht der Vater. Nur die heilige Mutter war der Tränen eines Mannes würdig (obwohl er sich auch über den Hermelinmantel beklagte). Der Argentinier, egal welcher Abstammung, blieb der Einzelgänger, der den Raben das ganze Rind überließ. Dieser Porteño, der wie in EL HOMBRE QUE ESTA SOLO Y ESPERA (Der einsam wartende Mann) von Raúl Scalabrini Ortiz stundenlang auf einer Straße im Zentrum lässig an der Wand lehnt. Wartete er auf etwas, oder machte ihm sein Zorn darüber zu schaffen, dass er nicht sechs Monate in Paris verbringen konnte? Wandte er sich, von der Liebe zur Mutter und zum Tod und vom Hass auf die Frau erfüllt, von der trüben Zukunft ab, um in die unwiederbringlich verlorene Vergangenheit zu blicken?

Junín war eine Kleinstadt. Größer als Los Toldos, doch immer noch klein. Zumindest zog sie aber als Eisenbahnknotenpunkt eine Menge Arbeiter aus allen Provinzen an. Es war eine Brutstätte doktrinärer Anarchisten und hehrer, wortgewaltiger Sozialisten, die die höchsten Ideale predigten. Die argentinischen Gewerkschaften haben versichert: Wenn der Peronismus nicht gekommen wäre, um Gaben unter den Arbeitern zu verteilen, wäre die Geschichte ganz anders verlaufen! Doch bleiben wir bei den Tatsachen und damit bei den Abenteuern von Doña Juana und ihrer Familie, die genau zu der Zeit ihre wenigen Habseligkeiten auspackten: blauen Tüll, eine hinkende Puppe und ein Primusöfchen aus reinem, nur vom Staub der Reise ein wenig stumpf gewordenem Gold.

Norma Shearer in Junín

Doña Juana lachte das Glück häufiger als anderen. Elisa hatte Arbeit in der Post. Blanca war Lehrerin, und Juancito war auch untergekommen, bei JABON FEDERAL, einer Seifenfabrik. Folglich lebte die Familie nicht völlig im Elend, was bedeutete, in zwielichtigen Stadtvierteln zu wohnen, extra für die Neuankömmlinge von jenseits der Gleise errichtet. Die Ibarguren waren arm, mussten aber nicht darben. Das Haus war der entscheidende Unterschied. Solange der Arme ein richtiges Haus aus solidem Material bewohnt, ist er noch er selbst, denn sein Haus hebt ihn heraus, ebenso wie ein kleines Gehöft, ein Rancho aus luftgetrockneten Lehmziegeln. Doch wer sein Haus oder sein Rancho gegen eine rasch zusammengehauene Blechhütte eintauscht, verliert seine Seele.

Im Schutz einer bescheidenen Bleibe mit Geranien im Patio verlor die Familie nicht ihre Identität. Doch sie fasste auch nicht Fuß: Als Heimatlose mussten sie dreimal das Haus räumen, wenn sie auch im Zentrum von Junín blieben. Sie hatten weder Land noch einen Familienvater. Ihre Situation erinnert an einen Tango von Gardel: »Es waren drei Geschwister,/ und sie war eine Heilige.« Zum Glück für sie und ihre Kinder hatte Doña Juana keinen Heiligenschein. Schließlich gelang ihnen doch noch der soziale Aufstieg – als der Mutter der segensreiche Gedanke kam, zu Hause für alleinstehende Herren zu kochen.

Selbst Borges hat behauptet, Doña Juana habe in Junín ein Bordell geführt. Begierig auf schlüpfrige Details, haben die Gegner der Peronisten bei diesem Gedanken vieles ausgeschmückt. Politik war den Argentiniern seit jeher langweilig. Man braucht sich nur die Dokumentarfilme aus der Zeit vor (und nach) Perón anzusehen. Wer hätte sich beim Anblick dieser Militärs mit der schon von Natur aus niedrigen Stirn, die durch die Schirmmütze noch mehr verdeckt wurde, oder dieser Zivilisten, die fast an ihren steifen Krawatten erstickten und doch so brav wirkten »wie ein Hund auf dem Schiff«, wie man in Argentinien sagt, einfallen lassen zu träumen? Die peronistische Regierung war die einzige, die es wagte, auch Frauen zu zeigen. Ihre Gegner kritisierten sie deshalb, wobei sie sich insgeheim die Lippen leckten. Keine andere Regierung hat ihnen soviele schlaflose Nächte bereitet. Eine lebenslustige Doña Juana genügte ihnen nicht. Sie wünschten aus tiefster Seele, sie habe ein Bordell geführt.

