Felix Magath - Harald Kaiser - E-Book

Felix Magath E-Book

Harald Kaiser

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Beschreibung

Eine Fußballkarriere auf und neben dem Spielfeld: Felix Magath Trainingsmethoden, die ihm den Spitznamen "Quälix" einbrachten, zahlreiche Erfolge als Fußball-Profi mit der Nationalelf und als Vereinsspieler: Felix Magath betrachtet seine Karriere als großes Geschenk. Sein langjähriger Wegbegleiter Harald Kaiser zeichnet den Weg vom Einzelkind nach, das ohne Vater aufwachsen muss. In lebendigen Worten beschreibt er, wie Magath all seine Freizeit am Bolzplatz verbringt – bis er schließlich zur Fußball-Legende auf dem Rasen und der Trainerbank wird. - Alle Eckdaten zu Felix Magath: Herkunft, Kindheit und Werdegang in einer umfassenden Fußballer-Biografie - Ein Buch, das keine Fragen offenlässt: Der berühmte Fußballer ganz privat - Über die steile Karriere von Felix Magath: der Weg zum Profispieler und seine Trainer-Stationen - Ein intimes Fußballer-Porträt aus der Feder von Harald Kaiser, langjähriger Weggefährte - "Schinder" Felix Magath? Trainingsmethoden, die polarisieren - Tolles Fußballfan-Geschenk über eine große deutsche Sportlegende Ein Mann des Gegensätzlichen: Die Fußball-Legende ganz persönlich Er schwankt zwischen Zielstrebigkeit und Zweifel. Demut und starkes Selbstbewusstsein halten sich die Waage: Harald Kaiser stellt den berühmten Fußballspieler und Trainer mit all seinen Facetten und Widersprüchen vor. Felix Magaths bewegtes Leben von der Kindheit bis zur Gegenwart liest sich ebenso spannend wie die vielen Stationen und Erfolge seiner Fußballkarriere. Ein Ausnahmetalent, bekannt für seine taktische Finesse, und ein Trainer, der seine Spieler zu Höchstleistungen antreibt: In diesem Fußball-Buch erfahren Sie alles über Leben und Erfolge von Felix Magath!

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Harald Kaiser

Felix Magath

Gegensätzliches

VERLAG DIE WERKSTATT

2. Auflage 2023

© Verlag Die Werkstatt GmbH, Bielefeld

Folgende Ausgaben dieses Werkes sind verfügbar:

ISBN 978-3-7307-0633-6 (Print)

ISBN 978-3-7307-0677-0 (Epub)

Coverfoto: Thorsten Doerk, www.thorstend-photography.de

Lektorat: Andreas Beune, Simon Kraßort

Satz und Gestaltung: Die Werkstatt Medien-Produktion GmbH, Göttingen

Datenkonvertierung E-Book: Bookwire - Gesellschaft zum Vertrieb digitaler Medien mbH

Alle Rechte vorbehalten! Ohne ausdrückliche Erlaubnis des Verlages darf das Werk weder komplett noch teilweise vervielfältigt oder an Dritte weitergegeben werden.

www.werkstatt-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Nilkheim/TV 1860 Aschaffenburg1953–1972

Viktoria Aschaffenburg1972–1974

1. FC Saarbrücken1974–1976

Hamburger SV1976–1986

Nationalmannschaft1977–1986

Hamburger SV1986–1988

1. FC Saarbrücken1989–1990

Bayer Uerdingen1990–1992

FC Bremerhaven1992–1993

Hamburger SV1993–1997

1. FC Nürnberg1997–1998

Werder Bremen1998–1999

Eintracht Frankfurt1999–2001

VfB Stuttgart2001–2004

Bayern München2004–2007

VfL Wolfsburg2007–2009

FC Schalke 042009–2011

VfL Wolfsburg2011–2012

FC Fulham2014

Shandong Luneng Taishan2016–2017

Würzburger Kickers2020–2021

Hertha BSC2022

Blick zurück nach vorn

Eine Karriere in Zahlen

Zum Autor

Nilkheim/TV 1860 Aschaffenburg

1953–1972

„Ein Foto, unscharf, verschwommen. Wann immer ich an meine früheste Kindheit zurückdenke, sehe ich dieses Bild vor mir, schwarz-weiß, kleinformatig und quadratisch, an den Rändern gezackt: In einem Wohnzimmer schießt ein kleiner Junge, vielleicht ein Jahr alt, einen weißen Plastikball gegen die Wand.

Ich habe es nicht mehr, dieses Foto, ja, ich weiß nicht einmal sicher, ob es je existiert hat. So glaube ich mich also nur zu erinnern, dass meine Mutter mich geknipst hat, damals, Mitte der 1950er Jahre, mit einem Ball am linken Fuß in unserer Wohnung im Aschaffenburger Ortsteil Nilkheim, dort, wo ich am 26. Juli 1953 als Wolfgang Felix Magath geboren wurde.“

Gut acht Jahre zuvor hatte der Zweite Weltkrieg geendet. Zwar war das Deutschland der frühen 50er ein anderes Land als das nationalsozialistische Deutsche Reich, doch auch die Bundesrepublik litt unter der unheilvollen Vergangenheit – auch und vor allem im Sport. Bei den Olympischen Spielen 1948 in London blieb die junge Nation ebenso draußen vor der Tür wie bei der Fußball-Weltmeisterschaft 1950 in Brasilien. Der Elf des Ausrichters hätte im letzten Spiel der Finalrunde gegen den südamerikanischen Rivalen Uruguay ein Unentschieden genügt, um sich erstmals zum Weltmeister zu küren, doch die ganz in Weiß angetretenen Brasilianer unterlagen vor mehr als 200.000 Zuschauern im Stadion Maracana von Rio de Janeiro trotz einer 1:0-Führung mit 1:2. Nie mehr danach lief die Selecao in weißer Spielkleidung auf.

