FRANK UND FREI - Frank Heinrich - E-Book

FRANK UND FREI E-Book

Frank Heinrich

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Beschreibung

"Frank" bedeutet "frei" oder "tapfer" - Freiheit ist das Lebensthema von Frank Heinrich. Offen schildert er, wie er von einengenden Prägungen frei wurde und den Mut fand, Neues zu wagen. Was ihm dabei half, waren Lernbereitschaft, Vorbilder und Ermutigung - und vor allem ein fröhliches Gottvertrauen. Sein Anliegen ist es, dass Menschen frei werden - äußerlich und innerlich. Dafür kämpft er auch als Abgeordneter im Bundestag. Ein inspirierendes Buch des bekannten Politikers! Lassen Sie sich ermutigen, Neues zu wagen!

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Der SCM Verlag ist eine Gesellschaft der Stiftung Christliche Medien,einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitungchristlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-7751-7363-6 (E-Book)ISBN 978-3-7751-5760-5 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:Satz & Medien Wieser, Stolberg

© der deutschen Ausgabe 2017SCM-Verlag GmbH & Co. KG · Max-Eyth-Straße 41 · 71088 HolzgerlingenInternet: www.scm-verlag.de · E-Mail: [email protected]

Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen:Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung2006, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.Weiter wurden verwendet:NLB: Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006 SCM-VerlagGmbH & Co. KG, Witten.GNB: Gute Nachricht Bibel, revidierte Fassung, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung,© 2000 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

Umschlaggestaltung: Kathrin Spiegelberg, Weil im SchönbuchTitelbild: Susanne Domaratius-Enders (susidomaratius.de)Satz: Satz & Medien Wieser, Stolberg

Inhalt

Über den Autor

Dank

Einführung: Finally Frank

Teil 1Raus in die Freiheit – aus dem engen Horizont religiöser Prägung

1. Prägungen: Drinnen und Draußen, Schwarz und Weiß

2. Vom Richten: Ein geistliches Gefängnis

3. Rumänien: Freiheit in Gefangenschaft

Teil 2Rein in die Freiheit – die ganz persönliche Dimension

4. Neu denken lernen

5. Von der Freiheit, seine Schwächen zuzugeben

6. Begleiter auf dem Weg zur Freiheit: Mentoring und Coaching

7. Die Freiheit, der zu werden, der ich bin

8. Worauf du dich verlassen kannst: Freundschaften

9. Freiheit zur Verantwortung: Der Leiter in mir

10. Von anderen lernen: Vorbilder

11. Zeiten und Orte der Freiheit

12. Gebetsunterstützung

13. Frei, sich zu binden

Teil 3Der Kampf für die Freiheit – politische Dimension von Freiheit

14. Freiheit für andere

15. Frei, um zu leben

16. Religionsfreiheit

17. Gefangene freisetzen

18. Do Thi Minh-Hanh

19. William Wilberforce – mein Vorbild im Kampf gegen Sklaverei

20. Sklavenhandel

21. Die Heilsarmee im Kampf gegen Kinderprostitution

22. Geschichtliche »Zwänge« aufbrechen

23. Freiheit für Frauen und Kinder

24. »Weil wir euch lieben, du Wichser«

25. Flüchtlinge

26. Brücken zur Freiheit

Teil 4Freisetzen – wie Freiheit sich erleben lässt

27. An den Ursachen arbeiten

28. Freiheit und Toleranz

29. »Überleben im Beruf«

30. Freiheit zum Aufstehen – und zwar rechtzeitig

31. Frei zur Verantwortung: Politisches Engagement von Christen

32. Frank und frei – einige offene Fragen

Franziskanischer Segen

Bildteil

Bildnachweis

Anmerkungen

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Über den Autor

FRANK HEINRICH, Jg. 1964, studierte Theologie und Sozialpädagogik und leitete zusammen mit seiner Frau die Arbeit der Heilsarmee in Chemnitz. Seit 2009 vertritt er Chemnitz als direkt gewählter Abgeordneter der CDU im Deutschen Bundestag. Hier ist er Obmann im ständigen Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, Mitglied in den Ausschüssen für Arbeit und Soziales und für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, sowie im Arbeitskreis Afrika. Er ist Mitglied im Hauptvorstand der Deutschen Evangelischen Allianz und Initiator von »Gemeinsam gegen Menschenhandel e.V.«. Frank Heinrich ist verheiratet mit Regina und Vater von vier Kindern.www.frankheinrich.de

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Dank

Der größte Reichtum meines Lebens sind Menschen, einzigartige Originale, oft Bereicherung und Herausforderung zugleich – ich bin dankbar für so viele tolle Wegbegleiter! Und doch will ich drei exemplarisch herausgreifen. Ihr wart besonders hilfreich auf meinem Weg »freier« zu werden.

Uwe: Du hast mir »erlaubt«, Denken und Reden neu zu nutzen. Du hast es nicht nur immer wieder geschafft, meinen Gedanken und gesprochenen Worten vom Durcheinander zu einer »schriftlichen« Ordnung zu verhelfen, in der ich mich tatsächlich wiedergefunden habe. Du warst und bist auch der Freund, mit dem ich die Klingen kreuzen und schärfen kann, ohne befürchten zu müssen, dass du vorhast, mir mit deiner – wahrlich gefährlichen –, zu schaden.

Mara: »Lebe wild und gefährlich« hast du nicht nur mal gesagt und mir als Bild geschickt. Du hast mir das vorgelebt wie kein anderer, ohne dabei deine tiefen Glaubenswurzeln zu verleugnen. Wahrscheinlich hast du keine Ahnung, wie befreiend das für mich war, und deshalb steht es jetzt hier. Von dir habe ich sehr viel Mut getankt.