Zu ihrem Leidwesen traf das nicht zu. So viel Platz gab es gar nicht in ihrem Haus in Junín. Doña Juana konnte allenfalls noch den einen oder anderen jungen Mann aus Los Toldos, der in Junín studierte, unterbringen. Zu den Mahlzeiten verbannte sie ihre Kinder in die Küche, denn das Esszimmer war drei vornehmen Herren vorbehalten: dem Major Alfredo Arrieta, Don José Alvarez Rodríguez, Rektor des staatlichen Gymnasiums, und seinem Bruder, dem Rechtsanwalt Justo Alvarez Rodríguez. Von Zeit zu Zeit gesellte sich zu den drei Kostgängern noch Doktor Moisés Lebensohn, ein bekannter Journalist und Parteiführer der Radikalen von tadellosem Ruf, von dem noch die Rede sein wird. Als Beweis für die Harmlosigkeit dieser Mahlzeiten genügt seine Anwesenheit.

Die drei Herren speisten gemeinsam. In Junín gab es wenige Kantinen, und Doña Juanas einfache, doch reichhaltige Mahlzeiten waren allemal vorzuziehen. Sie sprachen über Politik, mit gedämpften Stimmen und ausgesprochen wohlerzogen, wobei sie sich von Zeit zu Zeit die Mundwinkel mit der makellos weißen Serviette abtupften, bevor sie sie wieder auf den Schoß legten. In ihrer Neugier, zu wissen, wie man es anstellt, »vornehm« zu sein, beobachtete Evita sie von der Küche aus. Elisa und Blanca spionierten mit, doch zum Kaffee hatten sie die Erlaubnis, die Herren aus der Nähe zu betrachten.

Frisch zurechtgemacht, tadellos gekleidet und diskret geschminkt, verlieh ihnen eine Mischung aus erfahrenem Leid und dem Wunsch nach Rechtschaffenheit etwas Interessantes. Später sollte Elisa ähnliche Ambitionen entwickeln wie Evita. Blanca und Erminda waren sanfter, zurückhaltender. Doch alle drei gehorchten der Mutter. Sie muss ihnen befohlen haben, diesen Männern ein dezent höfliches Lächeln zu schenken, und sie haben das wohl befolgt. Denn Elisa heiratete am Ende den Major Arrieta (manche sagen, sie hätten sich »liiert«) und Blanca den Rechtsanwalt Alvarez Rodríguez.

Gott hatte Juanas Gebete erhört. Das Bild war freilich nicht vollkommen: Erminda hatte weniger Glück als ihre Schwestern und ehelichte einen Fahrstuhlführer namens Bertoli, von dem sie sich 1953 in Zusammenhang mit Juancito Duartes Selbstmord – oder Ermordung – scheiden ließ. Als Angestellter der Firma JABON FEDERAL trug Juancito in den 30er Jahren Leinenanzüge und lüftete den Panamahut, wenn er am Steuer seines Packard saß, den Arrieta ihm geschenkt hatte. Er war gewinnend, aufgeweckt und beeindruckte die Mädchen mit seinem akkuraten Schnauzbart.

Evita hatte andere Ambitionen: Sie wollte anders sein. Das war sie im Grunde genommen auch, ebenso wie ihre Schwestern und ihr Bruder. Schon von Geburt an war sie zwiegespalten. Hatte sie nicht eine doppelte Zugehörigkeit, wie der Soziologe Juan José Sebreli es nennen würde? Stammte sie nicht zu gleichen Teilen von Großgrundbesitzern (väterlicherseits) und von Besitzlosen (mütterlicherseits) ab? Und war diese doppelte Zugehörigkeit nicht charakteristisch für ein Land von Mestizen, für ein Land, das wie ein Spiegel war, zerrissen vom Wunsch, anders und an anderer Stelle zu sein?

