Fesseln und Marmelade - Sara-Maria Lukas - E-Book
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Fesseln und Marmelade E-Book

Sara-Maria Lukas

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Beschreibung

Als ihr alter Nachbar stirbt, hofft die Lübecker Unternehmerin Lilian, dass sein heruntergekommener Hof endlich abgerissen wird. Leider geht ihr Wunsch nicht in Erfüllung, denn es stellt sich der Erbe vor - optisch ein typischer Zuhältertyp aus dem Hamburger Rotlichtmilieu. So unerträglich lästig sie ihren neuen Nachbarn findet, ihr Unterbewusstsein sagt das komplette Gegenteil. Theo "Tiger" Sturm hat als Türsteher angefangen und es durch harte Arbeit geschafft, zum Mitbesitzer eines angesagten Nachtclubs mit BDSM-Keller zu werden. Als er den Hof seines Großvaters, den er nie kennengelernt hat, erbt, will er sich dort eine grüne Oase der Ruhe schaffen. Doch dann steht seine neue Nachbarin vor ihm. Sie ist arrogant, zickig und lässt ihn spüren, dass sie ihn für den Dreck unter ihrem Schuhabsatz hält. Theo beschließt, der Dame ein wenig auf die Nerven zu gehen. Womit Theo nicht gerechnet hat, ist, wie schnell und leidenschaftlich die Funken zwischen ihm und Lilian sprühen ... Ein Later in Life-BDSM-Liebesroman.

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Sara-Maria Lukas

Fesseln und Marmelade

© 2023 Plaisir d’Amour Verlag, D-64678 Lindenfels

www.plaisirdamour.de

[email protected]

Covergestaltung: © Sabrina Dahlenburg

(www.art-for-your-book.de)

ISBN Taschenbuch: 978-3-86495-632-4

ISBN eBook: 978-3-86495-633-1

Sämtliche Personen in diesem Roman sind frei erfunden. Dieses eBook darf weder auszugsweise noch vollständig per E-Mail, Fotokopie, Fax oder jegliches anderes Kommunikationsmittel ohne die ausdrückliche Genehmigung des Verlages oder der Autorin weitergegeben werden.

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Epilog

Autorin

Kapitel 1

Ein Mittwoch Ende Mai

„Die sechseckigen Gläser mögen edel und ansprechend aussehen, aber mich ärgert es, wenn ich mit dem Teelöffel die Reste aus den Ecken nicht herausbekomme. Das ist Verschwendung! Ich möchte nicht, dass die Leute, die unsere Marmelade kaufen, sich beim Frühstück über die Ecken in den Gläsern ärgern.“

„Okay, dann sag ich das der Marketingabteilung“, tönte die gelassene Stimme von Ines Wolf aus dem Mikrofon der Freisprecheinrichtung. „Gibt es sonst noch was, Frau Hansen?“

Lilian blinkte, fuhr auf die linke Spur und gab Gas, um an einem LKW der Konkurrenz vorbeizuziehen. Marmeladen nur von Meertau, stand quer über der Abbildung eines sommerlichen Gartens mit einem Frühstückstisch unter dem Blätterdach einer riesigen Kastanie. So ein Blödsinn. Kein vernünftiger Mensch wollte unter einem Baum frühstücken, wo ständig die Gefahr bestand, dass Käfer oder sonstige Insekten in den Kaffee purzelten.

„Nur noch eine Kleinigkeit. Seien Sie bitte so nett und rufen Sie mich gegen siebzehn Uhr an, um mich an das Onlinemeeting wegen der geplanten Weihnachtsgroßbestellung zu erinnern.“

Ines Wolf gluckste. „Natürlich, gern. Verraten Sie mir, wen Sie loswerden müssen?“

„Heinrich Braun senior.“

„Von der Großgärtnerei Braun und Söhne? Der letztes Jahr Bäume nach Dubai geliefert hat und die Sommerfeste im Yachthafen ausstattet?“

„Genau. Der kommt gleich zu mir, um die Gestaltung der diesjährigen Gartenparty zu besprechen.“

„Redet der zu viel oder wollen Sie einer Einladung auf seine Jacht entgehen?“

„Beides. Doch Braun senior pflegt nicht nur meinen Garten, sondern auch die Bonsai Sammlung von Meertau.“

Ein weiteres vergnügtes Glucksen breitete sich im Innenraum des Wagens aus. „Verstehe. Und dort tratscht er vermutlich ebenfalls sehr gerne über seine Kunden.“

„Genau.“

„Na hoffentlich ist es das wert.“

„Natürlich ist es das. Meertau wird vor Neid Magenschmerzen bekommen, wenn er hört, mit wem wir Geschäfte machen.“

„Aber Heinrich Braun ist ein sehr sympathischer Mann, der ...“

„... der nicht erst seit dem Tod seiner Frau auf Freierspfaden wandelt, sondern schon immer die Augen nach jungen Frauen verdreht hat“, unterbrach Lilian ihre Assistentin trocken und die lachte schallend. „Und Sie sind nicht interessiert?“

„Mit fast fünfzig habe ich besseres zu tun, als mich mit weißhaarigen, unförmigen Witwern zu beschäftigen.“

„Also soooo hässlich ist er nun aber auch nicht. Er ist stets braun gebrannt und ins Weiß seiner Haare lässt er sich dunklere Strähnen färben. Und er trägt Sonnenbrille und Kettchen aus Gold. Man munkelt, er ist sehr spendabel, wenn er eine Frau zum Segeltörn nach Marbella einlädt.“

Lilian sah im Geiste das Gesicht ihrer Assistentin vor sich, wie sie am Schreibtisch sehr, sehr unschuldig vor sich hin grinste.

