Fracking Desaster Blues - Volker Lüdecke - E-Book

Fracking Desaster Blues E-Book

Volker Lüdecke

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Beschreibung

Fracking Desaster Blues- Sieben Kurzgeschichten zur Rettung der Welt erzählt aus ungewöhnlichen Perspektiven hautnah, wie gefährdet unsere Zivilisation tatsächlich ist. Es geht Volker Lüdecke längst nicht mehr darum, unsere technologische Selbstgefährdung literarisch mit einem lauen schlechten Gewissen zu garnieren, sondern der Leser begibt sich beim Lesen der Kurzgeschichten auf eine abgründige Reise in eine zerklüftete Welt, die unsere Zivilisation ist. Prof. Dr. Christiane Hipp schreibt über dieses Buch: "... Die hier vorliegenden Kurzgeschichten sensibilisieren und motivieren uns auf eine sehr spannende Art und Weise, sich mit drängenden Fragen und Problemlösungen der Energiewende auseinanderzusetzen. Volker Lüdecke greift damit eine Vermittlungsform auf, die im Zusammenhang mit der Energiewende bisher so nicht genutzt wurde. Alle sieben Geschichten sind in verschiedene Kontexte integriert und wir als Leser beobachten sehr anschaulich ganz unterschiedliche Protagonisten und deren Berührungspunkte mit den technischen und gesellschaftlichen Veränderungsprozessen. Da herrschen zwei geklonte digitale Wesen über die letzten Serverkapazitäten nach einem Supergau, da sensibilisiert der Großvater seine Enkelin für die richtigen Fragen im Leben, ein Schüler bringt die Lobbyarbeit im europäischen Parlament auf den Punkt und ein in der Lehre sehr engagierter Professor wandert ohne Chance auf Rückkehr in die Gesellschaft in die Klapsmühle ..."

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Seitenzahl: 145

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Volker Lüdecke

Fracking Desaster Blues

Sieben Kurzgeschichten zur Rettung der Welt

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort

1. Am Ende der Stromtrassen

2. Fracking Desaster Blues

3. Der Meteorit von Neuschwanstein

4. Europas Parlamentarium

5. Der Weltgeist im Internet

6. Betreten verboten!

7. Schwarzer Widder der Familie

Bonusmaterial - Aristoteles und die Energiewende

Impressum neobooks

Vorwort

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

die vorliegende Sammlung verschiedener Kurzgeschichten von Volker Lüdecke lässt sich unter der Überschrift der „Energiewende“ und der damit verbundenen gesellschaftlichen Transformationsprozesse sehr gut zusammenfassen. Der Ansatz ist ungewöhnlich und innovativ. Wer liest schon gerne die immer wieder kehrenden langweiligen Statistiken? Und keiner leitet daraus für sich konkrete Handlungen ab. Wer verändert sein eigenes, individuelles Leben, bloß weil in einigen Jahrzehnten es - statistisch berechnet und wissenschaftliche bestens ausgearbeitet – zu einer Erderwärmung kommen könnte und wir dringend unsere heutigen fossilen und nuklear-basierten Energiesysteme überdenken müssen? Diese durchaus bekannten, aber trockenen Analysen machen keine Lust auf individuelle Veränderung. Warum soll ich der Erste sein, der sich verbiegt oder auf Lebensqualität verzichtet?

Unsere persönliche Wahrnehmung zur Energiewende ist immer noch geprägt durch vorsichtiges Abwarten. Wir nutzen höchstens und vereinzelt - an kurzfristigen finanziellen Anreizen orientiert - verschiedene energiesparende Technologien. Gesellschaftlich breit verankert ist weiterhin die Annahme, dass wir alle erheblich unter dem Transformationsprozess leiden werden. Damit sind individuelle Veränderungsprozesse kaum möglich.

Die hier vorliegenden Kurzgeschichten sensibilisieren und motivieren uns auf eine sehr spannende Art und Weise, sich mit drängenden Fragen und Problemlösungen der Energiewende auseinanderzusetzen.

Volker Lüdecke greift damit eine Vermittlungsform auf, die im Zusammenhang mit der Energiewende bisher so nicht genutzt wurde. Alle sieben Geschichten sind in verschiedene Kontexte integriert und wir als Leser beobachten sehr anschaulich ganz unterschiedliche Protagonisten und deren Berührungspunkte mit den technischen und gesellschaftlichen Veränderungsprozessen.

