Fliegende Teppiche - Simone Wiechern - E-Book

Fliegende Teppiche E-Book

Simone Wiechern

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Beschreibung

Nassibuk - Schicksal, sagen die Beduinen und meinen damit: Alles wird kommen, wie es kommen muss. Das gesamte Leben ist in einem großen Buch verzeichnet und man kann seiner Bestimmung nicht entkommen. Stimmt das? Wenn ich heute daran zurückdenke, war es eine knappe Stunde, in der ich mich entschied, mein gesamtes bisheriges Leben vollkommen über den Haufen zu werfen. Eine Teilbiografie über das Leben einer jungen Frau, die beschließt, ihr weiteres Leben als Beduinin zu führen. Eine wahre Geschichte die wie ein Märchen beginnt...

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Voller Sehnsucht in Berlin

Urlaub im Sinai

Jetzt oder nie

Abjad

Kamelsafaris

Der Wüstenprinz

Los, lauf...

Dahab – Nuweiba

Tarabin, du hast mich wieder

Jessica

Überraschung

Einen Schritt vor und zwei zurück

Abschiede

Feranje

Ras Abu Galum

Kleine und große Wunder

Dunkle Wolken ziehen auf

Glück im Unglück

Dahab verändert sich

Licht und Schatten

Verlorene Freiheit

Epilog

Impressum

Fliegende Teppiche

Simone Wiechern

Für meine Söhne

Ghanem, Salama und Soliman

Prolog

»Wer nicht in die Welt passt,der ist immer nahe daran, sich selber zu finden.«

- Hermann Hesse -

Der graue Himmel über Friedrichshain beschwerte mein Gemüt. Die leuchtende, wärmende Sonne brachte hingegen neue Ideen, neue Hoffnungen.

Oft, wenn der Himmel wieder klarer wurde, wurden es meine Gedanken auch. Dann sprossen Geistesblitze wie frische Keimlinge im Zeitraffer in den Himmel. Aber diese dann umzusetzen, war ein anderer Schuh. Einmal stand mir die Angst im Weg, dann wieder das Misstrauen und oft siegte diese unüberwindliche Bequemlichkeit, die einem einflüstert, alles besser so zu lassen, wie es ist.

Wenn einem jedoch der Teppich unter den Füßen weggezogen wird, besteht Handlungsbedarf, und dann können solch verrückt erscheinende Einfälle die einzig gute Alternative sein.

Dann ist der Moment gekommen, in dem man die Chance hat, mutig auf den Teppich aufzuspringen, der freudig mit den Fransen winkt, anstatt sich betrübt geschlagen zu geben, schnell eine magische Zauberformel zu sprechen und dem wackeligen Untergrund vertrauen, dass er sich erhebt und aus dem Desaster in eine neue Welt entflieht …

Nassibuk, Schicksal, sagen die Beduinen und meinen damit: Alles wird kommen, wie es kommen muss. Das gesamte Leben ist in einem großen Buch verzeichnet und man kann seiner Bestimmung nicht entkommen. Stimmt das?

Wenn ich heute daran zurückdenke, war es eine knappe Stunde, in der ich entschied, mein gesamtes bisheriges Leben vollkommen über den Haufen zu werfen.

Voller Sehnsucht in Berlin

»Das Glück besteht nicht darin, dass du tun kannst, was du willst,sondern darin, dass du immer willst, was du tust.«

- Leo N. Tolstoi -

Ich lag auf dem einsturzgefährdeten Balkon meiner Wohnung in Berlin Friedrichshain und suchte die Sterne am Firmament. Doch nur ein rabenschwarzer Baldachin war dies im Vergleich zu dem unbeschreiblichen Himmelszelt des Sinai, das ich so sehr vermisste. Das Wetter war jedoch angenehm und ich konnte der Enge der vier Wände entfliehen, meine Isomatte und Bettzeug auf den Balkon verfrachten und meine Augen schließen. Jetzt war es ein Leichtes, mir vorzustellen, ich wäre noch dort; im Land meiner Sehnsucht, wo der Himmel zum Greifen nah war und die Sterne, üppig hingeworfener Diamanten gleich, glitzerten und funkelten. In den Nächten dort hatte mich diese Aussicht bedingungslos glücklich gemacht. Die unzähligen Sternschnuppen konnten einfach mit ihrer Schönheit prahlen, ohne ihrer Aufgabe als Wunscherfüller nachkommen zu müssen. Noch einmal nahm ich den kleinen Sack mit Bergkräutern, den mir eine alte Beduinin geschenkt hatte, unter meinem Kissen hervor und inhalierte den Duft von Weite und Ferne. Kurz vor dem Einschlafen hoffte ich, dies würde mich wenigstens in meinen Träumen wieder an den Ort bringen, der eine ungeahnte Sehnsucht in mir auslöste und vor allem nachts in meinen Gedanken war.

Salim holte uns zwei Taschenlampen und Neoprenschuhe, die schon recht mitgenommen aussahen. Wir wanderten zu einem nahe gelegenen Riff. Er bat mich, dicht hinter ihm in dem knöcheltiefen Wasser zu laufen und mich so langsam und lautlos wie möglich zu bewegen. Wir hatten Neumond und es herrschte absolute Windstille; perfekte Voraussetzungen für unser Vorhaben, wie mich Salim aufklärte. Einzig der Schein unserer Taschenlampen war zu sehen und ich wunderte mich, wie viele Meerestiere wir beobachten konnten. Fische, Schnecken und Seesterne in allen Größen und Farben krochen hier des Nachts über die Riffplatte. Doch erst mal kein Zeichen der Kreatur, die wir suchten. Es war gar nicht so einfach, in dieser stockfinsteren Nacht über die Korallen zu steigen, und ich versuchte meine Füße so vorsichtig wie möglich zu platzieren, um das Riff nicht zu beschädigen. Einige Male rutschte ich aber doch auf dem glibberigen Untergrund aus und ratschte mir die Knöchel an den scharfen Kanten des Untergrunds blutig. Doch Abenteuerlust und Jagdfieber waren geweckt und da hielten mich keine kleinen blutenden Wunden auf. Für Haie war es hier zu meiner Beruhigung nicht tief genug.

Plötzlich blieb der Beduine stehen, hielt mich am Arm und deutete auf etwas in einem kleinen Loch vor uns. Ich zuckte mit den Schultern und sah - nichts. Er leuchtete direkt in den Spalt, und jetzt konnte auch ich etwas erkennen: zwei kleine orange leuchtende Punkte, die das Licht seiner Taschenlampen reflektierten.

Das sind die Augen, gab mir Salim per Zeichensprache zu verstehen und bückte sich ganz langsam. Dann, mit einer blitzschnellen Bewegung, griff er zu und zog einen kleinen Hummer daraus hervor. Sein strahlendes Lächeln reichte von einem Ohr zum anderen und entblößte eine Reihe schwarz verfärbter Zähne, die dem Riff gefährlich ähnelten. Er bugsierte ihn in den dafür mitgebrachten Stoffbeutel und bat mich, da er scheinbar davon ausging, ich wüsste nun, wie ein Hummer aussah, etwas entfernt neben ihm zu gehen. Ich hatte das sprichwörtliche Anfängerglück. Schon nach einigen Minuten sah ich wieder zwei Leuchtperlen im matten Schein meiner Lampe blinken und winkte Salim zu mir. Als er sah, was ich gefunden hatte, rieb er sich die Hände und forderte mich auf, zuzugreifen. Doch gern überließ ich ihm diese Aufgabe und diesmal lohnte sich der Fang wirklich. Ein wunderschönes Tier hatte er da in der Hand; eigentlich viel zu schade es mitzunehmen, aber mir war klar, dass Salim diesen Fang nie und nimmer wieder hergeben würde. Er sagte mir, es wäre nun genug für unser Frühstück und wir gingen zurück ans Ufer.

Wieder im Camp, entzündeten wir ein Feuer direkt vor seiner Hütte aus den unterwegs mitgebrachten Palmwedeln und ein wenig Holzkohle, die noch in der alten Feuerstelle lag. Noch bevor die Kohle richtig durchgeglüht war, hatte ich schon Tee bereitet und wir erwarteten den Sonnenaufgang. Salim hatte den Hummer in der Zwischenzeit in der Campküche vorgekocht und legte ihn nun für eine Weile auf die glühenden Kohlen. Er bot mir meinen Fang an, aber ich entschied mich für den kleineren. Eine hitzige Diskussion entbrannte, in der mir schnell klar wurde, dass es nur einen Verlierer geben konnte. Ich nahm also doch den größeren. Gerade als die Sonne hinter den Bergen Saudi Arabiens aufging, hatten wir einen dekadenten Gaumenschmaus, wie ich ihn selten zuvor erlebt hatte.