Gina: Was du alles für mich bist, kann ich nicht in einige wenige Zeilen packen. Vom Vorbild im praktischen Denken, von deinen klaren, unabhängigen Entscheidungen, von der Freiheit, Fehler zu machen, von deiner Willenskraft und deinem Durchhaltevermögen – bis hin zum für mich als Phlegmatiker manchmal nötigen »Stachel im Arsch«. Ohne dich wäre ich nicht der Frank, der ich heute bin.

Ihr alle habt mir Mut gemacht, frei von dem zu werden, was andere über mich denken. Fertig bin ich noch lange nicht, aber auch nicht mehr ganz am Anfang – DANKE!

Frank Heinrich

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Einführung: Finally Frank

Frank. So heiße ich. Meine Eltern haben diesen Namen für mich ausgewählt. Aber das ist nicht nur mein Name. Sie gaben meinem Leben damit ein Motto.

Frank kommt aus dem Althochdeutschen und bedeutet »frei« oder »tapfer«. Letzteres nehme ich schmunzelnd zur Kenntnis. Für besonders tapfer halte ich mich nicht. Na ja, immerhin tapfer genug, um ein sehr persönliches Buch über Freiheit zu schreiben.

Freiheit. Das ist mein Thema.

Schon meine Kindheitsträume hatten viel mit Freiheit zu tun. Vor einigen Jahren wurde ich gefragt, wovon ich als Kind träumte und was ich später einmal werden wollte. Spontan notierte ich einige Begriffe.

Als Erstes fiel mir »Robin Hood« ein. Der Bogenschütze aus Sherwood Forrest, der die Reichen beraubte und das Geld dann den Armen gab, war einer meiner ersten Helden. So wollte ich werden! Vermutlich war ich da nicht der Einzige.

Weiter sprudelten die Gedanken: »Change the world« – ich wollte die Welt verändern, sie zu einem besseren Ort machen. Not lindern. Eine starke Stimme für die Schwachen wollte ich sein. Ich träumte davon, ein Held für das Gute zu werden, ein Musketier oder eine männliche Johanna von Orleans – und möglichst berühmt wollte ich dabei werden (damals natürlich in der vollen Überzeugung, nicht Ruhm und Ehre zu suchen, sondern ausschließlich aus dem Bestreben heraus, ganz uneitel möglichst viele Menschen zu erreichen). Mir schwebte vor, den Friedensnobelpreis zu gewinnen.

Auf jeden Fall wollte ich eine Spur hinterlassen.

Begeistert las ich als Jugendlicher die Bücher »Das Kreuz und die Messerhelden« von David Wilkerson und »Run, Baby, Run« von Nicky Cruz, die aus ihrer jeweiligen Perspektive die gleiche wahre Geschichte beschreiben: Ein junger Pastor vom Land (Wilkerson) sieht einen Fernsehbericht über eine Gerichtsverhandlung jugendlicher Straftäter. Er wird davon so berührt, dass er nach New York reist, um dort Mitgliedern von Straßengangs zu predigen, dass ein Leben ohne Gewalt und Drogen möglich ist. Tatsächlich kommt das härteste Gangmitglied von allen (Cruz) zum Glauben, und viele andere mit ihm. Ihr Leben verändert sich radikal. Um sie weiter zu begleiten, gründet Wilkerson »Teen Challenge«, eine christliche Lebensgemeinschaft und Suchtkrankenhilfe.

Freiheit ist über die Kindheit und Jugend hinaus immer mein Thema geblieben. Kein anderes Thema bewegt mich so stark. Eigentlich bin ich nicht rührselig, doch immer wieder treibt es mir die Tränen in die Augen, wenn Gefangenschaft sich in Freiheit verwandelt. Ich weine, wenn ich miterlebe, wie Menschen frei werden. Sei es bei einem Kinofilm wie Tim Robbins' Gefängnisdrama »Die Verurteilten«. Sei es, wenn in der Seelsorge den Leuten eine Last von der Seele fällt und sie befreit aufatmen. Sei es, wenn jemand ein Zeugnis gibt, dass er von der Drogenabhängigkeit oder der Prostitution frei geworden ist. Oder wenn ich von Menschen höre, die für die Freiheit anderer kämpfen.

»Was soll einmal auf deinem Grabstein stehen?«

Vielleicht kennen Sie diese Frage. Sie ist eine gängige Übung, um Menschen anzuregen, über den Lebenssinn nachzudenken. Als Sozialarbeiter ist sie mir noch aus meinem Studium vertraut. »Grabstein« klingt ein bisschen gruselig, aber es macht den Ernst der Frage klar. Ich habe nur ein Leben. Was mache ich damit? Was sollen die Menschen einmal über mich sagen können? Wie möchte ich mein Leben gestalten? Wie kann ich ein Motto erkennen und in einem Satz zusammenfassen, der charakteristisch ist für alle Bereiche meines Lebens? Was ist mein Thema?

Meine Antwort steht fest: In meinen Grabstein sollen diese zwei Worte eingemeißelt werden: »finally frank«. »Endlich Frank«, könnte man es übersetzen. Oder auch: »am Ende frei«. So möchte ich leben: Dass ich am Schluss ganz ich selbst war, der Frank, den Gott sich vorgestellt hat, als den er mich geschaffen hat. Und dass ich ganz frei geworden bin von Zwängen und Abhängigkeiten.