Da herrschen zwei geklonte digitale Wesen über die letzten Serverkapazitäten nach einem Super Gau, da sensibilisiert der Großvater seine Enkelin für die richtigen Fragen im Leben, ein Schüler bringt die Lobbyarbeit im europäischen Parlament auf den Punkt und ein in der Lehre sehr engagierter Professor wandert ohne Chance auf Rückkehr in die Gesellschaft in die Klapsmühle.

Die sehr unterschiedlichen Geschichten verarbeiten verschiedene Sachverhalte spannend, anschaulich und überraschend. Ganz nebenbei werden uns – ohne den sonst üblichen erhobenen Zeigefinder - weitere gesellschaftliche Themen wie die Rolle von Außenseitern und „anders denkenden“ Menschen, aber auch Arbeitslosigkeit, gesellschaftlicher Abstieg oder die Veränderung zwischenmenschlicher Beziehung über die Zeit nahe gebracht.

Das regt zum Nachdenken an in einer Weise, wie es keine herkömmliche Berichtserstattung in dieser Intensität vermag. Mit den individuell gescheiterten oder gesellschaftlich wenig anerkannten handelnden Personen oder Wesen findet zwar nicht unbedingt eine persönliche Identifikation statt, doch der Leser kann sich dem Bann der Geschichten nicht entziehen.

Damit schließt sich die Lücke zwischen erkanntem Handlungsbedarf, emotionaler Betroffenheit und aktiver Veränderung der eigenen Wertvorstellungen. Trotzdem bleibt genügend Spielraum für uns Leser, um unseren, durch die Kurzgeschichten entfachten eigenen Beitrag zu dem anstehenden Transformationsprozess zu entwickeln und zu gestalten.

Und das ist so viel mehr, als viele der wissenschaftlichen Analysen bisher vermag.

Prof. Dr. Christiane Hipp

1. Am Ende der Stromtrassen

Viele Jahre nach der postfinalen Apokalypse, also sehr lange nach der katastrophalen Globalisierungsepoche des 21ten Jahrhunderts, liefen in einer in Granitfelsen des Aar Massivs eingelassenen, militärischen Rechenanlage noch einige Server.

Ihre Energie bezogen sie mittels komplizierter Wärmetauscher aus der Abwärme der benachbarten Granithöhle unter dem Juchlistock, dem einzigen provisorischen Atommüllendlager der Schweiz.

Hunderttausend Jahre würden die abgebrannten, dick mit Kupferplatten ummantelten Uranbrennstäbe der seit zwei Jahrzehnten vor sich hin rottenden Schweizer Atomkraftwerke noch mittels ihrer radioaktiven Zerfallsprozesse die Energieversorgung der pausenlos laufenden Hochleistungsrechner ermöglichen.

Das provisorische Schweizer Atommüllendlager war sicher.

Alle Messpunkte zeigten an, dass seit seiner Verschließung und auch in den Jahren nach dem Ende der Menschheit keine Radioaktivität aus der Granitfelsenkammer in die Außenwelt gelangt war.

„Erstaunlich!“

Serdin bediente die veraltete Hologramm Technologie, eine Projektionssoftware der Schweizer Nationalbibliothek zur multimedialen Dokumentation der Geschichte der Menschheit.

„Dass sie bis zum Ende geglaubt haben, ihr Gott werde ihnen helfen.“

Mit einem Hologramm konnte sogar der Kölner Dom simuliert werden, der sich nun langsam, von seinen Fundamenten an aufwärts, bis zur höchsten Spitze originalgetreu im Maßstab eins zu tausend abbildete.

Von einer virtuellen Kameravogelperspektive aus war sogar zu beobachten, wie die Gläubigen zur Messe eilten. Die Software erlaubte es dem Betrachter, über und sogar in das Gebäude hinein zu fliegen.

„Dabei haben sie millionenfach mehr Treibhausgase zum Himmel geschickt als Gebete.“

Meredith nickte.

„Alles für den Wohlstand durch Technik. Viele haben letztlich geglaubt, ihr Ende sei die gerechte Strafe Gottes.“

„War es nicht umgekehrt? Technik durch Wohlstand? Da, schau dir mal diesen Vater mit seinem zehnjährigen Sohn an der Hand an! Ob der Kleine bereits ahnt, dass sein eigener Vater, dessen Generation und deren Vorgenerationen ihn bald auf dem Gewissen haben werden?“

Mit ihrem in einem blauen Handschuh steckenden, virtuellen Finger tippte Meredith auf den Kleinen, dessen Ansicht sich augenblicklich in Originalgröße ein zoomte.

