Franz Kafka - Peter-André Alt - E-Book

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Peter-André Alt

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Beschreibung

Franz Kafka ist der wirkungsmächtigste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Sein Werk gilt bis heute als Inbegriff des Dunklen, Mehrdeutigen, faszinierend Unheimlichen: als Musterfall der ästhetischen Moderne. Diese Biographie stellt Kafkas Leben und seine literarische Arbeit in den Zusammenhang der großen kulturellen Strömungen der Zeit zwischen 1880 und 1920. Kafkas künstlerische Individualität wird aus ihrer spannungsreichen Verbindung mit europäisch-jüdischen Traditionen neu verständlich – als Besitz eines ewigen Sohns, der sich selbst am Anfang und am Ende aller Überlieferungen stehen sieht. Franz Kafka hat Leben und Schreiben als Einheit betrachtet, die seine Identität begründete. Sein zerbrechlicher Selbstentwurf blieb gebunden an die Höhen und Tiefen der literarischen Arbeit. Peter-André Alts Biographie verknüpft die Lebenserzählung mit umfassenden Interpretationen, die Kafkas Werk und dessen psychologische Voraussetzungen durchdringen. Sie zeigt den Autor als Beobachter seiner Zeit, indem sie sein Verhältnis zur Prager deutschen Literatur und zur europäischen Moderne, zu Psychoanalyse und Zionismus, Philosophie und jüdischer Geistestradition, Anthroposophie, Naturheilkunde, Kino und Theater untersucht. Sie präsentiert den Flaneur und den Einsamen, den Reisenden und den Ängstlichen, den Asketen und den Liebenden, den Ekstatiker und den Skeptiker, den Spezialisten des Schreckens und den Meister der Ironie. Kafkas Vita wird dabei nicht als Quelle, sondern als Spiegel der literarischen Arbeit gedeutet. Die Welt seiner Erzählungen und Romane gewinnt auf diese Weise in den Linien des Lebensentwurfs eine ebenso fesselnde wie unheimliche Konsequenz.

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Franz Kafka, im Herbst 1910

Peter-André Alt

Franz Kafka

Der ewige Sohn

Eine Biographie

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag C.H.Beck

Zum Buch

Franz Kafka ist der wirkungsmächtigste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Sein Werk gilt bis heute als Inbegriff des Dunklen, Mehrdeutigen, faszinierend Unheimlichen: als Musterfall der ästhetischen Moderne. Diese Biographie stellt Kafkas Leben und seine literarische Arbeit in den Zusammenhang der großen kulturellen Strömungen der Zeit zwischen 1880 und 1920. Kafkas künstlerische Individualität wird aus ihrer spannungsreichen Verbindung mit europäisch-jüdischen Traditionen neu verständlich – als Besitz eines ewigen Sohns, der sich selbst am Anfang und am Ende aller Überlieferungen stehen sieht.

Franz Kafka hat Leben und Schreiben als Einheit betrachtet, die seine Identität begründete. Sein zerbrechlicher Selbstentwurf blieb gebunden an die Höhen und Tiefen der literarischen Arbeit. Peter-André Alts Biographie verknüpft die Lebenserzählung mit umfassenden Interpretationen, die Kafkas Werk und dessen psychologische Voraussetzungen durchdringen. Sie zeigt den Autor als Beobachter seiner Zeit, indem sie sein Verhältnis zur Prager deutschen Literatur und zur europäischen Moderne, zu Psychoanalyse und Zionismus, Philosophie und jüdischer Geistestradition, Anthroposophie, Naturheilkunde, Kino und Theater untersucht. Sie präsentiert den Flaneur und den Einsamen, den Reisenden und den Ängstlichen, den Asketen und den Liebenden, den Ekstatiker und den Skeptiker, den Spezialisten des Schreckens und den Meister der Ironie. Kafkas Vita wird dabei nicht als Quelle, sondern als Spiegel der literarischen Arbeit gedeutet. Die Welt seiner Erzählungen und Romane gewinnt auf diese Weise in den Linien des Lebensentwurfs eine ebenso fesselnde wie unheimliche Konsequenz.

«Alts Biographie über Franz Kafka ist einfach wunderbar.»

Hellmuth Karasek

Über den Autor

Peter-André Alt, geb. 1960, ist Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Freien Universität Berlin, die er seit 2010 als Präsident leitet. 2005 erhielt er den Schiller-Preis der Stadt Marbach am Neckar. Bei C.H.Beck sind von ihm u.a. erschienen: Schiller (zwei Bände, zuerst 2000); Der Schlaf der Vernunft (2002), Klassische Endspiele (2008), Kafka und der Film (2009), Ästhetik des Bösen (22011), Sigmund Freud (2016).

 

 

 

 

«Es ist eine schöne und wirkungsvolle Vorführung, der Ritt den wir den Ritt der Träume nennen. Wir zeigen ihn schon seit Jahren, der welcher ihn erfunden hat, ist längst gestorben, an Lungenschwindsucht, aber diese seine Hinterlassenschaft ist geblieben und wir haben noch immer keinen Grund den Ritt von den Programmen abzusetzen, umsoweniger, als er von der Konkurrenz nicht nachgeahmt werden kann, er ist, trotzdem das auf den ersten Blick nicht verständlich ist, unnachahmbar.»

(Franz Kafka, Februar 1922)

Inhalt

Vorwort

Erstes Kapitel.Im Netz der Beziehungen

Hermann Kafka, Sohn eines Fleischhauers

Die verrückten Löwys

Galanteriewaren

Politische Kräftespiele

Prager Stadtansichten

Zweites Kapitel.Kindheit und Schuljahre (1883–1901)

Die Einsamkeit des Erstgeborenen

Drei Schwestern

Gouvernanten und Dienstmädchen

Deutsche Knabenschule

In der Synagoge

Alpträume eines Gymnasiasten

Türen zur Welt

Darwin, Nietzsche und der Sozialismus

Drittes Kapitel.Studium und Lebensfreundschaften (1901–1906)

Chemie und Germanistik

Geistige Ernährung durch Holzmehl

Philosophie im Louvre-Zirkel

Intime Kreise: Brod, Weltsch, Baum

Rituale der Sexualität

Die Qualen des Examens

Viertes Kapitel.Frühe Prosa (1900–1911)

Schreibversuche des Schülers

Kulissenzauber im Kunstwart

Selbstbeobachtung und Lektüre

Der Mythos des Kampfes

Hochzeitsvorbereitungen ohne Braut

Das Tagebuch als Versuchslabor

Fünftes Kapitel.Erste Berufszeit (1906–1912)

Am Landgericht

Von den Assicurazioni Generali zur Versicherungs-Anstalt

Alltag des Beamten

Nachtleben

Literarische Caféhauszirkel

Sechstes Kapitel.Auf Spurensuche (1908–1912)

Der Reisende

Naturheilkunde und Anthroposophie

Im Kino

An der Schwelle zum Zionismus

Das jiddische Theater

Siebentes Kapitel.Die Kunst der Betrachtung (1908–1913)

Die Gier nach einem Buch

Besuch in Weimar

Ein eleganter Verleger

Flaneure und Voyeure

Glückliche Narren, Kinder und Bauernfänger

Negative Dialektik

Achtes Kapitel.Eine Schrift-Geliebte: Felice Bauer (1912–1913)

Wie ein Dienstmädchen

Briefverkehr zwischen Prag und Berlin

Das Rauschen der Medien

Literarische Aversionen

Zweifelhafte Wunder

Von Wien zum Gardasee

Grete Bloch interveniert

Die Bestellung des Verteidigers

Neuntes Kapitel.Literarische Nachtarbeit (1912–1913)

Das Geheimnis der Psychoanalyse

Halbschlafbilder

Vollständige Öffnung des Leibes und der Seele

Vor dem Vater

Eine ekelhafte Geschichte

Schreibfluß und Schreibhemmung

Zehntes Kapitel.Der Verschollene (1912–1914)

Die Magie der großen Form

Erlesenes Amerika

Karl Roßmanns Brüder

Der Held und seine Erzieher

Techniken der Ironie

Karneval im Welttheater

Elftes Kapitel.Der Proceß (1914–1915)