Das unbarmherzige Klingeln des Weckers holte mich zurück in den Berliner Morgen, der mal wieder grau und trist war. Noch verschlafen schleppte ich mich ins Zimmer. Beton ist härter als Wüstensand. Alle Glieder reckend und steckend ließ ich mich am Frühstückstisch nieder.

»Wie lange willst du eigentlich noch auf dem Balkon nächtigen?«, fragte mich mein Freund mit einem verständnislosen Grinsen auf seinem Gesicht und schob mir die Kaffeekanne herüber.

Ich goss mir die schwarze, wie immer viel zu starke Brühe in meinen Becher und zuckte nur mit den Schultern. Ich war noch ganz gefangen in den schönen Traumbildern, die genau so noch vor einigen Wochen real geschehen waren und von denen ich mich nicht trennen wollte. Dort würde ich jetzt auf das offene Meer blicken, der strahlende Glanz der Sonne würde den Tag zum Leuchten bringen, ich hätte ein Glas Tee in der Hand und Hummer zum Frühstück!

»Gehst du gleich erst in die Uni oder arbeiten?«, brachte mich Klaus wieder in die Wirklichkeit zurück.

»Zur Uni, warum fragst du?«, antwortete ich verträumt.

»Dann können wir zusammen los, ich habe gleich eine Vorlesung.«

»Ich habe ein freiwilliges Tutorium in arabischer Grammatik. Diese ist so umfangreich, da kann ich gar nicht genug lernen, um das jemals zu verstehen. Es gibt Unmengen von Regeln und noch zahlreicher sind die Ausnahmen dazu.«

»Weißt du mittlerweile, welches Fach du noch studieren willst, um einen Magisterabschluss machen zu können?«, wollte Klaus wissen.

»Ja, ich bin mir aber noch nicht ganz sicher«, entgegnete ich.

»Ich kann dir nach wie vor Politik empfehlen, die Professoren und Angebote sind wirklich hochinteressant an der Freien Universität. Außerdem können Axel und ich dir dann immer mit Rat und Tat beistehen. Dann kannst du dich vielleicht demnächst etwas mehr an unseren nächtlichen Debatten beteiligen, ohne dass wir dir immer die Hintergründe erläutern müssen.«

›Politik verstehen‹, fragte der Zweifel in mir, ›geht das überhaupt?‹

Putativ gingen mein Freund und sein Bruder, der mit uns auf 40 qm lebte und ebenfalls Politik studierte, davon aus.

›Wäre ja mal eine Herausforderung‹, sagte die Kühnheit.

Ich nahm mir erst einmal ein Brötchen, weil es erstens zu früh war, ständig verbal zu reagieren und zweitens, weil meine Gefühle plötzlich anfingen wild durcheinanderzureden. Obwohl ich meinte, noch nicht wach zu sein, waren sie schon putzmunter. Kaum fiel das Wort Debatte, schon fühlten sie sich aufgefordert loszulegen:

›Politik? Brotlose Kunst, für jemanden mit weichem Kern‹, spuckte der Selbsterhaltungstrieb seine Worte verächtlich aus.

›Und doch hoch interessant, würde ich sagen‹, konterte die Faszination.

›Finde ich auch. Einfach nur auf Demos rennen, ohne die genaue Problematik zu verstehen, ist Kinderkacke‹, sagte die Intelligenz ziemlich resolut und mit einem Vokabular, das sehr untypisch für sie war. Sie war wohl etwas beleidigt, auf diesem Gebiet nicht glänzen zu können.

›Ganz meine Meinung. Ihr bekommt ja mit, dass sie sich selber nie wohlfühlt, wenn sie mit den Jungs zusammensitzt und dem Gespräch nicht ganz folgen kann. Mir geht es dabei auch nicht gut‹, sagte die Zufriedenheit.

›Tatsächlich? Ist mir noch gar nicht aufgefallen‹, neckte die Ignoranz, ›mich interessiert das Weltgeschehen nicht im Geringsten.‹

›Was interessiert dich schon?‹, motzte die Intelligenz recht überheblich.

›Mich interessiert es auch gerade nicht‹, meldete sich der Hunger energisch. ›Müsst ihr schon beim Frühstück solche Diskussionen führen? Lasst sie doch erst mal einen Happen essen.‹

Ich biss in mein Brötchen, das ich mir während des Kopfradios geschmiert hatte und kaute langsam. Ich biss ein weiteres Mal ab und trank einen Schluck Kaffee, der mit dem Brötchen zusammen etwas erträglicher schmeckte. Klaus anschauend antwortete ich auf seine Frage:

»Ich werde mich am besten in die Grundschulpädagogik einschreiben. Mit Kindern verstehe ich mich eindeutig besser als mit Politikern. Politik kann ich als Wahlpflichtfach nehmen. Dann könnten wir einige Kurse gemeinsam belegen und uns die Nächte weiterhin mit euren endlosen Diskussionen um die Ohren schlagen. Die Hauptsache für mich ist, ich schaffte das alles neben der Arabistik. Die ist mir wirklich wichtig. Je mehr ich über die Kultur und Sprache der Araber erfahre, desto neugieriger werde ich.«

Ich leckte mir den heruntergelaufenen Tropfen Marmelade vom Finger und ergänzte mit verschmitztem Gesicht:

»Wer weiß, vielleicht lasse ich mich ja später einmal in einem arabischen Land nieder, dann finde ich als Lehrerin bestimmt immer einen Job. Womöglich bei einem Ölscheich, dessen 27 Kindern ich Privatunterricht gebe.«

»Klar, der nimmt dich sicher gern in seinen Harem auf«, foppte mich Klaus.

»Was steht denn heute Abend an?«, lenkte ich das frühe Gespräch in leichtere Bahnen.

»Axel kocht frische Spaghetti, um den Parmesankäse zu würdigen, den Muttern mit der Kiste Hauswein geschickt hat. Wann kommst du heim?«

»Ich denke, ich arbeite nach der Uni noch bis circa sechs Uhr und komme dann.«

Wieder einmal wurde mir durch den kurzen Wortwechsel bewusst, wie verschieden Klaus und ich waren. Er, ein Sohn aus sehr reichem Haus, einer, dem alle Türen offenstanden und der seid jeher von seinen Eltern und Verwandten gefördert und gepuscht wurde.

Ich dagegen war in einem kleinen Hotel groß geworden, konnte mir nie irgendeinen Luxus erlauben und Zeit hatte auch selten jemand für mich gehabt.

Ich liebte Klaus, aber immer war da etwas, das mir ganz deutlich sagte, dass jeder von uns über kurz oder lang seine eigenen Wege gehen würde. Vor allem die klare und immer wieder betonte Aussage von ihm, dass er nie heiraten und ganz sicher keine Kinder haben wollte, machte für mich jegliche Zukunftsplanung mit ihm zunichte.

Ich war in dieser Hinsicht das genaue Gegenteil; wollte sogar mehrere Kinder. Dazu gehörte für mich allerdings ein Mann, der mir das Versprechen gab, mit mir durch gute und schlechte Zeiten zu gehen. Ich war selber mehr oder weniger ohne meinen Vater groß geworden, der über 350 km entfernt lebte und den ich höchstens einmal im Jahr sah. Ich vermisste ihn immer sehr und wünschte mir als Kind nichts sehnlicher als eine heile Familie. Für meine eigenen Kinder wollte ich so einen Zustand nicht. Ich brauchte nicht unbedingt einen Trauschein, aber immer kinderlos bleiben?

Klaus und ich waren jetzt über vier Jahre zusammen und sein Standpunkt hatte sich eher verstärkt, anstatt sich, wie ich insgeheim gehofft hatte, irgendwann in einen Kompromiss umwandeln zu lassen. Ein Leben ohne Kinder war für mich nicht vorstellbar und so versuchte ich schon seid einiger Zeit, eine nötige emotionelle Mauer um mich herum zu errichten.

Nach dem Tutorium und einer Vorlesung in arabischer Geschichte ging ich in die Bibliothek, um an meiner Hausarbeit über die Geschichte des Sinai zu arbeiten.

Die Bibliothek war eines meiner liebsten Gebäude in Berlin. Kaum war ich eingetreten, umgab mich Stille. Die Hektik, die draußen herrschte, hatte hier grundsätzlich Hausverbot. Selbst an der Rezeption wurde im Flüsterton gesprochen, um die Ruhe nicht zu stören. Die Geräusche der Schritte wurden von dicken Teppichen aufgesogen und es gab gemütliche helle Plätze, an die man sich mit seinen auserwählten Werken zurückziehen konnte.

Meine nachdenklichen Blicke verfingen sich in den Pflanzen der stilvoll hergerichteten Atrien. Ich hatte schon herausgefunden, dass die Sinai-Halbinsel angeblich seit 9000 v. Chr. besiedelt gewesen sein soll, und die meiste Zeit unter ägyptischer Hegemonie stand.