Bei den Sommerspielen 1952 in Helsinki hatte die ausschließlich aus Sportlern der Bundesrepublik gebildete deutsche Olympiamannschaft – die Führung der DDR hatte sich gegen den vom Internationalen Olympischen Komitee geforderten Auftritt als Gesamtdeutschland gesperrt – immerhin 24 Medaillen, doch keine einzige aus Gold errungen. Im Medaillenspiegel bedeuteten 7 Silber- und 17 Bronzemedaillen Rang 28, unmittelbar hinter – Luxemburg.

Felix Magath war elf Monate und acht Tage alt, als sich dies alles mit einem Schlag änderte – nein, mit einem Tor.

Geschätzte 50 Millionen Deutsche saßen am 4. Juli 1954 vor den Radios und den wenigen Fernsehern im Land, um das Endspiel der Weltmeisterschaft in der Schweiz mitzuerleben, und hörten in der 84. Minute des Finales gegen die zuvor rund vier Jahre lang ungeschlagene ungarische Wunderelf, wie „Rahn aus dem Hintergrund“ schießen müsste, „Rahn schießt – Tor! Tor! Tor! Tor!“ Die legendären Jubelschreie des Reporters Herbert Zimmermann klangen wie eine Befreiung. Das „Wunder von Bern“ half den Deutschen dabei, ein neues, gesundes Selbstwertgefühl zu entwickeln, und es veränderte das Denken der Menschen – auch in den Ländern, deren Männer noch ein Jahrzehnt zuvor auf der anderen Seite gekämpft hatten. Ein Land im Aufbruch. „Seien wir ehrlich“, sagte Weltmeistertrainer Sepp Herberger später einmal, „bis dahin nahm kaum einer ein Stück Brot von uns. Nun waren wir wenigstens im Fußball wieder wer, und dies wirkte über den Sport hinaus.“

„Zum Zeitpunkt dieses nie erwarteten Erfolgs lebte ich mit meiner Mutter Helene in Nilkheim. Wie viele unserer Nachbarn war auch sie gegen Ende des Krieges von der schnell gen Westen vorrückenden russischen Armee aus Ostpreußen vertrieben worden und schließlich in der weitläufigen Siedlung des Aschaffenburger Vororts gelandet. Hier, im Ulmenweg, stand – und steht – das schmucklose Eckhaus, in dessen Erdgeschoss zwei Parteien wohnten: Links Familie Kreuz, Vater, Mutter und drei Kinder, rechts meine Mutter und ich, dazu meine Großmutter und ab 1955 mein als einer der letzten deutschen Soldaten aus russischer Kriegsgefangenschaft entlassener Onkel Max. Wenig später gesellten sich Max’ neue Partnerin mit ihren zwei kleinen Kindern hinzu und noch einmal kurz darauf ein gemeinsames drittes Kind. Wenn ich richtig rechne, teilten sich meine Mutter und ich die 60 Quadratmeter gegen Ende der 50er Jahre also mit drei Erwachsenen und drei Kindern.“

Gegenüber der Wohnung im Ulmenweg lag der Fußballplatz des 1949 gegründeten VfR Nilkheim, ein paar Meter weiter das Wirtshaus „Brezel“, dahinter nur grüne Wiesen, kahle Felder und Hunderte von Obstbäumen.

„Meine Mutter arbeitete zunächst als Verkäuferin bei der US Army, später als Angestellte der American-Express-Bank in Aschaffenburg, wo sie sich Anfang der 1950er Jahre in einen Militärpolizisten namens Felix verliebte; im Juli 1953 erblickte ich das Licht der Welt. Mein Vater, ein 24-jähriger Mann aus Puerto Rico mit spanischen Urgroßeltern, am ganzen Körper tief gebräunt, leistete seinen Militärdienst wie mehr als 10.000 anderer Besatzungssoldaten in Aschaffenburg ab und wohnte in einer Kaserne zwischen der Würzburger und der Schweinheimer Straße. Seine Zeit in Deutschland endete im Winter 1954, und auf die Frage, ob ihm meine Mutter mit mir, dem gemeinsamen Sohn, in seine karibische Heimat folgen wolle, sagte sie ‚nein‘. Als mutige, selbstbewusste Frau führte sie ihr eigenständiges Leben, und natürlich wollte sie auch meine Großmutter nicht allein in Nilkheim zurücklassen.

Mein Vater verließ Deutschland mit einer Kuckucksuhr im Koffer. Er schätzte unser Land, das Respektvolle, Verbindliche. Noch später erinnerte er sich gern daran, dass ‚hier alle Menschen so freundlich sind und die Männer beim Grüßen den Hut ziehen‘. Kindheitserinnerungen an ihn habe ich keine. Ich war 14, als ich mir von meiner Mutter seine Adresse geben ließ und mich dazu durchrang, ihm einen Brief zu schreiben, obwohl ich Schreiben hasse – in der Schule haben mich die Aufsätze gekillt. Mein Vater antwortete prompt, und schon kurz darauf besuchte er uns in Aschaffenburg, wohnte jedoch nicht bei uns, sondern in einem Hotel. Auch an diese Tage mit ihm kann ich mich kaum erinnern; ich weiß nur noch, dass sich meine Mutter, die so gut wie nie Alkohol trank, vor lauter Nervosität ein, zwei Gläser Federweißer einschenkte, als er vom Aschaffenburger Bahnhof aus anrief. Nach einer Woche brach er wieder auf und lud mich ein, seine Heimat kennenzulernen. So habe ich ihn im Jahr darauf erstmals zu Hause auf Saint Croix, der größten der amerikanischen Jungferninseln, besucht; allein, ohne meine Mutter, weil er dort längst mit einer anderen Frau namens Helen lebte.

