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Buchbeschreibung: Hier öffnet der Theaterautor Volker Lüdecke sein Schließfach voller Geheimnisse aus der Berliner Kulturszene, spielt mit alten und neuen Verschwörungstheorien und gängigen Intrigen, reflektiert sein berufliches Leben vom Beginn der 80er Jahre bis in die aktuellen 20er hinein und kommentiert seine Bücher im Kontext ihres Zeitgeschehens. Sein Blick auf den Zustand des deutschen Theaters mündet in eine Dramaturgie des Schocks, die mit dem philisterhaften, missionarischen Erbe der "Postdramatik" aufräumen könnte. Das Theater der vergangenen zwei Dekaden hat so gut wie alles verschlafen, was unsere Gegenwart determiniert. Zeit für die Ermächtigung des Relevanten und die Öffnung des exklusiven "Theaterclubs" für gesellschaftliche Schichten, die man als Zuschauer längst verloren hat. In insgesamt 87 autobiografischen Episoden und Essays, sowie als Fazit, Gedanken zu einer Dramaturgie des Schocks, liefert der Autor Anregungen zum Umgang mit der eskalierenden Lage.
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Seitenzahl: 398
Veröffentlichungsjahr: 2022
Im Wurmloch
Autobiografische Essays
Von Volker Lüdecke
Buchbeschreibung:
Hier öffnet der Theaterautor Volker Lüdecke sein Schließfach voller Geheimnisse aus der Berliner Kulturszene, spielt mit alten und neuen Verschwörungstheorien und gängigen Intrigen, reflektiert sein berufliches Leben vom Beginn der 80er Jahre bis in die aktuellen 20er hinein und kommentiert seine Bücher im Kontext ihres Zeitgeschehens.
Sein Blick auf den Zustand des deutschen Theaters mündet in eine Dramaturgie des Schocks, die mit dem philisterhaften, missionarischen Erbe der „Postdramatik“ aufräumen könnte.
Das Theater der vergangenen zwei Dekaden hat so gut wie alles verschlafen, was unsere Gegenwart determiniert. Zeit für die Ermächtigung des Relevanten und die Öffnung des exklusiven „Theaterclubs“ für gesellschaftliche Schichten, die man als Zuschauer längst verloren hat.
In insgesamt 87 autobiografischen Episoden und Essays, sowie als Fazit, Gedanken zu einer Dramaturgie des Schocks, liefert der Autor Anregungen zum Umgang mit der eskalierenden Lage.
Danksagung
Die Zeit, die es dauerte, dieses Buch zu verfassen, konnte ich zum Teil noch mit Hilfe des Stipendiums aus Mitteln von Neustart Kultur finanzieren, das mir 2021 von VG-Wort gewährt wurde.
Vielen Dank an VG-Wort und Neustart Kultur!
Im Wurmloch
Autobiografische Essays
Von Volker Lüdecke
1. Auflage, Berlin, 2022
Independently published.
© Berlin Volker Lüdecke-alle Rechte vorbehalten.
ISBN:
Volker Lüdecke
Eichborndamm 19
13403 Berlin
Episode I
Der schlimmste Alptraum eines gewöhnlichen Menschen dürfte sein, eines Tages im deutschen Fernsehen auf einem Sessel in einer Talkshow aufzuwachen, womöglich noch im Pyjama, mit Kleiderständer oder nackt, und der Talkmaster spricht auf die Autobiografie an, die sein Verleger gerade im Buchhandel veröffentlicht hat.
Ein grauenvoller Traum, dieser unfreiwillige Gang der Eitelkeit eines falschen sich Entblößens vor den hinter den Kameralinsen lauernden Fernsehzuschauern, die weiß der Teufel was tun, während sich der Körper des Delinquenten beim Seelenstriptease windet, wie bereits zigmal von Prominenten im deutschen Fernsehen gesehen.
Wie kann sich jemand freiwillig dafür hergeben? Es ist ja nicht so, dass Studiogäste in der Zwangsjacke ins Studio verbracht werden.
Während eine Studiokamera langsam an eine attraktive Freiwillige heranfährt, um sie ins Close-Up zu nehmen, der Moment, den Millionen männliche Augen auskosten, bindet der Buchverleger die Zwangsjacke dieses Alptraums auf und überlässt seinen Autobiografen eiskalt den Zähnen der Fernsehöffentlichkeit.
Da sitze ich also in Unterhose und zerrissenem T-Shirt vor dem schiefen Grinsen des Talkmasters, dessen sadistisches Augenblitzen mir signalisiert: Wen haben wir denn heute da, wie grillt man das Opfer, um mal wieder unvergessliche Fernsehgeschichte zu schreiben?
Auf der Empfängerseite sieht es vermutlich nicht weniger trübselig aus.
Sobald das qualvoll besprochene Buch auf den Bildschirmen eingeblendet erscheint, seufzen die älteren Damen und Herren in ihren elektrisch verstellbaren Ohrensesseln, die demografische Hautevolee des Öffentlich-rechtlichen Fernsehens, und bestellen tugendhaft den Titel auf ihrem Tablet.
Die Jüngeren schauen längst kein Fernsehen mehr, es sei denn, sie sind Parteimitglieder der „Jungen Union“.
Die möchten nämlich nah am Volk sein und benötigen dafür intensiven Fernsehkonsum, um in öffentlichen Debatten mitreden zu können. Nichts gegen Konservative an sich, sie gehören vielleicht sogar zu denjenigen, die sich in ihren Autobiografien weniger ausufernd selbst beschönigen würden.
Im Gegensatz zu unseren moralisch Überlegenen, die ihren Entwurf von sich selbst als heilige Monstranz vor sich hertragen, um auf dem moralischen Treppchen immer ganz oben mitreden zu können.
Hat ein Prominenter mal eine Weltreise unternommen, möchte er aus sozialen Gründen auch all jene mitnehmen, die sich solch einen Trip nicht leisten können. Zum unschlagbar günstigen Taschenbuch Preis.
Immerhin wird ein Teil vom Erlös dem Tierwohl gespendet, denn glückliche Rinder liefern besseres Fleisch.
Möchte man solchem „Content-Design“ nicht zum Durchbruch verhelfen, verbietet sich das Verfassen einer Autobiografie.
Vielmehr ist es angebracht, in der Geschichte seines Lebens zu spuken, als unerlöstes Gespenst seine Thanatographie wie die Zimmer eines verlassenen Hauses nach Nützlichem zu durchforsten, ob womöglich von früher noch etwas nützlich sei.
Ich frage mich, ob jene Menschen, mit denen man im Leben einen intensiven Austausch pflegte, es bemerken, wenn man an sie denkt?
Mit den Augen des Gespenstes die Biographie betrachtet, blieben vielleicht nicht bloß sichtbare Spuren zurück, sondern ein Adersystem aus Fäden, die sich zwischen Menschen gesponnen hatten, die aus noch zu untersuchenden Gründen zerrissen sind.
Das „Gespenst von Canterville“ des Oscar Wilde soll für den Tod späterer Besitzer des Schlosses verantwortlich sein. Wer ohne Erlaubnis meine Räume in Besitz genommen hat, sollte vorsichtig sein.
Episode II
Augenblick, ich muss eben mal schnell runter in den Keller, hier entlang, durchs Treppenhaus zieht ein übler Geruch.
Einer meiner Nachbarn betreibt in seinem Verschlag eine Kühltruhe. Ich beobachtete ihn dabei, wie er Tiefkühlkost einsortierte.
Vielleicht hat der Hausmeister ihm nun den Anschluss zum Hausstrom gezogen, dann gammeln die Lebensmittel natürlich mit Leichengeruch vor sich hin.
Ich halte mir ein Taschentuch vor die Nase, unschlüssig, was zu tun sei. Weder der Hausmeister noch der Nachbar sind anwesend.
Der Verschlag steht offen und ich hebe vorsichtig den Deckel an. Fauchend springt mir eine Ratte entgegen und verschwindet in meinem Kellerverschlag.
An diesem Punkt endet mein nachbarschaftsfreundlicher Bericht. Ich kann ein freundlicher Nachbar sein, oder auch nicht.
Seit 43 Jahren geht das so. Wer eine Residenz erwartet hatte, falsch gedacht! Diese Gerüche aus anderen Wohnungen!
Ich könnte Kontakt zu den Nachbarn aufnehmen, aber als Autor im Homeoffice besser nicht. Was treibt der den ganzen Tag hinter den geschlossenen Jalousien, fragt man sich.