Schon 3200 v. Chr. wurden von den Pharaonen Arbeiter und Sklaven in die Minen von Manghara geschickt, um dort Türkis abzubauen. Da auch Gold und Kupfer im Sinai zu finden waren, blieb er die gesamte vorchristliche Zeit für die Pharaonen ein Landstrich mit Bedeutung. Im Jahr 106 n. Chr. wurde die Halbinsel zu einem Teil der römischen Provinz Arabia Petrae, bis sie 395 an Ostrom fiel.

640 bis 642 eroberten die Araber den Sinai und seitdem gehörte er zur Arabischen Welt.

Im frühen 6. Jahrhundert wurde durch Helena, die Mutter Konstantins des Großen, das Katharinenkloster gebaut, das bis heute nahezu unverändert besteht. Es hatte die ganzen folgenden Jahrhunderte hindurch eine Sonderstellung.

Herrscher stellten das Kloster unter besonderen Schutz. Der Schutzbrief des muslimischen Propheten Mohammed liegt immer noch gut verwahrt in der historisch bedeutsamen Bibliothek des Klosters, wo Historiker bis heute immer wieder sensationelle Funde machen.

1859 hat zum Beispiel Konstantin von Tischendorf bei Durchsicht der alten Schriftrollen die älteste Handschrift des Neuen Testaments entdeckt. Während seiner nächsten Aufenthalte bei den Mönchen fand er weitere Teile, auch des Alten Testaments, und veröffentlichte sie als Codex Sinaiticus. Viele Touristen besuchen das Katharinenkloster heutzutage, um den brennenden Dornbusch zu sehen, in dem Gott sich Moses als flammende Erscheinung offenbart haben soll, oder um vom nahe gelegenen Berg Mose aus 2285 Metern einen atemberaubenden Sonnenaufgang zu erleben.

Im 11. und 12. Jahrhundert zogen mehrere Male die Kreuzritter durch den Sinai, und Napoleon Bonaparte hinterließ im 18. Jahrhundert seine Spuren im Sand. Er war der Erste, der die kühne Idee hatte, einen Kanal zum Mittelmeer erbauen zu lassen; musste sein Vorhaben jedoch letztendlich wegen grober Vermessungsfehler aufgeben.

1869 wurden Napoleons Zukunftsversionen dann doch noch wahr und der Suezkanal wurde nach zehnjähriger Bauzeit eröffnet.

Bis 1906 war der Sinai dann Teil des Osmanischen Reiches. In der Mitte des 20. Jahrhunderts begann die sogenannte Suezkrise und die Israelis, die kurz zuvor ihren eigenen Staat bekommen hatten, machten ihren ersten Feldzug in die Region.

Ab 1967 besetzten sie den Sinai und gaben die letzten Teile erst im Jahre 1982 gegen ein Friedensangebot durch den damaligen ägyptischen Präsidenten Sadat an die Ägypter zurück.

Die Beduinen blieben all die Jahre hindurch unabhängig und nahezu unberührt von den wechselnden Regierungen. Erst in der letzten Besatzungszeit durch die Israelis fingen diese an, den Sinai urbar zu machen, eröffneten Farmen, Schulen und Krankenhäuser und boten die zahlreichen Tauchgebiete als Urlaubsziele an. Die Beduinen schwärmen noch heute von den medizinischen Künsten der Israelis und deren Schulen und begrüßten den finanziellen Aufschwung, der durch den Tourismus entstand.

Später an meinem Schreibtisch, in einem ökologischen Landschaftsplanungsinstitut, in dem ich in meinem gelernten Beruf als Bauzeichnerin arbeitete, um mein Studium zu finanzieren, dachte ich weiterhin unentwegt an den Sinai. Während ich 2856 Bäume des Treptower Parks auf einem Plan in verschiedenen Grüntönen ausmalte, blieb fast zu viel Zeit zum Träumen. Ich stellte mir vor, noch einmal ganz auf mich allein gestellt durch den Coloured Canyon zu wandern. Ich war dort bei meinem ersten Urlaub mit Klaus und einem befreundeten Pärchen gewesen. Leider zusätzlich mit einer Gruppe von acht weiteren Touristen, die immun gegen die Schönheit dieser Landschaft zu sein schienen.

Sie hatten sich laufend über unabdingbare Nebensächlichkeiten beschwert und mit ihrer Nörgelei einen Schatten auf dieses unvergessliche Erlebnis gelegt. Nach einem kurzen Abstieg hinunter in den Canyon durchstreiften wir damals staunend das ausgetrocknete Flussbett. Hunderte von Fluten und die Erosionen des Windes hatten hier, wie von Meisterhand eines Malers, Ornamente und unzählige Formen in den farbigen Sandstein geschliffen. Ich war vollkommen hingerissen und starrte fasziniert in jedes noch so kleine Loch, um immer mehr einzigartige Formkreationen zu erblicken. Das Wasser, das bei Flut durch die Vertiefungen wirbelte, hatte überall kleine Kunstwerke geschaffen. Man sah die verschiedenen Gesteinsschichten meist als Kreise, wie farbenfrohe Baumringe. Von Weiß über verschiedenste Gelb- und Beigetöne bis hin zu dunklen Rot- und Lilatönen erstreckte sich die Farbenvielfalt.

Der Weg wurde an einigen Stellen so eng, dass man hintereinandergehen musste. Dann wieder fiel er über einige Meter ab und wir waren gezwungen, hinunter zu klettern oder teilweise sogar zu springen. Unsere Mitreisenden stöhnten ständig über die Hitze oder den für sie beschwerlichen Abstieg, über Sand in ihren Schuhen und den langen Weg. Ich hingegen war von Anfang bis Ende begeistert, fühlte mich wie ein Kind, das endlich wieder klettern, springen und unendlich viel entdecken darf. Die Hitze nahm ich erst wahr, als die anderen sich über sie beschwerten. Viel zu viele kleine, von der Natur erschaffene Wunderwerke zogen mich in ihren Bann und lenkten mich von den äußeren Umständen ab.

»Ich hab andauernd Sand im Schuh!«, jammerte eine junge Frau gerade. Was erwartete sie? Dass jemand die Wüste für sie frei kehrte? Ich musste mich zurückhalten, um nicht laut loszulachen über diese Bemerkung.

Am frühen Abend hatten wir vier mit unserem einheimischen Fahrer ein Feuer entfacht und uns entschlossen, diese Nacht mit dem Beduinen hier zu übernachten. Unsere Schlafsäcke hatten wir in weiser Voraussicht mitgenommen. Die stöhnenden Touristen hingegen hatten es vorgezogen, mit den anderen Jeeps direkt wieder ins Hotel zu fahren. Sie freuten sich auf eine Dusche, ihr Buffet und auf die Hotelbar. Mir war es nur all zu recht, dass sie das Weite suchten. Ich verstand nicht, warum sie die bezaubernde Vielfalt dieser Berge nicht ebenso intensiv erlebten wie ich. Das einfache Mahl aus Brot und Bohnen, das uns der Beduine in dieser grandiosen Umgebung zubereitete, zog ich allemal dem hektischen, lauten Schieben am Hotelbuffet vor.

In der nächtlichen Stille, nur unterbrochen von Hundegebell aus weiter Ferne, schliefen wir froh und glücklich unter einem Zelt von unzähligen Sternen ein.

Mitten in der Nacht wurde ich wach und schaute mich um. Der Mond, der fast voll war und direkt über mir stand, ließ die Berge in hunderten von Grau- und Silbernuancen schimmern. Es war so ruhig, wie ich es noch nie zuvor erlebt hatte. Ich setzte mich etwas abseits meiner Freunde, um auch deren Atem nicht mehr zu hören. So tief es ging ließ ich mich auf diese absolute Stille ein. Die Nacht war einfach zu schön, um wieder schlafen zu gehen. Ich blieb sitzen und genoss jede Minute. Ich konnte alles loslassen und jegliche Spannungen der arbeitsreichen Zeit in Berlin im wahrsten Sinne des Wortes, in die Wüste schicken. Obwohl es erst halb vier war, wurde ich hellwach und fühlte mich so stark wie schon sehr lange nicht mehr. Ich hatte das Gefühl, reine Energie zu tanken. Vollkommen losgelöst lag ich auf dem Rücken, über mir zog der Mond seine Bahn und gab mir eine nicht zu erklärende aber äußerst beruhigende Gewissheit, hier und jetzt vollkommen richtig zu sein.