Vielleicht ist das zu viel verlangt für dieses Leben. Nun, dann möchte ich es so verstanden wissen: »Spätestens jetzt, bei seinem Gott, ist er ganz frei.«

Um nicht missverstanden zu werden: Das darf gerne noch eine Weile dauern. Es ist hilfreich, das Leben einmal vom Ende her zu denken, aber das soll ganz gewiss nicht resignativ und abschließend sein.

Im Gegenteil: Freiheit ist mein Lebensthema und auf dem Weg bis zum »Finally Frank« werde ich jeden Schritt bewusst gehen. Ich werde für Freiheit kämpfen, wenn mich die Ohnmacht überfällt angesichts der vielen Menschen, die gefangen, gebunden oder versklavt sind. Und ich werde die Freiheit feiern, wo ich sie bei mir selbst und anderen erlebe.

Dieser Kampf ist noch lange nicht zu Ende. Nicht der persönliche Kampf. Nicht der geistliche. Nicht der politische. Zu viel, viel zu viel Unfreiheit nimmt die Menschen gefangen. Aber der Kampf ist nicht aussichtslos. Er hat ein Fundament, mit dem Freiheit möglich wird. »Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!«, schreibt Paulus in seinem Brief an die Galater (Galater 5,1).

Wie Unfreiheit, aber vor allem, wie Freiheit aussehen kann, davon handelt dieses Buch.

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Teil 1Raus in die Freiheit – aus demengen Horizont religiöser Prägung

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1. Prägungen: Drinnen und Draußen,Schwarz und Weiß

Der Geist ist wie ein Fallschirm: Er kann nur funktionieren, wenn er offen ist.

Lord Thomas Robert Dewar

Eine merkwürdige Situation: Ich gehe über die Straße. Auf der Hälfte schaltet die Ampel auf Rot – und ich fühle mich schlecht. »Bei Rot geht man nicht über die Straße!« Das sitzt fest in meinem Gewissen. So wurde ich erzogen. Bis heute ist das tief in mir verwurzelt. Ich weiß natürlich, dass ich bei Grün losgegangen bin oder dass an manchen Orten die Ampeldauer gar nicht ausreicht, um den ganzen Weg bei Grün zu schaffen. Ich weiß, dass ich nichts Falsches gemacht habe. Ich weiß es. Aber es fühlt sich nicht so an. Woher kommt das?

Sicher gibt es viele Ursachen. Eine davon ist die Prägung, und auf die möchte ich hier eingehen. Durch unsere Eltern und durch unser Umfeld werden wir geprägt, bewusst oder unbewusst. Bei Gemüse kann man schmecken, welcher Dünger verwendet wurde. In meinem Fall wurde mit reichlich Bibelzitaten und strengen christlichen Grundsätzen gedüngt.

In Siegen geboren verbrachte ich den größten Teil meiner Kindheit in einem Altenheim im Schwarzwald. Einem sehr frommen Altenheim. Die meisten der bibelfesten Bewohner hatten sich, bevor sie dort einzogen, lange Zeit in der Endzeit gewähnt – durchaus nachvollziehbar bei zwei durchlittenen Weltkriegen. Weil sie damit rechneten, dass Jesus noch zu ihren Lebzeiten wiederkommen würde, hatten sie keine Vorsorge für ihr Alter getroffen. Ohne Rente waren sie nun auf die Unterstützung anderer Christen angewiesen, die daraufhin das Lebens- und Pflegezentrum Haus Rehoboth gründeten, das später zum Christlichen Hilfsdienst e.V. wurde.

Mein Vater, ein sehr praktisch veranlagter Mensch, arbeitete dort als Hausmeister und meine Mutter in der Hauswirtschaft. Wir lebten als Familie mit im Altenheim. Unter den Senioren waren schon einige sehr schrullige Typen dabei, liebevolle Originale, denen ich einen Schatz an Gebeten und Bibelwissen verdanke und wahrscheinlich auch meine Liebe zu den »schrägen« Menschen am Rande der Gesellschaft, mit denen ich später bei der Heilsarmee gearbeitet habe.

Mit den Eltern Hans und Ruth sowie Schwester Bärbel

Aber in diesem geistlichen Gewächshaus war mitunter auch ein ganz schöner Mief, und davon blieb die Kinderseele nicht verschont. Manches atmete ich ein, ohne dass es mir recht bewusst wurde. Heute würde ich es »zwanghaften Glauben« nennen. Vieles blieb unausgesprochen, war aber prägend. Das Schwarz-Weiß-Denken etwa. Es war immer klar: Wir sind die Gläubigen, die anderen – die Welt, die Katholiken, die Namenschristen, die Heiden – sind die Verlorenen.

Dann gab es bestimmte Riten, die sich für einen echten Christen gehörten, und anderes, was sich eben nicht gehörte: Ein Christ macht jeden Tag seine Stille Zeit, er liest in der Bibel, er gibt seinen Zehnten – brutto und mit Freuden, denn »einen fröhlichen Geber hat Gott lieb« (2. Korinther 9,7). Ein Christ hatte damals keinen Fernsehapparat, er ging nicht ins Kino, Discobesuche und Tanzen waren nicht erlaubt.

Wie gesagt, das alles hatte ich quasi eingeatmet. Ich stellte diese Regeln nicht infrage. Stattdessen redete ich mir ein: Ich brauche all das, was verboten ist, gar nicht.

Doch auch wenn ich es nicht wahrhaben wollte: Das stimmte nicht. Ich war unzufrieden und ganz und gar nicht frei. Später entwickelte ich beispielsweise eine regelrechte Fernsehsucht. Ich hatte als Kind nie gelernt, wie ein »normaler« Konsum aussieht, als Erwachsener verlor ich die Kontrolle.