Da könnte eine menschliche Leiche gammeln, ein verendeter Waschbär oder eine Krähe, mir doch egal! Es passiert direkt vor meinen Augen, aber fühlt sich nicht wirklich an.
Jetzt bin ich wieder oben im dritten OG rechts. Hier fühlt es sich so an, als wäre ich eben gar nicht im Keller gewesen, sondern hätte mir die Episode bloß ausgedacht.
Bestimmt liegt das an mir, an meinem Zustand, oder an irgendeiner marxschen Entfremdung, der ich durch undurchschaubares Einwirken ausgeliefert bin. Vermutlich ist ein ganz speziell ausgeformter Kapitalismus daran schuld, dass sich dieses verdammte Grundgefühl in meinem Leben breit gemacht hat.
Bei Gelegenheit werde ich die Kollegen von der emanzipatorischen Linken fragen, warum mir alles so unwirklich erscheint.
Oder den Apotheker. Oder meinen Friseur.
Als es noch lebenslängliche Betriebszugehörigkeiten bei Siemens oder AEG gab, bei Ullstein oder Reemtsma, soll sich bei Arbeitnehmern irgendwann unbemerkt eine Traumwirklichkeit eingeschlichen haben, ein Zustand der tagtäglichen Trance.
Sie fingen ihren Job eines Tages nach der Ausbildung an, dann arbeiteten sie dort ein paar Monate, dann ein paar Jahre, und eines Tages wachten sie auf und waren Rentner. Der totale Schock.
Nach einer Woche ohne Arbeit, nach einer Woche ohne Urlaub und nach einer Woche ohne Krankschreibung hielten sie sich selbst nicht mehr aus und bekamen ihren individuellen Herzinfarkt. Exitus und das war´s.
Dramaturgie des Schocks.
Die Wissenschaft sieht sich außerstande, das Phänomen zu erklären, und die Rentenkasse freut sich und stoppt alsbald die Überweisung der Rente.
Mich unterscheidet von diesen tragischen Fällen meiner Meinung nach einiges. Beispielsweise bin ich kein Aktentaschenträger. Zwar arbeite ich genauso regelmäßig und akribisch, aber zu wechselnden Zeiten.
Jetzt höre ich meine Schwester lachen, die immer in ihre Firma fährt, jeden Tag mit dem Auto beinahe hundert Kilometer. Sie freut sich auf ihre Rente, sagt sie, und ich behaupte, sie weiß noch nicht wirklich genau, was das ist.
Berichtet man irgendwem von Auffälligkeiten, bei sich oder bei anderen, folgt, was meistens sicher daraus folgt.
Rezepte für die Unpässlichkeiten des Lebens werden entfaltet: Yoga, autogenes Training, Tai-Chi, Fasten, um die gängigsten zu erwähnen. allein das Überhelfen, der missionarische Impetus, machen es mir leid, meine an mir diagnostizierten Auffälligkeiten vor weiteren Kreisen auszubreiten.
Behaltet es doch bitte noch einen Augenblick für euch, auch wenn ihr tausendmal Recht hattet!
Ich halte es nämlich für möglich, dass nicht nur ich dieses Grundgefühl des Unwirklichen empfinde, und dass deshalb etwas dran sein könnte an diesem Zustand, der uns alle betrifft.
Womöglich sind wir gar nicht mehr da.
Wie bitte?
Uns gibt es vielleicht gar nicht mehr.
Das Sofa, der Tisch, die Gläser darauf, der Sound der Straße, das gegen die farbigen Zimmerwände geworfene Licht, alles das gäbe es nicht mehr, alles wäre einfach weg.
Im Konjunktiv.
Hallo, euer Grinsen müsst ihr euch nicht verkneifen, nur zu, aus steilen Thesen ergeben sich nicht selten die besten Witze.
Lacht ruhig laut, wenn es euch wirklich noch gibt!
Ein Illusionist auf der Bühne kann Personen verschwinden lassen, dafür übt er in seinem Probenstudio monatelang und jeder im Publikum weiß, dass er sich eines Tricks bedient, aber alle wollen Zeugen des Verschwindens werden, zahlen das Ticket für seine Kunststücke und Sinnestäuschungen, und applaudieren, wenn das Verschwinden gelingt, wenn der Magier sein Publikum täuscht.
Hier wäre es umgekehrt, ein nicht vorhandenes Publikum würde plötzlich auftauchen, weil der Illusionist auf der Bühne den speziellen Trick einstudiert hätte, uns als Publikum erscheinen zu lassen.
Großartig, Applaus!
In den ersten Filmen, die vor Publikum gezeigt wurden, war es das Größte, wenn auf der Leinwand plötzlich Dinge verschwanden oder sich scheinbar aus dem Nichts materialisierten.
Wenn als Vampire kostümierte Stummfilmmimen anderen Stummfilmmimen böse Gesichter schnitten und mit spitz gespreizten Fingern reales Grauen erzeugten. Nicht nur auf der Leinwand ein Spiel, der Schrecken übertrug sich, spazierte von der Leinwand in die reale Welt.
Lang ist es her, als wir uns noch von einfachen Stopp-Motion Tricks beeindrucken ließen.
Das schlichte Prinzip des „Verschwinden-oder-Auftauchen-Lassens“, nur komplizierter und dramaturgisch verborgener gestaltet, bleibt vom Prinzip her dasselbe. Man lässt sich auch heute noch gern so verführen, um für einen kurzen Moment an Fantastisches zu glauben, oder es zumindest nicht gleich als Humbug zu verwerfen.
Irgendwann kam eine Zeitmaschine als logische Begründung des Verschwindens ganzer Städte und Landschaften hinzu. Durch Einstein wurden Paralleluniversen erdacht und von Künstlern ausgemalt. Die Filmindustrie kann solche Erlebniswelten mit Effekten digitaler Machart immer realistischer erzeugen, und wir reisen gerne darin mit, im perfekten Showroom der Cineasten, von Showdown zu Showdown.
Nach einem dermaßen überwältigenden Film trete ich aus dem Kinosaal auf die Straße und erlebe diesen Moment, wo die Fiktion noch realer wirkt als die Wirklichkeit.
Alle Dinge um mich herum, Autos, Passanten, Leuchtreklamen, erscheinen im Dunstkreis des Filmdesigns, wie eine Zwischenwelt. Meine Fantasie möchte den Film weiterspinnen, und einen Moment lang ist eine andere Zeit.
Das Ego wird durch die Heldengeschichte beflügelt, ich bewege mich genauso beschwingt und leichtfüßig wie der Leinwandheld, steuere über eine Straßenkreuzung, rote Ampeln ignorierend, wie im Rausch.
Auf den totsicher die Ernüchterung folgt, eventuell sogar üble Katerstimmung.
Jene Leere, die immer vorhanden ist, und die solche Hollywood Suspense-Dramaturgie pausieren lässt, wird umso spürbarer, wenn der Buddy, noch eben wie ein Bruder an der Seite, dieser geniale Superheld, plötzlich einfach nicht mehr da ist.
Man fällt aus dieser Illusion wie ein Hagelkorn aus dem Himmel und zerschellt auf dem tristen Asphalt der eigenen, begrenzten Möglichkeiten. Ein guter Grund, sich einsam zu fühlen, einsamer als üblich.
Zum Glück waren Kinobesuche in Berlin nicht vergleichbar mit denen in anderen deutschen Städten. In den kleinen Programmkinos der 80er und 90er Jahre wurden die Zuschauer manchmal selbst zum Ereignis des Abends, während der Film auf der Leinwand zur amüsanten Nebensache geriet.
Manche unbeholfenen, kinematografischen Erzeugnisse wurden spontan verspottet, mit Berliner Witz kommentiert, oder man regte sich künstlich auf, wetteiferte mit den Helden im Film um die Gunst der Zuschauer.
Im Halbdunkel der Sitzreihen gaben schon bald immer mehr Zuschauer ihren Senf ab, Gelächter spornte die Kommentatoren an, bis das Licht im Saal anging und alle lachend das Kino verließen.
Das war schön lustig, frech und keiner beschwerte sich über schlechte Filme oder brunzte ein Pscht. Wir saßen nicht wie hypnotisierte Kaninchen vor dem großen Kinoerlebnis, und 3D gab es damals noch nicht.
Kino Eiszeit in Kreuzberg, oder andere Lichtspielhäuser, ohne Lüftung, Klimaanlage und Staubfilter.