Ich flog also nach Puerto Rico, fuhr dann vom Flughafen zum Hafen und von dort ging’s mit dem Wasserflugzeug nach Saint Croix. Mein Vater arbeitete bei der Finanzverwaltung, er spielte sehr gut und gerne Gitarre und sang dabei mit. Mit Fußball hatte er nichts am Hut. Keine Ahnung also, wem ich mein Talent zu verdanken habe. Dass das Umfeld, in dem du aufwächst, offenbar häufig eine größere Rolle spielt als die Vererbung, sehe ich nun auch an meinem eigenen Sohn Leonard – der kann richtig gut schreiben …

1977 reiste ich nach der Bundesliga-Saison mit der Nationalmannschaft zu vier Spielen nach Südamerika. Nach dem vierten und letzten Spiel gegen Mexiko in Mexiko-Stadt flog ich erstmals in meiner Zeit als Fußballprofi zu meinem Vater; von da an besuchte ich ihn jedes Jahr in der Sommerpause und manchmal auch im Winter. Ich wohnte immer direkt bei ihm, erst auf Saint Croix, später in einem Haus in der Hauptstadt San Juan, danach in einem schönen Haus mit Pool und einer kleinen Mangofarm in Coamo, seinem Geburtsort im Süden Puerto Ricos. Von einem meiner Urlaube gibt es ein Foto mit vier oder fünf anderen Männern und Frauen, auf dem ich mit meinen 1,72 Metern alle anderen überrage – eine echte Rarität. Vermutlich habe ich den Brasilianer Josué 2007 in Wolfsburg auch deshalb verpflichtet, damit ich auf dem Trainingsplatz endlich einmal nicht der Kleinste bin.

Unsere Treffen in der Weihnachtszeit empfand ich stets als etwas seltsam, vor allem wegen der Musik. Es ist nun mal nicht meine Sache, bei hochsommerlichen Temperaturen um die 30 Grad, am Strand zu liegen und Jingle Bells zu hören oder zur Musik des großen einheimischen Helden José Feliciano zu tanzen. Ich sprach zunächst nur wenig Englisch, mein Vater kein Deutsch, und so hat es lange gedauert, bis zwischen uns so etwas wie Nähe entstand.

Ich habe zwei Halbschwestern. Cecy, die ältere der beiden, lebt in New York, die jüngere, Mary, nach wie vor auf Puerto Rico. Wir haben uns viele Jahre regelmäßig gesehen – immer, wenn ich meinen Vater besuchte, flog ich von München aus zuerst nach New York, oder wir versammelten uns alle bei ihm auf Puerto Rico. Der Tod meines Vaters im März 2012 traf mich sehr. Es war mir eine Herzensangelegenheit, auf meinen Erbteil zu verzichten und meinen Halbschwestern sein Haus zu überlassen. Mittlerweile ist der Kontakt zu ihnen etwas eingeschlafen, sicher auch deshalb, weil ich meinen Urlaub seither nicht mehr in der Karibik verbracht habe.

Hier Deutschland und Europa, dort Puerto Rico: Schon in meiner Jugendzeit habe ich zwei völlig unterschiedliche Welten kennengelernt, und ich konnte mir lange Zeit auch sehr gut vorstellen, meine Zelte in der Karibik aufzuschlagen. In Nilkheim und später in Aschaffenburg gab mir meine Mutter ein schön gepflegtes Zuhause – das Gefühl von Heimat habe ich dort allerdings nie empfunden, ich hatte keine innere Verbindung zu meiner Umgebung. Einen wirklichen Bezug habe ich nur zu einigen Freunden, die auch in meinem späteren Leben und teilweise bis heute eine wichtige Rolle spielen. Tugenden wie Disziplin, Fleiß und Ehrlichkeit, wie sie mir meine Mutter vorlebte, schätze ich nach wie vor, aber auch von der Karibik und der Lebensart der Menschen dort fühle ich mich angezogen, nicht nur, weil der Flamenco Beach auf der Insel Culebra für mich zu den schönsten Stränden der Welt zählt.

Obwohl ich immer diszipliniert und akribisch gearbeitet habe, bin ich im Grunde ein Künstler. Ich schreibe mir nie etwas auf, keine Daten, keine Termine, ich bin komplett unorganisiert und chaotisch, und ich brauche den Fußball, weil dort alles klar strukturiert ist. Innerhalb der klaren Regeln und Grenzen dieses Sports konnte ich zunächst als Spieler und später als Trainer meine Stärke, die Kreativität, ausspielen.

Mein Leben wäre mit Sicherheit anders verlaufen, wenn mein Vater bei uns gewohnt hätte. Meine Mutter hätte nicht von früh acht bis neun Uhr abends arbeiten müssen, sondern darüber wachen können, ob ihr Sohn am Nachmittag über seinen Schulbüchern sitzt oder mit Freunden auf einer der nahen Wiesen einem mehr oder wenigen runden Ball hinterherjagt. Ich hätte sicher bessere Schulnoten bekommen, ob ich aber auch ein großer Fußballspieler geworden wäre?