Noch Jahrzehnte später war mein Glaube von Zwängen geprägt. Wenn meine Familie nach einer anstrengenden Woche am Sonntag mal ausschlafen und zu Hause bleiben wollte, war ich strikt dagegen. Ich erwartete, dass sie den Gottesdienst besuchten, und machte Druck auf Frau und Kinder. Wollten sie nicht, ging ich alleine – und war anschließend schlecht gelaunt.

Es dauerte lange, bis ich merkte, wie gesetzlich das ist. Gottesdienste sind eine tolle Sache. Aber sie sind keine Pflichtveranstaltung und schon gar nicht dazu da, um sich als besserer Christ zu fühlen und auf die anderen herabzusehen.

Wie zwanghaft, ja manchmal schizophren mein Leben war, zeigt das Beispiel Schule. Wenn ich am Morgen meine Bibel gelesen hatte, ging ich fröhlich geistlich in die Schule. Dort war ich aber ein Außenseiter und zog den Spott auf mich. Das hielt ich nicht immer aus – wie soll ein Kind das auch aushalten – und so verhielt ich mich dann gar nicht so brav christlich, wie es sich zu gehören schien. Ich heischte nach Anerkennung, war quirlig und lebendig, nicht einmal extrem – Frank halt. Doch wenn ich nach der Schule heimging, drückte ein Gefühl der Verdammnis auf meine Schultern. Wahrscheinlich hätte man an meinem Gang erkennen können, ob ich – bibelgelesen – zur Schule ging oder – nach einem lebendigen Schultag – auf dem Rückweg war.

Typisch für das latente geistliche Klima in meiner Umgebung war auch der Anspruch, sich immer selbst zu prüfen und nach einer verborgenen Sünde oder Fehlern Ausschau zu halten, um diese dann zu bekennen und Gott um Vergebung zu bitten. So hatte ich immer das Gefühl, Gott nicht ganz genügen zu können.

Jahre später, schon im Erwachsenenalter, notierte ich dazu in meinem Tagebuch: Was fehlt noch – wo ist der Haken? Was hab ich noch zu geben? Alles ist lauwarm und abgestanden (…) Ich habe den Eindruck, dass keiner mich wirklich kennt und deshalb auch nicht wissen kann, wie’s wirklich um mich steht. Ich habe pausenlos den Gedanken: »Nicht gut genug!« Theoretisch check ich’s, aber praktisch passiert jahrelang »nix«.

Noch als »geistlicher Milchbubi« habe ich gebetet: »Gott bewahre mir meine Unschuld, bis ich die richtige Frau finde.« Der Hauptgrund dafür war die Angst, für meine Sünde bestraft zu werden, wenn ich nicht rein bleiben würde. Aber es gab auch noch ein anderes Motiv: einen latenten Hochmut, schließlich war ich doch »geistlicher« als die anderen. Doch auch hier scheiterte ich mit meinen Ansprüchen an der Realität: Zwar hatte ich keine Beziehung zu einem Mädchen, aber ich kämpfte ständig mit Selbstbefriedigung.

Das Altenheim bot also einen strengen Rahmen, der mich sehr einschnürte. Natürlich gab es Ausnahmen, aber die waren klar definiert: Laute Rockmusik war verpönt. Wenn ich meine Arno-&-Andreas-Platten mal ganz laut aufdrehte, war das aber gerade noch in Ordnung. Bei deutschsprachiger, christlicher Rockmusik war schon mal eine Ausnahme erlaubt. Sogar auf christliche Konzerte durfte ich gehen. Das war nicht bei allen gerne gesehen, aber meine Eltern schufen mir da innerhalb des engen Rahmens große Freiräume.

Doch selbst dort blieb ich gefangen in meinem Umfeld und seinen Denkmustern. Nach dem Konzert einer Band, das mir super gefallen und mich auch geistlich berührt hatte, sahen wir einen der Musiker mit einer Zigarette in der Hand. Der Freund, mit dem ich das Konzert besucht hatte, raunte mir zu: »Siehst du das? Der raucht. Ob das wirklich Christen sind?« Jetzt war die Band also nicht mehr gut. Mir stieß das ziemlich sauer auf. Konnte es sein, dass eine Zigarette alles durchstrich, was ich vorher erlebt hatte?

Später brauchte ich an vielen Stellen richtiggehend Befreiung, um mich zu einem fröhlichen Christen zu entwickeln. Mag es den einen oder anderen Bibeltreuen auch befremden: Ich brauchte zum Beispiel Befreiung von der Stillen Zeit und vom Bibellesen. Nicht von den Übungen an sich, die sind und bleiben etwas Gutes, und die Bibel ist bis heute die Grundlage meines Glaubens. Aber ich brauchte eine Befreiung von dem Gedanken oder besser gesagt dem Gefühl, dass der Segen eines Menschen, und sei es nur das Gelingen des Tages, von Andacht und geistlicher Übung abhängt. Für mich war die Stille Zeit ein täglicher Krampf. Ich musste sie einhalten, ob ich wollte oder nicht. »Man« machte das in unseren Kreisen. Erst als ich begriffen hatte, dass ein Tag ohne Stille Zeit keine Strafe Gottes nach sich zieht, gewann ich die Freiheit, gerne in der Bibel zu lesen. Aber um das ganz persönlich zu erfahren, musste ich die Stille Zeit einmal für eine Weile ausfallen lassen.