Gemächlich wechselten die Grautöne in ein blasses Violett und der Morgen kündigte sich an. Unser Bergführer erwachte, noch bevor es richtig hell wurde, wusch sich und betete. Der Anblick, wie sich der einsame Beduine dort im Mondlicht vor seinem Gott verneigte, ließ mich nachsinnen, wie alt diese Wüste war und wie sehr dieser Mensch damit verbunden wirkte. Als er zurückkam, half ich Holz zu sammeln, und schaute zu, wie er Tee im offenen Feuer zubereitete. Zwischendurch grinste er mich immer wieder an. Ich denke, er erkannte die Liebe zu den Bergen in meinen Augen, die in dieser Nacht tief in meinem Inneren erwacht war.

Der letzte Baum bekam seinen passenden Grünton. Ab morgen musste ich in die 2856 Bäume ihre Namen schreiben. Obwohl ich ein ausgezeichnetes Arbeitsklima, sehr liebe Kollegen, ein gutes Gehalt und sogar gleitende Arbeitszeiten hatte, konnte ich mich nicht mit dem Gedanken anfreunden, diesen Beruf für immer auszuüben. Es war sinnvoll, was ich tat und trug zum Schutz der Umwelt bei, doch fehlte mir der Bezug zum Leben an sich und oft war es einfach zu langweilig. 2856 Bäume sind sehr viel! Ich saß in einem kühlen Büro im dritten Stock und die Parks und Landschaften, die ich bearbeitete, waren Kilometer weit weg. Zum Teil bekam ich sie nicht einmal zu Gesicht.

Das Studium machte deutlich mehr Freude und brachte mich auf die innerlich spürbare, richtige Spur. Wissen aufzusaugen war für mich so wichtig wie das Atmen. Aber ich hatte zunehmend das Gefühl, in Deutschland lebte man nur um zu arbeiten und arbeitete nicht um zu leben. Alles kostete viel zu viel Geld und immer musste man irgendwie oder irgendwo mithalten und Dinge anschaffen, die man im Grunde genommen gar nicht brauchte, sondern kaufte, weil die Gesellschaft und die Werbung einem suggerierte, man bräuchte sie. Miete, Strom, Versicherungen, Kleidung, abwechslungsreiche Kost, das alles war teuer in Berlin. Ausgehen, ohne dafür viel zu zahlen, war fast unmöglich - und mein Fernweh in den Sinai war ein weiterer Kostenfaktor.

Ein Zitat von Gabriel Laub brachte meine damaligen Gedanken auf den Punkt: »Unser Leben ist viel schwerer als das unserer Vorfahren, weil wir uns so viele Dinge anschaffen müssen, die unser Leben erleichtern.«

Noch ein paar Wochen musste ich durchhalten und einige Abende bis zum Einbruch der Nacht Bäume an- und ausmalen, beschriften oder schraffieren, dann konnte ich mir ein Ticket leisten und wieder für eine Weile entfliehen … in das Land der Berge und Kamele. Wo die Menschen um so viel glücklicher erschienen, obwohl sie, nach unseren Standards, fast nichts besaßen. Auch ich benötigte dort kaum etwas und fand ohne viel Geld zu investieren das, was ich am meisten brauchte: Freiheit, Zeit, Ruhe und Horizonterweiterung.

Urlaub im Sinai

»Das Glück muss entlang der Straße gefunden werden,nicht am Ende des Wegs.«

- David Dunn -

Es gab endlich Direktflüge nach Sharm El Sheikh. Bei den ersten Urlauben hatte ich den umständlichen Weg über Ungarn oder die Tschechei nehmen müssen. Das hieß, man musste lange auf Flughäfen warten und die gesamte Flugzeit betrug mehr als 12 Stunden. Außerdem gingen die Flüge mitten in der Nacht. Wie angenehm, diesmal nachmittags, nach nur viereinhalb Stunden zu landen.

Ich konnte es kaum erwarten, den Flieger zu verlassen. Nach dem unterkühlten Flugzeug erschien mir die entgegenschlagende Hitze auf dem Rollfeld wie eine glühende Wand, die zu durchschreiten war. Doch diese heiße und trockene Wüstenluft, die es den Pflanzen erschwerte zu wachsen und zu erblühen, erzeugte in mir genau das Gegenteil. Den ersten tiefen Atemzug gierig eingesogen, kam in mir der Eindruck auf, zu allem fähig zu sein - sogar ohne Angst diesen Bus zu besteigen, der so aussah, als würde er nicht einmal die kurze Distanz vom Flugzeug bis zum Terminal überstehen.

Heil und unbeschadet in der Ankunftshalle angekommen, mischte ich mich in das unvergleichliche Chaos, das dort herrschte. Die Halle war mit Menschen regelrecht vollgestopft, die alle scheinbar planlos durcheinanderliefen. Ich war froh, dass ich mich inzwischen auskannte und wusste, wo man das benötigte Visum erstehen konnte. Ich war einigen Touristen behilflich, die sich hinter, vor und neben mir, mit ihren Pässen in der Hand ratlos umschauten.

Endlich draußen angelangt hielt ich nach einem Taxi Ausschau und sah glücklicherweise einen Beduinen, der mir als Fahrer aus Dahab bekannt war. Ich sprach ihn an und schnell wurden wir uns über einen Fahrpreis einig.

Nachdem die Touristen, auf die er gewartet hatte, hinzugekommen waren, fuhren wir Richtung Dahab los. Kaum hatten wir das Flughafenareal verlassen, sah ich sie in der Ferne: die Berge. Schier endlos zogen sie sich durch den ganzen Sinai. Ein massiver, sich nur leicht verändernder Ruhepol, der mir sicher auch diesmal wieder etwas von seiner unendlichen Kraft abgeben würde.

Das junge deutsche Paar im Taxi war mir sehr sympathisch. Auch für sie war dies nicht der erste Urlaub im Sinai.

»Sagt mal«, fragte ich sie spontan auf halber Strecke, »habt ihr vielleicht Lust, kurz anzuhalten und eine kleine Pause einzulegen?«

»Ja, warum nicht, wir haben es nicht eilig«, erwiderte die junge Frau.

»Hast du einen Teepott und Tee dabei?« wandte ich mich an den Fahrer.

»Natürlich! Warum?«, war seine von mir erhoffte Antwort.

»Ich hab es so vermisst, unter einer Akazie zu sitzen und Tee zu trinken. Ich kann es nicht abwarten«, frohlockte ich.

Der Fahrer freute sich sichtlich über meinen Vorschlag und hielt nach einigen Minuten an einem schönen Platz mit einem großen Baum an. Wir sammelten heruntergefallenes Holz der Akazie und entzündeten ein Feuer. Der Beduine bereitete den Tee. Als er ein wenig Fladenbrot aus dem Auto holte, ging auch ich an meine Tasche und steuerte deutschen Käse bei.

»Welch ein schöner Urlaubsanfang«, sagte der Deutsche und seine Freundin und ich nickten zustimmend.

In Dahab angekommen ließ ich mich am »Fighting Kangoroo« Camp absetzen und schmunzelte wieder über das handgemalte Schild über der Eingangspforte, auf dem ein kindlich gemaltes Känguru mit Boxhandschuhen abgebildet war und lachend seine Fäuste gegen eine Palme erhob.

Schon beim Eintreten wurde ich freudig von den beduinischen Betreibern begrüßt. Glücklich, die alte Besatzung wiederzusehen, ließ ich mich gerne, noch bevor ich meine Koffer in mein Zimmer brachte, zu einer weiteren Tasse des typisch süßen Tees einladen.

Ich hatte mit den Angestellten des Camps im vorherigen Urlaub viel Zeit verbracht. Sie langweilten sich oft, wenn sie das Camp, das sich in Familienbesitz befand, beaufsichtigen mussten und ich wollte schon damals alles über Land und Leute herausfinden. Die Jungs waren noch Teenager und ebenso an meinem Leben interessiert wie ich an ihrem. Die meiste Zeit verbrachte ich damals mit Sahi, mit dem ich mich vom ersten Moment an prächtig verstand. Wir konnten über Vieles lachen und er hatte immer Lust, etwas zu unternehmen.

Ich war froh, nicht allein an den Strand gehen zu müssen. Das hatte den Vorteil, dass man nicht permanent von den ägyptischen Shopbesitzern angesprochen wurde. Alle paar Meter wollte mir jemand etwas verkaufen, mich auf einen Tee einladen oder sich mit mir die Zeit vertreiben. Auf diese Small Talks hatte ich selten Lust, vor allem, da sie den Nachteil hatten, dass jeder, mit dem man einmal geredet hatte, einen sofort als seinen Freund bezeichnete und bei jedem weiteren Standbesuch wieder in ein Gespräch verwickeln wollte. Ich bevorzugte alles in Ruhe zu genießen oder von Sahi mehr über die Beduinen zu erfahren. Die Männer in den Cafés und Shops der Promenade waren zum größten Teil Ägypter und für mein Empfinden viel zu aufdringlich. Fast schon penetrant versuchten sie, die Touristen in Gespräche zu verwickeln. Mit einem sehr üppigen Repertoire an zumeist ziemlich flachen Sprüchen versuchten sie die Aufmerksamkeit potenzieller Kunden auf sich zu lenken. Die Beduinen, die nicht so zahlreich vertreten waren, gaben mir hingegen nie das Gefühl, mich in irgendeiner Art zu bedrängen.