So habe ich den Tag über allein gelebt, erst recht, nachdem meine Großmutter 1959 starb. Meinen Geburtstag haben wir nie größer gefeiert, und plötzlich gab es sogar Heiligabende, an denen meine Mutter den ganzen Tag lang für uns beide arbeitete; erst am Abend konnten wir eine Stunde lang zu zweit zusammensitzen. Angst vor dem Alleinsein habe ich nie empfunden, und auch das Gefühl, etwas verpasst zu haben, kenne ich nicht. Ich hatte eine wunderbare, glückliche Kindheit, eine, die mich für mein Leben geprägt hat und die Erklärung liefert, warum ich bin, wie ich bin. Ich war den ganzen Tag über allein und konnte machen, was ich wollte. Fernseher und Telefon gab’s nicht bei uns, und so entwickelte sich der Fußballplatz von gegenüber zu meinem Wohnzimmer. Wenn dort nichts zusammenging, streifte ich allein über die Wiesen und Felder, sammelte Himbeeren und Brombeeren und pflückte Äpfel, Birnen und Pflaumen von den Bäumen – so, wie’s halt normal war damals. Ich genoss eine unendliche Freiheit.

1959 wurde ich in der Aschaffenburger Brentano-Schule eingeschult. Am Nachmittag kümmerten sich nun katholische Schwestern in einem Knabenhort am Stadtring um mich, den evangelisch Getauften, und meine Hausaufgaben. Trotz ihrer Strenge habe ich, glaube ich, keinen bleibenden Schaden davongetragen aus jener Zeit. Die einzig negativen Erinnerungen an meine sechs Hortjahre kreisen um das Mittagessen: Wir mussten immer alles aufessen, und wenn man wie ich keinen Spinat mochte, saß man so lange am Tisch, bis der Teller doch irgendwann leer war. Heute esse ich gerne Spinat.

Abends brachte mich der Bus nach Nilkheim zurück. Wenn ich ihn verpasste, lief ich zu Fuß. Lang erschien mir die Strecke von rund sechs Kilometern nie, weil mich dabei immer der gleiche Gedanke antrieb: Es geht um alles, du läufst für Deutschland! Meine Gegner aus den USA, England oder Frankreich verfolgten mich unerbittlich, doch, Überraschung, ich konnte meinen Vorsprung stets ins Ziel im Ulmenweg retten und, oft mit allerletzter Kraft, Gold für Deutschland holen.

Kurz vor meinem siebten Geburtstag schloss ich mich dem VfR Nilkheim an. Eine eigene Juniorenmannschaft eines Jahrgangs konnte der kleine Verein so kurz nach dem Krieg nicht bieten; aus zwei, drei Handvoll Jungen zwischen sieben und zwölf Jahren wurde flugs eine zweite Schülermannschaft gebildet, die ausschließlich Freundschaftsspiele bestritt. Ich musste vom ersten Tag an allein zurechtkommen. Es gab niemanden, der mich mit dem Auto zum Training fuhr und zum Glück auch keinen, der mir vom Spielfeldrand aus erzählen wollte, wie ich Fußball spielen sollte. Ich mischte von Anfang an mit im Kreis der um drei, vier oder fünf Jahre älteren Mitspieler, und fiel nicht ab, im Gegenteil. Meine ersten eigenen Fußballschuhe, ‚Uwe Seeler‘ von adidas, die mir meine Mutter an Weihnachten 1960 schön verpackt unter den Christbaum legte, gerieten wohlweislich ein paar Nummern zu groß, damit ich sie länger tragen konnte. Drei, vier Jahre lang mussten die Stiefel halten, am Schluss hat sich mein großer Zeh schon leicht gebogen, weil er vorne anstieß.

Ein klassisches Vorbild hatte ich nie, auch wenn ich einen Fußballspieler bewunderte. Nicht Fritz Walter oder Max Morlock, nicht Wolfgang Overath und auch nicht Helmut Haller, Deutschlands große Mittelfeldstrategen der ersten Nachkriegsjahrzehnte, sondern – Ernst Kreuz, den ältesten Sohn unserer Nachbarn im Ulmenweg.“

Ernsts Vater, der im Sudetenland geborene Arnost Kreuz, hatte bei der Weltmeisterschaft 1938 in Frankreich zum Aufgebot der Tschechoslowakei gezählt, das dort für Furore sorgte; er stand in der Mannschaft, die erst durch ein 1:2 im Wiederholungsspiel des Viertelfinales gegen Brasilien ausschied. Ab Mitte der 1950er Jahre dann führte Kreuz, wie Helene Magath gegen Kriegsende ausgesiedelt, im Ulmenweg ein Lebensmittelgeschäft. Sein hoch aufgeschossener Sohn Ernst, knapp 13 Jahre älter als Felix, spielte seit der C-Jugend bei der Aschaffenburger Viktoria und lenkte dank seiner exzellenten Balltechnik und seiner Torgefährlichkeit im offensiven Mittelfeld bald die Aufmerksamkeit der DFB-Trainer auf sich. Auch, nachdem er im März 1959 beim 3:0 gegen Österreich in Coburg erstmals in die deutsche A-Jugendnationalmannschaft berufen wurde, trainierte er mehrmals die Woche zusätzlich auf dem Fußballplatz gegenüber dem Wohnhaus im Ulmenweg.

„Ernst, ein Linksfuß mit einem schönen Hammer, drosch den Ball immer wieder aufs Tor. Ich stellte mich dahinter und sammelte die Kugel, wann immer sie am Kasten vorbeiflog, wieder ein. Anfangs trug ich sie, bald schoss ich sie zurück – so kam ich zum Fußball.

Als Ernst 1960 von der Frankfurter Eintracht verpflichtet wurde, verloren wir uns aus den Augen. Doch wie das Leben so spielt, sahen wir uns wieder, als ich 1976 nach Hamburg ging: Dort hatte sich auch die Familie Kreuz nach Ernsts Wechsel von der Eintracht zum HSV 1962 niedergelassen, und Vater Arnost hatte das Restaurant ‚Lindenhof‘ auf unserem Trainingsgelände am Ochsenzoll gepachtet. Bei der großen Abschiedsfeier für Uwe Seeler im August 2022 im Volksparkstadion haben wir uns nach langer Zeit wieder einmal getroffen und über die alten Zeiten geplaudert. Das Wiedersehen mit dem Mann, in dem ich lange so etwas wie einen großer Bruder sah, hat mich sehr berührt.