Für mich als Pollenallergiker und Asthmatiker eigentlich kaum besuchbar, wo die Bestuhlung so brüchig war wie der Projektor, dessen Rattern im Projektor Raum direkt durch die schmale Luke in den Kinosaal knatterte, vor allem, wenn eine Filmrolle auslief und die neue als Anschluss gestartet werden musste.
Manchmal wurde es dunkel, weil der Filmvorführer den Anschluss verpasste. Der moderne Kinosaal ist vermutlich kein öffentlicher Raum mehr, kein Lichtspieltheater, sondern eher ein Ort des kollektiven Raumflugs, vergleichbar der Kabine eines Großraumjets, der sich durch Raum- und Zeitzonen bewegt, um uns ins Ziel einer anderen Wirklichkeit zu befördern.
Episode III
In den 80ern bahnte sich „gefühlt“ ein Atomkrieg an, in der geteilten Mauerstadt war das vielleicht stärker spürbar als irgendwo sonst auf der Welt.
No-Future-Punks feierten den Weltuntergang und die Explosionspilze der Wasserstoffbomben auf ihren Testgeländen, die verseuchten Zonen, die anonymen Betonblöcke mit „Wohnklo“, das gefühlte Argument zur Ablehnung alles Sinnhaften und Notwendigen.
Demos waren damals kaum noch Aufmärsche politischer Parteien oder Gruppierungen, sondern dienten der gewaltbereiten Ekstase, waren die Fortsetzung des Tanzes auf dem Vulkan, der nachts auf den Dancefloors der Underground Bars und Diskotheken, wie dem „Basement“ in Kreuzberg, stattfand.
Das Schleudern eines Pflastersteins gegen die Einsatzfahrzeuge der Polizisten hatte die Symbolkraft eines Hilfeschreis. Hört endlich zu, NATO und Warschauer Pakt! Lasst uns aus dem Gefängnis eurer atomaren Bedrohung, lasst uns atmen, wir ersticken in dieser Blase aus Gewaltandrohung und nationalistischem und ideologischem Hass!
Die Bedrohung war nämlich real, so real, wie erst später publik wurde, wenn es stimmt, was berichtet worden ist.
Die offizielle Version der Vorgänge am 26. September 1983 lautet, dass an diesem zweiten Geburtstag der Menschheit ein Oberstleutnant der sowjetischen Luftverteidigungsstreitkräfte, Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow aus Wladiwostok den dritten Weltkrieg verhinderte, weil er seinen Befehlen zuwiderhandelte.
Ist das glaubhaft?
So glaubhaft wie die Landung der Amerikaner auf dem Mond?
Der Menschheitsretter wurde jedenfalls nicht auf den Schultern von jubelnden Massen einmal um den Globus getragen, weil er sich in der Kommandozentrale der sowjetischen Satellitenüberwachung weigerte, einen vom System gemeldeten Angriff der USA mit nuklearen Interkontinentalraketen auf die UdSSR zum Anlass einer augenblicklichen sowjetischen „Vergeltung“ zu nehmen. Der Gegenschlag mit den sowjetischen Atomraketen SS20 hätte die gesamte Partyzone Westberlin in Sekundenbruchteilen atomisiert.
In welch fragile Lage hatten uns die amtierenden Politiker damals gebracht?
Fühlten sich die Punks durch diesen menschlichen Offizier nicht verraten? Nonsens und No-Future mutierten langsam zur selbstgefälligen Attitüde. Einer weit verbreiteten Subkultur wurde durch diesen heroischen Retter der Anlass genommen, so zu sein, wie sie sich fühlten. Der Traum vom Ende der Welt war geplatzt.
Ein paar Jahre lang war die Wirklichkeit der spannendere Film, und das Endzeit Gefühl brannte sich tief in die Nachkriegsgenerationen ein. Bei mir fiel es auf fruchtbaren Boden, die elterliche Kriegsangst ist mir von Geburt an implantiert.
Aber am Ende des Jahrzehnts erfolgte für die Westberliner Punks der noch größere Schock: Der Mauerfall.
Für echte Punks allerdings total zum Verzweifeln ist heute die junge „For-Future“ Klimabewegung, die überhaupt keine Lust zu verspüren scheint, sich in Weltuntergangsszenarien selbst zu bemitleiden.
Wie kann man bloß so am Leben kleben? Ekelhaft!
Die märchenhafte Rettung der Menschheit vor einem Atomkrieg durch einen einfachen Offizier der sowjetischen Armee wurde, soweit ich weiß, niemals als geheime Inszenierung betrachtet.
Weltweit keine Verschwörungstheorie dazu in Sicht. Man glaubt bis heute an den guten Menschen, an das gute Herz des Stanislaw Petrow, der seine eigene Degradierung und Bestrafung, den möglichen Untergang des russischen Volkes und aller Sowjetvölker, sowie alle weiteren Konsequenzen eines immerhin möglichen amerikanischen Raketenangriffs riskierte und ganz allein und selbstbestimmt die Signale am Horizont als Fehlalarm einschätzte. Dieser größte Mensch aller Zeiten nahm die Last der Verantwortung für den gesamten Globus auf seine Schultern, um einfach ganz allein die Welt zu retten?
Unglaublich!
Wow, eine bessere Hollywooddramaturgie kann es kaum geben! Wo bleibt der Blockbuster?
Ist das Thema etwa zu heikel für die Atommächte?
Lief die Rettung der Welt zu profan ab?
Oder übersteigt die Alternative, das Grauen der weltweiten Zerstörungen, unsere Vorstellungskraft?
Da möchte ich Hollywood auf die Sprünge helfen.
Wenn es zu Stanislaw Petrow, außer einer filmischen Dokumentation, weder einen Blockbuster noch eine Verschwörungstheorie gibt, dann ist es wohl höchste Zeit, Zweifel zu säen und neue geheime Pläne der bösen Mächtigen ins kollektive Bewusstsein zu pflanzen.
Das dürfte die notwendige Publicity bringen.
Zuallererst war dieser sowjetische Offizier natürlich der größte Anti Punk aller Zeiten, die Inkarnation von Jesus Christus und der erfolgreichste Partymörder der Achtziger, außerdem ein herzhafter Vernichter des westlichen Klischees vom gefühllosen Apparatschik und sowjetischen Ameisenstaatsbewohner, und vielleicht liegt darin schon der Kern der zweiten Verschwörungstheorie begründet, die so lauten könnte:
Funkte mit diesem Szenario eines Bauernschwanks vielleicht eine geheime Widerstandsgruppe aus dem hermetisch abgeriegelten sowjetischen Staatsbollwerk heraus eine megawichtige Botschaft an die westliche Welt?
Hallo, auch wir im sowjetischen Machtblock sind Menschen mit Herz und Verstand, die ihr mit euren Raketen und eurer militärischen Erstschlags Doktrin nicht einfach pulverisieren dürft?
Sollte das Szenario der zweiten Verschwörungstheorie Hollywood nicht elektrisieren, könnte nach dem fiesen Anti Punk und der geheimen Widerstandszelle eine dritte Verschwörungstheorie greifen.
So lächerlich es klingen mag, aber am wahrscheinlichsten ist, dass der Raketenalarm aufgrund täuschend echter Sonnenlichtreflexionen auf den Satellitenbildern ausgelöst wurde und Stanislaw Petrow derweil wegen Grippe zu Hause von seiner Frau gepflegt wurde, während irgendein Armleuchter von Apparatschik in seinen Anweisungen nachlas, was im Falle eines amerikanischen Raketenangriffs zu tun sei und dabei auf die Zeile stieß, sofort Gegenschlag einleiten. Was er dann auch tat, während Stanislaw Petrow schniefte und hustete und mit tiefen Atemzügen heiße Kamillendämpfe inhalierte, während die Befehlskette der sowjetischen Armee, einmal in Gang gesetzt, nichts und niemand mehr aufhielt, weil alle Verantwortlichen niemals dazu erzogen worden waren, individuelle Entscheidungen zu treffen. Die globale atomare Vernichtung, hunderte Millionen Tote, ein schlichter Automatismus.
Warum wurde dann aber Stanislaw Petrow als einsamer Weltenretter inszeniert?
Ganz einfach, die sowjetische Armee war Anfang der Achtziger in einem hoffnungslosen Zustand, der Atomschlag wurde zwar ausgelöst, aber hat einfach nicht funktioniert. Raketensilos öffneten ihre Deckel nicht, Atom-U-Boote wurden in den Tiefen der Ozeane nicht erreicht oder trauten sich nicht, ihre Raketen abzufeuern.