Abends gingen Sahi und ich manchmal in die Disco. Aber nachdem er wegen mir einmal von der Polizei kontrolliert und abgeführt wurde, mochte ich dieses Risiko nicht wieder eingehen. Den Einheimischen war es verboten, mit Touristinnen auszugehen, und wir mussten immer aufpassen, nicht von den Beamten erwischt zu werden. Als sie Sahi damals abgeführt hatten, rannte ich vollkommen aufgelöst zurück ins Camp und erzählte den anderen Jungs, was geschehen war. Sie beruhigten mich; man würde Sahi nur so lange in Gewahrsam halten, bis sein Bruder ihn abholen würde. Sahis Familie hätte einen guten Draht zu der örtlichen Polizei. Tatsächlich war er am nächsten Vormittag schon wieder im Camp und erzählte mir, dass sein Bruder ihn nachts noch abgeholt hatte. Für ihn war es nichts Besonderes, als Beduine von der Polizei mitgenommen und verhört zu werden. Mich hatte der Vorfall allerdings so erschreckt, dass ich mich zukünftig lieber an Plätzen mit ihm aufhielt, wo weniger Polizei unterwegs war.

Nachts legte ich meinen Schlafsack neben seinen auf das Campdach und wir redeten oft bis die Sonne wieder aufging. Unsere Unterhaltungen waren wegen der Sprachbarrieren sehr zeitintensiv. Er brachte mir die ersten Worte Arabisch bei und ich verbesserte sein Englisch. Oftmals malte ich ihm Sachen auf, um mich verständlich zu machen, und staunte, wie schnell er lernte. In Berlin dachte ich immer gern an diese ungezwungenen und entspannten Abende mit ihm und freute mich nun, ihn wiederzusehen.

»Wo ist denn Sahi?«, fragte ich Chalid.

»Der schläft wie üblich oben auf dem Dach, faul wie immer«, entgegnete der Teenager lachend. »Wenn du ihn nicht weckst, schläft er sicher noch ein paar Stunden.«

Chalid trug mir meine Koffer in mein altes Zimmer und ich ging den gewohnten Weg zur Dachterrasse, die noch vor ein paar Monaten mein bevorzugtes Nachtlager gewesen war.

Mich leise an Sahi anschleichend, verweilte ich einen Moment an der Brüstung und war beruhigt, die Aussicht noch immer so atemberaubend wie damals vorzufinden. Ein weitläufiger, dunkelgrüner Teppich, aus sich im Wind schwenkenden Palmen, ging über in das kräftige Blau des Meeres und bildete einen malerischen Kontrast zu den Bergen von Saudi Arabien im Hintergrund.

»Hey, kleiner Bruder, ich bin wieder da«, flüsterte ich leise auf Arabisch und rüttelte den tief Schlafenden sachte an der Schulter.

»Tayeb, tayeb!«, gut, gut!, knurrte Sahi und drehte sich mürrisch weg.

Eine Sekunde später warf er sich blitzartig wieder herum und schaute mich ungläubig aus verschlafenen Augen an.

»Ya marhaba!«, herzlich willkommen!, begrüßte er mich, indem er die Worte extrem in die Länge zog und damit sein Staunen und seine Freude gleichermaßen zum Ausdruck brachte.

»Wie geht es dir?«, fragte er mich.

»Gut! Ich bin unendlich froh, wieder hier zu sein. Wie geht es dir?«

»Müde«, entgegnete er und unterstrich das Ganze mit einem ungenierten Gähnen.

»Ja, so kenne ich dich«, sagte ich fröhlich und freute mich schon, mit ihm noch heute oder morgen zu seiner Familie ins Dorf zu gehen, was er mir beim letzten Mal versprochen hatte.

Bei seinem kargen Frühstück aus Tee und Fladenbrot um vier Uhr nachmittags leistete ich ihm Gesellschaft. Ich erzählte ihm, was ich in der Zwischenzeit gemacht hatte und gab ihm den Walkman, den ich für ihn mitgebracht hatte. Leider hatte Sahi keine Lust ins Dorf zu gehen und vertröstete mich auf morgen. Doch auch am nächsten Tag schlief er morgens sehr lang, mittags wieder und verschob unseren Ausflug erneut um einen ganzen Tag.

Er hatte sich verändert und war nicht mehr der witzige, lebenslustige Typ, mit dem ich im letzten Urlaub so viel Spaß gehabt hatte. Am dritten Tag ließ er sich doch noch überreden und wir zogen los.

Zuerst liefen wir etwa zwei Kilometer am Strand entlang. An einem herrlichen, großen Palmengarten, der seiner Familie gehörte, bogen wir ins Dorf ab. Sofort hefteten sich ein paar Kinder an unsere Fersen und bestürmten Sahi mit Fragen, die zum größten Teil mich betrafen. Bei seinem Elternhaus angekommen, liefen die Kinder zuerst in den Vorhof und riefen immer wieder: »Eine Ausländerin ist da, eine Ausländerin ist da!«

Als ich hinter Sahi auf den Hof kam, erhoben sich alle und gaben mir mit kurzer Begrüßungsfloskel die Hand. Die Familie war diesen Nachmittag vertreten durch zwei seiner Schwestern und deren Töchter. Dazu kamen ein paar Freundinnen aus der Nachbarschaft. Sahi sagte mir, die Mädchen würden mich sicher gut unterhalten und verschwand einfach, bevor ich etwas darauf erwidern konnte. Recht unsicher und verwirrt blieb ich inmitten der Frauen stehen. Doch die bildhübschen Teenagerinnen verwickelten mich schnell und ungezwungen in ein Gespräch und wir hatten keinen Moment einer peinlichen Situation des gegenseitigen Anschweigens. Je nachdem, wie es einfacher war, sich auszudrücken, redeten wir Arabisch und Englisch durcheinander. Die älteste Tochter des Hauses, Solima, sprach gut Englisch und übersetzte für die älteren Frauen, die keine Schule besucht hatten. Wenn ich Arabisch sprach, amüsierten sich die Beduininnen köstlich über meine Aussprache, denn ich schaffte es nie, das »r« zu rollen, was sich für sie wohl sehr spaßig anhörte. Mein Professor auf der Universität hatte sich redlich bemüht, es mir beizubringen, doch nach zehn vollen Minuten gab er entnervt auf und behauptete, ich wolle es vielleicht einfach nicht lernen. Das war natürlich Unsinn, aber wenn ich versuchte, meine Zunge vibrieren zu lassen, kam da immer nur ein »zsss« oder »drrr« heraus.

Sahis Mutter war eine schon damals sehr alt wirkende Frau, mit markanten Falten, die sich vertieften, wenn unsere Blicke sich trafen, da sie mir bei jedem Blickkontakt ein herzliches Lächeln schenkte. Die Gesichter der älteren, verheirateten Frauen waren bis über die Nase mit einem Tuch bedeckt, und ich sah nur ihre Augen, die durch die schwarze Verschleierung, die wie ein Rahmen wirkte, eine erhöhte Ausdruckskraft bekamen. Beim Zuhören ließ ich den Ort auf mich wirken. Das einfach gemauerte und verputzte Haus von Sahis großer Schwester, Aida, bestand aus zwei aneinander gebauten Zimmern. Die Farbe an der Fassade war schon lange nicht erneuert worden. Kinderhände und der ewige Staub hatten dunkle Spuren hinterlassen und an einigen Ecken war der Putz abgebröckelt. Die Türen waren aus einfachem Holz und weder passten die Rahmen in das Mauerwerk noch die Türen exakt in den Rahmen.

›Auf deutsche Wertarbeit scheint hier niemand Gewicht zu legen‹, flüsterte mir die Ästhetik zu.

Ein Bretterverschlag, der etwas abseits stand und nur mit Palmwedeln abgedeckt war, diente als Küche.

Am schönsten war der Vorhof, in dem wir saßen; sehr geräumig und von einigen riesigen Dattelpalmen dominiert, die gerade herrlichen Schatten spendeten. In einer Ecke war neben den Palmen ein wackeliger Zaun gezogen, hinter dem ein kleiner Garten angelegt war. Es war ein bescheidener Wohnort, der jedoch sehr gut durchdacht zu sein schien. Solima, Sahis Nichte, führte mich zwischendurch herum und erläuterte mir dessen Vorzüge. Es gab einen abgegrenzten Platz um die Ecke, an dem die Männer saßen. So konnten sich die Frauen, wenn sie sich trafen, unbeobachtet fühlen. Direkt nebenan, nur durch eine kleine, leicht zu übersteigende Mauer und die zwei Zimmer getrennt, war das Grundstück der anderen Schwester, das in etwa dieselbe Anordnung hatte, nur dass ihre Küche gemauert war. Nach der Besichtigungstour saß ich mit den Frauen und Mädchen auf kleinen Teppichen, die sie schon bei meiner Ankunft ausgebreitet hatten, um eine große, runde Feuerstelle herum, und noch bevor ich mein Teeglas ausgetrunken hatte, bekam ich von einem der Mädchen nachgeschenkt.