„Und woher wissen Sie das alles?“

„Ich habe so meine Quellen.“

„Dann können Sie sich den Braun ja angeln.“

„Danke, nicht ganz mein Jahrg... ähm ... ich meine ... äh ...“

Lilian schmunzelte. „Aber für mich soll er nicht zu alt sein. So. So. Ich bin sehr gespannt, wie Sie sich aus der klebrigen Fliegenfalle wieder herausmanövrieren wollen, meine Liebe.“

„Ich wollte damit nur sagen, dass die Interessen nun mal andere sind, wenn man ein gewisses Alter erreicht hat.“

„Ach ja? Sind sie das?“

„Nun ... ich meine ... ähm ... also ich will natürlich nicht, dass Sie denken, dass ...“

„Geben Sie sich keine Mühe, meine Liebe. Ich verstehe schon. In ihrem Alter kommt es auf sportlichen Sex an und in meinem auf die inneren Werte, da zwischen den Schamlippen sowieso nichts mehr passiert.“

„Frau Hansen!“

„Was?“

„Wie reden Sie denn?“

„So wie ich will, denn Sie haben eine Verschwiegenheitserklärung unterzeichnet und dürfen nichts weitererzählen. Also was nun? Glauben Sie das oder nicht?“

„So drastisch wollte ich es nicht ausdrücken, aber die Prioritäten ändern sich schon, oder etwa nicht?“

Lilian lachte. „Warten Sie ab, bis Sie zwanzig Jahre älter sind.“ Amüsiert mit dem Kopf schüttelnd drückte sie das Gespräch weg.

Ines Wolf arbeitete seit knapp zwei Jahren für sie und am Anfang war Lilian skeptisch gewesen, denn eigentlich hatte sie nach einer Assistentin in ihrem Alter gesucht. Doch die Qualifikationen der jungen Frau waren so überzeugend gewesen, dass sie beschlossen hatte, es mit ihr zu versuchen. Ein guter Entschluss. Ines Wolf machte ihren Job großartig, obwohl sie erst zweiunddreißig war. Sie hatte Respekt, ohne dabei unterwürfig zu sein, sie sagte ehrlich ihre Meinung und es machte Spaß, mit ihr zu diskutieren. Aber vor allem war sie absolut zuverlässig und verschwiegen.

Der Hybrid surrte die vierspurige Bundesstraße entlang und das Schild, das die Abfahrt Travemünde ankündigte, kam in ihr Sichtfeld. Lilian blinkte und fuhr wieder auf die rechte Spur. Warum glaubten junge Leute, reife Frauen hätten keine Lust mehr auf Sex? Mit der Menopause waren die Sexualhormone doch nicht abgeschaltet! Während Frauen sich liften ließen und Yoga machten, um möglichst lange jung zu wirken, war das den Männern egal. Sie fraßen sich Fettbäuche an und hielten sich mit ungelenkiger Trommelfigur für unwiderstehlich sexy, nur weil sie eine monströse goldene Uhr am rheumatischen Handgelenk trugen. Dabei brauchten sie für guten Sex doch Kondition und ein bewegliches Becken.

Es war einfach unfair. Alle Welt fand es völlig normal, dass sich sogar Siebzigjährige noch Liebhaberinnen suchten, aber Frauen mit fünfzig wurden aufs Abstellgleis geschoben. Sie bog um eine enge Kurve und atmete tief durch, denn nun erreichte sie ihre Lieblingsstelle des täglichen Arbeitsweges. Dafür fuhr sie sogar jeden Tag einen kleinen Umweg, aber der lohnte sich. Sie verlangsamte das Tempo und genoss das Panorama der Steilküste und ihrer geliebten Ostsee.

Der starke Motor surrte leise, während ihr Blick über das Wasser, den Horizont und den Himmel glitt. Der Untergang der Sonne ließ sich bereits erahnen, doch noch war es heller Nachmittag und Segelboote, klein wie Spielzeuge, kreuzten im Wind.

Mit der nächsten Kurve war es schon wieder vorbei mit der tollen Aussicht und sie fuhr zügig die Gieversdorfer Straße bis zum Ortsrand entlang. Im Dorf ließ sie den Wagen nur langsam rollen, bis sie in die schmale Zufahrt zum Grundstück ihrer Familie einbog.

Das zwei Meter hohe schwarze und an den Spitzen mit Ranken und Rosenblüten verzierte Eisentor öffnete sich per Knopfdruck auf der Fernbedienung und die kleinen mit Goldfarbe gestrichenen ringförmigen Ausbuchtungen an jedem einzelnen Stab glitzerten dabei.

Langsam rollte sie die Auffahrt auf das zweistöckige Haus zu und ließ das Tor für den Gartenbaumeister offen.

Das Grundstück mit dem großen Gebäude wirkte wie eine Südstaatenvilla in den USA und die Leute im Dorf behaupteten, ihr Vater hätte es so entworfen, weil ihre Mutter Fackeln im Sturm so geliebt hatte. Das war natürlich Blödsinn. Ihr Großvater hatte das Haus bereits gebaut, als es die Fernsehserie noch lange nicht gegeben hatte. Und die Form hatte es bekommen, weil er als Fabrikbesitzer nicht in dem Bauernhaus seines Vaters wohnen wollte, das vorher auf diesem Grundstück gestanden hatte. Sein Haus sollte Reichtum und Erfolg ausstrahlen.

Kritisch sah sie sich um, doch es gab nichts zu meckern. Seit die Angestellten von Braun und Söhne den Garten betreuten, sah immer alles penibel gepflegt aus. 

Vielleicht wirkte die Gartenanlage etwas steril. Früher hatte ihre Mutter dafür gesorgt, dass die jeweiligen Gärtner Beete mit Rosen, Tulpen und ihren geliebten Margeriten pflegten, doch seit Lilian hier alleine wohnte, lohnte sich der Aufwand einfach nicht mehr.

Sie parkte das Auto und sah auf die Uhr. Exakt sechzehn Uhr dreißig. Als pünktlicher Mensch müsste ... tatsächlich, in diesem Moment bog der schwarze SUV des Gartenbauers ebenfalls in ihre Einfahrt ab. Er kam näher und stellte seinen Wagen neben ihrem ab.

Für seinen Umfang erstaunlich behände, kletterte Heinrich Braun aus dem Auto heraus und kam auf sie zu. Der Mann war nicht nur dick, sondern auch breit und groß, aber Ines Wolf hatte recht. Er kleidete sich sportlich-elegant und wirkte, durch den zur Schau gestellten Wohlstand am Handgelenk, sicher auf viele Frauen äußerst anziehend.