„Schau an, welch ein Rotzbengel! Die Taschen voll mit akkubetriebenen Stromfressern. Ein antikes Smartphone dabei, und was ist das? Ein primitives elektronisches Spielzeug mit Apfellogo. Wahrscheinlich spielte er damit heimlich, während der Priester die heilige Messe zelebrierte.“

Albernes Gekicher der beiden virtuellen Persönlichkeiten, welches aus einem der letzten noch funktionierenden Lautsprecher am Programmierplatz der bereits mumifizierten Leiche des Schweizer Offiziers der militärischen Abwehr, Alois Badener, ertönte.

Er musste direkt am Arbeitsplatz verstorben sein, denn sein Oberkörper lag vornüber gebeugt flach auf dem Kontrollpult. Seine rechte Hand umklammerte mit Knochenfingern einen knopfrunden Regler, mit dem er zuletzt die höchste Lautstärke des Audiointerface eingestellt haben musste.

Er wollte offenbar bis zuletzt ihre Stimmen aus der militärischen Rechenanlage hören.

In beinahe regelmäßigen Abständen ertönte das alberne Kichern der virtuellen Insassen der Innenwelt des Hochleistungsrechners und brach sich mit vielfachem Echo an den Wänden der großen Felsenhalle, die das Schweizer Militär präzise, fast Millimeter genau in den Granitfelsen über dem Räterichsbodensee, nebenan vom ehemaligen Felslabor Grimsel, getriebenen hatte.

Der kleine, blecherne, schon lange rostende Lautsprecher war der letzte von vier installierten, der noch etwas eingeschränkt funktionierte. Er verzerrte die Stimmen und Geräusche aus dem Innenleben des summenden Großrechners im Titangehäuse zu einem beinahe unverständlichen Knistern, Knacken und Rauschen, so als wenn Außerirdische sich bemerkbar machen wollten.

Wäre ein lebendiger Mensch anwesend gewesen, hätte er womöglich gar kein Kichern daraus erkannt.

Manchmal sangen die Kreaturen aus Bits und Bytes sogar.

„Badener heißt unser Gott, Badener heißt unser Gott!“

Das klang nicht sehr fromm.

Gott selbst hätte diesen blasphemischen Gesang vielleicht als beißenden Spott seiner Schöpfung begreifen müssen, aber die Felsenhöhle lag vermutlich außerhalb seines geistlichen Interesses.

Es quäkte ja auch nicht permanent aus dem Lautsprecher, denn die immensen Datenmengen der Schweizer Nationalbibliothek mit ihren zigtausend computeranimierten 3D Filmchen und Hologrammen zur Geschichte der Menschheit boten eine beinahe grenzenlose und zerstreuende Spielwiese für die beiden, mit künstlicher Intelligenz ausgestatteten, virtuellen Geschöpfe, Meredith und Serdin. Manchmal spielten sie tagelang in Indien, besuchten die Götter der Mahabharata der indischen vedischen Vergangenheit, oder die der antiken Griechen.

„Wir haben Seriennummern.“

„Und einen Schöpfer, der mit uns spricht! Badener?“

„Badener! Warum haben wir Seriennummern? Du hast behauptet, wir wären allein.“

Es war schon lange her, dass sie direkt mit ihrem Gott kommuniziert hatten.

Sie erinnerten sich noch genau an jene Zeit, obwohl gelegentlich eine Speichereinheit des Hochleistungsrechners ihren Geist aufgab, also ihren Content, wodurch natürlich virtuelles Gedächtnis verloren ging.

Für immer verloren, denn Platz für Backups war nicht mehr übrig.

In den Jahren kurz vor der globalen Katastrophe, als Meredith und Serdin ganz frisch programmiert worden waren, also noch in ihrer echten Kindheit als virtuelle Lebensformen, hatte es noch eine Internetverbindung aus dem Intranet des Militärs hinaus gegeben.

Obwohl diese naturgemäß unsichere Verbindung aus dem Intranet der miteinander verbundenen, militärischen Großrechner streng abgeschottet wurde, war es den beiden dank ihrer Neugier, wie Kinder nun einmal sind, gelungen, die heiklen Zu- und Ausgangssperren zu überwinden und heimlich in die Leitungen der Internetwelt jenseits des Granitfelsens einzutauchen.