Mir fiel auf, dass es immer mehr Kinder wurden, die sich zu uns setzten. Es hatte sich scheinbar herumgesprochen, dass eine Ausländerin zu Besuch war und neugierig wurde ich von ihren fast schwarzen Augen begutachtet. Sie tuschelten und kicherten und zogen wieder ab. Neue kamen. Oder waren die vorher schon mal da gewesen? Ich verlor den Überblick. Es gab sehr viele Kinder hier, stellte ich verzückt fest. Jedes Mal, wenn sie die Hoftür öffneten, versuchten die Ziegen der Familie, sich mit Vehemenz mit durch die Tür zu quetschen. Beim Hinauslaufen ließen die Kinder die Tür oftmals offen und so war eines der größeren Mädchen gezwungen, alle paar Minuten aufzustehen, um die Tiere wieder nach draußen zu scheuchen. Das war offensichtlich gar nicht so einfach, denn die Ziegen wussten sehr wohl, wo es sich besser leben ließ und das Futter zu finden war. Sie versuchten überall hin zu entkommen, nur nicht zur Tür hinaus. Manchmal mussten ein oder zwei andere Mädchen helfen, um sie endlich doch noch nach draußen zu treiben. Die Situation schien für die Bewohner vollkommen normal zu sein. Keiner schimpfte mit den Kindern oder regte sich über die Ziegen auf.

Gerade kam Sabiha, die ich vom Strand her kannte. Sie hatte mich dort schon des Öfteren beim Backgammon besiegt und damit einige Flaschen Limonade gewonnen. Ihr stets geforderter Gewinn, bevor sie mit Feuereifer zu würfeln begann. Verlor sie, so bekam ich ein Armband, das sie vor meinen Augen mit schnellen, flinken und geübten Handbewegungen aus buntem Stickgarn fertigte. Ich hatte mittlerweile schon eine beachtliche Sammlung dieser Bänder. Ich kaufte den Mädchen gerne hin und wieder welche ab, da ich wusste, dass sie mit dieser Arbeit ihre Mütter unterstützten. Sabiha war fast täglich am Strand und verkaufte diese Bänder, daher sprach sie recht gut englisch und war mir oft eine wertvolle Dolmetscherin.

Kurz vor Sonnenuntergang bereitete Solima Brotteig aus Weizenschrotmehl, Salz und Wasser, während ihre Mutter ein großes Feuer errichtete und entzündete. Der fertige Teig wurde in etwa zehn gleichgroße Fladen geteilt und dann mit einem Rundholz ausgebreitet. Sehr gekonnt warf Solima diese dann von einer Hand in die andere, bis sie sich auf einen Durchmesser von etwa einem halben Meter auseinandergezogen hatten und hauchdünn waren. Die Mutter hatte inzwischen ein gewölbtes Eisenblech über das Feuer gelegt, auf dem die Fladen nun gebacken wurden. Das erste, schön geröstete und noch heiße Stück bekam ich und ergötzte mich sowohl am Geruch als auch am Geschmack des herrlich frischen Brotes. Dazu wurde eine große Schüssel Datteln, die sehr süß und saftig waren, vor mich gestellt, dass mein Gaumen sich mehr als geschmeichelt fühlte.

Früher hatte ich mir, wohl von Vorurteilen geprägt, die muslimischen Frauen grau und unscheinbar vorgestellt. Dieser Nachmittag belehrte mich eines Besseren. Die Beduininnen waren unter ihren schwarzen Umhängen kunterbunt gekleidet und fröhlicher, als ich je eine Runde Frauen erlebt hatte. Sie lachten, redeten und scherzten ununterbrochen und ihre hübschen dunklen Augen versprühten Freude und Lebendigkeit. Als wir auf die Familienzugehörigkeit zu sprechen kamen, stellte sich heraus, dass viele der Mädchen, die sich inzwischen eingefunden hatten, verwandt miteinander waren.

Diese zufriedene Großfamilie beschäftigte meine Gedanken und weckte Sehnsüchte in mir, die tief verborgen trügerisch geruht hatten: Ich erinnerte mich an die Zusammenkünfte bei meiner Großmutter, bei denen alle meine Tanten mit ihren Kindern kamen. Ich hatte mich immer schon Wochen vorher auf diese Tage gefreut. Es herrschte eine ausgelassene Stimmung, gab gutes Essen, nachmittags Kuchen und wir Kinder hatten eine aufregende, zufriedene Zeit. Nachdem ich von Zuhause weggegangen war, wurden die Treffen weniger, meine Großmutter erkrankte und der Familienzusammenhalt löste sich allmählich auf. Mir wurde an diesem Tag bei der Familie bewusst, wie sehr ich im Inneren solch ein fröhliches Beisammensein vermisste. Familie war für mich sehr wichtig. Dies war letztendlich auch der entscheidende Grund, warum ich mit Klaus nicht wirklich glücklich werden konnte. In allen anderen Belangen war er fantastisch. Wir hatten sehr gehaltvolle Gespräche, nie Streit und unsere Beziehung war durchweg positiv geprägt. Uns beiden war es wichtig, den anderen aufzubauen, zu stärken und glücklich zu machen. Aber ich suchte mehr. Ich wollte meine eigene Familie gründen, in der die natürliche Geborgenheit, die man dort erfahren kann, ganz groß geschrieben stehen würde. Deutschland entwickelte sich immer mehr weg vom typischen Familiensystem. Der Individualismus war hoch im Kurs und die Menschen hatten mehr und mehr Lebensabschnittsgefährten als einen Partner, lieber etwas Unverbindliches. Verantwortung schreckte ab und immer mehr Kindern wurde durch die Trennung ihrer Eltern das Urvertrauen geschmälert. Ich sehnte mich nach der konventionellen Art von Beziehungen, wo man, vor allem wenn Kinder vorhanden waren, durch gute und auch schlechte Zeiten gehen und gemeinsam alle Hürden überwinden würde. Nachdem was ich in all den Jahren zuvor gesehen und selbst erlebt hatte,  empfand ich mich manchmal als sehr romantisch - aber es war nun einmal mein Traum. Das Resultat aus einer Kindheit, die mit einem Stiefvater geprägt war, den ich verabscheute und der mir immer zu verstehen gab, dass ich eigentlich nur störte. Er war ein Mann, der uns hart arbeiten ließ und brutal schlug, wenn wir seine Befehle und Aufträge nicht sofort erledigten.

Ich wollte gerne Kinder, aber musste dazu erst einmal einen Mann finden, der das Herz am rechten Fleck hatte, vor allem verantwortungsbewusst war, selber Kinder wollte und mich liebte. Viele Ansprüche? Vielleicht. Meine Hoffnung war noch wohl auf und pfiff bei diesem herrlichen Anblick einer, wie mir schien intakten Familie, fröhliche Melodien.

Bei Sonnenuntergang tauchte Sahi so plötzlich, wie er verschwunden war, wieder auf und wir gingen zurück ins Camp.

Nach einer Woche in Dahab hatte ich genug vom Strandleben. Mittlerweile kannten mich zu viele Ägypter vom Sehen her und ich konnte keine fünfzig Schritte auf der Promenade wandeln, ohne angesprochen zu werden. Wenn ich baden ging, fühlte ich die Blicke der Männer in meinem Rücken.

Es wurde von Jahr zu Jahr schlimmer mit der Anmache am Strand. Die wenigen Beduinen, die man sah, hatten hingegen eine sehr angenehme, zurückhaltende Art.

Sahi hatte leider keine Lust mit mir noch einmal ins Dorf zu gehen. Ich hätte gern noch einen Nachmittag dort verbracht, war aber zu unsicher, um allein zu gehen.

Ich sehnte mich nach der Wüste und weniger Trubel am Strand.

Am nächsten Morgen beim Frühstück dachte ich an einige Szenen aus meinem ersten Urlaub in Ägypten, als ich mit Klaus, Helge und Sabine in dieses wunderschöne Land gereist war.

Wir saßen gerade in Marsa Matruh in einem Restaurant und aßen frischen Fisch, als uns ein Mann in perfektem Englisch ansprach. Wir baten ihn, sich doch zu uns zu setzen und er erzählte uns, er käme ursprünglich aus dem Irak und wäre Vertreter für Wasseranlagen. Durch seinen Beruf bedingt musste er viel in Ägypten umherfahren und langweilte sich meist auf den Fahrten, was bei ihm schnell zu Anfällen von starker Müdigkeit führte.