Und der Rest der Truppe war besoffen.
Also holte man den als störrischen und eigensinnig bekannten Petrow aus dem Bett und impfte ihm seine Geschichte ein, spielte den Handlungsablauf vielleicht noch einmal anhand der Satellitenbilder probeweise durch, und hoffte auf den Widerspruchsgeist dieses menschlichen Überbleibsels aus den Zeiten echten revolutionären Geistes. Nicht wirklich glaubhaft?
Dann, bitte sehr, hier die vierte, eine wirklich gewagte Verschwörungstheorie: der Atomkrieg fand 1983 zwischen den militärischen Supermächten USA und Sowjetunion statt, doch eine unbekannte Macht schleuderte den Erdball in ein Wurmloch, wo wir seitdem in einer künstlichen Parallelwelt weiterleben, so als wäre nichts geschehen.
Die vierte Verschwörungstheorie lautet also: Uns gibt es nur noch parallel.
Die Jahre danach verliefen so, wie sie in den Geschichtsbüchern steht, obwohl die wirkliche Welt, wie sie 1983 noch existierte, im atomaren Inferno der explodierenden atomaren Sprengköpfe vollständig verglüht ist.
Unsere Existenz ist seitdem nicht mehr real, die Wirklichkeit flimmert nur noch als Illusion und Erinnerung an sich selbst.
Wir genießen unsere scheinbare Existenz virtuell, aber der Planet wird eines Tages in seinen echten Zustand zurückkatapultiert werden und dann erkennen wir die Katastrophe, die wir selbst verschuldet haben.
Wir, damit meine ich die unverbesserlichen Militaristen und Vernichter des vielfältig lebendigen Lebens. Wir werden alle gleichzeitig in einer atomar verseuchten Wüste erwachen und zerfallen im nächsten Moment zu Staub.
Wahre Verschwörungstheoretiker sind Drehbuchautoren, oder vielleicht auch umgekehrt, Drehbuchautoren sind gutbezahlte Verschwörungstheoretiker, deren Fälschungen wir genießen, weil sie dem Irrsinn eine Form zu geben wissen.
Manche Drehbücher unterbieten allerdings die kruden „Beweise“ und Begründungen der freidrehenden Verschwörungstheoretiker, sie halten keiner gewissenhaften Prüfung stand und langweilen mit ihrer banalen Handlungsdramaturgie und den simpel konstruierten Plots.
In kosmischen Zeitdimensionen betrachtet, das sollte man annehmen, würde es kaum einen Unterschied machen, ob wir das Nachglühen des Erdfeuerballs als löchrige Illusion eines echten Zuhauses wahrnehmen, oder nicht.
Zwischen dem mutmaßlichen Atomkrieg von 1983 und heute liegen jedenfalls technische Entwicklungen, die jede erdenkliche Illusionsmaschine nachvollziehbar erscheinen lassen.
Das Eingestehen einer Katastrophe mit der Folge des Endes einer Zivilisation, die im gesamten Universum womöglich singulär vorkommt, erscheint mir wahrscheinlicher und wohl auch ehrlicher als die Story vom guten Offizier, der unversehens in die Rolle des mächtigsten Menschen auf unserem Globus katapultiert wurde.
Ob es stimmt oder nicht, die Begrenztheit unseres Wahrnehmungsapparates wird ja allein schon daran deutlich, dass jedes Tier, ob Katze, Pferd, Vogel oder Krokodil, mit seinen Augen die Natur, wie wir sie mit unseren Augen sehen, vollkommen anders sieht.
Farben, Geschwindigkeit, Timing erleben und sehen nur wir so, auf unsere Weise, als unsere selbsterzeugte Illusion von der Welt. Wir glauben, unser Zimmer so zu sehen wie es ist.
Doch die Stubenfliege weiß es besser.
Episode IV
Der Atomkrieg von 1983 hat natürlich zuallererst Berlin eiskalt erwischt, besonders Westberlin ist nur noch eine Trümmerwüste, während der Fallout und die Staubwolken über die Reste der Berliner Mauer wehen, gleichgültig, aus welcher Richtung der Wind weht.
Von der Stadt, wie wir sie heute kennen, ist nichts mehr übrig.
Zufällig kam ich 1983 nach Westberlin, um irgendeine Ausbildung in Richtung Regie, Film oder Theater zu beginnen, also mein bisheriges Leben als Straßenkünstler und Amateurtheaterspieler in professionelle Bahnen zu lenken.
Einer meiner ersten Auftritte als junger Schauspieler fand im „Frontkino“ statt, einem Kinosaal in einer Fabriketage in Kreuzberg, nahe dem Eisernen Vorhang. Wir gaben „Haute Surveillance“ von Jean Genet, der deutsche Titel lautete schlicht und unspektakulär „Unter Aufsicht“.
Das fand alles nach dem Atomkrieg von 1983 statt, ich würde mutmaßen, dass die Wirklichkeit damals bereits flimmerte, sollten wir alle samt des runden Globus seit 1983 tatsächlich in einem Wurmloch stecken.
Damals lernte ich die Macht von Programmheften in der Westberliner Theaterszene kennen. Oft sah man nach Vorstellungsende Theaterbesucher im Bus oder in der U-Bahn nach Hause fahren, ihre Nasen dabei tief in das obligatorische Programmheft gesteckt, denn dort standen die allerneuesten intellektuellen, kulturellen, künstlerischen oder einfach nur coolen Wahrheiten, die bald darauf Gesprächsstoff in der Mauerstadt wurden.
Was man von der Aufführung auf der Bühne nicht verstanden hatte, konnte man hier nacharbeiten, die Bildungsanstalt Bus und Bahn bot dafür beste Gelegenheit.
Heute verhält es sich leider ganz und gar umgekehrt, die Programmhefte werden anstelle von Stücken auf den Bühnen aufgeführt und der geneigte Zuschauer darf froh sein, wenn er auf dem Heimweg in Bus oder Bahn noch das angekündigte, nichtaufgeführte Stück im Programmheft nachlesen kann.
Ob er erfährt, worum es in dem besuchten, nicht aufgeführten Stück gegangen ist? Fraglich, denn den meisten Zuschauern fehlt es am Verständnis für Subtexte. Und oft werden keine Programmhefte mehr gedruckt.
Das Programmheft an sich ist aber nach wie vor die herausragende Quelle von tiefen Wahr- und Weisheiten, es flimmert definitiv nicht, selbst wenn da drinstünde, der 3. Weltkrieg habe längst begonnen. Oder sei schon vorüber.
Episode V
Meine Entscheidung, 1983 aus der Kleinstadt Hannover an die vorderste Front des Kalten Krieges zu ziehen, würde man in den niedersächsischen Niederungen wohl als „Arschkarte“ bezeichnen, aber mir gefiel damals nur Amsterdam besser als Berlin.
In Amsterdam wäre ich weiter entfernt von der heißen Zone des Kalten Krieges, aber dort erwischten mich die Folgen des 2. Weltkrieges ebenfalls, denn für viele Holländer waren Westdeutsche damals, Mitte der 80er Jahre, immer noch einfach nur Nazis, was sie auch unumwunden jederzeit und allerorten kundtaten.
Keine guten Voraussetzungen, um mich erfolgversprechend für eine künstlerische Ausbildung an der Amsterdamer Toneelschool zu bewerben, weshalb ich mich nach meinen Eindrücken vor Ort lieber für Berlin als Station meiner beruflichen Ausbildung entschied.
No-Future strahlte in der Mauerstadt aus allen Fassaden und Ecken, es fühlte sich beinahe so an, als gehörte die Insel inmitten der DDR allein der politisch engagierten und gegen alles motzenden Punkrockszene, die regelmäßig zum 1. Mai, mit Songs der „Fehlfarben“, als Teil des Schwarzen-Blocks ihre Muskeln gegenüber der Staatsgewalt straffte.
Die Anarchie schien so greifbar nah, wir müssten nur noch den Regierenden und die Regierenden des Senats in einen Zug der DDR-Reichsbahn gen Westen setzen, das Rathaus übernehmen, dann gehörte ganz Westberlin uns.
Mit den Sowjets würden wir uns danach schon einigen. Ideologisch bestanden zwischen der Westberliner Linken und Moskau nur marginale Differenzen.