Doch sie empfand den Zwiespalt stärker als die Geschwister. Immer gibt es in den Familien, in den Nationen einen Auserwählten, der empfindet, was die anderen vergessen. So wurde Evita in ihrem Charakter zunehmend widersprüchlich. Ihre Klassenkameradinnen fanden sie sanft, doch wussten sie auch, dass sie sich durchsetzen konnte. Eine von ihnen, Elsa Sabella, hat uns erzählt, Evita habe die anderen herumkommandiert. Sie war einmal sitzengeblieben und war vierzehn statt wie die anderen zwölf Jahre alt. Sie war »die Große« in der Klasse und gehörte zu den unglücklichen Schülern, die gleichzeitig schlauer und unbeholfener sind als die anderen und dadurch eine Mischung aus Furcht und Bewunderung einflößen. Aus Anlass eines Geschenks am Jahresende für die Lehrerin war es ihr gelungen, die Klasse zu spalten: Die eine Hälfte der Klasse war für ein Messbuch, die andere, angeführt von Evita, stimmte für einen Rosenkranz. Wieviel Unfrieden sollte sie, sanft, doch bestimmt, wie sie war, mit verträumten, doch durchdringenden Augen und kontrollierten, doch abrupten Bewegungen, noch stiften! Die Heilige und die Hure, »tatendurstig und kämpferisch«, Fee und Märtyrerin, die »weiße Legende« und die »schwarze Legende«.

Sie war anders und wollte es so. Die Anstrengungen ihrer Mutter und ihrer Schwestern, so zu sein wie die übrigen, verachtete sie. Ihr Stolz hinderte sie daran, ebenso nach Eingliederung in die Gesellschaft zu trachten, ein Versuch, der ohnehin zum Scheitern verurteilt war, denn Doña Juanas Ruf war bis nach Junín gelangt. Auch hier war es ihren Klassenkameradinnen verboten, mit den Mädchen zu spielen. Diesen Anstrengungen der weiblichen Familienmitglieder zog sie allemal Juancitos provokative Art vor, die Eleganz, mit der er seinen Stil durchsetzte. Ein anderer zu sein, bedeutete auch unantastbare Schönheit, das Gefühl, entrückt zu sein, den Traum aller Argentinier erfüllt zu haben. Indem sie Verachtung mit Verachtung strafte, blieb sie ihrer Rolle als Außenseiterin treu. Junín langweilte sie. Ihre größte Angst war, Doña Juana könnte sie eines Tages mit einem neuen Gast verheiraten.

Doch wenn eine Stadt oder ein Leben uns langweilen, liegt das daran, dass wir eine andere Vorstellung haben. Das traf auch bei Evita zu. Evita wusste von der Existenz weißer Telefone, von herzförmig geschnittenen Betten und Seidenlaken. Allein das Wissen, dass es so etwas gab, verlieh ihr die Gewissheit, dass sie nur einen Prinzen oder einen Präsidenten heiraten würde, wie sie Erminda gestand. Es gibt eine Form von Verzweiflung, aus der sich nur rettet, wer höchste Ambitionen entwickelt. Evita ging häufig ins Kino und wünschte sich, Norma Shearer zu sein, in der Rolle Marie Antoinettes. Es geschieht selten, dass ein Wunsch so genau in Erfüllung geht.