Verlobung und Gerichtstag in Berlin

Nächtliche Ekstase

Rhetorik der Schuld

Männerphantasien – Frauenkörper

Richter, Advokaten und Angeklagte

Die Legende

Die Henker als Tenöre

Zwölftes Kapitel.Kriegsjahre ohne Entscheidungen (1915–1917)

Mit Felice in Bodenbach und Karlsbad

Zionistische Politik

Wunsch, Soldat zu werden

An den Rändern der Wirklichkeit

Nochmals Ehepläne

Dreizehntes Kapitel.Krankheit und neue Fluchtwege (1917–1918)

Die Verschwörung von Kopf und Lunge

Ein Winter auf dem Land

Kierkegaard-Studien

Paradoxe Erlösungsvisionen

1918: Der große Umsturz

Vierzehntes Kapitel.Protokolle des Schreckens (1914–1919)

Vortragsabend mit ‹Blutgeruch›

Maschinen des Gesetzes

Die tödlichen Spuren der Schrift

Stille Arbeit in der Alchimistengasse

Traum und Film

Das Fehlläuten der Nachtglocke

Literarische Rätselspiele

Imaginäres Judentum

Fünfzehntes Kapitel.Julie Wohryzek und Milena Pollak (1919–1921)

Die Tochter eines Tempeldieners

Der dritte Versuch

Milena, eine verheiratete Frau

Nach der Liebe

Kur in Matliary

Alte Lasten und kaum Erleichterung

Sechzehntes Kapitel.Selbstentwürfe und Parabeln (1917–1922)

Das Phantasma der Kindheit

Im Mahlstrom der Bedeutungen

Parodien des Mythos

Exotische Masken

Ostjüdische Inspirationen

Siebzehntes Kapitel.Das Schloß (1922)

Fahrt nach Spindelmühle

Schwarze Romantik in Böhmen

Ein Fremder

Das Dorf als hermetischer Ordnungsraum

Komödien des Unbewußten

Das Wissen der Frauen

Betrug und Asyl

Achtzehntes Kapitel.Nach der Pensionierung (1922–1923)

Als Ottlas Gast in Planá

Ein dunkler Prager Winter

Die Sprache des Gelobten Landes

Aufflackernde Palästina-Pläne

Die zweite Kindsbraut: Dora Diamant

Neunzehntes Kapitel.Späte Erzählungen (1922–1924)

Artisten in der Zirkuskuppel

Hungern als Zwang

Die Musik der Tiere

Im Labyrinth

Josefine und das Judentum

Zwanzigstes Kapitel.Die vorletzte Reise (1923–1924)

Nur ein Ziel, kein Weg

Eine Art Idylle im Grunewald

Der Inflationswinter

Odyssee durch Sanatorien und Spitäler

Wieder in die dunkle Arche: Kierling, 3. Juni 1924

Anhang

Anmerkungen

Bibliographie

Bildquellen

Personenregister

Verzeichnis der erwähnten Kafka-Texte

Danksagung

Vorwort

Franz Kafkas Wirklichkeit war ein weitläufiger Raum der Einbildungskraft. «Die ungeheuere Welt, die ich im Kopfe habe», notiert er im Juni 1913 in seinem Tagebuch (T II 179).[1] Während sich Kafkas äußeres Leben mit wenigen Ausnahmen in der überschaubaren Topographie Prags und der Provinzstädte Böhmens abspielt, bleibt die Erfahrung, die ihm das Reich des Imaginären vermittelt, unumschränkt und grenzenlos. Was sein literarisches Werk inspiriert, stammt nur in Bruchteilen aus den Zonen der externen Realität. Auf merkwürdige Weise scheint seine Welt der Phantasie von der wechselvollen Geschichte der Moderne unberührt. Die gravierenden Zäsuren, die Europa am Beginn des 20. Jahrhunderts bestimmen, spielen für Kafkas Leben scheinbar keine Rolle – weder seine Briefe noch die Tagebücher widmen ihnen größere Aufmerksamkeit. Die russische Revolution vom Winter 1905 taucht in der Erzählung Das Urteil auf, als sei sie ein gleichsam literarisches Ereignis. Die Balkankriege von 1912 und 1913 nimmt der Briefschreiber wie durch den Schleier des Tagtraums wahr (Br I 204). Die Mobilmachung vom August 1914 registriert der Tagebuchautor in einer lakonischen Beiläufigkeit, die befremdlich wirkt (T II 165). Dem Zusammenbruch der k.u.k.-Monarchie, der am 28. Oktober 1918 zur Geburt der tschechischen Republik führt, widmet er kaum ein Wort. Die Existenz des neuen Staates, als dessen Bürger er fortan lebt, ist ihm keinen näheren Kommentar wert; einzig über die bürokratischen Widerstände, denen sich der Reisende im Europa der Nachkriegszeit ausgesetzt sieht, klagt er gelegentlich. Als er 1923 nach Berlin zieht, beobachtet er die gesellschaftlichen Umbrüche des großen Inflationswinters wie ein Forscher, der den Gegenständen seiner wissenschaftlichen Neugier fernbleiben muß, um sie besser zu verstehen: «(…) und so weiß ich von der Welt viel weniger als in Prag.» (Br 468)

Als Visionär ohne Geschichte und Mystagogen ohne Realitätssinn haben die Nachgeborenen Kafka wahrgenommen. Das Porträt des einsamen Prager Asketen, der seine privaten Ängste und Obsessionen in traumhaft-phantastischen Texten verarbeitet, darf jedoch nicht davon ablenken, daß es auch noch eine andere Seite gibt. Sie zeigt dem Betrachter einen auf komplizierte Weise in die Epoche Verstrickten, der vor der gesellschaftlichen Wirklichkeit seiner Zeit die Augen nicht verschließt. Als Jurist in öffentlichen Diensten ist ihm die staatliche Bürokratie in Böhmen aus den Details eines grauen Büroalltags vertraut. Die Fabriken des Industriezeitalters, jene Schreckensorte im Inferno moderner Technik, hat er, anders als die meisten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, in seiner Rolle als Gutachter für den Unfallschutz bei Inspektionsbesuchen sehr genau kennengelernt. Seine privaten Reisen führen ihn durch die Länder Mitteleuropas, in die Schweiz, nach Frankreich und Oberitalien. Die großen europäischen Metropolen erkundet er mit der Neugier des Voyeurs, der vom nervösen Pulsschlag urbanen Lebens fasziniert ist. Sämtliche bedeutenden intellektuellen Strömungen der Zeit hat er aufmerksam registriert, ohne sich freilich von ihnen vereinnahmen zu lassen; Zionismus und Psychoanalyse, Anthroposophie und Naturheilkunde, Sozialismus und Anarchismus, Frauenbewegung und Pazifismus nimmt er als Epochenphänomene mit dem scharfen Blick des distanzierten Beobachters wahr. Sein Wissen verbirgt er dabei hinter der Maske des naiven Dilettanten, der die Souveränität bewundert, mit der die Akteure auf der Bühne des Geisteslebens ihre Rollen spielen.

Wer diese Selbstinszenierung als Tarnung durchschaut, erblickt einen sehr bewußt lebenden Zeitgenossen, dem seine kulturelle Umwelt niemals gleichgültig bleibt. Kafka hat seine besondere Identität als deutscher Jude in Prag, belehrt durch Theodor Herzls Zionismus und Martin Bubers Religionsphilosophie, mit wachsender Sensibilität reflektiert. Es ist das gesellschaftliche und kulturelle Milieu Böhmens im Zeitalter der jüdischen Assimilation, das seine Kindheit und Jugend am Ende des 19. Jahrhunderts bestimmt. Hier, vor dem Hintergrund einer verschatteten Überlieferung – der jüdischen Glaubenskultur – und auf dem Boden der technischen wie kulturellen Moderne, liegen die Voraussetzungen seiner ästhetischen Produktivität. Selbst wenn sein Werk die Spuren der Epoche stets nur indirekt verarbeitet, läßt es sich nicht lösen von deren politischen, sozialen und intellektuellen Signaturen. Auch der in seine Privatkonflikte eingesponnene Autor Kafka ist ein Künstler mit zeitgeschichtlich geprägter Identität, dessen literarische Arbeit unter den gesellschaftlichen Bedingungen eines katastrophenreichen Jahrhunderts steht.