Er streckte Lilian die Hand hin. „Guten Tag, Frau Hansen.“ Sie ergriff sie. „Guten Tag, Herr Braun. Danke, dass Sie so kurzfristig kommen konnten.“

Er lächelte. „Für Sie habe ich sehr gerne umdisponiert, Frau Hansen.“

Wie ein kleines Mädchen musste sie zu seinem rundlichen Gesicht mit den wulstigen Lippen aufsehen. Schnell ließ sie seine Hand los und drehte sich zum Haus. „Lassen Sie uns gleich in den Garten gehen und dort alles besprechen.“ Sie wartete seine Zustimmung nicht ab, sondern lief energisch auf dem Kiesweg um das Haus herum.

Er folgte ihr. „Wie viele Gäste erwarten Sie in diesem Jahr?“

„Zweihundertvierzig, also etwas mehr als im letzten Jahr.“ Er nickte. „Dann sollten wir auf jeden Fall ein größeres Zelt nehmen. Ich erinnere mich, dass es im letzten Jahr bereits recht eng wurde.“

„Auf jeden Fall, und ich möchte, dass es mit der langen Seite an der Grenze zum Nachbarn aufgestellt wird, damit es den Blick auf das Grundstück verbirgt!“ Sie zeigte nach rechts auf den völlig verwilderten Garten des alten Mattes, wo die Brennnesseln meterhoch zwischen den Stäben des edlen Gitterzauns hindurch wuchsen, den bereits ihr Großvater väterlicherseits um ihr Grundstück herum errichtet hatte. Das war neunzehnhundertfünfzig gewesen. Da hatten Verbrecher versucht, ihren Vater zu entführen, was Gott sei Dank nicht gelungen war. Aber als Reaktion auf diesen Schock, war der lange hohe Gitterzaun um das gesamte Grundstück gebaut worden.

Braun nickte und seufzte. „Ja, seit Hans gestorben ist, wuchert es noch mehr auf seinem Hof.“

Lilians Augenbrauen zuckten hoch. „Hans Mattes ist gestorben?“

„Ja, wissen Sie das etwa nicht?“

„Nein. Wann denn?“

„Es ist zwei Wochen her, vorgestern war schon die Beerdigung.“

„Oh. Woran ist er denn gestorben? War er krank?“

„Jacob hat ihn in der Küche gefunden. Hans war dreiundneunzig Jahre alt, da kann das Herz schon mal schlappmachen.“

„Wer ist Jacob?“

„Unser Briefträger hier im Dorf. Den kennen Sie doch, oder etwa nicht?“

„Ach so, der.“ Sie räusperte sich. „Und gibt es Erben?“

„Im Dorf gehen Gerüchte um. Er soll einen Sohn gehabt haben, aber genaues weiß keiner.“

 Lilian nickte versonnen. „Das ist ja traurig.“

Ihr Vater war mit seinem Nachbarn gut ausgekommen und wäre wohl auch zur Beerdigung gegangen. Sie selbst war dem alten ehemaligen Landwirt fast nie begegnet, hatte jedoch schwache Erinnerungen aus ihrer Kindheit an ihn. Der Mann hatte ihr damals Angst gemacht, weil er immer so mürrisch gewesen war.

Als sie nach dem Studium, und den Jahren in Flensburg, wieder hergezogen war, war der Hof bereits verwildert gewesen und sie hatte den Besitzer nur selten und von weitem zu Gesicht bekommen.

Was nun wohl aus dem Grundstück werden würde? Bloß keine Ferienappartements! Bei der Vorstellung überlief sie ein Schauer des Schreckens und sie drehte sich schnell weg, als würden die Touristen der Zukunft bereits mit Ferngläsern in ihren Garten starren.

„Für das Büfett sorgt dieses Jahr ein Service aus Lübeck“, informierte sie den Gartenbauer. „Der Schlachter aus Travemünde hat im letzten Jahr mehr abgerechnet, als bestellt worden war. Ich schicke Ihnen die Nummer, damit Sie sich mit den Leuten besprechen können.“

Braun nahm ein Handy aus seiner Hemdtasche, öffnete eine Diktierapp und sprach ein Memo in das Mikro. Er sah sich um. „Letztes Jahr hatten wir den Blumenschmuck in Gelbtönen.“ Lilian nickte. „Ja, das war sehr nett, vor allem die schönen Töpfe und Gestecke den Weg entlang haben mir sehr gefallen. Das können wir dieses Jahr wieder so aufstellen, lassen Sie uns ...“, sie tippte sich mit dem Zeigefinger ans Kinn, während sie versuchte, sich das Setting vorzustellen, „Lassen Sie uns dieses Jahr Blautöne nehmen.“

„Eine gute Wahl.“ Heinrich Braun nickte und sprach erneut das entsprechende Memo in sein Handy. „Ist notiert. Möchten Sie wieder runde Tische?“

„Ja, aber ich bin mir nicht sicher, ob wir sie genauso  wie im letzten Jahr stellen sollten.“

Sie wanderten durch den Garten, um den Pool herum zur Terrasse, während sie die Einzelheiten besprachen. Schließlich erreichten sie wieder ihren Ausgangspunkt an den Autos.