Ohne die Hollywoodfilme oder das Magazin SINTINIA mit seinen Klatschgeschichten von Filmstars, mit Mode und Radioseifenopern wäre Evita diesem monotonen Leben nie entronnen. In seinem Roman BOQUITAS PINTADAS (Der schönste Tango der Welt) hat Manuel Puig dieses Milieu ausführlich geschildert. Er hat den Menschen weniger zugeschaut als zugehört und ihre Sprache wiedergegeben. Keiner hat es wie er verstanden, den Tonfall der Mädchen aus der Provinz nachzuahmen, die vom Prinzen träumen und einen Zahnarzt heiraten. Antonio Seguí lässt uns sehen, was wir bei Puig hören: auf einem Bild, das ein Dorf in der Pampa zeigt, wo der schwindelerregend weite Horizont einen an jeder Straßenecke einholt. Die Häuser, ein Nachbar und ein Hund wirken wie erdrückt unter dem trüben Himmel, der sich über eine Landschaft erstreckt, die ihm ähnelt. Doch ein riesiger, bunter Ballon, der an diesem Himmel schwebt, zeigt das Lächeln von Carlos Gardel. Die Botschaft ist klar: Die Realität ist nicht die zwischen Himmel und Erde erdrückte Existenz, sondern der wunderschöne Ballon, angefüllt mit unseren Träumen.

In der Schule war Evita meist die schlechteste Schülerin in Mathematik und die beste beim Vortragen. Und immer noch wartete sie auf die Regentage, nicht wegen des Chevrolets mit den Ledersitzen, der nicht mehr kommen würde, sondern weil an solchen Tagen viele Schüler fehlten und ihre Lehrerin, Palmira Repetto, Evita durch die Klassen ziehen ließ, um Gedichte vorzutragen.

Die Jungens hörten ihr kaum zu, doch die Mädchen seufzten bei diesen sentimentalen Versen aus dem Schulbuch, die Evita mit viel Gefühl und katastrophaler Aussprache vortrug. Selbst als sie schon als Schauspielerin Rollen im Radio bekam, sprach sie noch einen schlimmen Slang. Statt OBJETO (Objekt) sagte sie OBJEPTO und statt ETER (Äther) ECTER. Erst als Eva Perón korrigierte Evita diese Fehler, als hätte sich ihre Zunge mit ihrer Machtposition gelöst. Die Sprache ist wie der Landbesitz eine Frage der Geburt. Als Evita, die beides entbehrte, zu Ruhm gelangte, fielen ihr die anderen Mittellosen ein, und sie ordnete an, ihre »muchachas peronistas«, Peróns Anhängerinnen, die wie sie mit Slang aufwuchsen, in korrektem Ausdruck zu unterrichten.

Am Sonntag gingen die Leute ins Kino, weil neue Filme gezeigt wurden, allerdings für höheren Eintritt. Evita bummelte wie alle Mädchen am Sonntag die Avenida Rivadavia auf und ab. Sie war inzwischen schon elf, wurde bald zwölf, dann dreizehn …, das Alter, in dem jedes Jahr ein Jahrhundert dauert. Als sie an den Jungens vorbeizogen, die lässig an den Hauswänden lehnten und an den Straßenecken herumstanden, kniff Erminda sie so heftig in den Arm, dass es schmerzte. Von früh an lernten die Mädchen, sich vor den Jungens zu fürchten. Die riefen ihnen freche Bemerkungen zu, nur um sich gegenseitig zu zeigen, dass sie sich trauten. Im Grunde genommen dienten die Mädchen lediglich als Vorwand für ein Spiel, das, zumindest vorläufig, reine Männersache war. Von den Mädchen wurde erwartet, dass sie sich taub stellten und mit gesenktem Blick wortlos vorübergingen. Doch eines Tages bohrte sich ihnen jede nicht gegebene Antwort in die Magengrube.

Evita und Erminda aßen ein Eis, grüßten von weitem irgendeine Mitschülerin, die nicht näherkam, um nicht in schlechter Gesellschaft gesehen zu werden, und kehrten dann gegen Abend heim. Der Geruch nach gebratenen Schnitzeln empfing sie schon an der Straßenecke. Evita wandte sich angeekelt ab. Jedesmal, wenn Doña Juana ihr ein Stück Fleisch auf den Teller legte, spürte sie Gefahr. Ein Mädchen, das dazu bestimmt war, einmal eine Norma Shearer zu werden, durfte nicht zunehmen. Ihr ganzes Leben lang weigerte Evita sich zu essen, um nicht zu werden wie ihre Mutter. So formte sich ihr Körper aus Trotz, ein Körper, dessen Sinn und Ziel es war, sich den Rundungen ihrer Mutter zu verweigern.