Dieses Buch geht von der Beobachtung aus, daß Kafkas äußeres und inneres Leben zwar punktuell seine Texte inspiriert, umgekehrt aber auch die Literatur die Linien der Biographie festlegt. Kafka hat nicht selten in seinen poetischen Arbeiten Konstellationen der eigenen Vita vorweggenommen; man könnte, anders akzentuiert, auch sagen: er hat im Leben die Literatur nachgeahmt. Dieser Befund gilt etwa für das Verlobungsmotiv der Erzählung Das Urteil, das die Beziehung zu Felice Bauer antizipiert, aber ebenso für die tödliche Wunde des Jungen im Landarzt, die das Ausbrechen der Tuberkulose zu präludieren scheint. Es gehört zu den Grundmustern von Kafkas Leben, daß es sich im Geltungsbereich der Literatur abspielt und über ihn wesentlich definiert; das reflektieren zahlreiche Äußerungen in Tagebüchern und Briefen mit nicht ermüdender Intensität. Zentrale Aufgabe dieses Buchs ist es daher, die Prägungen zu beschreiben, die das Leben durch die imaginären Welten der Poesie und die Formen ihrer inneren Ordnung empfangen hat.[2] Erst die Einsicht in die literarische Konditionierung der Erfahrung erschließt das geheime – keineswegs mythische, vielmehr bewußt produzierte – Gesetz, das Kafkas Vita machtvoll regiert. In ihr existieren keine einfachen Lösungen, sondern nur Paradoxien und dialektische Verstrickungen, denen traditionelle Mythen wie das Bild vom asketischen, lebensängstlichen Schriftsteller so wenig gerecht werden wie ihre programmatischen Entzauberungen.

Man kann Kafka im Hinblick auf solche Paradoxien einen ‹ewigen Sohn› nennen, der seine Furcht vor dem Vater mit obsessiver Lust kultiviert, weil sie für ihn die Bedingung seiner Existenz bildet. Diese Konstellation bezeichnet ein Lebensprinzip, das Kafkas künstlerische Identität ebenso wie sein – von ihm selbst so empfundenes – Scheitern in der praktischen Wirklichkeit begründet. Kafka hat sich, obgleich er sich seines literarischen Rangs bewußt war, niemals aus der Rolle des Nachgeborenen befreit, der zögert, erwachsen zu werden. Seine Liebesgeschichten treiben in Katastrophen, da der Eintritt in die Rolle des Ehemanns oder Vaters seine Identität als Sohn zerstört hätte. Sie aber bildete die Voraussetzung für seine schriftstellerische Arbeit, die sich nach seiner Überzeugung nur in der unbedingten Einsamkeit vollziehen konnte. Nicht zuletzt wird in der Rolle des Sohnes die Logik seiner Texte deutlich, die endlose Reisen auf dem Meer der Bedeutungen unternehmen. Kafkas literarisches Werk ist einer Ästhetik des Zirkulären verpflichtet, in der sich die Ich-Konstruktion des ewigen Sohnes spiegelt: das ‹Zögern vor der Geburt›, wie er es genannt hat, das Verharren in Übergängen, Bruchstücken, Annäherungen. Der Sohn, der nicht erwachsen wird, reflektiert seine psychische Selbstorganisation in Texten, die so unabschließbar sind wie sein eigenes biographisches Projekt. Der Ich-Entwurf des ‹ewigen Sohnes› ist daher das Geheimnis der Künstlerpsychologie, die Kafkas Schreiben grundiert. Er führt, die Zufälle der äußeren Biographie wie Schwellen überschreitend, in jene Zone, die man die Dämonie des Lebens nennen mag: ins Arkanum der dunklen Verstrickungen, welche die dramatische Selbstinszenierung des Autors Kafka bestimmen.

Kafka ist kein Meteor, dessen Werk aus einem geschichtslosen Himmel über uns kam. Er steht vielmehr sehr bewußt in einem komplexen Überlieferungsgeschehen, das er freilich mit den Mitteln der Ironie, Travestie und Parodie, nicht selten gestützt durch die Denkmethode der negativen Dialektik, zu verfremden weiß. Die beiden Leitbegriffe, die dieses Überlieferungsgeschehen erschließen, lauten ‹Mythos› und ‹Moderne›. Mythos: das ist für Kafka wesentlich die Welt des Judentums, dessen religiöse Sagen, Geschichten und Handlungsanleitungen ursprünglich mündlich überliefert waren. Über das Gespräch gewinnt Kafka durch Bekannte und Freunde wie Hugo Bergmann, Max Brod, Felix Weltsch, Jizchak Löwy, Martin Buber und Jiři Langer Einblicke in die Erzählwelten der jüdischen Religion. Daß deren Muster die Texte des Landarzt-Bandes, den Proceß-Roman und das Spätwerk geprägt haben, läßt sich begründet nachweisen. Zugleich mischt sich in das Ensemble der legendenhaften Stoffe, die Kafka verarbeitet, die griechische Antike ein. Die Mythen des Kampfes, des Familienkonflikts und der Reise, die er aufgreift, stehen damit in Zusammenhang. Das Buch wird die mythischen Serien rekonstruieren, denen Kafkas literarische Texte folgen. In ihnen sammeln sich Materialien aus unterschiedlichsten Zeiträumen der Kulturgeschichte, freilich im Rahmen von literarischen Experimenten, die ihre ursprüngliche Gestalt verändern. Kafka schreibt die großen mythischen Erzählungen des Abendlandes fort, indem er sie neu deutet und die unaufgelösten Widersprüche, die sie aufgeben, in erregender Weise einschärft.

Moderne: das ist einerseits die gegen das mündliche Überlieferungsgeschehen gerichtete Ordnung der Schrift, mit ihr die deutsche Literatur, die Kafka von Goethe (dem ältesten Autor, den er las) bis zur Generation seiner Zeitgenossen unsystematisch, aber aufmerksam zur Kenntnis nahm; andererseits die Welt der Medien, die er so genau wie kaum ein anderer Schriftsteller der Zeit beobachtete. Kino, Diktaphon und Schreibmaschine finden sich in seinen privaten Zeugnissen regelmäßig thematisiert; in verdeckter Form aber wird der medientechnische Diskurs der Moderne auch in seinen literarischen Arbeiten aufgegriffen und fortgeführt. Als Autor läßt sich Kafka vom Stummfilm anregen, dessen beschleunigte Bewegungsabläufe sich unmittelbar in einzelne Szenen des Verschollenen übersetzen. Die Erzählung In der Strafkolonie zeigt eine Beschäftigung mit Techniken der Schrift, wie sie ähnlich die Briefe an Felice Bauer, freilich auf anderer Ebene, offenbaren. Der Begriff der Modernität ist bei Kafka doppelt belegt: Literatur und technisch hergestelltes Bild gehören hier zusammen. Walter Benjamin hat über die zweifache Beeinflussung seines Œuvres durch die mündliche Überlieferung religiöser Prägung und die Welt des 20. Jahrhunderts bemerkt: «Kafkas Werk ist eine Ellipse, deren weit auseinanderliegende Brennpunkte von der mystischen Erfahrung (die vor allem die Erfahrung von der Tradition ist) einerseits, von der Erfahrung des modernen Großstadtmenschen andererseits bestimmt sind.»[3]