Solange echte Punks in der Diktatur des Proletariats die Position der Diktatoren innehaben würden, machten sich die meisten keine Gedanken über den Totalitarismus kommunistischer Provenienz.
Unsere Funktion in jedem System würde allgemein immer „Avantgarde“ lauten, weshalb wir natürlicherweise jedes System eines Tages überwinden mussten.
Avantgarde, als deutsches Wort, würde „Vorhut“ lauten, aber der Begriff konnte dazu nicht dienen, zu leicht wäre eine Verwechselung mit „Vorhaut“ wahrscheinlich geworden.
Auch das Synonym „Vorreiter“ passte nicht. Das Wort klang reaktionär, nach preußischem Adel.
Das französische Wort „Avant-garde“ hingegen klang einfach cool.
Wer sich zur Avantgarde zählte, hörte sich intellektuell an, weshalb sich viele gern als Avantgardisten bezeichneten.
Mindestens in jedem zweiten Programmheft wurde der Begriff „Avantgarde“ mehrmals erwähnt.
Episode VI
Der infernalische Unterbau der aus sich selbst heraus wuchernden Insel Berlin blieb seinen Bewohnern weitestgehend verborgen, doch qualmende Trümmer gab es fast in allen Straßenzügen, die in den damals noch frostigen Wintern von Kohleöfen beheizt wurden, vor allem in den Kesseln der sich um mehrere Hinterhöfe gruppierenden Mietshäusern, deren brüchige Mauern nach dem 2. Weltkrieg notdürftig aus der verwüsteten Stadt wieder hochgezogen worden waren, verpesteten manchen Herbstnebel und färbten seine Schwaden bläulich grau.
Der im Wurmloch geparkte Planet bedurfte keiner illusionistischen Anstrengungen, um seinen Zustand als atemberaubende Wirklichkeit durchgehen zu lassen, nicht einmal die Punks kamen auf die Idee, dass schon längst alles vorbei war.
Der kalte Konflikt drückte damals wie Smog aus verbleitem Benzin die Gemüter in wohlige „Depri-Stimmungen“, die sich in tanzbarer Musik, beispielsweise der Band OMD mit „Enola Gay“ ausdrückte, deren Song auf den Tanzflächen des Berliner Undergrounds den Namen des B-29 Bombers „Super Fortress“ als Titel trug, jener Aircraft also, welche die ersten Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfen hatten.
Man fürchtete die eigene Endlichkeit in jenen Tagen nicht, im Gegenteil, man feierte sie wohlig, badete in der melancholischen Stimmung des „Ernstfalls“.
Ich sprach im „Transformtheater“ einen Monolog von Max Frisch vor und wurde daraufhin in die neugegründete Schauspielschule aufgenommen, deren Dozentenstab sich fortan selbst transformierte. Es wirkte wie Beschiss, dass zum Beginn des Semesters kein bekannter Lehrer mehr antrat, wie zuvor im Prospekt versprochen.
Mein Gesangslehrer Stefan Bevier empfahl mir daraufhin, mich an der Fritz-Kirchhoff-Schauspielschule „Der Kreis“ in Dahlem zu bewerben, wo ich ebenfalls keine Probleme hatte, aufgenommen zu werden und als Schauspielschüler zwei Jahre lang blieb.
Die wie eine Vulkaninsel qualmende Stadt hätte das beinahe verhindert, denn eines Nachts wachte ich in meinem Neuköllner Hinterhauszimmer auf, weil es, bei minus fünfzehn Grad draußen, bis an die Decke vollgequalmt war.
Ich riss ein Fenster auf und keuchte in die kalte Luft, schnappte gierig nach eiskaltem Sauerstoff, knapp dem Erstickungstod entronnen.
Kein Vergleich zum heutigen, atemraubenden Schrecken des Klimawandels, des Artensterbens oder der Viruspandemien, deren Symptome und Fakten sich in medialen Echos jeweils gegenseitig den Rang ablaufen und zu einer ständig mitschwingenden, deprimierenden Gewissheit geworden sind.
Der Schock ist uns sicher, aber bevor er nicht eingetreten ist, bleibt seine Dramaturgie ohne Wirkung.
Die Unausweichlichkeit der auf dem Zeitstrahl in die Zukunft abgetauchten Klimakatastrophe, der globalen Extinktion, birgt eine Moralität in sich, die alles, was einmal unbedachte Lebensfreude, verschwenderisches Dasein und individuelle Freiheit bedeutete, als Offenbarungseid stigmatisiert.
Die wahre Beschaffenheit des im Wurmloch befindlichen Planeten lässt sich in Zukunft nicht mehr verschleiern.
Das zu erkennen und die Zeichen zu deuten, bleibt den Sehenden überlassen, die es wagen, sich wie Orpheus auf seinem Gang aus der Unterwelt einmal umzudrehen, um den Schrecken zu schauen.
Hier zeigt sich der Mut, den man sich selbst beweisen kann.
Die Messbarkeit der langsamen Eskalation ist die grausame Folter der Jetztzeit, mit nichts vergleichbar, kein vages, unheimliches Gefühl über das Wirken undurchschaubarer Mächte, deren strategische Logik eines Tages so pervertiert erscheinen wird, dass aus einem wolkenlosen Himmel über Berlin plötzlich ein Atomblitz unsere Augen blendete.
Eine geteilte Welt lässt die Fantasien jeweils über die Grenzen wandern, sich ausmalen, was es dort vielleicht gibt und welch eigener Traum dort seine Erfüllung fände.
Nach dem Mauerdurchbruch waren es angeblich Bananen, von denen die andere Hälfte der Stadt geträumt haben soll. Der Lockruf des Südens manifestierte sich in Südfrüchten, aber vermutlich war der Spott über die neuen Deutschen aus dem Osten allein die Erfindung eines der Berliner Schmähblätter, der BZ oder der BILD, die sich für keinen Kalauer schämen.
Zeitungen wurden damals hauptsächlich früh morgens, während der Fahrt zur Arbeit, in Bussen und U-Bahnen gelesen. Heute kaum vorstellbar, wie ganze Sitzreihen im Blätterwald verschwanden, wie viele Pin-up-Girls auf den Seiten ihre nackten Brüstet den Gegenübersitzenden anboten.
Das Verschwinden der Tageszeitungen aus den Waggons der BVG findet parallel zum Verschwinden humaner Präsenz statt.
Der sogenannte Augenfick, die zufällige erotische Begegnung, die Magie einer plötzlichen Anziehungskraft zwischen zwei Menschen, die den Innenraum eines Zugabteils mit heller Energie auflädt, taucht kaum noch auf und geht in den Sphären der illusionistischen virtuellen Realität unter, verliert ihre auratische Strahlkraft.
Mancher Augenfick ließ mich stundenlang schweben, oder verwirrt zurück.
Heute kann jeder zwischen Online-Bildangeboten wählen, die Auswürfe eines profitablen Systems sind, das irgendwo Gewinne aufhäuft.
Es ist tatsächlich kaum nachvollziehbar, wie Millionen von Menschen sich kostenlos in den Dienst von Content Plattformen stellen, stündlich oder tagtäglich über sich postend, was der Plattform zugutekommt und ihre Algorithmen für ihre Zwecke benutzen.
Glückwunsch, zum täglich unbezahlten Arbeitsplatz im Bereich Online-Marketing.
Episode VII
Das Energiefeld der hellen Kraft kann zwischen Menschen eine eigene Raumzeit etablieren. Vielleicht der Zustand, aus dem wir uns durch Selbstübertölpelung irgendwann in der Historie ausgeschlossen haben, weil wir dachten, er ist so natürlich vorhanden wie Luft oder Wasser.
Irgendwann, in den letzten Jahren der Inselstadt, brachte Nina Hagen ihren Coversong „Es wird einmal ein Wunder geschehen“ heraus und zwischen den oberirdischen und unterirdischen Stationen der beiden U-Bahnhöfe „Möckernbrücke“ wurde er von den Passanten auf den Rolltreppen laut intoniert und spontan auf Bahnhöfen und in U-Bahnwagen gesungen, weil es dort so schön laut hallte und die eigene Stimme plötzlich gewaltig mächtig ertönte.
Zwischen den Stationen war es ein Ausbruch von heller, menschlicher Energie mit spontanem Äußerungsdrang, den Kalten Krieg einfach Wegsingen und die eigene Daseinsmisere gleich mit!