Sie gingen dienstags ins Kino, wenn der Eintritt nur dreißig Centavos kostete. Evita kam mittags aus der Schule heim und stocherte mit zugeschnürtem Magen unter den vorwurfsvollen Blicken ihrer Mutter, die sich durch ihren mangelnden Appetit verletzt fühlte, im Essen herum. Dann schleifte sie die getreue Erminda mit ins Kino.

Sobald die Lichter im Kinosaal ausgingen, stieg in ihr ein banges Gefühl auf, wie es die Jungens einflößten. Wenn sie so im Dunkel auf den sternenumkränzten Löwen wartete, der mit zur Seite geneigtem Kopf liebenswürdig brüllte, wusste Eva bereits mit vierzehn Jahren, welche die stärkste Sehnsucht ihres Lebens sein würde. Nicht die Erwartung der Liebe, sondern die der Vorstellung, die gleich beginnen wird. Die jugendlichen Zuschauer stampften mit den Füßen in einem Rhythmus, der ein wenig wie ein Marsch klang und den man aus unerfindlichen Gründen »französisches Brot, englische Schokolade« nannte. Und dann endlich: Licht! Kamera! … Action! Die Wogen Hollywoods erfassten die Mädchen von Junín. Während der Dauer von drei Filmen (nicht einer weniger: wenn sie das Kino verließen, waren sie wie im Taumel) schwebte Evita in einer anderen Welt.

Sie begnügte sich nicht damit, den Film als Zuschauerin zu genießen, sondern sie hatte schon einen geradezu »professionellen« Blick. Auch die anderen Mädchen hatten Norma Shearers Biographie gelesen. Sie wussten, dass Evitas Idol arm und unbekannt in Montreal geboren war und ihr Glück in Hollywood gesucht hatte, wo Irving Thalberg sie für die MGM unter Vertrag genommen hatte, die Gesellschaft des freundlichen Löwen. Wie Evita wussten alle Bescheid, und doch war es bei Evita anders. Bei der Heimkehr hatte sie ein zutiefst ernstes Gesicht. Mit der Hand wehrte sie den Geruch nach gebratenen Schnitzeln ab und meinte zu ihrer Mutter: »Ich werde Schauspielerin«. Die Mutter, die mit vierzehn Jahren keine Zeit für Zukunftsvisionen gehabt hatte, weil ihre Zukunft vorgezeichnet war, fühlte sich verraten: »Wie? Solche Anstrengungen, um wie die anderen zu sein, damit die Prinzessin jetzt kommt und alles zunichte macht?«

Doch der Traum von einem anständigen Leben hinderte Doña Juana nicht daran, die Gelegenheit beim Schopfe zu greifen, wenn sie sich bot; eine Inkonsequenz, die Evita auszunutzen verstand. Trotz ihrer Strenge war die Mutter keineswegs unnachgiebig. Sie hatte ein großes Herz, das sie etwa den Wunsch nach einer Riesenpuppe erfüllen ließ. Daher schwankte sie: Wenn die Kleine nun doch begabt war? So schlecht hatte sie die Rolle in diesem Stück ja nicht gespielt – wie hieß es noch? – »Ein Hoch auf die Studenten«. Don Pepe Alvarez Rodríguez hatte ihr den Zugang zur Truppe der staatlichen Schule verschafft, als Evita noch im letzten Grundschuljahr war. Und dann gab es noch den Friseur der Familie, Evaristo Tello Sueyro, der sie ermutigte, mit ihm in einer Truppe von Amateurschauspielern mitzuwirken. Sie hatte sogar schon ein- oder zweimal im Musikgeschäft vor einem richtigen Mikrophon gesprochen. Um die verschlafene Stadt ein wenig wachzurütteln, hatte der Ladeninhaber einen Lautsprecher mitten auf der Straße aufgestellt. Evitas Stimme klang seltsam im Lautsprecher. Evitas Stimme, die über der Stadt schwebte … Ein Wink für die Zukunft? »Doña Juana«, hatte Don Pepe gesagt, »wir haben kein Recht, die Kinder daran zu hindern, dass sie ihrer Bestimmung folgten. Gönnen Sie ihr einen Versuch. Sollte sie scheitern, wird es ihr nicht schaden. Sollte sie Erfolg haben, umso besser.«