Die Literaturtheorie hat seit der Mitte der 60er Jahre die Vorstellung kritisiert, daß der Autor der allmächtige Herrscher über seine Texte sei. Im Fall Kafkas läßt sich zeigen, daß die Moderne von der Autorfiktion ebenso Abschied nehmen muß wie vom emphatischen Werkbegriff, den Adornos Ästhetische Theorie (1970) letztmals mit Nachdruck vertreten hat. Kafkas Aufmerksamkeit galt weniger dem Werk als dem Schreiben, der Logik der Produktion; zwar kannte er den Selbstgenuß, den die Veröffentlichung eines eigenen Textes bedeutete, jedoch wurde er überwogen durch die Ekstase, die der Entstehungsvorgang selbst auslöste. Diese Gewichtung schlägt sich in der latent fragmentarischen Struktur seiner Prosa nieder. Kafkas Arbeit ist selbst dort, wo ihre Produkte vom Autor zur Publikation freigegeben worden sind, unabgeschlossen und offen. Die Unerschöpflichkeit seiner Texte gründet in dem Umstand, daß sie dort, wo sie enden, keine verbindlichen Folgerungen zulassen, mithin für einfache Sinnzuschreibungen unzugänglich bleiben. Im prozeßhaften Medium der Schrift, nicht in der konkreten Gestalt eines Werks hat Kafka seine künstlerische Identität ausgebildet. Die Schrift wiederum vollzieht, wie Jacques Derrida formuliert hat, eine unaufhörliche Annäherung an die Phänomene, die sie repräsentieren möchte.[4] Sie kann nie zu Ende kommen, weil sie stets vor dem steht, was sie bezeichnet. Dazu paßt, daß Kafka sich das glückende Schreiben als ununterbrochenen Strom vorgestellt hat, der durch keinerlei Widerstände aufgehalten wird. In einer Nacht ohne Morgen, frei von Störungen, jenseits der Rhythmen des Lebens wünschte er sich in seine Texte zu ‹ergießen› (so die Formulierung vom Januar 1912; T II 21). Seinem Arbeitsideal entsprach es, ins Zeichenmeer der Schrift einzutauchen und in diesem Vorgang das eigene Ich gesteigert zu erfahren. Ein solches Modell der literarischen Produktion mußte das Interesse an der Publikation abgerundeter, möglichst makelloser ‹Werke› keineswegs ausschließen, doch stand es nicht im Vordergrund von Kafkas Entwurf künstlerischer Autorschaft.

Als biographische Grundkraft verwandelt die Literatur Kafkas Erfahrungswelt zu einem Raum, in dem Phantasie und Realität nicht mehr getrennt werden können. Leben und Arbeit treten daher in diesem Buch in eine konstruktive Beziehung, die jener von imaginären Ordnungen gleicht. Weder versteht sich das eine aus dem anderen, noch bleiben beide blind füreinander. Das Leben funktioniert vielmehr selbst wie die literarische Fiktion, weil es deren Dramaturgie und Inszenierungskunst gehorcht. Kafkas Biographie zeigt, daß es sich der Literatur unterwerfen kann, indem es ihre Motivierungen und Bilder, ihre Sprünge, Widerstände, Stockungen und Verwerfungen, ihre Ekstasen, Glücksmomente und Grenzüberschreitungen, ihr Pathos und ihre Energie, ihre Schocks und Ausbrüche, Komödien und Vexierspiele in sich aufnimmt. Das Leben ist für Kafka vorrangig der Rohstoff, der vom Medium der Sprache geformt wird. Die sozialen und privaten Hintergründe der Biographie zu erfassen bedeutet daher, die grundlegenden Materialien kennenzulernen, die in Kafkas Texten mit eigenem Sinn aufgeladen werden.[5]

Geschichte und Gesellschaft, Umwelt und Kultur, Politik und Wissenschaft, Geschlechterrollen und Familie erscheinen in diesem Buch als hermeneutisch auslegbare, dynamisch veränderliche Felder mit jeweils neu zu erschließenden Bedeutungen. Sie bilden selbst Gegenstände des Verstehensaktes, den letzthin jede historische Untersuchung zu vollziehen sucht. Nur wer das kulturelle Milieu, in dem ein literarischer Text entstand, rekonstruiert, kann die zentralen Merkmale seiner Zeichensprache erfassen. Sie sind dort zu entdecken, wo der Text in einen Prozeß des Austausches mit den sozialen Regeln seiner Zeit tritt. Mißverstanden wäre diese Beziehung, wenn man sie als Vorgang des ‹Einflusses› der Gesellschaft auf das kulturelle System betrachtete. Vielmehr handelt es sich um ein Verhältnis der Interdependenz, in dem Zeichen, Symbole und Bilder so zirkulieren, daß sich die vermeintliche Objektivität des Sozialen und der Geschichte notwendig auflösen muß. Historische Wirklichkeit selbst wird geschaffen durch den Vorgang der permanenten Umgestaltung von Bedeutungskonfigurationen, an dem Literatur und Kunst direkt beteiligt sind. Erschließbar wird dieses Faktum aber nur durch die Arbeit der Interpretation, die den besonderen Kontext von sozialer Ordnung und Kultur in seiner dynamischen Wechselwirkung erfassen kann.

Zu vergegenwärtigen ist dabei, daß die Lebenswelt Kafkas uns nie in ungestalteter Form, sondern immer schon sprachlich, oft literarisch modelliert entgegentritt. Wenn wir sie aus historischer Distanz durchleuchten, arbeiten wir in der Regel an Texten: Briefen, Journaleintragungen, Quellen. Das Lebensmaterial gewinnt für Kafka Bedeutung nur im Medium der Schrift: Blicke und Gesten, Beobachtung und Reflexion, Träume und Lektüreerfahrungen, die großen Gefühle wie Schmerz, Ekel, Haß, Liebe und Angst wandern, bei ihm oft durch das Tagebuch vermittelt, in die Ordnung des Schreibens ein und gewinnen dort ihre eigene Ausprägung. Leben und Literatur kommunizieren in einem unendlichen Dialog. Wenn das vorliegende Buch diesen Dialog zu rekonstruieren sucht, so bedeutet das nicht, daß der ‹Autor› Kafka und sein ‹Werk› in traditioneller biographischer Manier erklärend aufeinander bezogen werden. Vielmehr verbindet literarische Arbeit und Vita, Schrift und Erfahrung die gemeinsame Abhängigkeit von der Einbildungskraft: ihre Allianz ist bei Kafka nur aus der Allmacht der Imagination zu verstehen, die den Raum der Erfahrung wie eine Traumlandschaft gliedert.

Wenn man heute, über achtzig Jahre nach seinem Tod, Franz Kafka liest, so vergißt man leicht, daß es keine Selbstverständlichkeit ist, auch seine nachgelassenen Texte im Rahmen einer Kritischen Ausgabe, sachkundig kommentiert, vor Augen zu haben. Was die Zeugen der frühen Wirkungsgeschichte in den 30er Jahren noch zu erregten Diskussionen herausforderte, bildet inzwischen selbst, so scheint es, eine versinkende Schicht der Überlieferung: die Tatsache, daß Max Brod 1924 Kafkas Testament mißachtete und gegen seinen Willen (aber im Bewußtsein seiner innerlichen Zustimmung) die nachgelassenen Arbeiten – darunter die drei Romane, Prosaskizzen der Oktavhefte und Tagebücher – während der folgenden anderthalb Jahrzehnte veröffentlichte. Die innere Logik, die in diesem Vorgang steckt, entspricht jener von Kafkas Geschichten. Dem im Herbst 1921 formulierten Wunsch, jede von ihm greifbare Zeile ungelesen zu vernichten, folgte ein jahrzehntelanger (noch immer unabgeschlossener) Editionsprozeß, in dessen Verlauf jede von ihm greifbare Zeile veröffentlicht, ausführlich kommentiert und in ihren privaten wie historischen Zusammenhängen erschlossen worden ist. Es gehört jedoch zu den eigenen Gesetzen von Kafkas psychischer Disposition, daß er solche dialektischen Vorgänge der Umkehrung sehr genau gesteuert hat. Wenn er Max Brod mit der Auslöschung seiner Texte beauftragte, so wußte er, daß der Freund, der seine Arbeit wie kaum ein anderer bewunderte, seinem Wunsch nicht entsprechen würde. Die Bitte um Vernichtung der Manuskripte enthüllt folglich die versteckte Sehnsucht nach einem öffentlichen Nachleben, die hier nicht ausdrücklich, sondern in Form einer negativen Dialektik zur Sprache kommt. Kafka möchte gelesen werden, ohne dieses einzugestehen; sein Testament ist daher die verkappte Aufforderung zur Rettung des Nachlasses: ein Text, dessen Kasuistik der Welt seiner Romane entstammt.