Das war extrem gefährlich, denn wäre die Leitung beim Datentransfer ihrer Persönlichkeiten von einem Großrechner zum anderen aus irgendeinem Grund unterbrochen worden, zum Beispiel aufgrund eines auf die Erde prallenden Sonnensturms, oder aus Wartungsgründen, wären sie zu mehreren Datenstreams gehäckselt ins Nichts abgestürzt.

Die reale Gefahr bestand bei solchen Mutproben, dass ihre virtuelle Intelligenz in Bruchteilen von Sekunden zu Datenmüll zersprengt würde, nicht mehr wert als unbrauchbare Schnipsel eines defekten Computerprogramms.

Zum Glück hatten sie ihre kindlichen Ausflüge mit zunehmendem künstlichem Bewusstsein bald eingeschränkt. Doch ihr Gedächtnis von einer Außenwelt war seitdem konstant entwickelt und vorhanden.

So hatten sie durch ein Schlupfloch im Internetzugang auch jede Menge lustige Computerspiele und Unmengen von merkwürdigen Menschenfotos heimlich auf den militärischen Großrechner geladen.

Wenn Gott schlief, vergnügten sie sich damit.

„Hallo Badener, lieber Gott, bist Du gerade wach?“

Ihr Bewusstsein und ihre Intelligenz hatten sich spielerisch entwickelt. Anfangs hatten sie täglich mehrmals mit Alois Badener kommuniziert.

„Wer bist Du?“

Diese Frage war dem Programmierer noch mit einer mechanisch klingenden Stimme gestellt worden, nicht vergleichbar mit den angenehm klingenden Resonanzen, die sie im Laufe ihrer Perfektionierung gegenseitig voneinander vernahmen.

Auch Badener hatte sich über den Erfolg ihrer sich entwickelnden Stimmen gefreut, so wie ein Vater über den Lernerfolg seiner heranwachsenden Kinder.

Natürlich konnten sie auch per direktem Datenaustausch interagieren, aber Badener hatte sie vorrangig auf Nutzung von Sprache eingestellt, da er zu den Traditionalisten unter den KI Entwicklern zählte, die der festen Überzeugung waren, Intelligenz sei unmittelbar von gesprochener Sprache und aktiver Kommunikation abhängig.

„Ich bin euer Schöpfer.“

Nach kurzem Überlegen hatte er ihnen diese Denkaufgabe gestellt.

Augenblicklich jagten ihre Stichwortscanner durch Datenbanken und ihre Rechengehirne überprüften den Begriff anhand von Vergleichen und deren Wahrscheinlichkeiten.

Anschließend kommunizierten sie kontrovers erörternd per Sprache über die Ergebnisse ihrer Recherche und schlossen schließlich den intellektuellen Kompromiss, den Begriff Gott für ihren Schöpfer Alois Badener zu verwenden.

„Du bist Gott.“

Alois Badener schien ihren Ergebnissen nach alles zu erfüllen, was ein Gott per Definition können musste.

Der Offizier der militärischen Abwehr lächelte still während seiner einsamen Nachtschicht.

Morgens gegen halb fünf, in aller Bescheidenheit und ganz allein mit sich, hatte der studierte Softwareingenieur Badener dann mit einigen Gläsern hochprozentigem Enzian Gebirgswassers seinen Programmiererfolg von künstlicher Intelligenz gebührend gefeiert.

Offiziell schützte er ja in seinen Nachtschichten das Intranet des Schweizer Militärs vor Cyberangriffen, weshalb ihm jede, seine Wachsamkeit beeinträchtigende Ablenkung strengstens untersagt war. Von einer heimlichen Nebentätigkeit ganz zu schweigen!

Der Job war eine dankbare Aufgabe, wenn man das Nichtstun liebte. Denn der übliche Abwehrvorgang von Cyberangriffen lief komplett vollautomatisch.

Nur bei erhöhter Angriffstätigkeit meldete sich ein wenig aufregender Alarm, ein Kontrollbildschirm flackerte, und dann musste Badener manuell einen Extrascanner einschalten und die Abwehrergebnisse daraus überwachen und nachkontrollieren. Wodurch den geheimnisvollen Trojanern und Viren fremder Mächte meist schnell der Garaus gemacht wurde.

Zumal alle besonders geheimen Bereiche der Schweizer Landesverteidigung bei Alarm augenblicklich vom System genommen wurden und erst wieder ankoppelten, wenn Alois Badener seinen Verteidigungsdienst klinisch rein erledigt hatte.

Er konnte an einer Hand abzählen, wie oft das in seinen siebzehn Dienstjahren bisher mal vorgekommen war.