Braun klickte auf seinen Kalender. „Ich möchte in diesem Jahr ein paar Tage früher mit den Vorbereitungen beginnen.“ „Tun Sie das und es wäre schön, wenn Ihre Leute wieder dieses nette Wellenmuster in die Hecken am Pool zaubern könnten. Später zum Herbst hin, können wir sie ja wieder ganz kurz scheren.“

„Gerne. Ich schicke nächste Woche meinen Sohn mit zwei Helfern vorbei, der ist unser Fachmann für solche Aufträge.“

Lilien nickte. „Sehr gut.“

Ihr Handy klingelte. „Entschuldigung.“

Sie nahm den Anruf per Lautsprecher an. „Frau Wolf, was gibt´s?“

„Die Herren erwarten sie im Onlinemeeting wegen des Großauftrags“, sagte ihre Assistentin in so lässigem Tonfall, als würden sie ständig weltweite Geschäfte tätigen. „Die Einzelheiten haben wir schon mit den verschiedenen Fachbereichen geklärt, aber jetzt brauchen wir Sie.“ Lilian musste sich ein Grinsen verkneifen. „O nein!“ Sie sah auf ihre Armbanduhr. „Ich habe tatsächlich die Zeit vergessen. Danke, Frau Wolf, ich werde in wenigen Minuten online sein. Bitte schicken Sie Mr. ... ähm ... Kingston doch schon mal zur Info unsere neuen Weihnachtskreationen und welche Transportmöglichkeiten wir ihm anbieten können. Dann ist er noch einen Moment beschäftigt.“

Sie drückte den Anruf weg und stöhnte. „Es tut mir leid. So abrupt wollte ich unser Gespräch nicht abbrechen, aber die Zeitverschiebung mal wieder. Ich habe den Abendtermin mit einem Großkunden vergessen.“

Heinrich Brauns Gesichtsausdruck blieb so neutral, als hätte er keinen Schimmer, wovon sie redete und sie seufzte. „Mit unseren Kunden in Übersee müssen wir leider in den Abendstunden konferieren.“ Sie lachte. „Ich werde mich wohl nie daran gewöhnen.“

„Oh. Ähm. Ja.“ Er rührte sich nicht. Verflucht, brauchte der Mann lange, um seine Gehirnzellen zu benutzen. Sie runzelte die Stirn. „Ich glaube, wir haben alles besprochen, oder?“

„Ja. Ähm, ich wollte Sie gerne noch einlad...“

„Sorry, ich muss jetzt wirklich.“ Sie setzte einen Fuß auf die erste Stufe zur Haustür hinauf, blieb noch einmal stehen und drehte sich um. „Falls es Fragen zu klären gibt, wenden Sie sich bitte an meine Assistentin Frau Wolf.“

„Das mache ich.“ Endlich kapierte er. Eilig zeigte er eine angedeutete Verbeugung. „Dann werde ich Sie nicht länger aufhalten. Noch einen schönen Abend, Frau Hansen. Die Auftragsbestätigung lasse ich gleich morgen tippen und Ihnen per E-Mail schicken.“

„Sehr gut. Danke. Ihnen auch einen schönen Abend, Herr Braun.“ Sie ging hinein und beobachtete aus dem kleinen Fenster neben der Tür wie er davonfuhr. Nachdem er das Grundstück verlassen hatte, schloss sie erleichtert per Fernbedienung das große Tor an der Einfahrt und kickte auf dem Weg ins Schlafzimmer, welches sich im Obergeschoss befand, die Pumps von den Füßen.

In Shorts, einer lockeren Bluse und barfuß kehrte sie ins Erdgeschoss zurück und schlenderte in die große Küche. Der Kühlschrank bot ein buntes Angebot von Fruchtsäften. Frau Weber hatte dafür gesorgt, alle Sorten aufzufüllen. Sehr gut. Lilian entschied sich für Kirsche. Sie gab Eiswürfel und eine Scheibe Zitrone in das dickbäuchige Glas dazu und steckte einen gläsernen Trinkhalm hinein. Die ersten richtig warmen Frühsommertage nach dem Winter und Frühling waren immer die besten, allerdings kamen sie dieses Jahr extrem früh. Sie hatten schließlich erst Ende Mai!

Wohlig stöhnend ließ sie sich auf der Terrasse in einen Liegestuhl sinken und stellte das Glas auf den niedrigen Beistelltisch.

Das Wasser im Pool glitzerte im Licht der untergehenden Sonne. Vögel zwitscherten und eine schwarzweiße Katze schlich am Zaun entlang. Ob der alte Mattes noch Tiere gehalten hatte? Darum würde sich ja wohl jemand kümmern. Die Katze gehörte sicher zu einem der anderen Höfe im Dorf.

Manchmal kam es ihr seltsam vor, in dem großen Haus mit dem parkähnlichen Garten ganz allein zu wohnen. Andererseits genoss sie die Stille und das Alleinsein nach den Tagen im Büro, die oft genug länger als zehn Stunden dauerten. Eigentlich hatte sie Menschen noch nie gebraucht. Sie war gern allein. Auch ihre beiden Ehen hätte sie sich sparen können. Männer waren nur im ersten Moment attraktiv, aber kaum glaubte einer, eine Frau sicher an seiner Seite zu haben, entwickelte er sich zu einer Mischung aus Kleinkind und Couchpotato. Nur wenn junge Mädchen in der Nähe waren, erwachten die Mumien zu alter Frische.

Okay, sie übertrieb vielleicht etwas. Natürlich hatte es in ihren Ehen auch gute Zeiten gegeben, trotzdem lebte sie lieber allein. Manchmal fragte sie sich, ob sie als Seniorin vereinsamen würde. Aber nein, das war unwahrscheinlich. Schließlich hatte sie genug Geld, um sich Tag und Nacht von Profis betreuen zu lassen. Sie musste sich bloß überlegen, wem sie die Fabrik und das Familienvermögen vererben sollte. Den Kindern ihrer Cousine Margret? Die waren sich ihrer Chancen durchaus bewusst, sonst wären sie sicher nicht so eifrig dabei, Geburtstags-und Weihnachtskarten an die liebe Tante Lilian zu schicken.

Zum Glück war ja noch Zeit. Sie wurde schließlich fünfzig und nicht siebzig.

Ob der alte Mattes auch geglaubt hatte, er hätte noch viel Zeit?

Unwillig schüttelte sie den Kopf. Der Mann war über neunzig geworden. Ob er einsam gewesen war?