Gleiches passierte eher selten in der westöstlichen Berliner Hemisphäre, und es fand Nachahmer, wurde zum Gassenhauer, ein spontaner Überdruss am Alltäglichen, fast sogar frühlingshafte Fröhlichkeit.
Psychologen hätten als Unterströmung vermutlich das kollektive Gedächtnis vermutet, das wie ein Wurmloch eine Zeitbrücke zwischen diesem fatalistischen Song der Zarah Leander aus der Nazizeit und der Popkultur der Achtziger zum Vorschein brachte. Allein Nina Hagen zeigte sich dermaßen unbedarft oder unverschämt geschichtsvergessen und verlieh dem Titel ein neues Wunder, das seine tiefen Wurzeln jedoch in Krieg und Zerstörung hatte. Die Sehnsucht nach Frieden in der Zeit des Faschismus war schon vergessen.
Der andere Umgang mit der Historie im Osten machte der Sängerin dies möglich. Das Wunder war ja auch tatsächlich geschehen, wir lebten noch, trotz des kalten Atomkriegs!
Eine tiefgründige Intuition der in der DDR geborenen Sängerin Hagen.
Dank der politischen Bewegung der Grünen kam die Vagina Forschung in jenen Jahren entscheidend voran, jede für sich wurde zum eigenen Ökosystem ernannt und galt bald als einzigartiger Kosmos. Zeitreisen sind daher bei jedem Orgasmus möglich, aufgrund der sexuellen Verklemmtheit der Westdeutschen allerdings eher unwahrscheinlich.
Unmöglich hingegen, dass eine westdeutsche Interpretin dasselbe epochale „Es wird einmal ein Wunder geschehen“ Liedgut hätte gleichermaßen aufpoppen dürfen, und auch bezeichnend, dass zu jener Zeit das so genannte „Tempodrom“, ein großes und ein kleines Zelt zwischen der „Schwangeren Auster“ und dem alten Reichstagsgebäude, mit seiner bunten Alternativkultur Strahlkraft über die Grenzen der Insel Westberlin hinaus entfaltete.
Sicherlich kein normaler Veranstaltungsort, denn ich und Nina Hagen traten dort auf.
Meine eigenen Songs spielte ich anfangs auf Hinterhöfen in Schöneberg und Kreuzberg, ließ eine alte Berliner Musikanten- und Leierkastentradition wiederaufleben, dafür regnete es Groschen vom Himmel, die man mir aus den Fenstern herunterwarf.
Ich fühlte mich wie Sterntaler und beobachtete manche Schattengestalt hinter Fenstervorhängen, dem Aussehen nach frisch vom sicheren Sterbe- oder Totenbett auferstanden, mit knochigem Gesicht und Tränen vor Rührung in den in ihren Höhlen funkelnden Augen, bewegt von den Erinnerungen an die eigene Jugendzeit.
Vielleicht war ich, wie ein Gespenst aus einem Fahrstuhl vergangener Tage entstiegen, der einzige Berliner Hinterhofmusiker Anfang der achtziger Jahre?
Die Türen zu den Hinterhöfen waren im alten Westberlin noch nicht verriegelt und verschlossen, manche standen immer offen oder hatten Durchsteckschlösser, benötigten dafür Schlüssel mit zwei Bärten, die man von der einen Seite hineinsteckte, im Schloss drehte und nach dem Aufschließen durch das Schloss hindurchschieben musste, um sodann nach der Passage die Tür von der anderen Seite mittels desselben Schlüssels im Türschloss wieder zu verschließen.
Findige Hausbewohner sägten von diesen Schlüsseln, die man beim Einzug erhielt, einfach einen Bart ab und schon war die Passage auch ohne den Aufwand des Schließens möglich.
Die Tür des Portals stand nun jedermann und jeder Frau offen, ich kam also fast überall rein, stellte mich als „Natural-Born-Punk“ neben den Mülltonnen auf, packte meine Quetschkommode aus und legte ungeniert anachronistisch los.
Wichtig am romantischen „Sterntalerregen“ war für mich natürlich auch die finanzielle Unabhängigkeit, das Gefühl, überall auf der Welt durch meine Kunst überleben zu können.
Vielleicht eine allzu romantische Vorstellung des Anfang Zwanzigjährigen, als der ich dieses Selbstverständnis entwickelte, aber die besitzergreifenden „Sugar Existenzen“, die mich damals unter dem Vorwand ihrer selbstlosen Liebe belagerten, konnten einpacken und mich gefälligst in Ruhe lassen.
Die Lieben war ich aber noch lange nicht los.
Episode VIII
Wenn irgendein Erfinder jemals den Schlüssel zur Physik des Raum-Zeit Kontinuums und dessen Umgehung mittels eines Wurmlochs gefunden haben sollte, dann musste er oder sie ein Berliner sein, dessen alltäglicher Weg durch das Portal eines Hinterhofzugangs führte und der sich tagtäglich über die Behinderung seines Floatens durch die zugesperrte Hoftür ärgerte.
Die Öffnung eines Wurmlochs für den Umfang des gesamten Globus, und womöglich des kompletten Sonnensystems mit sämtlichen Planeten und der Sonne als Zentralgestirn, erforderte, laut Einsteins Physik, eine unvorstellbar große Menge an Energie, wie sie das Universum insgesamt nicht einmal zur Verfügung stellte. Was jedoch nicht bedeuten musste, dass nicht irgendein verrückter Berliner den zweiten Bart des physikalischen Durchsteckschlüssels einfach abfeilte und dadurch das unsichtbare Wurmloch im Weltraum dauerhaft öffnen konnte, so dass jeder daher rollende Planet jederzeit dort eintrudeln konnte.
Wer weiß, aber sicher ist, dass eines schlimmen Tages irgendein pflichtbewusster Hausmeister herbeitrollen würde, um den Zugang für Unbefugte wieder zu schließen.
Wenn es für Astrophysiker noch irgendein spannendes Feld für Forschungen gibt, dann das des kosmischen Hausmeisters, der durch Äonen wandert, damit alles dicht, zugeknöpft und verrammelt bleibt.
Mir ist nicht bekannt, dass Einstein oder Rosen in ihren Forschungen irgendein Phänomen kategorisch ausgeschlossen hätten, dazu waren sie einfach zu schlau.
Die Energie, die 1983 durch den Unfall des Atomkriegs auf einmal freigesetzt wurde, könnte der Schlüssel dafür sein, dass der gesamte Globus durch die bahnbrechenden Erschütterungen ins zufällig gerade offenstehende Wurmloch geschleudert wurde und wir seitdem mit einem unbestimmten Zeitgefühl durch unsere eigene Geschichte mäandern.
Mal vor und mal zurück, bis auf einmal irgendein kosmischer Mechanismus unbekannter Herkunft, wie der Hausmeister oder der Impakt eines Asteroiden, uns schlagartig wieder zurück auf die alte Bahn drängt.
Unsere Uhren ticken definitiv eine andere Zeit, das ist klar. nicht alle gleich.
Hoch im Gebirge oder in einem Satelliten misst der Chronograf Sekundenbruchteile Differenz.
Episode IX
Die Kausalkette scheint im Denken nachdenklicher Exemplare des Homo sapiens das am meisten genutzte Werkzeug zur Welterklärung zu sein, ähnlich wie die aus Afrika stammenden Vorfahren des so genannten Neandertalers vor zwei oder drei Millionen Jahren sich Stöckchen und Steinchen zunutze machten. Die „Wenn-Dann“ Formel wird landläufig Logik genannt und brachte die rationalistischen Exemplare unserer Gattung in Raserei, wenn jemand darauf pfeifen wollte.
Wenn es 1983 einen Atomkrieg gegeben haben sollte, wo bitteschön verbirgt sich dann der radioaktive Fallout?
Hier müsste ich weiter ausholen, würde dabei aber die zahlreichen Verschwörungstheoretiker unserer Epoche aus den Augen verlieren, wenn ich auf diese simple Frage keine noch simplere Antwort zu bieten hätte.
Die vom früheren US-Präsidenten Ronald Reagan propagierte „Krieg der Sterne“ Raketenabwehr im Weltraum dürfte nicht erst seit dem mit Schaumflocken vorm Mund räsonierenden Ex-Westernhelden Reagan in den Arbeitsplänen seriöser Kriegswissenschaftler lange vor seinen Reden aufgetaucht sein. Nicht auszuschließen, dass sich einer dieser genialen NASA Garagentüftler in der Wüste von Nevada mit Antimaterie beschäftigte und eine Waffe erfand, die jeden Raketenangriff abblitzen lassen würde.