Morgens war in meiner Jugend, wie gesagt, die Stille Zeit ein Muss, abends galt dasselbe für eine gemeindliche Aktivität. Fast jeder Abend hatte ein geistliches Programm. Da standen die Bibelstunde, der Jugendkreis oder der Chor auf der Agenda. Das gehörte einfach dazu, man ging hin. Ohne Wenn und Aber. Ich schluckte das nicht nur, ich brauchte es – wenn man so will, zum geistlichen »Abreagieren«. Schließlich hatte sich ja im Laufe des Tages eine Menge »Fehlverhalten« angesammelt, irgendwie musste ich Gott jetzt wieder nahekommen.

All diese Aktivitäten sind, wie auch die Stille Zeit, für sich genommen sehr gut. Man pflegt Gemeinschaft, man lernt die Bibel kennen, man betet zusammen. Schwierig wird es, und so habe ich es erlebt, wenn diese Aktivitäten zur Pflicht werden und zum Gradmesser des Glaubens.

Als ich mich irgendwann traute, abends ins Kino zu gehen, merkte ich, wie tief meine Ängste saßen: Ich konnte das nur mit einem fürchterlich schlechten Gewissen. Ich hätte doch in dieser Zeit etwas für Gott tun können und sollen!

Diese Prägung als Unfreiheit zu erkennen und mutig etwas daran zu ändern, war ungemein schwer und ein jahrelanger Prozess. Innerhalb des frommen Gewächshauses war es beinahe unmöglich.

Zwei »No-Gos«, also Dinge, die gar nicht gehen, absolut unmöglich sind, lagen immer in der Luft. Erstens: Man durfte auf keinen Fall zugeben, dass man unfrei ist. Wir waren doch Christen, unsere Selbstwahrnehmung hieß: »Man hat einander zu lieben, man ist fröhlich, man ist frei.« Es konnte nicht sein, was nicht sein durfte.

Zweitens: Man hielt sich immer schön klein und demütig »vor dem Herrn«. Wie will man aber aufbegehren und etwas Neues wagen, wenn man seine Stärken nicht kennt?

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2. Vom Richten: Ein geistliches Gefängnis

Die beschriebene Frömmigkeit beschneidet die Freiheit aber nicht nur durch ihre Enge. Im Rückblick ist mir ein anderes »geistliches Gefängnis« bewusst geworden: das Richten, das Aburteilen der anderen.

Nicht umsonst formuliert Jesus in der Bergpredigt sehr deutlich: »Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet. Denn nach welchem Recht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit welchem Maß ihr messt, wird euch zugemessen werden« (Matthäus 7,1-2).

Wer andere Menschen richtet, der beschneidet sich selbst, so stellt Jesus fest. Das Urteil fällt auf einen selbst zurück. Inwiefern? Richten macht unfrei, indem es den Blick für die anderen Menschen und ihre Lebenssituationen verstellt.

Kurz nach meiner Wahl in den Deutschen Bundestag traf ich abends im Fahrstuhl eine Kollegin. Ich erkannte sie sofort, es war eine ehemalige Ministerin. Sie schwankte, hatte Mühe, sich gerade zu halten, offensichtlich war sie stark angetrunken. Ich war schockiert. Und sofort meldeten sich ziemlich abwertende Gedanken.

Aber wer bin ich denn? Was weiß ich über ihre Lebenssituation? Nach mehr als sieben Jahren im Bundestag kenne ich die Belastung in diesem Mandat. Heute habe ich Verständnis für Reaktionen wie unmäßigen Alkoholkonsum, zu denen ein Mensch unter dem Druck der Verantwortung greifen kann. Ich heiße das nicht gut, aber steht es mir zu, über den Menschen ein Urteil zu fällen? Oder sollte ich nicht lieber Gott dankbar sein, dass er mich (bis hierher) davor bewahrt hat?

Uwe Heimowski schreibt dazu in seinem Artikel »Kultur der Gnade« im Männermagazin MOVO:

Gerade Politiker stehen unter einem enormen Leistungs- und Erwartungsdruck. Da ist die hohe Arbeitsbelastung, mit regelmäßigen 16-Stunden-Tagen. Da sind die vielen Entscheidungen mit ungewissen Auswirkungen (um nur ein Stichwort zu nennen: Militäreinsätze), die sehr häufig auch noch unter enormem Zeitdruck zu treffen sind. Da ist die ständige Beobachtung durch die kritische Öffentlichkeit. Dazu kommen permanente Angriffe auf die Privatsphäre, die durch Twitter und Facebook eine nie dagewesene Schärfe gewonnen haben. Der Begriff »Shitstorm« ist das Synonym für dieses Phänomen. Was sich da Tag für Tag über Personen des öffentlichen Lebens ergießt, ist schlimmer als ein Kübel Fäkalien. Wir müssen uns fragen: Ist dieser Druck zumutbar? Kann das auf Dauer gut gehen? Und damit verbunden die Frage an die Christen: Können wir hier einen Unterschied in der Gesellschaft machen? Sollten wir nicht in der Form und in der Sache dazu beitragen können, eine »Kultur der Gnade« zu etablieren?1

Ein alter indianischer Sinnspruch lautet: »Großer Geist, bewahre mich davor, über einen Menschen zu urteilen, ehe ich nicht eine Meile in seinen Mokassins gegangen bin.« Wie oft versetzen wir uns wirklich in die Lage des anderen, wie oft gehen wir tatsächlich in seinen Schuhen, in seinen Mokassins? Und wie oft behaupten wir das nur?

Wer über andere richtet, der kann sich nicht mehr in sie hineinversetzen. Richten verschließt das Herz. Gnade und Liebe dagegen öffnen das Herz.