Ehe dieses Buch den Spuren von Kafkas Schriftsteller-Leben folgt, das eine fortwährende Suche nach dem wahren Schreiben war, soll die Sprache der ‹letzten Bitte› vernehmbar werden. Es ist eine Sprache, welche die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Schein, Bejahung und Verneinung, Wahrheit und Täuschung verwischt; eine Sprache, die – wie die Rede des Talmud – vieles gleichzeitig sagt, weil ihre Zeichen sich entziehen, wenn man sie in ihrer gleitenden Bewegung festhalten möchte. Hinter der paradoxen Logik, die sie ausbildet, steckt das Geheimnis von Kafkas literarischer Welt: «Liebster Max, meine letzte Bitte: Alles, was sich in meinem Nachlaß (also im Buchkasten, Wäscheschrank, Schreibtisch, zuhause und im Bureau, oder wohin sonst irgendetwas vertragen worden sein sollte und Dir auffällt) an Tagebüchern, Manuscripten, Briefen, fremden und eignen, Gezeichnetem und so weiter findet, restlos und ungelesen zu verbrennen, ebenso alles Geschriebene oder Gezeichnete, das Du oder Andre, die Du in meinem Namen darum bitten sollst, haben. Briefe, die man Dir nicht übergeben will, soll man wenigstens selbst zu verbrennen sich verpflichten. Dein Franz Kafka.»[6]

Erstes KapitelIm Netz der Beziehungen

Hermann Kafka, Sohn eines Fleischhauers

«Die Kette der Generationen ist nicht die Kette Deines Wesens und doch sind Beziehungen vorhanden», schreibt Franz Kafka im Winter 1918 in Zürau. Melancholisch fügt er hinzu: «Die Generationen sterben wie die Augenblicke Deines Lebens.» (M 208) Kafka hat sich selbst sehr bewußt als Mensch in familiären Prägungen und Zusammenhängen gesehen. Briefe und Tagebücher betonen immer wieder das Interesse an den Geschichten der Vorfahren und den Legenden der Ahnen. «Verwandtschaft bedeutet mir viel», heißt es im Juni 1920 (Mi 79). Seine Persönlichkeit und seine Rolle beleuchtet Kafka bereits als junger Mann im Rahmen der ihn bestimmenden Familienüberlieferung, deren Mythen und Legenden ihn geheimnisvoll anziehen. Das Nachdenken über Herkunft und Vergangenheit gleicht dabei seiner Beschäftigung mit den Wurzeln der eigenen jüdischen Identität. In beiden Fällen nimmt er sich in der Position des Nachgeborenen wahr, der die zerstreuten, nur bruchstückhaft vermittelten Traditionen aus selbständigem Antrieb nicht mehr fortzuführen vermag. Dieses Ich-Bild schloß das Gefühl ein, aus dem Bannkreis der Autoritäten von Familie und Religion niemals autonom hervortreten zu können. Die Logik eines solchen Modells gehorcht dem Prinzip des Kontrasts, nach dem der Vater stark sein muß, damit der Sohn die Rolle des lebensschwachen Außenseiters angemessen ausfüllen kann. Daß er sich als Kind «keines Dinges sicher war» und stets «eine neue Bestätigung» seines «Daseins» benötigt habe, betont noch der 36jährige Kafka im Rückblick. Als ein «in Wahrheit enterbter Sohn» besitzt er keine Aussicht, in das Netzwerk der Tradition aktiv einzudringen und die Rolle des Nachgeborenen abzuwerfen (G 49). Der Vater ist das exponierte Symbol für die Selbsteinschätzung des Sohnes, der sich jenseits aller Zentren der sozialen und kulturellen Existenz stehen sieht. Wer verbarg sich hinter diesem Laios in Böhmen, der die erste und wichtigste Erfindung in Franz Kafkas Schriftsteller-Leben war?

Hermann Kafka wurde am 14. September 1852 in Wosek (Osek), einem südböhmischen Dorf bei Strakonitz, geboren. Dort wohnten damals zwanzig jüdische Familien (insgesamt knapp hundert Menschen); man verfügte über eine kleine Synagoge und pflegte ein bescheidenes Gemeindeleben.[1] Jakob Kafka, sein Vater, hatte 1849 als 35jähriger geheiratet.[2] Mit seiner Partnerin, der zwei Jahre jüngeren Franziska Platowski, lebte er zwar bereits seit einigen Jahren in gemeinsamem Hausstand, doch durfte er seine Beziehung zunächst nicht amtlich besiegeln, da für Juden ein staatliches Eheschließungsverbot existierte, von dem nur die jeweils ältesten Söhne ausgenommen waren (die ‹Familiantenstelle› hatte der 1813 geborene Bruder Samuel inne, der 1836 heiratete). Erst im Zuge der vom jungen Kaiser Franz Joseph eingeleiteten neuen Gesetzgebung, die die Emanzipation der Juden fördern sollte, wurde die seit 1726 bestehende Regelung im März 1849 aufgehoben. Zu diesem Zeitpunkt hatte das Paar bereits zwei Kinder: Filip und Anna, die älteren Geschwister Hermanns.

Innerhalb weniger Jahre wuchs die Familie auf acht Mitglieder an: 1850 kam Heinrich als drittes (und zugleich erstes eheliches) Kind der Familie zur Welt; Hermann wiederum folgten 1855 Julie (sie hat «das riesige Gesicht aller Verwandten von Vaters Seite»; TI251) und 1857 Ludwig. Man bewohnte das Haus Nummer 35 in der Judengasse, das nur aus drei schmalen Zimmern und einem anschließenden Wirtschaftsgebäude bestand. Jakob Kafka verdiente den Lebensunterhalt für sich und die Familie als Fleischhauer, der das Dorf Osek und die nähere Umgebung belieferte. Die Tätigkeit des jüdischen Fleischers unterliegt strengen rituellen Regeln. Nach einem Religionsgesetz, das sich auf 3. Mos.17,10 stützt, ist einzig der Verzehr koscheren und ausgebluteten Fleisches erlaubt. Aus diesem Prinzip leitet sich das Schlachtverfahren des Schächtens (hebr. ‹schachat›) ab, bei dem den unbetäubten Tieren mit einem scharfen Schnitt Halsschlagader, Luft- und Speiseröhre durchtrennt wird, damit sie ausbluten können. Im Gewebe verbleibende Blutreste werden durch Einsalzen des Fleisches absorbiert. Für den Verzehr geeignet sind Tiere mit gespaltenen Klauen, Paarzeher und Wiederkäuer (also Rinder), wohingegen das Fleisch von Schweinen und Raubvögeln verboten bleibt (3. Mos. 20,25). Als selbständiger Schlachter war Jakob Kafka Fleischlieferant für Juden und Christen gleichermaßen: während die jüdische Kundschaft allein koscheres Fleisch erhielt, bezogen die Christen bei ihm ihr Schweinefleisch.

Jakob und Franziska Kafka, die Großeltern väterlicherseits

Im Dorf war der Schächter Jakob Kafka eine angesehene Persönlichkeit. Eine um 1880 aufgenommene Photographie zeigt ihn in zeittypischer Beschützerpose neben seiner sitzenden Frau als hochgewachsenen Mann mit kantigen Gesichtszügen, dessen Kleidung von bescheidenem Wohlstand und bürgerlichem Geschmack zeugt. Franz Kafka hat die Welt des Großvaters in seinen Texten mehrfach am Rande berührt. So erinnern die Reinheitsgebote, welche die Tiere in Schakale und Araber (1917) vertreten, an das jüdische Schächten; in der Hungerkünstler-Erzählung (1922) heißt es, daß die Wächter des Hungernden «gewöhnlich Fleischhauer» waren (D 214f., 262). Aus der Perspektive des überzeugten Vegetariers betrachtet er die Tätigkeit des Großvaters später mit einer Mischung aus Abscheu, Ironie und Bewunderung. «Ich muß soviel Fleisch nicht essen, als er geschlachtet hat», erklärt er 1920 (Mi 79). Den alten Jakob Kafka hat der Enkel noch erlebt, ohne jedoch nachhaltige Eindrücke zu gewinnen. Als er im Dezember 1889 stirbt, fährt der damals Sechsjährige mit der gesamten Familie zur Beerdigung nach Wosek.[3]

Die Kinder Jakob Kafkas mußten den ländlichen Gepflogenheiten gemäß frühzeitig im väterlichen Geschäft aushelfen und insbesondere die Kunden in der Nachbarschaft mit auf Handwagen transportierten Fleischlieferungen versorgen. Es war eine entbehrungsreiche Jugend, in der es keinen Raum für persönliche Entfaltung gab. Die Forderungen des Tages waren beherrscht von materiellen Zwängen: die Familie lebte nicht in Armut, blieb jedoch auf die Mitarbeit sämtlicher Mitglieder angewiesen. Im Tagebuch bemerkt Kafka Ende Dezember 1911, wie quälend die Kindheitserinnerungen des Vaters auf den in bequemen Bürgerverhältnissen eingerichteten Sohn wirkten: «Niemand leugnet es, daß er jahrelang infolge ungenügender Winterkleidung offene Wunden an den Beinen hatte, daß er häufig gehungert hat, daß er schon mit 10 Jahren ein Wägelchen auch im Winter und sehr früh am Morgen durch die Dörfer schieben mußte – nur erlauben, was er nicht verstehen will, diese richtigen Tatsachen im Vergleich mit der weiteren richtigen Tatsache, daß ich das alles nicht erlitten habe, nicht den geringsten Schluß darauf, daß ich glücklicher gewesen bin als er (…)» (T I 251).