 Er hatte seinen Hof verkommen lassen und war chronisch schlechter Laune gewesen, was man seinem Gesichtsausdruck schon von weitem ansah. Außerdem hatte er geraucht. Wenn der Wind ungünstig stand, war sie, trotz der nicht unerheblichen Entfernung zwischen den beiden Häusern, nicht selten in den zweifelhaften Genuss gekommen, den Gestank seiner Zigarren wahrzunehmen. Trotzdem hatte sie ihn stets freundlich nickend gegrüßt, obwohl er daraufhin immer nur irgendwas Undefinierbares gebrummt oder sich kommentarlos weggedreht hatte.

Chris Normans Midnight Lady verwöhnte Lilians Ohren und sie schlug die Augen auf. Doch anstatt den Radiowecker sofort auszuschalten wie sie es gewöhnlich tat blieb sie liegen und ließ die Melodie durch ihren noch verschlafen trägen Geist fließen.

Niemals hätte sie irgendeinem Menschen gegenüber zugegeben, dass sie sentimentalen uralten Kitsch dieser Art liebte. Doch im eigenen Schlafzimmer morgens um sechs war sie sicher, dass niemand ihr genussvolles Mitsummen hören würde.

Als das Lied verklungen war und ein gefühlloser Moderator einen Stau auf der A1 meldete, schaltete sie seufzend den Wecker ab und stand auf. Sie reckte sich vor dem Fenster. Blauer Himmel. Der Juni kündigte sich in diesem Jahr wirklich von der allerbesten Seite an.

Ganz leise drang das mahlende Geräusch der elektrischen Kaffeemühle an ihre Ohren. Frau Weber, pünktlich wie immer, war in der Küche und schon dabei, ihr das Frühstück zuzubereiten. Gleich würde der Mixer für das Obst folgen. Prompt sprang der Motor an. Sie liebte regelmäßige Abläufe

Zufrieden stand Lilian auf und zog sich den Badeanzug an.

Als sie im Morgenmantel die Treppe hinunterlief, rief sie nur ein „Guten Morgen, Frau Weber“ in Richtung Küche, verließ durch die bereits geöffnete Terrassentür das Haus, zog den Mantel aus und ließ ihn auf die Gartenliege fallen. Über die Treppe an der kurzen Seite stieg sie in den Pool. Das Wasser weckte auch den Rest ihrer Lebensgeister. Sie hielt für einen Moment die Luft an, als ihr Körper eintauchte. Dann drückte sie auf den Knopf an ihrer wasserdichten Sportuhr und sofort ratterten die Zeiger los. Sie streckte die Arme vor und ließ sich sanft in das herrliche Nass gleiten.

Nach dreißig Minuten piepte die Uhr. Fertig mit dem Ausdauertraining. Morgen war wieder Krafttraining mit der Gegenstromanlage dran.

Sie stieg aus dem Pool. Augenblicklich reagierte ihre Haut auf die noch niedrige Lufttemperatur und eine Gänsehaut ließ sie zittern. Sie hängte sich den Morgenmantel über und lief zurück in ihr Schlafzimmer, wo im angeschlossenen Bad die Dusche wartete.

Exakt um sieben Uhr setzte sie sich an den für sie gedeckten Tisch im Wintergarten und goss sich aus der Thermoskanne Kaffee ein.

Die Lübecker Nachrichten lagen wie immer neben dem Gedeck und Lilian griff danach. Von Frau Weber war nichts zu hören. Während Lilian frühstückte, machte sich die gute Fee mal wieder unsichtbar, um nicht zu stören. Vermutlich kümmerte sie sich im Keller um die Waschmaschine.

Als sie den Kopf hob, um den frisch gepressten Saft zu trinken, fiel ihr Blick auf den Zaun am Ende ihres Gartens und die Brennnesseln auf dem Nachbargrundstück.

Nun würde das alte Haus sicher bald abgerissen werden und das Unkraut verschwinden. Wer wohl das Grundstück kaufen würde? Vielleicht sollte sie es selbst tun, dann wäre sie wenigstens vor Ferienappartements und Touristen mit Ferngläsern sicher. Sie würde Ines Wolf bitten, herauszufinden, welcher Makler den Auftrag dazu bekommen würde. Andererseits brauchte sie definitiv nicht noch mehr Garten. Es war kostspielig genug, die bestehende Anlage pflegen zu lassen, und es gab andere Möglichkeiten, sich gegen Touristen zu wehren. Sie könnte mit den Dorfbewohnern klagen, falls ein Investor eine Hotelanlage plante. Das war einfacher, als das Land zu kaufen.

Vielleicht machte sie sich viel zu viele Sorgen. Der neue Besitzer konnte ja auch ein Unternehmer aus Hamburg sein, der sich hier ein schönes Privatanwesen bauen würde. Grundstücke so nah an Timmendorf und der Ostsee waren teuer, weshalb der Mann sicher wohlhabend wäre. Dann hätte sie einen stilvollen Nachbarn, mit dem sie niveauvolle Gespräche führen konnte. Sie würden Freunde werden, enge Freunde, die abends bei einem Glas Wein zusammensitzen und ... wer weiß ... vielleicht würde sich sogar mehr ergeben.

Plötzlich wurde ihr bewusst, in welche Richtung ihre Gedanken wanderten. In ihrem Alter! Ein reicher Unternehmer würde natürlich eine junge Geliebte oder Ehefrau mitbringen.

Kapitel 2

Ein Mix aus Brummen, Aufheulen und dumpfen Stößen drang in Theos Ohren und er stöhnte genervt. Ein Staubsauger. Am Morgen. Fuck! Der Putzteufel war da.

Er drehte sich halb, um einen Blick auf die Uhr zu werfen. Scheißidee. Ein Hammer donnerte los, um seine Schädeldecke zu zertrümmern. Schnell schloss er wieder die Augen, aber der Staubsauger hinderte ihn daran, noch einmal in schmerzlose Stille und Dunkelheit abzutauchen.

Er hasste es, in diesem Zustand aufzuwachen. Die blöde Sauferei nahm überhand. Dabei hatten Kalle und er es längst nicht mehr nötig, für exklusive Gäste die Animateure zu spielen. Die kamen auch so, ohne sich als Freunde der Eigentümer fühlen zu müssen. Schließlich war das Tika im Moment der angesagteste Nachtclub von ganz Hamburg. Karl konnte das in Zukunft selbst tun, wenn er meinte, es wäre notwendig.