Ich selbst habe lange nicht daran geglaubt, dass auch ich einmal Fußballprofi werden könnte. Noch 1969 lehnte ich das Angebot des als Deutscher Meister aus der Bundesliga abgestiegenen 1. FC Nürnberg für einen Wechsel in dessen Jugendinternat ab, weil mir der Schritt zu groß erschien. Inzwischen weiß ich, dass sich die Menschen oft selbst begrenzen, weil sie sich zu wenig zutrauen, und ich behaupte sogar, dass jeder normale junge Fußballer Bundesliga-Spieler werden kann, wenn er es wirklich will. In meiner Karriere als Trainer habe ich stets versucht, meinen Spielern diese Erkenntnis zu vermitteln.“

1962 zog Magath mit seiner Mutter von Nilkheim in eine neu gebaute Mietwohnung in Aschaffenburg. Er wechselte auf die Realschule, Fachrichtung Wirtschaft, wo er neben den Hauptfächern Deutsch, Mathematik und Wirtschaftskunde auch Stenografie und das Zehnfingersystem auf der Schreibmaschine erlernte, und trat dem kleinen TV 1860 bei, der sich schnell zu seinem großen sozialen Rückhalt entwickelte. Hier lernte er die Menschen kennen, die Freunde, die ihn sein ganzes Leben lang begleiteten – bis heute.

„Drei-, viermal im Jahr fahre ich die 360 Kilometer von unserem Haus in München-Harlaching nach Aschaffenburg, treffe mich dort mit meinen früheren Mannschaftskollegen vom TV, mit denen ich 1971 die B-Klassenmeisterschaft errang – eine Meisterschaft, die ich eine Woche lang und damit ausgiebiger gefeiert habe als jede andere in meiner Karriere –, und besuche das Grab meiner Mutter. Im Mai 2020 ist der lange Zeit wichtigste Mensch in meinem Leben gestorben. Einen Tag vor ihrem 95. Geburtstag stürzte meine Mutter morgens in ihrer Wohnung und wurde ins Krankenhaus eingeliefert. Ich setzte mich sofort ins Auto, fuhr um einiges schneller, als es die Polizei erlaubt, nach Aschaffenburg, um sie noch einmal zu sehen, doch ich kam zu spät. Bis zu meinem Wechsel nach Saarbrücken hat meine Mutter im Grunde nur für mich gelebt, und ich hätte ihr gerne noch einmal aus tiefstem Herzen gedankt.“

Da sitzen sie dann zu acht oder neunt im Aschaffenburger Traditionslokal „Schlappeseppel“, wo noch vor wenigen Jahren das bekannte Seppelsche aus der hauseigenen Brauerei floss, essen eine Bratwurst, trinken Bier aus einer Brauerei im nahen Miltenberg und schwelgen in Erinnerungen. Rainer, Magaths bester Freund aus wilden Jugendzeiten, den er noch immer „Schiller“ nennt, obwohl die langen Locken, denen Rainer einst seinen Spitznamen verdankte, längst einem soliden Kurzhaarschnitt gewichen sind. Ernst, der Polizist. Erhard, der Vertriebsmanager. Harald, der Grundschullehrer. Und Alexander Petschner, sein Trainer beim TV, „und so etwas wie mein Ziehvater“, der sehr früh das unglaubliche Talent in dem jungen Wolfgang erkannte. Wolfgang? Die neu entstandene Nähe zu seinem Vater nach dessen erstem und einzigen Besuch in Deutschland bewogen Magath Ende der 1960er Jahre dazu, den Wolfgang abzulegen und sich beim TV 1860 nur noch mit seinem zweiten Vornamen „Felix“ rufen zu lassen, dem Namen seines Vaters. Dabei blieb’s bis heute.

Sie reden über ihre acht gemeinsamen Jahre, erzählen, wie sie dem jungen Felix nach dem Training regelmäßig eine Cola oder ein Bier spendierten, „weil der ja nichts hatte“, wie er nach einer feuchten Nacht in ihrem Stammlokal, dem „Freischütz“ in der Aschaffenburger Herrleinstraße, erst gegen vier oder fünf Uhr morgens nach Hause schlurfte, wie er als Jüngster der Mannschaft mit seinem schwarzen Stirnband um die langen dunklen Haare und der viel zu weiten Sporthose der Größe 7 bei einem internationalen Turnier in Schweden die Aufmerksamkeit eines jungen Mädchens erregte und des Nachts nicht allein ins Bett schlüpfte.

Alle sind sie hör- und sichtbar stolz auf den einzigen aus ihrer Mannschaft, aus ihrem Verein, der den Sprung in die große, die ganz große Fußballwelt geschafft hat und doch immer einer von ihnen geblieben ist. „Ihm ist alles gelungen, obwohl er wahrlich kein Trainingsweltmeister war“, erzählt Petschner. „Er war ein brillanter Techniker, der den Ball stundenlang hochhalten konnte“, doch im Gegensatz zur brotlosen Kunst anderer Fußballakrobaten habe Felix „immer extrem mannschaftsdienlich“ gespielt, „ihm ging es nie um sich, immer nur um die Mannschaft“. Und es sei schlicht und einfach „unglaublich, was der Bub aus sich gemacht hat“, dabei habe „alles an einem seidenen Faden“ gehangen.