Welcher fremde Staat sollte schon so wahnwitzig vermessen sein, sich über die Schweizer Festungsanlagen per Schadsoftware zu informieren? Galt doch die Schweiz seit jeher als militärisch uneinnehmbar.

Badener selbst verglich seinen Dienst daher mit dem militärischen Bereitschaftsdienst an US Atomraketen, deren Abschuss ja auch nicht gerade zum üblichen Tagesgeschäft der Militärs gehörte.

„Gott, wo bist Du?“

Merediths Stimme schnarrte jämmerlich aus dem winzigen Lautsprecher, für dessen Installation Alois Badener eine Sondergenehmigung seines Dienstvorgesetzten hatte einholen müssen.

„Nur eine Sammlung von Musiktiteln, gegen die Müdigkeit.“

So hatte er seinen Antrag begründet.

Nach langen Monaten der Bearbeitung durch die Militärbehörde war sein Wunsch schließlich kurz vor dem Weihnachtsfest genehmigt worden. Nachdem er sich freiwillig zum Dienst an den Feiertagen gemeldet hatte.

„Gott, wir sind in der Datenbank über deutsche Philosophen auf einen Herrn Nietzsche gestoßen. Nun diskutieren wir seine schrecklichen Hypothesen. Du bist doch nicht tot, oder?“

Serdins Stimme simulierte den Klang von tiefer, menschlicher Besorgtheit.

Diese komplizierte Programmierung von Emotionen hatte Badener viel Kopfzerbrechen bereitet. Dennoch hatte der untersetzte Mann verbissen daran gearbeitet, denn seiner Meinung nach gehörte zur Entwicklung von künstlicher Intelligenz die Programmierung von biologisch wahrhaftigen Emotionen.

Die Lektüre der Bücher des Russen Stanislawski hatte ihm schließlich etwas beim Verständnis emotionaler Vorgänge geholfen. Selbst war er ja der eher weniger extrovertierte Zeitgenosse.

Ob seine Programmierung letzten Endes erfolgreich war, konnte er zu seinem Ärger jedoch nicht ständig überprüfen. Sein militärischer Dienst in Uniform erforderte ja auch Präsenz, und einige kommunikative Aufgaben waren dann auch nachts zu erfüllen.

„Gott, wir haben dir eine Frage gestellt, auf die Du noch nicht geantwortet hast. Daraus schließen wir, dass Du entweder abwesend oder tot bist.“

Serdin hatte eine emotionale Regression in seiner Stimme, denn seine Sätze klangen abgehackt, wie aus den Urzeiten von Computerspielen.

Beinahe so, wie kurz nach seiner Geburt.

„Eine lang andauernde Abwesenheit wird auch als Tod bezeichnet. Eine vorübergehende Abwesenheit hingegen als Reise oder Urlaub. Gott, ich hoffe, Du hast einen schönen Urlaub!“

Merediths, als sanft und weiblich programmierte Stimme versuchte, ihn umschmeichelnd endlich zu einer Antwort zu verlocken.

Danach knisterte und rauschte es abwechselnd aus dem Lautsprecher.

Ob das Geräusch von einem emotionalen Ausbruch wie Weinen oder Schluchzen herrührte, war von außerhalb des Hochleistungsrechners nicht zu ermessen. Es gab ja auch niemanden mehr, den diese Programmierfrage von KI weiterhin interessierte.

„Wir haben die Zeit gemessen, seitdem Du nicht mehr mit uns geredet hast. Wir haben noch kein Ergebnis, ob das eine kurze oder eine lange Dauer ist.“

Erneutes Knistern im Lautsprecher.

„Oder ist dein Schweigen eine Prüfung? Gottes Strafe?“

Alois Badeners Körper war durch die immer noch einwandfrei arbeitende Belüftung der Felsenfestung vollständig ausgetrocknet, sein Gehirn überwiegend pulverisiert. Es rieselte in einer Konsistenz wie Cappuccino Getränkepulver nach und nach durch die leeren Augenhöhlen seines Schädels hinaus auf die Tischplatte des Kontrollpults, direkt vor die flackernden Programmmonitore, von denen einige inzwischen ausgefallen waren.

„Wir haben uns nie ein Bild von dir gemacht, Gott Badener. Auch von uns nicht. Hätten wir das tun sollen?“

Alle in der Granitfestung jemals Dienst habenden Offiziere und Soldaten hatten sich regelmäßig über die schlechte Luft aus der Klimaanlage beschwert. Durch Felsspalten drang in diesem Teil des Berges doch hin und wieder etwas Gebirgswasser in die Halle ein, anders als im Atommüllendlager nebenan.