Nachdem ich mein schlechtes Gewissen überwunden hatte, wurde ich ein begeisterter Kinogänger. Ich liebe die Atmosphäre, die großen Leinwände, die lebendigen Bilder und natürlich die guten Geschichten. Wie oft hatte ich schon Aha-Erlebnisse im Kino!

1996 sah ich den Film »Breaking the Waves« von Lars von Trier. Emily Watson spielt darin Bess, eine junge Frau, die geistig etwas zurückgeblieben ist. Es ist eine tragische Liebesgeschichte, die nicht zuletzt das Thema »Doppelmoral« aufgreift. Bess ist gläubig und arbeitet aktiv in der Kirche mit. Doch in den Augen der Christen wirft ihr Lebensstil Fragen auf.

Eine Szene ging mir besonders unter die Haut. Sinngemäß sagt dort einer der Gemeindevorsteher: »Um der Liebe zum Wort Gottes willen müssen wir sie aus der Kirche herausnehmen.« Der größte Schatz der Gemeinde wird vor die Tür gestellt – und einsam muss sie ihr weiteres Schicksal erdulden.

Hat Jesus die Frau verurteilt, die von der aufgebrachten Menge gesteinigt werden sollte, weil sie beim Ehebruch ertappt worden war (Johannes 8,3-11)? Wenn Jesus uns auffordert: »Richtet nicht!«, dann nicht als Verbot, sondern als Verheißung. Wer andere nicht beurteilen und bewerten muss, den setzt das frei. Ich bin nicht gebunden, ein Urteil zu sprechen, das ist Gottes Sache. Also bin ich frei, den anderen zu verstehen und ihn zu achten. Auch den anderen Menschen setzt es frei. Er muss sich vor mir nicht fürchten, weil ich nicht mehr nur sein (mögliches) Fehlverhalten sehe, sondern seinen Wesenskern und vielleicht auch die Geschichte, die ihn in diese Situation gebracht hat.

Im Biotop meiner Kindheit hatte ich keine Möglichkeit, Katholiken, Adventisten, Mormonen, Muslime zu treffen – oder Schwule, wir hätten nicht einmal das Wort in den Mund genommen. Und obwohl (oder weil?) ich sie nicht kannte, hatte ich eine klare Meinung von ihnen: Sie waren die anderen, sie waren draußen, wir waren drinnen, sie waren Sünder, wir waren gerettet.

Ich selbst kannte zwar das Bibelzitat »Du sollst nicht richten« und ich habe mich formal meistens daran gehalten, indem ich nicht schlecht oder voreilig über andere gesprochen habe – ich hatte ja Angst, dann selbst gerichtet zu werden. Aber das war Fassade, innerlich habe ich gerichtet wie alle anderen auch, ich hatte das gleiche Schwarz-Weiß-Schema, nur etwas überheblicher – und ich war stolz auf mich.

Nach und nach begegneten mir dann Menschen, die nicht in unsere fromme Welt passten. Beziehungen entstanden und ich machte Erfahrungen, auf die meine Urteile, meine Klischees einfach nicht passten. Meine geistliche Überheblichkeit zerrann mir zwischen den Fingern. Natürlich muss ich nicht alles richtig finden, was ein anderer tut. Aber gibt mir dies das Recht, über ihn zu richten?

Begegnungen mit Menschen, die anders denken, anders glauben und anders leben als wir selbst, sind die effektivsten Werkzeuge, um frei zu werden. Sie bereichern das eigene Leben, sie führen aus der Enge in die Weite.

Begegnungen mit Menschen, die anders denken, anders glauben und anders leben als wir selbst, sind die effektivsten Werkzeuge, um frei zu werden.

In meinem konservativ christlichen Milieu gab es einen Mechanismus der Selbstabschottung, um solche Begegnungen zu vermeiden. Wir hatten eine Bezeichnung für die Welt »da draußen«: Wir nannten sie »den Zeitgeist«. Und dieser Zeitgeist war böse, er verführte die Menschen, ihn galt es unter allen Umständen zu meiden.

Diese Engführung, diese Bewertung erzeugt das »Außen – Innen«. Und sie führt zu einer Spaltung im Menschen selbst. Sie spaltet zwischen Herz und Hirn. Das Herz will Nähe suchen, kennenlernen, verstehen. Das richtende Hirn hat sein Urteil aber bereits gefällt und legt sein Veto ein.

Heute weiß ich: Indem ich Gott für groß und gewaltig und heilig gehalten habe – alles Bezeichnungen, die korrekt sind –, indem ich versucht habe, ihn in seiner Größe und Heiligkeit zu schützen und mich selbst rein zu halten, habe ich mir etwas vorgemacht. Denn was ist damals wirklich geschehen? Ich habe ihn klein gemacht. Wie klein muss Gott sein, wenn er nur »hier drinnen«, in meiner kleinen geistlichen Welt zu finden ist?

Meine persönliche Reise in die Freiheit hat stark mit meinem Gottesbild zu tun. Je mehr ich die wahre Größe Gottes verstehe, je mehr ich begreife, dass Gott der Schöpfer und liebende Vater aller Menschen ist, desto freier werde ich. Heute frage ich weniger nach meinem Bild von Gott, sondern mehr danach, welches Bild Gott von den Menschen hat. Indem ich sein Herz verstehe, macht er mich frei. Das sprengt Grenzen. Nicht mehr mein schlechtes Gewissen treibt mich an, sondern die Liebe Gottes.