Am seidenen Faden? Wohl keine Übertreibung – der sensationelle sportliche und gesellschaftliche Aufstieg des Felix M., sein Weg vom Bolzplatz in Nilkheim an die Spitze des Weltfußballs, nur dank seines Willens und seines überragenden Talents, verlief so ganz und gar nicht geradlinig.

München, Februar 2023

Wir treffen uns bei einer befreundeten Münchner Agentur. Der sympathische, helle, aber etwas kühle Konferenzraum liegt am Ende eines auf kluge Art nachlässig gestalteten Altbauflurs. Das Holz knarrt ein, die dunkelblaue Wand hinter dem hellblauen geschwungenen Biedermeiersofa, das an Loriot erinnert, wird von Kunst geschmückt. Nichts Aufwendiges, einfach geschmackvoll unaufgeregt.

Felix Magath ist ein Gegensatzpaar. Konsequenz und Klarheit ist Teil seiner „preußischen“ Herkunft, wie er es nennt. Seine Mutter stammt aus Ostpreußen, sein Vater aus Puerto Rico, und daher nimmt er seine feine Virtuosität, sein Gespür für Schwingungen. „Ich habe an meinem Vater bewundert, dass er so viel Ruhe ausgestrahlt hat. Und er hatte einen tiefen Bass. Manchmal wenn er gesungen hat, spürte ich die Klänge in meinem Bauch.“

Fast unbewegt sitzt Magath auf dem weißen Designer-Stuhl, wie er wohl zwangsläufig in Besprechungsräumen von Agenturen stehen muss. Die Hände liegen nebeneinander, zwischen ihnen ist ausreichend Platz für ein geöffnetes Buch – aber der Raum bleibt frei. Freiheit, Freiraum ist für den Menschen Magath essenziell: „Eigentlich habe ich alles getan, um mir meine persönliche Freiheit zu erhalten. Geld hilft, Erfolg auch.“

Das Klicken der Kamera ist kaum zu hören. Magath lässt sich nicht sehr gern fotografieren, das spürt man, aber er findet divenhaftes Verhalten und unnötige Eitelkeit genauso unpassend. Der andere muss seinen Job machen können – auch das zählt zum Selbstverständnis des Felix Magath.

Viktoria Aschaffenburg

1972–1974

„Ich trug die Haare schulterlang und trank auch immer mal wieder zu viel in meinen Jugendjahren. Ein Bier, noch ein Bier und noch eins: Die Aschaffenburger Nächte haben mich mit Sicherheit zwei, drei Jahre meiner Karriere gekostet. Mein Problem war und ist es bis heute, dass ich das Gefühl habe, schnell trinken zu müssen, sobald ein volles Glas vor mir steht – ob da nun Tee drin ist, Wasser, Wein oder Bier.

Mit 16 oder 17 begann ich auch noch zu rauchen. Ein paar Kumpels aus meiner Realschulklasse hatten von irgendwoher ein paar Gramm Haschisch besorgt. Jeder erhielt ein Gramm und sollte es testen, danach wollten wir einander von unseren Erfahrungen berichten. Ich trug das Zeug vier, fünf Wochen lang mit mir herum, ohne es anzurühren, dann dachte ich mir: Vielleicht rauchst du erst mal eine Zigarette, bevor du das Haschisch versuchst. So fing alles an, und ich kam von den Zigaretten nicht mehr weg. Haschisch oder andere Drogen habe ich nie probiert.

Mein erstes Geld verdiente ich durch allerlei Ferienjobs. Bei den Lenkradwerken Petri stand ich am Fließband, bei Viktoria-Transport be- und entlud ich die LKWs, und bei der Brauerei Heyland arbeitete ich als Beifahrer eines Mannes namens Susi. Wenn Susi unseren LKW geparkt hatte, musste ich den Sackkarren von der Ladefläche heben und die Bierkisten ins Restaurant, die Kneipe oder den Supermarkt transportieren, während er am Tresen saß, seinen Durst löschte und sich zum Schluss den Lieferschein quittieren ließ.

Der Fußball, das Training und die Spiele, die Mannschafts- und Schafkopfabende mit meinen Kameraden und meine Ferienjobs verschlangen viel Zeit, Zeit, die mir beim Lernen fehlte. Kein Wunder, dass sich meine schulischen Leistungen nicht im gleichen Maß entwickelten wie meine fußballerischen: In der neunten Klasse fiel ich durch. Geschichte und Erdkunde waren in Ordnung, die größten Probleme hatte ich mit Deutsch. Und so richtig Spaß hat mir die Schule in all den Jahren nicht gemacht.

Die Tatsache, dass ich eines Abends in einer Kneipe am Aschaffenburger Dalberg eine Frau namens Steffi kennenlernte, die meine erste feste Freundin wurde, veränderte erst einmal nichts; fast schon ein Wunder, dass ich die Realschule 1970 mit der Mittleren Reife in der Tasche verließ. Die Abschlussnote? Ich war zufrieden, meine Mutter weniger. Den Gedanken, anschließend an ein Gymnasium im hessischen Hanau zu wechseln, wo mir der Weg zum Abitur wesentlich leichter erschien als in Bayern, verwarf ich schnell wieder – zu häufig fand ich morgens nicht rechtzeitig aus dem Bett. Somit rückte auch mein großes Berufsziel außer Reichweite: Lange, bevor es Serien wie ‚Der Kommissar‘ oder ‚Tatort‘ gab, wollte ich Kriminalkommissar werden, Verbrechen aufklären, die Ganoven hinter Schloss und Riegel bringen. Weil ich kein Abitur hatte, musste ich umdenken; immerhin gelang es mir, wenn auch erneut nach einer einjährigen Ehrenrunde, auf einer Fachoberschule in Saarbrücken 1973 die Fachholschulreife im Zweig Wirtschaft zu erwerben.