Gar nicht ausgeschlossen, dass diese Waffe bereits im Atomkrieg von 1983 zur Anwendung kam, obwohl man sie nie zuvor testen konnte, weshalb der Planet 1983 durch das Absorbieren der Gigatonnen an Sprengkraft ins Wurmloch katapultiert wurde und die Sowjets schnellstens ihr Märchen vom gutherzigen, weltenrettenden Luftwaffenoffizier erfanden, der die sowjetischen Luftstreitkräfte in ihrer Propaganda davor bewahrte, so fahrlässig zu handeln, wie sie es im guten Glauben an den Kreml mit ihren Interkontinentalraketen tatsächlich ausführten.
Das Abwehrsystem sog also diese gigantische Energie der explodierenden Sprengköpfe in sich auf und verrückte in einer Art „Rückstoß“ die Laufbahn des Planeten, wodurch das Raumzeit-Kontinuum aus dem Gleichgewicht geriet und der radioaktive Fallout deshalb nicht direkt anschließend erfolgte, sondern erst Jahre später sich über vielen Ländern entlud, beispielsweise als das Atomkraftwerk Tschernobyl explodierte und der radioaktive Fallout ganze Landstriche verseuchte.
Tschernobyl diente als geöffnetes Druckventil des auf einer anderen Zeitebene verharrenden radioaktiven Fallouts des Atomkriegs von 1983, der sich an diesem Punkt kristallisierte und in Tschernobyl zum Ausbruch kam.
Die Verschwörungstheoretiker weiterer, ebenso plausibler Tschernobyl Theorien sollten sich einmal vor Augen führen, dass es sich hier ähnlich verhält wie bei einem natürlichen Vulkan, in dessen unteren Schichten glühendes Magma aus verschiedenen Richtungen über Jahre oder Jahrzehnte in eine einzige Kammer zusammenfließt, so lange, bis der Druck nach oben so gewaltig ansteigt, bis er ganze Bergkuppen wegsprengt.
Wissenschaftlich wurde das definitiv nicht bewiesen.
Jeder sollte den Versuch unternehmen, einmal selbst zu überprüfen, ob die Erde sich derzeit noch in einem Wurmloch befindet oder nicht!
Schaut einmal bei Vollmond die am Lichtrund vorbeiziehenden Wolken, und wenn ihr bemerkt, dass der Strom der vorbeiziehenden Wolken auf einmal ruckelt, dann habt ihr den Beweis dafür, dass sich dort oben am Nachthimmel gar kein Mond mehr befindet, sondern nur die Projektion eines Mondes und eines Sternenhimmels.
Bitte schaut jedoch nicht tagsüber in die an der Sonne vorbeiziehenden Wolken, damit sich eure Netzhaut nicht ablöst und ihr nicht für immer erblindet!
Episode X
Hier ist es geboten, weiter auszuholen, als es weniger ausgesuchte Kreise interessieren mag.
Neben den flippigen, bunten Gestalten in und um die Zelte und Wohnwagen des „Tempodrom“ existierte ein weiteres kulturelles Kraftzentrum in Westberlin, das Theater „Die Schaubühne am Lehniner Platz“, wo sich Regisseure wie Klaus Michael Grüber, Luc Bondy und Peter Stein durch ihre sehenswerten Theaterinszenierungen weit über die Stadtgrenze hinaus profilierten.
Schauspieler wie Bruno Ganz, Udo Samel und Otto Sander und Schauspielerinnen wie Jutta Lampe, Edith Clever, Corinna Kirchhoff und Miriam Goldschmidt entwickelten ihren eigenen „Schaubühnenstil“. Zuschauer standen mit handgemalten Schildern „Suche Eintrittskarte“ abends auf dem Gehweg des Kudamms vor der Abendkasse, um vielleicht doch noch irgendwie in den Saal zu gelangen, wo u.a. Stücke von Botho Strauß, Anton Tschechow und Henrik Ibsen aufgeführt wurden.
Kein schlechtes Zeichen in einer Stadt, die mit dem riesigen „Schillertheater“, der „Volksbühne an der Schaperstraße“ und einer lebendigen Off- und Privattheaterszene mit zahlreichen Spielstätten beinahe täglich eine riesige Auswahl an Aufführungen zu bieten hatte.
Dieser Tempel erzeugte sakrale Erfahrungen und begründete eine aufgeklärte Religiosität seiner Anhänger, einer Religion, die das Wahrhaftige unter der hohen Sprechkunst der Protagonisten feierte und die Widersprüche der menschlichen Existenz schonungslos offengelegt sehen wollte.
Im Nachhinein ist das kaum zu verstehen, denn es war doch auch einfach nur Theater, aber es entzündete etwas in der Metropole, was auch immer es jeweils ausgemacht haben mochte. In den „Drei Schwestern“ von Anton Tschechow war es die russische Seele, zu deren Fatalismus man sich damals hingezogen fühlte. Man sehnte sich in Berlin nach Moskau, fühlte sich verwandt und schmachtete mit den drei Protagonistinnen einem imaginären Sehnsuchtsort entgegen.
In der Schauspielschule redeten wir über die unterschiedlichen Lehransätze der Schauspielkunst. Manche vertraten vehement die amerikanische Lee Strasberg „Sense Memory“ Technik und übten stundenlang, die verborgenen Auslöser für Emotionen in sich zu entdecken und durch das emotionale Gedächtnis reproduzierbar zu machen, während andere das äußerliche, traditionelle Schauspiel bevorzugten, das hauptsächlich auf einer Choreografie von Stimme und Körper, Gängen und exakten Abläufen basierte.
Schnell lernte ich, dass die subjektive Wahrnehmung von mir selbst oftmals nicht dem entsprach, wie meine Schauspiellehrer mich sahen, aber es gelang mir noch, den Missmut der Marionette zu überwinden, die Schauspielschüler in den Augen ihrer Lehrer meistens sind, obwohl sie sich in Interviews öffentlich ganz anders darstellen.
Mein Ziel war mir jedenfalls klar, ich wollte einer dieser Priester im Tempel „Schaubühne“ werden.
Ich trat also während meiner Ausbildung in den Kreis der Eingeweihten, der Jünger und Eleven der Kulturstadt Westberlin ein, wurde selbst offen für neue Impulse und nahm begierig alles auf, was mir die damals noch durchlässigen Kreise flüsterten, weshalb ich Zeuge einer Séance wurde, die sich auf einer der damaligen Probebühnen der Schaubühne ereignete, die öfter auch als Experimentierbühne genutzt wurde.
Diese Spielstätte der Schaubühne befand sich in Kreuzberg in der Cuvrystraße.
Solcherlei Geflüster wie, „das musst Du unbedingt gesehen haben“, sind für Theater tausendmal wirksamer als teure Werbekampagnen. Wie auch immer, ich saß in der Aufführung als Zuschauer des „Dibbuk“, einem Stück, das von zwei mir damals noch unbekannten Schauspielern gespielt wurde. Ich war beinahe als letzter in den schmalen Saal gekommen, denn ich hatte mich verspätet und vorher nicht aufs Plakat geschaut.
Eine farbige Frau und ein weißer Mann auf der Bühne, die erstmal irgendwie ganz normal wirkten, so als ob man sich zufällig in ihrem Wohnzimmer befände, als ihr zufälliger Gast.
Wer sich jetzt fragt, warum ich darüber berichte, sollte noch etwas Geduld haben, ich komme darauf, der Kontext wird sich erschließen.
Dieses Gefühl, als fremder Zuschauer ganz vertraut mit im fremden Wohnzimmer zu sitzen, ich ahnte noch nicht, welch hohe Schauspielkunst sich dahinter verbarg.
Ein atemberaubendes Timing begann. Vor allem die farbige Darstellerin verstand es in ihrem Spiel, Zeitebenen ständig zu variieren und neue zu etablieren. Ihr körperliches Spiel war ein atemberaubendes Ineinanderfließen von unterschiedlichen Rhythmen. Mal wurden jüdische Bräuche heilig zelebriert, um im nächsten Moment albernd vom Tisch gefegt zu werden. Dabei entstand ein Sog, der mich immer tiefer ins Spiel um den Dibbuk eintauchen ließ, der atemlos machte, weil hier etwas im selben Herzrhythmus mit den Zuschauern ablief. Alle waren auf geheimnisvolle Weise synchronisiert.