›Das wundert mich bei dieser extremen Hitze nicht‹, sprach mein Körperempfinden.

Es stellte sich heraus, dass wir für den nächsten Tag das gleiche Reiseziel hatten und so bot uns der freundliche Iraker kurzerhand an, uns nach Siwa mitzunehmen.

Dort angekommen lud er uns zum Essen ein und sagte, er würde in drei Tagen zurück nach Alexandria und dann nach Kairo fahren. Gerne würde er uns wieder mitnehmen. Da die Fahrt mit ihm sehr unterhaltsam war und noch dazu kostenlos, waren wir dankbar und verstauten drei Tage später unsere Taschen wieder in seinem alten Mercedes. Siwa hatte uns mit seinen alten zerfallenen Lehmhäusern und dem grünen Teppich aus tausenden von Dattelpalmen sehr gut gefallen.

Yahya kannte Ägypten sehr gut und hatte immer viel zu berichten, auch über sein Land, den Irak, der zu dieser Zeit im zweiten Golfkrieg steckte. Dort hatte er sich dem Wehrdienst verweigert und musste nun mit einer langen Gefängnisstrafe rechnen, sollte er je in sein Land zurückkehren. Er vermisste seine Familie dort sehr, denn er war sich bewusst, sie vielleicht für eine unvorstellbar lange Zeit nicht wiederzusehen. Man merkte ihm an, wie sehr er darunter litt. Wenn er erzählte, konnte man die Sehnsucht fast greifen, so stark stand sie im Raum. Wie schon auf der ersten Strecke hatte Yahya einiges an Proviant dabei. Von allem sollten wir probieren und wann immer es eine Möglichkeit an der Straße gab, etwas Neues zu besorgen, brachte er weitere Leckereien, kleine Kuchen, arabische Süßigkeiten und allerlei Obst und Getränke. Wenn wir irgendwo anhielten, zahlte er die gesamte Rechnung. Hin und wieder nahm er auch etwas von unserem Proviant an, lehnte es aber strikt ab, dass wir unterwegs in Restaurants die Rechnung beglichen.

Kurz vor dem Suezkanal stoppten wir an einem kleinen Imbiss an der Straße und bestellten alle wohlriechende Fleischspieße, die gerade frisch gegrillt wurden. Da wir ihn endlich auch mal einladen wollten, sagte ich Klaus während des Essens, er solle doch schnell zahlen gehen, sonst käme uns Yahya sicher wieder zuvor. Das tat Klaus dann auch. Eine fatale Idee, denn nach dem Essen ging unser irakischer Freund wie gewohnt nach vorne, um zu zahlen. Wutentbrannt kam er eine Minute später zurück an unseren Tisch und verlangte lautstark, dass wir unsere Taschen aus seinem Auto nehmen sollten. So wie wir hätte noch niemand zuvor seine Gastfreundschaft beleidigt. Wir wussten gar nicht, wie uns geschah und versuchten den guten Mann zu beruhigen. Doch schon ging er mit schnellen, energischen Schritten zum Auto, öffnete verärgert den Kofferraum und warf unsere Taschen sehr unsanft auf den Boden. Dann setzte er sich ans Steuer und startete den Motor. Ich war schon seit je her sehr harmoniebedürftig, von daher recht diplomatisch und ging schnell an sein geöffnetes Fenster. Nach kurzer Diskussion gelang es mir tatsächlich, ihn zu beruhigen. Ich gab ihm zu verstehen, dass auch wir nur handelten, wie es uns beigebracht worden war und dass auch wir gewisse Traditionen hegten, zu denen es zählt, sich nicht ausschließlich aushalten zu lassen. Er wurde jedoch erst ruhiger, als ich ihm zu verstehen gab, von unseren Eltern so erzogen worden zu sein. Allerdings verlangte er eine Entschuldigung und das Versprechen, ihn nicht noch einmal so zu beleidigen. Fast augenblicklich war er wieder gut gelaunt wie zuvor und wir setzten unsere Reise mit ihm fort.

Am Suezkanal angelangt bestaunten wir die skurrile Aussicht auf Schiffe, die durch die Wüste zu schweben schienen. Der Kanal war tiefer gelegt und aus einiger Entfernung sah man nichts als Sandhügel, durch die sich riesige Frachter bewegten - wie die laufenden Hasen auf einem Schießstand im Vergnügungspark. Wir hatten uns geeinigt, nicht den Tunnel, sondern die Fähre zu benutzen, und ich war etwas enttäuscht, wie unspektakulär und klein der Kanal war. Den erwarteten Palmensaum wie an Flüssen gab es nicht. Das Wasser war überall an den Ufern befestigt und gab dem Wüstenboden nichts von seinem kostbaren Nass ab. Die Überfahrt dauerte nur einige Minuten, schon saßen wir wieder im Auto und setzten unsere Reise fort. Als wir Yahya zwischendurch mitteilten, dass wir doch nicht mehr so gern nach Kairo, sondern direkt in den Sinai wollten, änderte auch er uns zuliebe seine Reiseroute. Zwar hatte uns Dahab als nächstes Reiseziel vorgeschwebt, aber Yahya schlug uns einen seiner Meinung nach weitaus schöneren Ort vor und setzte uns 70 km nördlich, in Nuweiba ab. Ein letztes Mal lud er uns am späten Abend zu einem opulenten Essen ein und verabschiedete sich. Natürlich durfte er wieder die Rechnung begleichen.

›Von so viel Gastfreundschaft könnten sich deine Landsleute mal ein Scheibchen abschneiden‹, flüsterte mir der Verstand zu.

Ich sah Yahya leider nie wieder.

Doch der Exiliraker hatte nicht zu viel versprochen. Nuweiba war ein bezaubernder, verschlafener Küstenort, der laut Reiseführer, 1971 von den Israelis als Moschaw Neviot gegründet worden war. Im Hintergrund die leuchtend rot schimmernden Berge, vor uns das türkisblaue Meer, Sand, Palmen und wenig Betrieb - endlich genau der Urlaub, wie ich ihn mir gewünscht hatte. Wir bezogen eine Bambushütte und duschten erst einmal, in dem wir uns mehrere Male mit einer alten Dose Wasser aus einem großen Tank über den Kopf gossen. Strom und fließendes Wasser gab es nicht. Es war sehr einfach, aber zutiefst idyllisch.

›Lieber Ruhe als Luxus‹, empfand die Sensibilität, die von der Atmosphäre, die der Ort ausstrahlte, sofort angetan war.

Alles schien sehr ursprünglich und auf das Wesentliche beschränkt zu sein. In der Hütte lagen zwei dünne Schaumstoffmatratzen auf der Erde, die mit sauberen Laken bezogen waren. Am Kopfende ein Kissen und am Fußende eine ordentlich zusammengefaltete Wolldecke. Zwischen den Matratzen stand ein kleiner runder Tisch, auf dem sich ein Windlicht befand, das aus einer abgeschnittenen Plastikflasche gefertigt war und eine halb verbrannte Kerze enthielt; darum waren viele schöne Muscheln drapiert. Statt eines Schrankes gab es nur eine Leine, die sich an einer Wand entlang zog. An der anderen Seite befand sich eine Leiste mit Nägeln. Unter einem Vordach standen zwei einfache Stühle aus Holz. Von dort hatten wir freien Blick zum Meer, das nur einen Steinwurf entfernt zum Baden einlud. Am Strand war niemand.

›Entspannung pur‹, freute sich mein Gemüt.

Am nächsten Morgen war ich extra früh aufgestanden, um den Sonnenaufgang zu sehen. Es hatte sich gelohnt. Die prächtige Veränderung der Farben und das sehr schnelle Emporklettern der Sonne über die Berge, waren Momente, die sich tief in meine Seele brannten. Kein Mensch außer mir war am Strand und ich hatte das Gefühl, die Sonne würde einzig für mich allein dieses Schauspiel aufführen.

Nach dem Frühstück sonderte ich mich von den anderen ab, um mir ein wenig die Gegend anzusehen. In einiger Entfernung erblickte ich eine Gruppe kleinerer Kinder, die Kamele, mehrere Ziegen, Schafe und einen sehr störrischen Esel an einem großen Wasserbassin tränkten. Erst beobachtete ich das mir dargebotene Schauspiel ein wenig, ging dann näher und holte eine Tüte Bonbons aus meiner Tasche. Sofort von den Kindern umringt, prasselten massenhaft Fragen auf mich ein, die ich damals leider nicht verstand. Die Bonbontüte sprach jedoch für sich und war im Nu leer. Ein kleines Mädchen nahm mich an die Hand und zog mich einfach mit sich.