Im bayerischen Aschaffenburg hätte ich den gleichen Abschluss vermutlich nicht geschafft. Schon damals unterschieden sich die einzelnen Bundesländer enorm, was die Anforderungen an die Schüler betraf, und daran hat sich, für mich absolut nicht nachvollziehbar, bis heute nichts geändert.

Natürlich hatten wir auf der Fachoberschule auch Sportunterricht, in den ersten beiden Stunden am Mittwochmorgen. Als guter Fußballspieler und Sportler glaubte ich mir die Freiheit herausnehmen zu können, nach einer langen Dienstagnacht ab und zu auszuschlafen und erst zur dritten Stunde in der Schule zu erscheinen. Im Zeugnis der 12. Klasse erhielt ich die Quittung: eine 5 in Sport.

Dass meine Schulnoten nicht ausreichen würden, um meinen Traumberuf Kriminalkommissar zu ergreifen, war mir schon zuvor klargeworden. Ich beschloss zu versuchen, mit dem Fußball Geld zu verdienen und so weit wie möglich nach oben zu kommen.“

Nachdem er 1972 mit dem TV 1860 als Aufsteiger die A-Klassenmeisterschaft verpasst hatte, wechselte Magath zum großen Lokalrivalen Viktoria in die Amateurliga Hessen. Der Sprung in Deutschlands dritthöchste Spielklasse fiel ihm nicht schwer. Zwar belegte die Viktoria in der Saison 1972/73 nur Platz 13, doch wie 13 Jahre zuvor sein Nachbar Ernst Kreuz sorgte Magath, wie das Aschaffenburger Main-Echo schrieb, „mit seiner brillanten Technik, Lauf- und Einsatzfreude und Schusskraft auf Anhieb für Aufsehen weit über die Hessenliga hinaus“. Von dem Indianergeheul, das wegen seiner langen Haare, des Stirnbands und seiner schon nach den ersten Sonnentagen gebräunten Haut hin und wieder ertönte, wenn er in einem Auswärtsspiel den Ball führte, ließ er sich nicht stören.

Im Frühjahr 1973 flatterten ihm vier Anfragen ins Haus: Von den Amateurmannschaften der Frankfurter Eintracht und der Offenbacher Kickers und von den Regionalligisten Göttingen 05 und Darmstadt 98. In Göttingen und in Darmstadt trainierte er jeweils einen Tag lang zur Probe mit, worauf ihm beide Vereine einen Vertrag anboten. Bei den 05ern hätte er monatlich 300 Mark plus Prämien verdienen können – zu wenig, wie ihm schien, um Aschaffenburg zu verlassen. In Darmstadt fühlte er sich vom ersten Augenblick an sehr wohl, wurde von der Mannschaft hervorragend aufgenommen und konnte auch Trainer Udo Klug überzeugen, nur einen nicht – sich selbst: Weil er daran zweifelte, dass er den Sprung in die erste Elf des frischgebackenen Süddeutschen Meisters schaffen würde, sagte Magath auch den 98ern ab und hängte ein zweites Jahr in der Hessenliga dran.

Souverän, mit sieben Punkten Vorsprung vor der SpVgg Bad Homburg, holte sich die Viktoria 1973/74 die Meisterschaft, Magath schraubte seine Oberligabilanz auf insgesamt 64 Spiele und 15 Tore. Seltsamerweise aber blieben neue Angebote zunächst aus. Erst eine Woche vor Ende der Transferperiode meldete sich ein Mann namens Heinz Schmidt, Spielausschussvorsitzender des 1. FC Saarbrücken, und fragte, ob er denn mal vorbeischauen dürfe in der Aschaffenburger Zweizimmerwohnung, in der Steffi und Felix mittlerweile zusammenlebten. Schon am nächsten Tag kreuzte Schmidt auf, und noch am gleichen Abend unterschrieb Magath seinen ersten Profivertrag: Einen Zweijahreskontrakt mit einem Monatsgehalt von 1.200 Mark plus einer monatlichen Leistungsprämie von 1.500 Mark. 30.000 Mark Ablöse berappten die Saarländer an die Viktoria.

Noch viel, viel wertvoller als der Vertrag und das erste Geld: Mit dem Wechsel verringerte sich die Gefahr, dass er sein großes Talent versaufen und verschleudern würde, entscheidend. „Sein großes Glück ist es gewesen, dass er 1974 aus Aschaffenburg wegging“, sagt Petschner, „sonst wäre die Wahrscheinlichkeit sehr hoch gewesen, dass er versackt.“ Und Magath fügt sechs Worte an: „Da hat er mit Sicherheit recht.“

1. FC Saarbrücken

1974–1976

1974, elf Jahre nach Gründung der Bundesliga, erhielt Fußball-Deutschland eine zweite Profiliga. Die in die Gruppen Nord und Süd unterteilte 2. Bundesliga sollte in erster Linie die wirtschaftliche Kluft zwischen Profi- und Amateurbereich verringern. Wenige Wochen vor dem Saisonauftakt wurde noch immer erbittert darum gerungen, welcher siebte Südwestklub Borussia Neunkirchen, den FC Homburg, Röchling Völklingen, den FSV Mainz 05, Wormatia Worms und den FK Pirmasens ins neue Fußballzeitalter begleitete – der 1. FC Saarbrücken oder der SV Alsenborn.

Zunächst sollte der FCS die Lizenz erhalten. Es folgten eine einstweilige Verfügung des Landgerichts Kaiserslautern und ein Urteil des Verbandssportgerichts Südwest, das wiederum Alsenborn den letzten freien Platz in der 20er-Liga zusprach. Magath wusste, dass die Antwort auf die Frage nach dem 20. Klub seine Zukunft entscheidend beeinflussen würde: Den Profivertrag beim FCS hätte er bei einer Verbannung der Saarländer ins Amateurlager zerreißen können.