Und die Liebe? Eine Zeitlang war Evita mit Ricardo ausgegangen, einem Rekruten der Garnison von Junín. Dann geschah das Unvermeidliche. Es beginnt mit einer großen Puppe und endet mit der Frage: »Sind die gesellschaftlichen Schranken für ein hübsches Mädchen wirklich unüberwindlich?« Elisa und Blanca hatten sich dank ihrer Schönheit mit zwar langweiligen, doch gesellschaftlich weit über ihnen stehenden Männern verlobt. Alle vier waren hübsch, ebenso wie die Mutter. Was spricht denn dagegen, sein Glück zu versuchen? raunte ihr der Teufel zu. Erzählten die Seifenopern im Radio nicht auch von der Liebe armer Mädchen mit reichen Männern oder armer Taugenichtse mit Prinzessinnen? In Junín gab es nur Eisenbahnarbeiter, Kleinbürger und Reiche. Kein Interesse. Außerdem gab es zwei Sorten von Männern, die so unerreichbar waren, als lebten sie in einer anderen Stadt: die Engländer, Direktoren oder Angestellte der Eisenbahn, und die Großgrundbesitzer. Mit ersteren war nichts zu machen: Die Engländer sahen niemanden an und blieben nur unter sich, mit ihren Gattinnen, ihrem Bridge und ihren Scones. Blieben nur die letzteren.

Daher willigte sie mit einer Freundin in den Vorschlag zweier junger Oligarchen ein (ein Wort, das ihr bis dahin fremd war und das sie später so oft benutzen sollte). Die Señoritos luden die beiden Mädchen niederer Herkunft zu einem Ausflug nach Mar del Plata ein, der Perle am Atlantik, dem luxuriösen und ausschweifenden Badeort. Eine Fahrt im Automobil. Wenn man in den 30er Jahren und in Junín lebte, durfte man noch unschuldig und naiv sein: Die beiden Freundinnen haben wohl von einem breiten Strand geträumt, an dem man Federball spielt, im Meer badet und allenfalls einen Kuss unter dem Sternenhimmel gewährt, doch sie werden nicht einen Moment damit gerechnet haben, dass das Auto an einer abgelegenen Estancia haltmachen, die beiden jungen Männer aus guter Familie versuchen würden, ihnen Gewalt anzutun, um sie für ihre Tränen zu strafen, und sie dann beide nackt am Straßenrand liegenlassen würden. Ein Lastwagenfahrer, der mit seiner Familie vorbeikam, brachte sie in eine Decke gehüllt heim. Sicher dachte Evita an beide jungen Männer, als sie Jahre später vor dem versammelten Volk auf der Plaza de Mayo bis zur Heiserkeit gegen die Oligarchie hetzte.

Diese aufschlussreiche Episode hat uns Fermín Chávez anvertraut. Carmen Llorca, die ebenfalls kurz auf die Geschichte eingeht, behauptet, Evita habe sich an den beiden Vergewaltigern gerächt, was nur zu wünschen wäre.

In einem Liebesbrief, den sie Perón 1947 im Flugzeug auf der Reise nach Europa schrieb, spielt Evita auf Gerüchte über ihr Leben in Junín an, von denen Rudi Freude (ein sehr blonder, sehr attraktiver und Perón sehr nahestehender Deutscher, von dem noch die Rede sein wird) den Präsidenten der Republik in Kenntnis gesetzt hatte: »Als ich Junín verließ, war ich erst dreizehn Jahre alt!«, beteuert Evita in diesem Brief; die Verzweiflung hatte augenscheinlich ihr Gedächtnis getrübt, denn in Wirklichkeit war sie fünfzehn: »Wie gemein anzunehmen, ein Mädchen sei einer solchen Schamlosigkeit fähig!«