Was war am Abend im Club losgewesen? Krampfhaft versuchte er, sich zu erinnern. Der Geburtstag von dem Schauspieler? Nein, das war vorgestern gewesen. Gestern ... gestern ... mal überlegen ... irgendeine Frau? Bilder zuckten vor seinem inneren Auge auf. Die kleine Blonde? Nein, die hatte sich ein anderer Typ geschnappt. Eine Session kam auch nicht infrage, dann hätte er ja nicht getrunken. Theo war sicher, er hatte keinen Sex gehabt.

Was für ein Wochentag war eigentlich? Oder hatten sie Wochenende? Nein, es musste Donnerstag sein, sonst würde der Putzteufel nicht wüten und es wäre herrlich still in seiner Wohnung. Fuck, jetzt fiel es ihm wieder ein. Der Fußballprofi vom HSV war mit seinen Freunden in das Tika eingefallen und hatte massenhaft Whiskey Cola ausgegeben.

 Das Dröhnen des Staubsaugers wurde bedrohlich laut. Das Ungetüm kam näher. „Ruhe!“, brüllte er und fasste sich stöhnend an den Kopf.

„Der Staubsauger ist nun mal laut, Tigerbaby Theodor“, tönte es fröhlich durch die geschlossene Tür. Theo stöhnte. Was hatte seine Mutter sich bloß gedacht, ihm diesen total bescheuerten Vornamen zu geben. Wäre sie nicht schon tot, würde er sie heute dafür erwürgen.

Der Staubsauger donnerte gegen das Holz der Schlafzimmertür und in Theos Kopf passierte ein Erdbeben.

Verflucht, was hatte ihn nur dazu gebracht, dem Typen anzubieten, seine Schulden in seiner Wohnung abzuarbeiten? Er wusste es genau. Vincent erinnerte ihn an seine eigene Zeit als Türsteher mit chronisch leerem Portemonnaie und irgendwie mochte er den blonden Muskelprotz auch. Meistens. Manchmal hasste er ihn auch. „Putz das Klo!“

„Damit bin ich schon fertig.“

„Die Fenster!“

„Die sind erst nächsten Monat wieder dran.“

Theo seufzte. „Dann setz dich hin und trink Kaffee.“

„Ich muss aber meine Schulden abarbeiten. Mein Arbeitgeber ist voll fies, der haut mich, wenn ich nicht fleißig genug bin“, tönte es mit kindlich verstellter Stimme. „Außerdem ist es dreckig hier. Wenn du beim Reinkommen die Schuhe ausziehen würdest, müsste ich seltener saugen.“ Das war wieder die Männerstimme.

„Ich sollte ihm Redeverbot erteilen“, murmelte Theo, allerdings so leise, dass Vincent es nicht hören konnte. Der übertönte fröhlich weiterhin den Staubsauger. „Es ist übrigens gleich Mittag und der Graf hat bereits angerufen. Ich soll dich daran erinnern, dass du dich heute um die offenen Fragen zur Buchführung kümmern musst, weil am Montag Abgabe beim Steuerberater ist.“

Auch das noch. „Okay, verstanden.“

 „Und wir haben zwei Neue im Keller. Sie sind Anfänger und du sollst sie heute Abend im Blick behalten, weil der Graf glaubt, dass sie nicht genug wissen, auf was sie sich einlassen.“

Ohne die Augen zu öffnen, schob Theo die Decke weg und kletterte aus dem Bett. Er blinzelte kurz, um die Tür anzuvisieren, öffnete sie und verschwand gegenüber im Bad. Er stellte sich unter die Dusche, biss die Zähne zusammen und drehte entschlossen das kalte Wasser auf.

Eine Sekunde später war er wach und weitere fünf Minuten später stand er abgetrocknet in seinem begehbaren Kleiderschrank. Der Staubsauger schwieg endlich. Was für eine herrliche Ruhe.

Er zog die letzte saubere Unterhose aus dem Regalfach. „Vince“, brüllte er.

„Was?“

„Hast du dich um die Wäsche gekümmert?“

„Zur Hälfte“

Zur Hälfte? Was war das denn für eine bescheuerte Antwort?

„Was heißt ZUR HÄLFTE?“

„Ich habe alles in die Waschmaschine gesteckt und danach in den Trockner, aber der läuft noch nicht, weil ich erst saugen wollte. Beim letzten Mal ist die Sicherung rausgeflogen, als beides auf einmal arbeiten sollte. So ist das eben, wenn man im stylischen Altbau wohnt. Die alten Drähte laufen heiß.“

„Dann schalt ihn jetzt ein.“

„Das war der Plan, mein geliebter König Theodorus.“

Theo zog sich ein T-Shirt und eine auf den Lenden hängende Jogginghose an und schlenderte in die Küche. Dort summte der neue Kaffeeautomat. Wenigstens der arbeitete leise.

Vincent zog einen frischen Kaffee unter dem Ausguss hervor und wollte den Becher an den Mund führen, doch Theo nahm ihn ihm aus der Hand.

Kommentarlos öffnete seine männliche Putzfrau die Schranktür, holte sich einen neuen Becher heraus und stellte ihn auf das Blech der Maschine.

Theo zog die Schublade mit den Tabletten auf, wählte zwei Aspirin und warf sie sich in den Mund. Dann drehte er den Wasserhahn über der Spüle auf, hielt den Kopf schräg darunter und trank einen großen Schluck.

Er hockte sich auf den Barhocker vor der Theke und nippte an seinem Kaffee.

Das Telefon klingelte. Um zwölf Uhr. Kein Mitarbeiter aus dem Club würde es wagen, um diese Zeit anzurufen. Sie schickten Textnachrichten auf das Handy, denn sie wussten, dass er es hasste, so früh am Tag gestört zu werden. Es konnte also nichts Wichtiges sein. „Geh ran und sag ich bin nicht da.“

Vince trottete los und nahm den Hörer von dem altmodischen Gerät. „Hier spricht die persönliche Assistentin von Theodor Sturm. Was kann ich für Sie tun?“

Stille.