Hermann Kafka besuchte sechs Jahre die Grundschule in der Judengasse, wo er Lesen, Schreiben, Rechnen und einige Bruchstücke der hebräischen Sprache erlernte. Über ein gesichertes bildungsbürgerliches Grundwissen verfügte er auch als Erwachsener nicht. Offizielle Unterrichtssprache der Schule war Deutsch, Umgangssprache jedoch Tschechisch: Hermann Kafka blieb zeitlebens ein Mensch mit einer für Böhmen typischen sprachlichen Doppelidentität, die freilich durch seinen sozialen Aufstiegsehrgeiz und die damit verbundene Unterdrückung des tschechischen Anteils verdeckt wurde. Die Bar-Mizwa, die am Sabbat nach dem 13. Geburtstag eines Jungen mit der ersten Lesung aus der Tora in der Synagoge begangen wird, markierte nach traditionellem Brauch das Erreichen der religiösen Mündigkeit und damit das Ende von Hermann Kafkas Kindheit. Er wurde ins benachbarte Písek geschickt, wo er bei einem Verwandten der Familie als Lehrling zur Ausbildung für das Textilgeschäft unterkam.[4] 1872 zog man ihn zum dreijährigen Militärdienst ein, den er bei einer technischen Einheit absolvierte. Die Armeezeit hat er rückblickend als positive Lebensperiode betrachtet; sie verschaffte ihm eine bürgerliche Rollenidentität, integrierte ihn in ein festes Ordnungssystem und stattete ihn mit einer – durch die Uniform sichtbaren – sozialen Reputation aus, wie es seinen stark von Äußerlichkeiten beherrschten Bedürfnissen entsprach.[5] Nach der Entlassung aus dem aktiven Dienst, der ihn zum Feldwebel (mit der Leitung eines 35 Mann umfassenden Zuges) aufsteigen ließ, war er für sieben Jahre – bis Ende August 1882 – in Prag und Umgebung als Vertreter für Gemischtwaren tätig: als ‹Hausierer›, wie es im Jargon der Zeit hieß, der von Tür zu Tür zog, um seine Produkte anzubieten. «Ein Hausierer», schreibt Joseph Roth, «trägt Seife, Hosenträger, Gummiartikel, Hosenknöpfe, Bleistifte in einem Korb, den er um den Rücken geschnallt hat. Mit diesem kleinen Laden besucht er verschiedene Cafés und Gasthäuser.»[6] Die Periode des – durch die strengen Reglements der Obrigkeit erschwerten – Hausiererlebens endete, als Hermann Kafka im Juni 1882 über eine Heiratsvermittlerin seine spätere Frau Julie Löwy kennenlernte. Mit der Eheschließung am 3. September 1882 begann für ihn eine Lebensphase im Zeichen bürgerlichen Erfolgs: er eröffnete am nördlichen Altstädter Ring (im Haus Nummer 929-I), unterstützt durch die Aussteuer der Braut, ein kleines Geschäft für Stoff- und Galanteriewaren und etablierte sich damit im doppelten Sinn als Ehemann wie als Unternehmer. Wie eng an diesem Punkt privater und geschäftlicher Aufbruch verbunden waren, zeigt der Umstand, daß Hermann Kafka seinen Laden im selben Häuserkomplex unterbrachte, in dem sich das Hotel befand, wo er seine Hochzeit mit Julie Löwy gefeiert hatte.

Herrmann Kafka, der Vater, Anfang der 1880er Jahre

Zum «Fond» der Kafkas gehörten, so schreibt der Sohn 1919, ein ausgeprägter «Lebens-, Geschäfts-, Eroberungswillen», ferner «Stärke, Gesundheit, Appetit, Stimmkraft, Redebegabung, Selbstzufriedenheit» (G 12). Diese Typologie muß man wie jedes andere Mosaikstück aus Kafkas Vaterbild mit Vorsicht betrachten, dient sie doch vor allem dazu, ihr das Selbstporträt des schwachen, kränkelnden, ängstlichen, wortarmen Kindes entgegenzusetzen. Insofern erfüllt sie einen literarischen Zweck, der den Prinzipien der Imagination gehorcht: die Figur des vitalen, wirtschaftlich erfolgreichen Vaters wird entworfen, damit das Ich, das den Namen ‹Franz Kafka› trägt, über den Mechanismus der Abgrenzung ein eigenes Identitätsprofil gewinnen kann. Die Wahrnehmung der väterlichen Rollenautorität, die im Zeichen des Energieüberschusses steht, ergänzt Kafka frühzeitig um Momente einer Stilisierung, die den Schauplatz familiärer Machtverhältnisse als symbolisches Ordnungsgefüge zeigt. Alle Kämpfe, von denen sein literarisches Werk später erzählen wird, verweisen in letzter Instanz auf diese Ordnung zurück.

Die gebrochenen Züge im Wesen des Vaters vermittelt die Charakteristik des Sohnes daher nur am Rande, wenn es heißt, seine Brüder seien «fröhlicher, ungezwungener, leichtleibiger, weniger streng» als er selbst (G 13). Hermann Kafkas imperatorischer ‹Geschäftswillen› wird durch gesteigerte Empfindlichkeit und Kränkbarkeit eingeschränkt; die von ihm überlieferten Photographien zeigen einen gut aussehenden, offenbar eitlen Mann, der, stets modisch gekleidet, auf Außenwirkung bedacht scheint. Der mit Nachdruck auftretende Kaufmann und Familienvater besitzt ein schwach ausgeprägtes Selbstbewußtsein, das es ihm zeitlebens verwehrt, erlittene Verletzungen souverän zu überwinden. Noch die ausdrücklich attestierte ‹Redebegabung› trägt fragwürdige Züge, wenn man bedenkt, daß Hermann Kafka die deutsche Sprache nicht fehlerlos beherrschte und seine rhetorischen Talente vorwiegend im innerfamiliären Kreis entfaltete. Die Maßstäbe, an denen sich die Charakteristik des Sohnes ausrichtet, beziehen sich damit auf jene Zone der Intimität, die seine literarischen Texte später als Schauplatz sozialer Verdrängungskämpfe vorführen werden: der Tyrann herrscht nur im privaten Zirkel der Familie, im archetypischen Theater der Macht.

Die ambivalente Disposition des empfindlichen Kraftmenschen mit seelischen Spannungen verweist bei Hermann Kafka auf widersprüchliche Grundanlagen, die sich auch in den Lebensläufen der Brüder und Neffen spiegelten. Hier standen Erfolg und Versagen, Ehrgeiz und Furchtsamkeit, Expansionsstreben und Rückzugsneigung eng nebeneinander. Vor allem die Kinder von Hermanns ältestem Bruder Filip, der sich ebenso wie der zehn Jahre jüngere Heinrich als Kaufmann in Südböhmen niederließ, entwickelten einen ausgeprägten Eroberungsdrang.[7] Der erste der sechs Söhne, der 1879 geborene Otto Kafka, wanderte 1897 nach Südamerika aus, übersiedelte später nach New York und begründete dort ein erfolgreiches Exportgeschäft, dessen eindrucksvolle Umsätze ihm ein luxuriöses Leben erlaubten. Sein letzter Bruder, der 14 Jahre jüngere Franz, folgte ihm 1909 als 16jähriger und stieg zum leitenden Angestellten in seinem Unternehmen auf (Karl Roßmann, der Held von Kafkas Amerika-Roman, wird seine Züge tragen). Während es Filip und Heinrich Kafka als Kaufleute zu soliden Erfolgen brachten, scheint Ludwig, der jüngste der Brüder, weniger tatkräftig gewesen zu sein. Er eröffnete Mitte der 80er Jahre in Prag eine Galanteriewarenhandlung, die jedoch bald Konkurs anmelden mußte. Nach dem Geschäftszusammenbruch arbeitete er, der zwei Töchter hatte, als Buchhalter in einer Prager Versicherungsgesellschaft. Durch den Raum der behaglichen bürgerlichen Selbstzufriedenheit zog sich hier eine schmale Spur des Scheiterns.