Sich zurücklehnen, Abstand nehmen, unmöglich!
Ein Irrtum wäre, hierbei an das bei Pädagogen beliebte „Mitspieltheater“ zu denken, das wäre anders.
Keine Sentenz wurde von den Schauspielern deklamiert, intoniert oder hervorgehoben. Es war im besten Sinne kein Sprechstück. Es wurde dennoch viel gesprochen, aber das Geschehen fand wirklich statt, war kompromisslose Realität. In diesem Moment.
Vergleichbares hatte ich noch nie zuvor in einem Theater erlebt. Ein Schauspiel, das stattfand, ohne gespielt zu werden.
Der Sog zog mich bald in die Grabstätte des unglücklich Verliebten, der als Dibbuk aus dem nassen Erdreich steigt, weil er die Liebe seines Lebens nicht loslassen kann.
Unheimlich, aber nicht oberflächlich gespensterhaft. Noch heute bekomme ich eine Gänsehaut, wenn ich mich an die Geschichte erinnere. Dieses Klammern eines Verstorbenen an eine Lebende, mörderische Kraft der Toten, die Bürde unserer Geschichte.
All das auf der Bühne erzählt, manchmal nur von einer Hand, die hinter einer Stuhllehne hervorlugte, zeichnete. Nur eine Hand!
Unsere deutsche Historie, mit ihren unzähligen ermordeten Juden, kroch wie ein stummer, unheimlicher Begleiter jenes Dibbuks mit aus dem Grab. Er zeugte von den unzähligen, nicht gelebten Lieben, um sie mahnend aus dem Staub des Totenreichs zu erheben.
Einen spaltweit stand eines der Massengräber plötzlich offen. Wer verdrängt nicht den Krieg aus seinem Alltag, die scheinbar vergangenen und die bald beginnenden Kriege zuerst?
Die Schlote der Krematorien, die in ihren heißen Gasen die Atome der Gemordeten ins Nichts hinauswarfen. Ja, es ist normal, die Umrisse des pulverisierten Abdrucks einer menschlichen Gestalt auf einer Fassade nicht andauernd vor Augen zu haben.
Offenbar gelingt es uns, trotzdem zu leben, sogar mit Fröhlichkeit.
Episode XI
Für mich, als jungem Schauspielschüler, folgte aus dieser Offenbarung erstmal nichts, denn dafür begriff ich noch zu wenig. Außerdem brachte ein neuer Tag fast immer ein neues Ereignis. Für den täglichen Rausch brauchte ich daher keine Drogen, es genügte, offen zu sein und zu leben, die Impulse Berlins anzunehmen und ihnen zu folgen.
Die Einschusslöcher aus dem Zweiten Weltkrieg waren an vielen Häuserfassaden noch als kleine Krater zu erkennen. Touristen konnten entzückt ausrufen, „Oh, look at this wall! How the bullets have smashed the stones!“
Der „Dibbuk“ war notwendiges Theater.
Vielleicht hätte auch mancher Tourist anders reagiert. Berlins Häuserfronten waren vernarbt und voller grauem Straßenstaub.
Theater kann wie ein unergründliches mechanisches Kraftwerk eine Rückkoppelung der Zeit auslösen. Die Spuren der Ermordeten führten schließlich auch durch Jahrhunderte.
Das Massaker von Granada im Jahr 1066 wird durch die Epochen durchgesteckt, Mussolini lässt plötzlich Giftgas über Abessinien abwerfen und Hitler richtet Gaskammern ein.
Die Spur des Hasses, ein dunkler und endloser Faden, schlängelt sich durch die Geschichte und bringt immer wieder aufs Neue verblendete geistige Irrläufer hervor.
Auf der Westberliner Mauerinsel lebten verschiedene Kulturen und Glaubensrichtungen glücklicherweise angenehm vertraut und friedlich ihren Alltag zusammen, ein kleines Paradies der Toleranz.
Man sagt, dass Tote solange lebendig bleiben, solange sich jemand an sie erinnert. Der „Dibbuk“ förderte in dieser Idylle die Schattenwelten zutage, ließ erahnen, dass mehr existiert, als wir wissen wollen.
Einen solchen „Seelenquatsch“ wischten die politisch historischen Materialisten natürlich mit einem müden Lächeln vom Kreuzberger Kneipentisch.
„Engelhardt macht den Stängel hart“.
Aber das Totenreich hatte nun ein Portal in der Mauerstadt geöffnet, und es blieb offen.
Dort heraus quollen sie hervor, aus ihren anderen Welten, bleiben anwesend bis heute. Berlin hat seitdem eine Nekropole, eine Totenstadt.
Eine schwarze Theatermagierin hatte die Bühne Westberlins betreten, und intuitiv spürten alle Primadonnen Diven, auch die Granden der „Schaubühne am Lehniner Platz“, welche Mächte in diesem Spiel angerufen wurden und mitspielten. Ich glaube daher zeigten sie sich kritisch, vor allem die aus der Schule des epischen Theaters.
Ob Jutta Lampe sich vor dem Besuch dieser schwarzen Messe bekreuzigt hat? Udo Samel gewiss nicht, aber so abergläubisch, wie Theaterleute nun einmal sind, eine nachvollziehbare Frage.
Jean Genet tauchte wiederholt in der Stadt auf, kassierte seine Dramatiker Gagen in bar und verzog sich in irgendein Bordellgefängnis, oder Gefängnisbordell, während sein „Balkon“ über der Stadt thronte.
Und in den Gazetten hing.
Schreibende Außenseiter hatten auf der Insel noch einen Stellenwert. Die Akademisierung der Künste, wie sie heute alles verkopft und dominiert, war noch nicht so weit fortgeschritten.
Man konnte sich auch für schreibende Arbeiter oder Häftlinge begeistern. Eine brüchige, heterogene Welt erschien allemal darstellungswürdiger, als kleinbürgerliche Verhaltensmaßregeln.
Inzwischen sind die historischen Einschläge der Geschosse längst verputzt, alle Fassaden frisch gestrichen, Berlin Hauptstadt und politische Chaosstadt zugleich.
Ein rationales, seelenloses Theater triumphiert heute. Es pflegt die zweidimensionalen Dimensionen, bildhaft, performativ, wie aus dem Schulbuch.
Aus den Spuren der Bullets ist Bullshit geworden.
Das Grundgefühl des Verschwindens ist der Verlust, ohne zu reflektieren, was überhaupt verschwunden sein könnte. Brüllt jemand „Schuld“, strecken sich gleichzeitig zahlreiche Arme in die Luft, als würden die Täter noch frei herumlaufen.
Jeder möchte der erste Widerstandskämpfer sein, der durchs Portal in die Vergangenheit reist, um so viele mumifizierte Mörder wie möglich von der Barrikade der damaligen Zeit zu schießen. Einer dieser verrückten Versuche, durch falsche Etikettierungen die deutsche Geschichte zu waschen.
Man wird in der Zukunft erkennen, dass es so nicht funktioniert.
Wenn ein chinesischer Tourist im Jahr 2033 Berlin besucht, wird er erkennen, dass in der Hauptstadt ausschließlich Widerstandskämpfer gelebt haben und dabei die goldenen Stolpersteine auf den Gehwegen mit seinen Füßen betreten.
Für alle, die es nicht wissen: Damit die Erinnerung an Auschwitz lebendig bleibt, gibt es goldene Stolpersteine, die in die Gehwege der Hauptstadt vor den Wohnadressen der Deportierten eingelassen sind.
Mancher beschwert sich, dass die Namen der Ermordeten nun von Absätzen und Sohlen befleckt würden.
Mancher Politiker im arabischen Raum wurde mit Schuhen beworfen, als Geste der Verachtung. Solche kulturellen Differenzen lassen sich nicht immer beachten, aber jede gute Idee hat auch ihre Schattenseiten.
Vielleicht hat sich das Wurmloch zwischen dem Zweiten Weltkrieg und unserer Gegenwart längst geschlossen, und manche Gedenkveranstaltung für die Opfer des Holocaust fühlt sich an wie Folklore?
Nein, es liegt an uns. Wir sind bereits gestorben und bedauern deshalb die Toten nicht.
Sie sind wie wir, und wir sind wie sie.
Episode XII
Heute bilden unsichtbare Kuppeln Versammlungsorte für Gleichgesinnte, die nur noch untereinander, aber nicht mehr mit jenen unter den anderen unsichtbaren Kuppeln reden.