„Wer ist da? Moment, ich notiere. Notariats...“

Theo runzelte die Stirn. Ein Notar? Er stand auf, ging zum Telefon und zog Vince den Hörer aus der Hand. „Theo Sturm. Worum gehts?“

***

Lilian sah auf ihren Tagesplan. Das meiste war erledigt, einige Mails warteten noch, aber die konnte sie zu Hause bearbeiten. Sie würde endlich mal am frühen Nachmittag aus dem Büro verschwinden und das herrliche Wetter des Spätnachmittags im Garten genießen. Nur ein unangenehmer Punkt stand noch auf der Liste. 

Seufzend drückte sie auf den Knopf der alten Sprechanlage.

„Ja“, tönte Frau Wolfs Stimme durch das Knistern hindurch. Das graue Gerät mit dem dünnen Mikrofonhals stammte noch von Lilians Vater. Sie sollte es endlich austauschen, doch Sentimentalität hielt sie davon ab. Manchmal, wenn sie es benutzte, fragte sie sich, was Papa über sie hinter seinem Schreibtisch wohl denken würde. Meistens lächelte sie dann, denn sie sah ihn im Geiste so stolz vor sich wie an dem Tag, als sie ihr Studium erfolgreich abgeschlossen hatte. Heute sah sie vor ihrem inneren Auge eher eine Mimik, die Mitleid ausdrückte. Ihm hatte es auch nie gefallen, mit Mitarbeitern unangenehme Gespräche zu führen. „Grüß mir die Mama“, flüsterte sie in den leeren Raum und lächelte.

„Was gibts, Frau Hansen?“

Lilian lehnte sich vor und drückte den Knopf des Mikrofons. „Ist Herr Kästner schon im Haus?“

„Ja. Er ist gerade von seiner Tour reingekommen.“

„Rufen Sie ihn bitte und bleiben Sie beim Gespräch als Zeugin dabei.“

„Ich verstehe.“

Es klickte. Lilian griff zu der Mappe, die ihr Produktionsleiter zusammengestellt hatte, legte sie vor sich und lehnte sich zurück. Sie mochte Angelegenheiten dieser Art nicht und war immer froh, wenn sie sie hinter sich gebracht hatte.

Die Tür ging auf und Frau Wolf führte den smarten Außendienstmitarbeiter herein.

Er lächelte charmant wie immer, von sich und seiner Erscheinung überzeugt. „Guten Tag, Frau Hansen.“

Lilian stand auf und er streckte seine Hand vor. Doch statt ihn mit dem erwarteten Händedruck zu begrüßen, deutete sie auf die beiden Stühle vor ihrem Schreibtisch. „Bitte setzen Sie sich.“

Kästner blieb vor seinem Stuhl stehen und ließ sich erst darauf nieder, nachdem auch Lilian wieder Platz genommen hatte. Die altmodische Höflichkeitsgeste galt seiner Ansicht nach allerdings nicht für Frau Wolf. Bei der beachtete er nicht, ob sie schon saß. Vermutlich glaubte er, die Chefin würde ihre Assistentin sowieso gleich losschicken, um Kaffee zu holen. Was für ein arroganter Spinner.

Frau Wolf setzte sich und Lilian griff nach der Mappe. „In den letzten Wochen haben sich erneut mehrere Mitarbeiterinnen über Ihr Verhalten beschwert. Ich dachte, wir hätten bereits im Januar ausführlich über dieses Thema gesprochen.“

Kästner stöhnte und schüttelte den Kopf. „Was soll ich denn nun schon wieder verbrochen haben?“

Lilian schlug die Mappe auf. „Auf den Hintern schlagen, in der Umkleidekabine erscheinen, obwohl Sie da nichts zu suchen haben, respektlose Sprüche diverser Art“, sie blätterte zwei Seiten vor. „Die Liste ist ziemlich lang. Dazu kommen Einladungen zu Getränken, für die Gegenleistungen erbracht werden sollen, wobei manche dieser Vorwürfe schon fast als Erpressung bezeichnet werden müssen.“

Kästner schnaubte. „Die Weiber sind beleidigt, weil ich auf ihre Flirterei nicht eingehe und erfinden, um sich zu rächen, solche Geschichten. Denen darf man nichts glauben. Das sind die Arbeiterinnen aus der Produktion! Die wackeln mit den Brüsten und machen die Beine breit, um sich einen deutschen Mann zu schnapp...“ Er stockte. Anscheinend wurde ihm gerade selbst bewusst, was er da eigentlich vor seiner Chefin von sich gab. Lilian zog demonstrativ die Augenbrauen hoch. „Für was?“

Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her. „So meinte ich das nicht. Aber Sie wissen doch auch, wo die herkommen.“

„Woher kommen sie denn? Soweit ich weiß, wohnen alle in Lübeck oder in der näheren Umgebung.“

Plötzlich begann seine Stirn, verschwitzt zu glänzen. „Muss ich Ihnen das wirklich erklären? Man darf es ja öffentlich nicht sagen, aber jeder weiß doch, dass diese Ausländer nur Wirtschaftsflüchtlinge sind. Die werden anders erzogen als die Frauen bei uns. Bei denen herrschen andere Sitten.“

„Sie haben einer der neuen Auszubildenden, Frau Gomorros, gestern nach der Spätschicht angeboten, sie nach Hause zu fahren. Stimmt das?“

Er stöhnte. „Ja. Darf man jetzt nicht mehr freundlich zu einem jungen Mädchen sein?“

„Sie haben die Mitarbeiterin nicht nach Hause gebracht, sondern sind mit ihr in einen Wald gefahren. Sie wollten von ihr oral befriedigt werden und haben ihr gedroht, sie als Diebin bei der Produktionsleitung anzuzeigen, sollte sie sich weigern.“

„Das ist nicht wahr! Die Tussi lügt! Sie werden ihr doch nicht glauben!“

„Warum sollte ich nicht?“

Er sprang auf. „Tun Sie doch nicht so scheinheilig! Sie wissen genau, dass diese Leute lügen und betrügen, sobald sie sich einen Vorteil davon versprechen. Sie beschäftigen doch selbst so eine billige Arbeitskraft bei sich zu Hause. Vor der verschließen Sie garantiert auch ihre Wertsachen.“

Lilian stutzte. „Wen beschäftige ich zu Hause?“

„Na, eine von diesen Neubürgern aus Afrika!“

Sprach der Typ von Amari Weber, ihrer Haushälterin?