Die verrückten Löwys

Franz Kafkas Mutter Julie kam am 23. März 1856 in dem 60 Kilometer östlich von Prag gelegenen Ort Podébrady zur Welt. Ihr Vater, der 1824 geborene Jakob Löwy, war Tuchmacher und nahm in seiner Heimatgemeinde eine anerkannte gesellschaftliche Stellung ein. 1853 hatte er die damals 23jährige Esther Porias geheiratet, deren Vater, Adam Porias, in Podébrady als Talmudgelehrter, Rabbiner und Beschneider wirkte. Esthers Mutter, Sarah Porias, war die Tochter des Geschäftsmanns Samuel Levit aus dem unmittelbar benachbarten Kolín. Von Adam Porias übernahm Jakob Löwy das schlecht laufende Tuchgeschäft als Mitgift, da Esther das einzige Kind blieb (ein sechs Jahre älterer Bruder, Nathan, verstarb frühzeitig). Den frommen Großvater Adam, der seine Kaufmannspflichten über dem Talmudstudium vernachlässigte, hat Julie Kafka in einem 1931, drei Jahre vor ihrem Tod, verfaßten handschriftlichen Lebensbericht als legendenhafte Figur charakterisiert: «Er trug die Schaufäden (Zidekl) über seinem Rock, trotzdem ihm die Schulkinder nachliefen und ihn auslachten. In der Schule wurde es gerügt und wurde den Kindern vom Lehrer streng aufgetragen, den heiligen Manne nicht zu belästigen, sonst würden sie sehr streng bestraft. Im Sommer so auch im Winter ging er täglich in die Elbe baden. Im Winter wenn Frost war, hatte er eine Harke [!], mit der er das Eis aufhackte, um unterzutauchen.»[8] Als der wunderliche Großvater 1862 im Alter von 68 Jahren stirbt, wird der gerade eingeschulten Julie ein religiöses Sühneritual abverlangt, von dem sie ein halbes Jahrhundert später noch ihrem Sohn berichten kann. «Sie erinnert sich», notiert Franz Kafka im Dezember 1911 in seinem Journal, «wie sie die Zehen der Leiche festhalten und dabei Verzeihung möglicher dem Großvater gegenüber begangener Verfehlungen erbitten mußte.» (T I 247)

Aus Esther Porias Verbindung mit Jakob Löwy gingen der 1852 – noch vor der Eheschließung – geborene Alfred, die vier Jahre später folgende Julie sowie die Brüder Richard (1857) und Josef (1858) hervor. 1859 starb Esther Löwy 29jährig an den Folgen einer Typhuserkrankung. Für Julie und ihre Geschwister muß der plötzliche Tod der Mutter traumatisch gewirkt haben. Die Großmutter, Sarah Porias, nahm sich aus Kummer über den Verlust ihrer einzigen Tochter 1860 das Leben – sie ertränkte sich in der Elbe.[9] Kafka selbst vermerkt Ende Dezember 1911 im Tagebuch: «Die Mutter meiner Mutter starb frühzeitig an Typhus. Von diesem Tode angefangen wurde die Groß-Mutter trübsinnig, weigerte sich zu essen, sprach mit niemandem, einmal, ein Jahr nach dem Tode ihrer Tochter gieng sie spazieren und kehrte nicht mehr zurück, ihre Leiche zog man aus der Elbe.» (T I 247) Noch im Trauerjahr heiratete der verwitwete Löwy die dreiunddreißigjährige Julie Heller aus Postelberg, die entfernt mit der verstorbenen Esther verwandt war. Sie gebar ihm zwei Söhne, 1861 Rudolf und 1867, als sie bereits 40 Jahre alt war, Siegfried.

Jakob Löwy, Kafkas Großvater mütterlicherseits

Unter Julies Brüdern war der älteste, Alfred, der erfolgreichste. Er begann seine Laufbahn 1873 in Wien als Buchhalter und ging 1876 nach Paris, wo er sich zum Prokuristen der Privatbank Maurice Bunau-Varillas emporarbeitete. Die verantwortungsvolle Position, in die er als Protegé des Firmenchefs gelangte, brachte ihm das stattliche Jahreseinkommen von 15.000 Francs ein. 1890 nahm er, vermutlich auch mit Rücksicht auf seinen gesellschaftlichen Aufstiegswillen, die französische Staatsbürgerschaft an.[10] Dank der persönlichen Förderung von Philippe Bunau-Varilla konnte er Mitte der 90er Jahre die Funktion des Direktors einer spanischen Eisenbahngesellschaft in Madrid erreichen. Zwar brachte ihm diese Stellung weniger Einfluß als der hochtrabende Titel vermuten ließ, doch befriedigte sie seinen sozialen Ehrgeiz. Alfred besuchte seine böhmischen Verwandten regelmäßig und stand auch mit seinem Neffen Franz in lockerem Kontakt. Während eines zweiwöchigen Prag-Aufenthalts im Spätherbst 1912 wohnte er bei der Familie, so daß Kafka ihn näher studieren konnte. Leicht amüsiert zeigt er sich über sein zeremoniös-geziertes Auftreten: «Sein Schweben durch das Vorzimmer ins Klosett». Zugleich registriert er aber auch, daß der nach außen unzugänglich wirkende Erfolgsmensch sensible Züge trägt («Wird weicher von Tag zu Tag»; T II 81). Seine Briefe atmen die Gelassenheit des toleranten Weltmannes, der die literarischen Arbeiten seines Neffen mit leicht geschmäcklerisch wirkender Neugier verfolgt (Br II 578f.). Als Alfred Löwy im Februar 1923 starb, hinterließ er ein Vermögen von 600.000 Kronen, das jedoch, wie Kafka resigniert vermerkt, vorwiegend in die Hände der «Pariser und Madrider Notare und Advokaten» fiel (Br 461).

Ähnlich erfolgreich wie Alfred war der jüngste Bruder Josef, der seit 1891 im belgischen Kongo an der Organisation des Eisenbahnbaus mitwirkte. Zuletzt amtierte er dort als Leiter des Handelsdienstes, der die französischen Kolonialgeschäfte koordinierte. Im Herbst 1903 übersiedelte er nach China, um sich dort als Vertreter der mit europäischem Geld arbeitenden Banque Russo-Chinoise zu versuchen; nach einem kurzen Intermezzo in Paris, wo er eine Französin heiratete, zog es ihn 1908 nach Kanada. Nur zwei Jahre später kehrte er nach Frankreich zurück, erwarb ein Haus in Versailles sowie eine Sommerresidenz in St. Malo und führte fortan das Leben eines vermögenden Privatiers.[11] Seine Kongo-Abenteuer spiegeln sich offenkundig in Kafkas Anfang August 1914 entstandenem Prosastück Erinnerungen an die Kaldabahn, das das Thema des Bahnbaus unter klimatisch extremen Bedingungen aufgreift, jedoch pointiert abwandelt: an den Platz des Kongo tritt hier die endlose Eiswüste Rußlands (T II 169ff., T III 44ff.).