Heute verstehe ich mein Christsein nicht mehr über die Abgrenzung, sondern über die Beziehung zu Gott. Und ich bin neugierig, wie andere Christen ihren Glauben leben. Ich möchte hören, warum sie so glauben, wie sie glauben. Ich möchte verstehen, warum sie ihre Bibel so lesen, wie sie sie lesen.

Wie viel habe ich im Laufe der Jahre von meinen evangelischen und katholischen Brüdern und Schwestern gelernt, wie viel von Brüdergemeinden, Adventisten, Pfingstlern. Und wie viele Menschen, die sich zu keinem Glauben bekennen, haben mich durch ihren Einsatz für Menschenrechte, für Gerechtigkeit und für Freiheit inspiriert. Freiheit bedeutet, sich nicht nur im Dualismus aufzuhalten, nicht alles schwarz-weiß zu sehen.

Diese Freiheit ist eine innere Einstellung, sie lebt von dem Bild, dass ich von Gott habe. Sie hat aber noch eine weitere Dimension: das gesprochene Wort. Wer sein Urteil fällt, ist nicht frei. Wer sein Urteil ausspricht, macht auch andere unfrei. Er legt den anderen fest.

Darum warnt die Bibel vor der Gefahr der Worte:

Mit einem winzigen Ruder lenkt der Steuermann ein großes Schiff selbst bei heftigem Wind, wohin er will. So kann auch die Zunge, so klein sie auch ist, enormen Schaden anrichten. Ein winziger Funke steckt einen großen Wald in Brand! Die Zunge ist wie eine Flamme und kann eine Welt voller Ungerechtigkeit sein. Sie ist der Teil des Körpers, der alles beschmutzen und das ganze Leben zerstören kann, wenn sie von der Hölle selbst in Brand gesteckt wird. Der Mensch kann die unterschiedlichsten Tiere und Vögel, Reptilien und Fische zähmen, aber die Zunge kann niemand im Zaum halten. Sie ist ein unbeherrschbares Übel, voll von tödlichem Gift. Mit ihr loben wir Gott, unseren Herrn und Vater; dann wieder verfluchen wir mit ihr andere Menschen, die doch als Ebenbilder Gottes geschaffen sind. So kommen Segen und Fluch aus demselben Mund. Und das, meine Freunde, darf nicht so sein! (Jakobus 3,4-10; NLB).

Fluchen heißt nichts anderes, als unsere (Vor-)Urteile über Menschen auszusprechen. Segnen dagegen bedeutet, den anderen freizusetzen, indem ich Gutes über ihn sage. Das griechische »eu-logein«, das im Neuen Testament verwendet und ins Deutsche mit Segnen übersetzt wird, bedeutet wörtlich »Gutes sagen«. Diese Bedeutung ist auch in den romanischen Sprachen enthalten, zum Beispiel im lateinischen »benedicere«.

Wenn ich Gutes über den anderen sage, macht ihn das frei – und es macht mich frei.

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3. Rumänien: Freiheit in Gefangenschaft

Eine große Hilfe auf meinem persönlichen Weg in die Freiheit war mein Vater. Auch er war ein frommer und bibelfester Mann und auch er war natürlich Teil der Lebensgemeinschaft im Seniorenheim. Doch er hatte sich in diesem engen geistlichen Klima irgendwie die Neugierde und das Fragen bewahrt – und sich damit eine große Offenheit erhalten.

Diese Weltoffenheit meines Vaters zeigte sich unter anderem in seiner Abenteuer- und Reiselust. Häufig besuchten wir als ganze Familie Christen hinter dem Eisernen Vorhang. Dafür schlug einfach sein Herz. Wir nahmen an verbotenen Kinderfreizeiten in Rumänien teil, wir schmuggelten Bibeln in die DDR. Das war wirklich abenteuerlich und es weitete meinen Horizont.

Vater und Sohn

Auf diesen Reisen lernte ich noch eine ganz andere Form von Unfreiheit in meinem Leben kennen, von der ich gar nicht geahnt hatte, dass sie mich gefangen halten könnte. Insbesondere die Freunde in Rumänien hielten mir mit ihrem Lebensstil einen Spiegel vor.

Normalerweise leitete mein Vater die Einsätze in Osteuropa. Doch 1980 konnte er die Reise nach Rumänien nicht mitmachen. Ich war gerade sechzehn und sollte ihn vertreten. Zum ersten Mal war ich ohne meinen Vater in Rumänien.

An einem Tag fuhren wir durch Bukarest und besuchten verfolgte Christen. Ich war schockiert über das, was ich erfuhr. Auf den bisherigen Reisen hatten die Menschen solche Dinge nur meinem Vater erzählt. Das Ceauşescu-Regime ging brutal gegen Christen vor. Der Besitz von Bibeln war verboten. Für den Besuch von Gottesdiensten konnte man ins Gefängnis kommen. Wir hörten von Verhören, von Einschüchterungsversuchen, von willkürlichen Verhaftungen und auch von Folter.

Manches erlebten wir dann später selbst mit. Einmal schlief meine Schwester in einem Privatquartier in Hermannstadt auf einer Couch am Fenster. In der Nacht wachte sie auf, weil ein Lichtkegel sie blendete. Jemand war auf den Baum vor dem Haus geklettert und versuchte, mit einer Taschenlampe herauszufinden, ob Besucher aus dem Westen hier übernachteten. Das war verboten, und wenn dieser Mensch meine Schwester entdeckt hätte, hätte er den Gastgeber denunziert.