„Hören Sie sich eigentlich manchmal selbst zu?“, fragte Lilian perplex und Ines Wolf presste die Lippen zusammen, nachdem ihr der Ansatz eines Schnaubens herausgerutscht war.

Lilian nahm einen Zettel aus der Akte. „Frau Gomorros war so geistesgegenwärtig, die Aufnahmefunktion ihres Handys einzuschalten. Sie ist aus ihrem Wagen geflüchtet und zu Fuß zur Straße gelaufen, wo ihr Vater sie abgeholte, nachdem sie ihn angerufen hat. Der war es auch, der mir heute Morgen von dem Vorfall berichtet hat. Wir haben Frau Gomorros geraten Sie anzuzeigen, aber sie möchte nur einfach nichts mehr mit Ihnen zu tun haben. Ich hoffe, ihr Vater kann die junge Frau noch umstimmen, denn das gestrige Verhalten ist weit mehr als nur ihre übliche widerliche Belästigung. Es ist nicht hinnehmbar. Sie sind fristlos entlassen, Herr Kästner.“

Eine Sekunde lange starrte er sie an, als müsste er ihre Worte erst innerlich verarbeiten, bevor er reagieren konnte. Doch dann sprang er vor und stützte sich auf ihrem Schreibtisch auf. „Das ist nicht Ihr Ernst! Bereits mein Vater hat für Ihre Familie geschuftet!“

Lilian blieb gelassen sitzen. „Die schriftliche Kündigung ist bereits unterwegs. Sie haben ab sofort Hausverbot.“

„Das können Sie nicht tun! Es gibt Kündigungsfristen! Ich gehe vor das Arbeitsgericht! Damit kommen Sie nicht durch!“

„Machen Sie das und jetzt verlassen Sie bitte sofort mein Büro.“

Er hob die Hand. „Das werden Sie bereuen!“

Ehe sie antworten konnte, war er aus dem Zimmer gerannt und die Tür knallte hinter ihm ins Schloss.

Lilian seufzte. „Wir brauchen eine Stellenausschreibung.“

Ines Wolf stand auf. „Die mache ich gleich fertig. Was meinen Sie? Wird er noch Ärger machen?“

Lilian winkte ab. „Das glaube ich nicht. Er weiß, dass er keine Chance hat.“

***

Theo parkte seinen geliebten Wrangler Gladiator wie immer auf dem Parkplatz hinter dem Gebäude des Tika, der für Mitglieder des SM-Kellers vorbehalten und von der großen Parkfläche für die normalen Gäste des Nachtclubs abgeschirmt war. Der Ferrari von Karl Graf, seinem Kindheitsfreund und jetzigem Geschäftspartner stand bereits da.

Er drückte seine Finger auf das Panel an der Hintertür, es piepte und das Schloss sprang klickend auf.

Drinnen war um diese Zeit noch alles ruhig. Auch von den Mitgliedern des SM-Areals, die tagsüber ihre Lust auslebten, um abends am normalen gesellschaftlichen Leben teilzunehmen oder mit der ahnungslosen Frau und Kindern im Einfamilienhaus zu sitzen, sah man hier oben nichts. Die benutzten eine versteckte Kellertür an der Querseite des Hauses, die nur nach Kontrolle des Mitgliedsausweises geöffnet wurde.

Hinter den verschiedenen Tresen waren Mitarbeiter damit beschäftigt, die Getränkekühlschränke aufzufüllen. Wer ihn sah, grüßte murmelnd und Theo nickte ihnen im Vorbeigehen zu.

Das Büro befand sich im Dachgeschoss und war über eine versteckte Tür und eine Wendeltreppe zu erreichen. Zwei Stufen auf einmal nehmend stieg er hinauf.

Karl war nicht da. Aber die Monitore des Überwachungssystems liefen und er sah ihn im Foyer des SM–Kellers mit einem Mitarbeiter reden. Jetzt drehte er sich um und verschwand aus dem Bild. Auf dem anderen Bildschirm benutzte er die versteckte Tür zur Wendeltreppe. Gleich würde er im Büro erscheinen.

Theo zog sich die Jacke aus und warf sie über die Couch, nahm sich eine Cola aus dem Kühlschrank und trank gierig, nachdem er den Kronkorken in den kleinen Mülleimer gekickt hatte. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und schaltete den Laptop an.

Die Tür ging auf. „Moin, Tiger.“

Er sah auf. „Moin, Kalle.“

Karl schloss die Tür und krempelte sich die Ärmel seines schwarzen Hemdes bis zu den Ellenbogen auf. „Hast du dich um den Schreibkram wegen dem Brandschutz gekümmert?“

Theo verdrehte die Augen. „Ich denke die Buchführung ist fällig.“

„Das ist diesen Montag, der Brandschutz war letzte Woche Thema, denn heute habe ich den Termin mit der Versicherung. Wo ist der Ordner überhaupt? Ich habe ihn vorhin gesucht.“

Theo deutete nach rechts. „Im Schrank. Mittleres Fach.“

Karl ging hin und öffnete die Tür. „Dieser Haufen Papier?“

„Es ist alles da, muss nur abgeheftet werden.“

Sein Kompagnon stöhnte. „Okay, ich sortiere das, aber mach du die Steuern!“ Er marschierte mit dem Papierstapel zu seinem Schreibtisch und begann, die Zettel auf verschiedene Stapel zu legen.

„Ja, ja, schon gut, ich bin ja schon dabei“, brummte Theo und lehnte sich zurück. „Kalle ...“

„Mhm.“

„Denkst du manchmal an früher?“

„Was meinst du?“