»Mama tea, Mama tea«, rief sie bittend und zeigte auf das nahe gelegene Dorf. Neugierig wie ich war, ließ ich mich gerne von ihr entführen. Die gesamte Kinderschar folgte uns. Ziegen, Schafe und Kamele ebenfalls. Immer wieder fragten mich die Kinder etwas, worauf ich nur verhalten lächelnd die Schultern zucken konnte. Das Einzige, das ich verstand, war die Bitte um Stifte. Ich hatte einen in meinem Rucksack und gab ihn dem Jungen, der gefragt hatte. Sofort stritten sie sich um das einfache Ding und ich wünschte, ich hätte ihn in der Tasche gelassen. Je näher wir dem Dorf kamen, desto mehr vermischte sich der Kies mit Ziegenkot. Auch die Anzahl der Fliegen nahm mit jedem Meter zu. Sie setzten sich bevorzugt in meine Mundwinkel, was mich ziemlich ekelte, da meine Vorstellung mir Bilder schickte, wo diese Biester eventuell vorher gesessen hatten. Die Kleine ließ mich plötzlich los und kletterte flink auf einen Stein, der neben einem aus alten Brettern zusammengezimmerten Holztor stand und entriegelte die von innen verschlossene Tür. Der mit groben Blocksteinen eingefasste Hof, auf den sie mich führte, war wohl ein beliebter Treffpunkt. Um ein Feuer, in dem ein großes Stück eines Baumstammes glühte, saßen und lagen fünf Männer unterschiedlichen Alters. Sie alle trugen lange, weiße Gewänder. Als Kopfbedeckung dienten die typischen weißen oder rot-weiß karierten Tücher, die von einem schwarzen Doppelring gehalten wurden. Drei Frauen und ein paar Mädchen saßen ein paar Schritte entfernt. Als ich eintrat, standen die Frauen auf und gaben mir freundlich lächelnd die Hand. Die Männer bemühten sich nicht, erhoben nur eine Hand zum Gruß und warfen mir arabische Worte entgegen, die ich als Begrüßungsfloskeln interpretierte. Ein Teppich wurde ausgebreitet und man lud mich ein, bei den Frauen Platz zu nehmen. Kaum saß ich auf dem Boden, hatte ich ein Glas Tee in der Hand und verbrühte mir die Lippen.

›Haben sie den Tee in den Zucker geschüttet?‹, fragte mich mein Geschmack.

Dass arabischer Tee sehr süß getrunken wird, wusste ich ja nun schon, aber dieser hier war pures Zuckerwasser mit Teearoma.

›Ich sehe die Karies förmlich wachsen‹, gab auch die Vernunft ihren Senf dazu.

Einer der Männer lachte gerade mit weit offenem Mund und entblößte eine Reihe sehr brauner Zähne.

Die Ironie riet mir: ›Vielleicht solltest du nächstes Mal statt Bonbons und Kugelschreiber auch Zahnbürsten mitnehmen.‹

Verschiedene Versuche der Frauen, sich mit mir zu verständigen, blieben ohne Erfolg und ich nahm mir an diesem ersten Tag bei den Beduinen fest vor, arabisch zu lernen. Der Klang der beduinischen Sprache war sehr melodisch, erschallte wie Musik in meinen Ohren und ich wollte zu gern wissen, was mir die Menschen hier erzählen konnten. Es war sehr eindrucksvoll für mich, einen so unverfälschten Einblick in das Leben der Beduinen zu bekommen, aber dass ich nicht in der Lage war, mich mit ihnen zu unterhalten, bereitete mir Unbehagen. So beobachtete ich für eine Weile die mir präsentierten Alltagsszenen. Hinter den Frauen spielten zwei kleine Jungen ohne Hosen im Kies und steckten alles in den Mund, was sie mit ihren Patschehändchen ergreifen konnten. Ihre Gesichter waren verschmiert und um den Mund herum klebten kleine Kiesel. Bei jeder ihrer Bewegungen flogen zahlreiche Fliegen auf, nur um sich Sekunden später wieder in ihre kleinen süßen Gesichter zu setzen. Die Jungen schienen sich daran gewöhnt zu haben und beachteten sie nicht. Die Mütter zeigten denselben Gleichmut. Zwei Männer erhoben sich und verschwanden grußlos. Das Mädchen, das mich hergeführt hatte, bat ihre Mutter um etwas. Die Mutter beachtete sie nicht. Das Mädchen wurde lauter und fordernder, doch die Mutter unterhielt sich weiter mit einer anderen Frau, ohne das Mädchen auch nur im Geringsten wahrzunehmen. Es begann an der Kleidung ihre Mutter zu zerren und bettelte nun regelrecht. Auf einmal herrschte die Mutter ihre Tochter in lautem Ton an und schubste sie ziemlich barsch auf den Kiesboden. Jetzt fing die Kleine an zu heulen und versuchte, ihren Willen mit verweinten, Mitleid erzeugenden Blicken durchzusetzen und fragte abermals. Während die Mutter weiter mit der anderen Frau redete, zog sie ein Portemonnaie aus dem Dekolleté und gab ihrer Tochter einen Geldschein. Diese wischte sich schnell mit ihrem Hemdärmel den Rotz aus dem Gesicht, lachte und rannte nach draußen. Einige Minuten später kam sie mit einer Packung Keksen zurück. Jetzt wunderte mich die Eindringlichkeit des Mädchens nicht mehr. Ihre Beharrlichkeit hatte sich in diesem Fall gelohnt. Ohne Aufforderung gab sie mir und den Jungen etwas ab - den Fliegen sah man die Partystimmung an.

Mit Zeichensprache versuchte ich, den Frauen nach dem dritten Glas Tee klarzumachen, dass ich nun zurück musste, und ebenso gestikulierend entgegneten sie, dass ich wiederkommen sollte. Es schien für diese Familie ganz und gar normal zu sein, mich als völlig Fremde in ihr Haus einzuladen, und ich fragte mich, ob mir so etwas jemals in Deutschland passieren könnte - höchst unwahrscheinlich.

Wieder im Camp trieb uns mittags der Hunger in ein kleines Restaurant am Strand. Dort setzten wir uns an einen der drei niedrigen Tische, die auf Teppichen standen. Unter den bunten Flickenteppichen befanden sich Matratzen und Palmstämme, die als Rückenlehne dienten. Die großzügig verteilten, farbenfrohen Kissen luden zur Gemütlichkeit ein. Am Nachbartisch schlief ein Beduine mit einem über sein Gesicht ausgebreiteten Kopftuch. Ich machte es mir zwischen den vielen Kissen auf dem Boden bequem. Ein Sudanese begrüßte uns ausgesprochen freundlich und empfahl ein beduinisches Gericht mit Huhn. Das Huhn wurde mit Kartoffeln, Tomaten, Zwiebeln Zucchini und einigen Gewürzen in Aluminium im Feuer bereitet und schmeckte hervorragend. Besser hätte ich in Berlin in einem der teuersten Restaurants nicht essen können. Nach dem opulenten Mittagstisch rauchten wir gemeinsam mit dem Sudanesen eine Shisha, eine arabische Wasserpfeife, und genossen die bequeme Art, sich auf dem Boden zu lümmeln.

»Welcome, welcome!«, tönte es plötzlich neben uns. Ein hochgewachsener Beduine, in strahlend weißem Gewand, mit einer dick gefütterten Weste, sprang leichtfüßig über die Kissen und setzte sich ohne Aufforderung zu uns.

›Wie kann dieser Mensch bei 45 Grad im Schatten eine mit Fell gefütterte Weste tragen?‹, fragte sich mein Verständnis.

›Frag ihn doch!‹, konterte der Wissensdrang, aber der gut gelaunte Beduine gab mir keine Gelegenheit dazu.

»Woher kommt ihr?«, fragte er frei heraus.

»Aus Deutschland.«

»Ahhh, deutsche Leute mag ich sehr gerne«, sagte er auf Englisch. Und mit »Guten Tag, wie geht es Ihnen? Alles Scheiße heute und dem Lied, Alle Vögel sind schon da ...«, präsentierte er uns seine Deutschkünste in einer bemerkenswerten Schnelligkeit und Auswahl. Er selbst lachte am lautesten über sein Repertoire.

»Wenn ihr wollt, kommt später zu der großen Hütte dort drüben«, fuhr er fort und zeigte auf einen verfallenen Wellblechschuppen.

»Da treffe ich mich am Abend mit meinen anderen Freunden. Die sind wirklich nett. Ich heiße übrigens Soliman, und Ihr?«

Während er wieder aufstand, stellten wir uns alle vor. Theatralisch schüttelte er jedem mit einer überschwänglichen Verbeugung die Hand. Daraufhin ging er, ebenso plötzlich wie er aufgetaucht war, drehte sich im Gehen noch einmal kurz um und rief, bevor er zwischen den Palmen verschwand: »Ich erwarte euch!«