Ein anderes Mal hatte ich bei einem Termin eine Kamera liegen gelassen. Das war schon für sich genommen gefährlich für unseren Gastgeber, denn wenn die Kamera bei ihm entdeckt würde, stellte sich natürlich die Frage: Wie war er in den Besitz eines Westprodukts gekommen? Aber es kam noch schlimmer: Als wir eine halbe Stunde später noch einmal zurückkamen, um die Kamera abzuholen, wurde die Securitate, der rumänische Geheimdienst, trotz all unserer Vorsicht auf uns aufmerksam. Der Hausbesitzer wurde abgeholt, verhört und bedroht. Bei unserer nächsten Begegnung hörte ich, dass er bei einer ähnlichen Untersuchung verprügelt und übel zugerichtet worden war.

»Wie gut geht es uns dagegen in der Bundesrepublik«, dachte ich in einem Moment, als ich mit dem jungen Mann im Auto saß. »Selbst wir exotischen Freikirchler können unseren Glauben frei leben und ein Altenheim betreiben.«

Da riss mich mein Begleiter plötzlich aus den Gedanken. Er sagte etwas, das sehr lange in mir nachwirkte. Er frage sich, begann er, ob all das, was wir im Westen besitzen, wirklich ein Segen sei. Ich erkundigte mich, wie er das meinte, und wir führten eine intensive Diskussion. Er bestand auf seiner Meinung: Den eigentlichen Segen haben die Verfolgten, weil sie wissen, worauf es im Glauben wirklich ankommt. Sie seien bereit zu leiden – und damit frei von äußeren Bindungen und materiellen Abhängigkeiten.

Ich wollte das nicht einfach so stehen lassen, ich war dankbar für mein westliches Leben. Und ich ließ mir meinen Glauben nicht infrage stellen. Doch trotzdem ließen mich seine Gedanken lange Zeit nicht los und ich fragte mich: Wäre ich bereit, mein Leben oder das meiner Familie für meinen Glauben in Gefahr zu bringen? Zum Glück war und ist das in meinem Leben nur eine hypothetische Frage. Für die Christen damals in Rumänien und heute in Nordkorea, in einigen arabischen Ländern, in China und vielen anderen Staaten ist sie existenziell.

Noch etwas konnte ich bei den Christen in Rumänien beobachten. Materiell ging es den meisten von ihnen schlecht. Kaum jemand besaß wirklich viel, einige waren richtig arm. Doch obwohl wir die »reichen« Deutschen waren, bemerkte ich einen deutlichen Widerspruch: Dankbarer waren unsere rumänischen Geschwister.

Auch wenn ich nur wenige Brocken Rumänisch sprach, reichte das doch aus, um einzelne Vokabeln zu erkennen. Daher bemerkte ich regelmäßig: Wenn wir miteinander beteten, jeder in seiner Sprache, fiel bei den Rumänen immer wieder ein bestimmter Begriff, häufiger als jedes andere Wort: »Mulțumesc« – Danke. In diesen Momenten, in denen die Menschen vor Gott ihre tiefsten Empfindungen ausdrückten, stand dieses eine Wort im Mittelpunkt: Danke.

Eine solche tiefe Dankbarkeit hatte ich bei uns im reichen, freien und sicheren Westen noch nicht erlebt. Dieses Mulțumesc der rumänischen Christen, gebetet unter schwierigsten Bedingungen, hat mich schon als junger Mensch sehr bewegt und für mein Leben geprägt.

Mulțumesc ist ein Ausdruck der Freiheit. Die Christen in Rumänien hätten wirklich allen Grund gehabt, sich zu fürchten. Ihre existenzielle Bedrohung war allgegenwärtig. Täglich. Sie hätten allen Grund gehabt, sich Sorgen zu machen, um die Sicherheit ihrer Familie, um das eigene Wohlergehen. Und doch wirkten sie sorgenfrei. Sie legten ihr Leben in Gottes Hand und sie waren gewitzt genug, Kniffe zu entwickeln, um ihren Glauben im Untergrund zu leben.

Unsere Freunde hatten kleinere Häuser, ältere Autos und weniger Kleider als wir. Oft hatten sie nicht einmal das tägliche Brot. Umso mehr galt mulțumesc. Sie waren dankbar, für das, was sie hatten, und lebten frei von dem Anspruch, dass materiell alles da sein muss. Wer dankbar ist, kann mit Freuden nehmen, was er hat, und auf das verzichten, was er nicht hat. Der Dankbare ist frei von Neid. Er genießt das Heute und macht sich keine Sorgen um das Morgen. Sie lebten nach dem Grundsatz in Matthäus 6,33-34: »Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen. Darum sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat.«

Mein Vater hatte sich diese Haltung von den rumänischen Christen abgeschaut. Er sagte oft, zwei Dinge seien grundlegend für den Glauben: Zum einen war diese eine Mahnung und Verheißung aus dem ersten Petrusbrief: »Alle eure Sorge werft auf ihn; denn er sorgt für euch« (1. Petrus 5,7). Das klingt leichter, als es tatsächlich ist. Mein Vater benutzte dafür oft ein Bild: Es besteht beim Beten die Gefahr, dass wir »Jo-Jo« spielen: Wir nennen Gott unsere Sorgen, lassen sie aber nicht los, sondern ziehen sie zu uns zurück. Statt Gott wirklich zu vertrauen, kleben wir an unseren Sorgen. Das zweite Motto meines Vaters war angelehnt an das Mulțumesc: »Sagt Dank Gott, dem Vater, allezeit für alles« (Epheser 5,20). Wer dankbar ist, ist frei. Frei zu genießen, frei zu verzichten, frei zu teilen.

Wer dankbar ist,ist frei.