Am 7. Juli stand die deutsche Nationalelf in München zum dritten Mal nach 1954 und 1966 im Endspiel einer Weltmeisterschaft. Wenige Stunden vor dem Anpfiff der Partie gegen die Niederlande in München, am Tag vor dem Trainingsauftakt in Saarbrücken, wurde Magath von einem Präsidiumsmitglied der Aschaffenburger Viktoria am Telefon mit der Nachricht überrascht: „Die Entscheidung ist gefallen, Alsenborn spielt in der 2. Liga.“ Der Traum von einer Karriere als Profi schien vorerst ausgeträumt; enttäuscht warf er die gepackte Sporttasche ins Eck, fuhr nicht wie geplant am Nachmittag nach Saarbrücken, sondern sah sich das WM-Finale mit seinen Kumpels am Dalberg an. Klar, dass bei der Feier nach dem deutschen 2:1-Erfolg keine Limonade durch die siegesdurstigen Kehlen floss.

„Am Montagnachmittag rief mich Heinz Schmidt an: ‚Warum bist du heute Morgen nicht zu unserem Auftakttraining gekommen?‘ Ohne meine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: ‚Wir sind in der 2. Bundesliga, Felix. Setz dich sofort ins Auto und komm her.‘ So fuhr ich am Abend noch mit einem dicken Kopf nach Saarbrücken, wo Trainer Slobodan Cendic für Dienstagmorgen einen ausgedehnten Waldlauf angesetzt hatte. Eine knappe Stunde lang quälte ich mich von Meter zu Meter, dann trollte ich mich in die Büsche, übergab mich und – rannte weiter. Ich ließ mir nichts anmerken, auch wenn ich mich hundeelend fühlte, und kam gerade noch mit dem Hauptfeld ins Ziel.“

Am 28. Juli, zwei Tage nach Magaths 21. Geburtstag, schlug sich das Bundesgericht des DFB in der Sportschule Barsinghausen letztinstanzlich auf die Seite des FCS. Während Alsenborn in den Niederungen des Amateurfußballs untertauchte und nie mehr auch nur in die Nähe des Profifußballs vordrang, stieg am Freitag, 2. August, ausgerechnet im Saarbrücker Ludwigspark das Eröffnungsspiel der neuen Klasse. 13.000 Zuschauer jubelten frenetisch, als Niko Semlitsch, Neuzugang von Kickers Offenbach, in der 18. Minute das Premierentor erzielte, das dem FCS in Magaths erstem Spiel als Fußballprofi einen 1:0-Sieg gegen Darmstadt 98 bescherte.

„Von den Neulingen rappelte sich Magath im Finale immer wieder mit technischem Geschick zu Entlastungsangriffen auf“, schrieb der kicker, der flächendeckend über jedes Spiel berichtete, während die ARD den Auftakt wegen eines heute lächerlich anmutenden Honorarstreits um ein paar Tausend Mark pro Verein boykottierte, obwohl die neue 2. Liga insgesamt sechs Spiele auf ausdrücklichen Wunsch des Senders auf Sonntag verlegt hatte. Beim 1:1 bei Bayern Hof am zweiten Spieltag gelang Magath, noch immer mit wallendem, schulterlangem schwarzen Haar, in der 68. Minute mit einem Volleyschuss sein erstes Tor. Fortan hatte er seinen Stammplatz sicher.

Vor allem dank einer hervorragenden Kameradschaft mischte der FCS lange an der Tabellenspitze mit. Jeweils am Montagabend traf sich die gesamte Mannschaft zum Schafkopfspielen, und natürlich zwitscherten die Profis dabei auch das eine oder andere Bier, was sie dann bei den zwei harten Konditionseinheiten des Dienstags schon mal bereuten.

Zum Höhepunkt der Hinrunde entwickelte sich das Heimspiel gegen den bis dahin unbesiegten Südwestrivalen FK Pirmasens am fünften Spieltag, das der FCS 6:0 gewann; Magath steuerte das 3:0 und das 6:0 bei. Seine neue Mannschaft beschloss das Jahr 1974 auf Rang drei, einen Punkt hinter Tabellenführer Karlsruher SC, und diesen Kontakt nach oben hielt sie zunächst auch in der zweiten Halbserie: Noch nach dem 30. Spieltag trennte die Saarländer nur ein Punkt von Rang zwei. Danach aber bauten sie mehr und mehr ab, eine 0:3-Heimniederlage gegen Schlusslicht VfR Mannheim am 36. Spieltag machte die letzten Aufstiegshoffnungen zunichte.

Als Siebter schleppte sich der FCS schließlich über die Ziellinie. Der KSC schaffte den Sprung in die Bundesliga, Pirmasens als Zweiter scheiterte in den Aufstiegsspielen gegen den Nordzweiten Bayer Uerdingen mit 4:4 und 0:6. Als einziger FCS-Spieler war Magath in allen 38 Zweitligaspielen zum Einsatz gekommen; seine zwölf Saisontreffer wurden nur von einem Stürmer, dem Jugoslawen Husnija Fazlic, um zwei Tore übertroffen. Mit ihm verstand er sich nicht nur auf dem Rasen blind – rund eineinhalb Jahrzehnte später holte er Fazlic als seinen Co-Trainer zu Werder Bremen.

In diesem ersten Jahr in der 2. Bundesliga begann er sich zum Profi zu entwickeln – auf dem Platz. Abseits des grünen Rasens gönnte er sich nach wie vor eine weniger professionelle Lebensweise; nach wie vor schmeckte ihm am Abend das Bier, nach wie vor rauchte er täglich bis zu zwei Schachteln Zigaretten.