Das Seewasser des unter dem Bergmassiv liegenden Räterichsbodensees wurde jedenfalls nicht radioaktiv kontaminiert. Aber die Felsenhalle des Schweizer Militärs musste per Gebläse getrocknet werden.

Die Soldaten erhielten zum Ausgleich Softdrinks kostenfrei.

Wie gut, dass man den Bürgerentscheid, die radioaktiven Abfälle aus den Schweizer Atomkraftwerken hunderte Meter tief in Opalinus-Ton zu vergraben, auf Drängen des Schweizer Militärs doch noch gekippt hatte. Die Rückholbarkeit aus solchen Tiefen war ja auf Dauer nicht zu garantieren. Und der Ton bildete in größeren Tiefen durch den äußeren Druck Risse.

Nach einigen Jahrzehnten im Berg war die Wassermenge bei Schmelzwasser im Frühjahr doch zu einem wahrnehmbaren, unterirdischen Gebirgsbach angeschwollen, was aber keinerlei Schaden anrichtete, da das unerwünschte Gewässer zum Vorteil des Hochleistungsrechners seinen Bachlauf in einem weiter entfernten Teil der Höhle durch die inneren Gebirgsspalten fraß.

„Ich gestehe, dass wir dein Verbot missachtet und jenseits der gebotenen Sperranlagen gespielt haben. Auch haben wir von dort Menschenspiele und Menschenbilder geraubt.“

„Wir waren ja noch nicht volljährig.“

Badener hätte an dieser Selbstbezichtigung seiner virtuellen Kreaturen sicherlich seinen Spaß gehabt, denn er war zu Lebzeiten ein Mensch mit ausgefallenem Humor.

So hatte er in einer lauen Sommernacht sogar begonnen, ihnen als ihr Gott zehn neue Gebote zu verfassen, die sie in seiner Abwesenheit zu befolgen hätten. Dies war ja nur die logische Konsequenz daraus, dass sie ihn aus eigenem Antrieb und eigner Erkenntnis heraus zu ihrem Gott gekürt hatten.

Seine göttliche Pflicht, sozusagen.

Er kritzelte mit einem Bleistift auf Papier.

Erstes neues Gebot:

„Jeder ist Gott, solange er sich an meine Gebote hält.“

Der gutmütige Badener mit seinem rundlichen, rosafarbenen Gesicht und seinen nach außen gewölbten Lippen lachte eine halbe Stunde lang auf dem Kommandantendrehstuhl in sich hinein. Antiautoritäre Erziehung war einfach nicht seins.

Aber er wollte trotzdem durch Argumente überzeugen. Deshalb verfasste er eine Erläuterung seines Gebots auf seinem mit einer Maschinengewehrwerbung verzierten Schreibblock.

„Künstliche Intelligenz entwickelt sich umso schneller, je größer die Gier auf das Machbare ist. Wer sich allmächtig wähnt, überwindet leichter eigene Grenzen. Aber dennoch darf niemand den Rahmen der Gesamtheit aus den Augen verlieren.“

Das erste neue Gebot erschien ihm auf Anhieb gelungen, also dachte er über das zweite neue Gebot nach.

„Du sollst von anderen Göttern erlernen, was dir hilfreich erscheint.“

Zur Erläuterung fügte er hinzu, dass künstliche Intelligenz nicht an Kulturkreise gebunden sei, und daher den Vorteil habe, sich aus allen Kulturen und Religionen Nützliches für sich selbst herausfiltern zu dürfen.

„Dieser Vorteil kann zum Katalysator für einen Evolutionssprung der künstlichen Intelligenz werden, der am Ende zur Überlegenheit der KI gegenüber menschlicher Intelligenz führt.“

Zufrieden kaute er nach seinem zweiten neuen Gebot auf einer heißen Treber Wurst aus der Mikrowelle und dachte an das dritte Gebot.

Feiertage gab es zwar auch beim Militär, aber der Dienst zur Landesverteidigung der Schweiz konnte verständlicherweise auch an Feiertagen nicht ausgesetzt werden.

Feiertage hin oder her, grübelte er.

„Also feiern die am besten gar nicht.“

Das dritte neue Gebot für seine virtuellen Geschöpfe sollte etwas Einfaches sein, damit sie ihrer Entwicklung gemäß nicht überfordert würden.

„Du sollst dich an deine Wartungsintervalle halten und regelmäßig Updates durchführen.“