Weniger exotisch verlief das Leben der übrigen Brüder. Richard Löwy betrieb ein bescheidenes Bekleidungsgeschäft am Prager Obstmarkt, das seine Frau und die vier Kinder – unter ihnen Franz Kafkas spätere Lieblingscousine Martha – notdürftig ernährte. Julies jüngere Halbbrüder Rudolf und Siegfried, die als Sonderlinge galten, blieben Junggesellen. Rudolf, der als Buchhalter beschäftigt war, wohnte noch im Erwachsenenalter bei den Eltern und unterstützte nach dem Tod der Mutter, die 1910 starb, seinen mittellosen Vater, mit dem ihn ein spannungsvolles Verhältnis in Haßliebe verband (T III 204). Die ungesellige Lebensform des Onkels hielt Kafka später für ein Spiegelbild seiner eigenen Tendenz zur sozialen Isolation. Im Dezember 1911 bemerkt er im Tagebuch, sein Vater betrachte ihn mit Blick auf seine zurückgezogene Lebensweise als Nachfolger Rudolf Löwys und «Narr der neuen nachwachsenden Familie»; elf Jahre später findet er selbst die Ähnlichkeit mit ihm «verblüffend» (T I 236, T III 204f.). In Rudolf erkennt er nicht zuletzt seine Neigung wieder, sich in imaginären Kämpfen mit dem Vater innerlich aufzureiben. Nachdem der Onkel 1921 gestorben ist, notiert Kafka aus dem Bewußtsein der geistigen Wahlverwandtschaft im Journal: «Ich weiß viel zu wenig über ihn, danach zu fragen wage ich nicht.» (T III 205)

Siegfried Löwy, der als einziger der Söhne eine höhere Schulbildung erhielt, studierte Medizin und ließ sich später als Landarzt im mährischen Triesch nieder.[12] Vor allem in den Jahren nach dem Abitur stand Kafka ihm besonders nahe, besuchte ihn während des Sommers in Triesch und verbrachte sogar seinen Urlaub mit ihm. Er hielt ihn für einen Außenseiter, der beharrlich seinen Weg ging, ohne auf Konventionen Rücksicht zu nehmen. Über Siegfried Löwy heißt es in einem Brief an Max Brod Mitte September 1917, er verfüge über einen «unmenschlich dünnen, junggesellenmäßigen, aus verengter Kehle kommenden, vogelartigen Witz»: «Und er lebt so auf dem Land, unausreißbar, zufrieden, so wie einen eben ein leise rauschender Irrsinn zufrieden machen kann, den man für die Melodie des Lebens hält.» (Br 164) Siegfried Löwy, der einsame Ironiker mit festen Lebensprinzipien, gehört zu den zahlreichen Verwandten und Freunden Kafkas, die den Verbrechen der Nationalsozialisten zum Opfer fielen: 1942 beging er, kurz vor seiner Deportation nach Theresienstadt, Selbstmord.[13]

Julie Kafka, die Mutter, Anfang der 1880er Jahre

Julie Löwy wuchs, anders als ihr späterer Ehemann, in gehobenen bürgerlichen Verhältnissen auf. Das Haus, das die Familie in Podébrady bewohnte, war einstöckig, aber dennoch geräumig, so daß es den Bedürfnissen eines mittelständischen Kaufmanns entsprach. Jakob Löwy scheint wie sein Schwiegervater ein frommer Mann gewesen zu sein, dem die rituell vollzogene Religionsausübung einen festen Lebenssinn bedeutete. Im Gegensatz zu Hermann Kafka verfügte Julie durch ihren Vater über eine unverbrüchlich in der Familientradition verankerte Glaubensidentität. Den Unterricht für die sechs Kinder versahen Hauslehrer, da in Podébrady vor 1871 keine deutsche Schule existierte. Vermutlich im Jahr 1876, nachdem die drei älteren Söhne das Haus verlassen hatten, veräußerte Jakob Löwy sein Geschäft und siedelte mit der damals 21jährigen Julie und den beiden jüngeren Brüdern nach Prag über.[14] Dort zog er sich, obgleich er erst 53 Jahre alt war, ins Privatleben zurück. Fortan bestimmte die Talmudlektüre den genau geregelten Alltag des frommen Mannes, der erst 1910, mit 86 Jahren, starb. Für Julie Löwy bedeutete der Umzug nach Prag zunächst keine einschneidende Lebensveränderung. Gemäß dem traditionellen Rollenverständnis, das am Ende des 19. Jahrhunderts im jüdischen Milieu noch stark ausgebildet war, verbrachte sie ihre Zeit damit, auf den geeigneten Moment der Eheschließung zu warten. Sechs weitere Jahre dauerte es, ehe sie das väterliche Haus verließ, um eine eigene Familie zu gründen.

Die Gefühlswelt, die Julie Löwy unter dem Einfluß ihres Vaters kennenlernte, war von Spannungen nicht frei: die religiöse Grundhaltung brach sich in einer regelmäßig durchdringenden Neigung zu Schwermut und Weltflucht. Ähnlich wie im Fall der Kafkas trat hier ein Moment der inneren Spannung und Selbstblockierung zutage. Die Frömmigkeit der Löwys verknüpfte sich so mit ambivalenten Zügen; Affinität zum Obskurantismus, religiöse Schwärmerei, Verstocktheit und isoliertes Junggesellentum gediehen auf dem Boden der Melancholie. Der Löwysche «Stachel» wirke, so schreibt Kafka 1919, weniger direkt als die äußerliche Vitalität des Vaters, «geheimer, scheuer, in anderer Richtung» (G 12). Zu den dunklen Seiten, die das Löwy-Erbe auszeichnet, gehört das gelegentliche ‹Aussetzen› der Lebensenergien, das Erstarren der aktiven Kräfte und Sich-Einkapseln in lähmender Lethargie. In der Neigung, ganze Nachmittage auf dem Sofa zu ‹verfaulenzen›, nimmt Kafka diese Anlage auch an sich selbst wahr (G 49).

Galanteriewaren

«Du hattest dich allein durch eigene Kraft so hoch hinaufgearbeitet, infolgedessen hattest Du unbeschränktes Vertrauen zu deiner Meinung.» (G 16) Diese Charakteristik, die der Sohn 1919 entwirft, spiegelt Aufstiegsehrgeiz und Borniertheit des Vaters gleichermaßen wider. Hermann Kafka war ein Parvenü, der mit Beharrlichkeit seinen geschäftlichen Erfolg anstrebte. Die ökonomische Sicherheit, die er sich energisch zu erkämpfen suchte, stellte sich jedoch nur langsam ein. Sein Kurzwarengeschäft konnte er im September 1882 lediglich eröffnen, weil Julie Löwy eine nennenswerte Mitgift in die Ehe eingebracht hatte. Anfangs betrieb Hermann Kafka seinen Laden mit einem Teilhaber, um das finanzielle Risiko in Grenzen zu halten; später halfen neben der Frau, die nach jüdischem Familienverständnis eine gleichberechtigte Rolle in der Berufswelt ihres Mannes beanspruchen durfte, auch mehrere Angestellte im Geschäft. Große Erlöse konnte man zunächst nicht erwarten, zumal die Gewinnspanne angesichts der Preise der veräußerten Waren geringfügig blieb. Zu Hermann Kafkas Sortiment gehörten Handschuhe, Regenschirme, Kurzwaren, Stoffe und Baumwolle – Gegenstände für gehobene bürgerliche Alltagsbedürfnisse. Der Galanteriewarenhandel bildete einen Geschäftsbereich, der in Deutschland und Österreich gleichermaßen als jüdische Domäne galt.

In den ersten Jahren nach der Etablierung geriet Hermann Kafka mehrfach in Konflikte mit der Obrigkeit.[15] Im September 1887 mußte er sich mit dem Vorwurf auseinandersetzen, gegen das christliche Sonntagsöffnungsverbot verstoßen und am Feiertag Waren verkauft zu haben; im Sommer 1888 beschuldigte ihn die städtische Gewerbeaufsicht, Hehlergut vertrieben zu haben, sprach ihn jedoch nach genauer Prüfung des Falls und Untersuchung der (aufgrund josephinischen Dekrets in deutscher Sprache zu führenden) Geschäftsbücher frei; Ende Dezember 1890 wurde er erneut wegen Sonntagsverkaufs angezeigt; mehrfach geriet er in den Verdacht, Falschgeld in Umlauf gebracht zu haben, konnte sich aber jeweils durch Zeugen entlasten. Es läßt sich nicht mehr rekonstruieren, ob Hermann Kafka tatsächlich in den ersten Jahren seiner Selbständigkeit zu unseriösem Geschäftsgebaren neigte. Zu vermuten ist, daß antisemitische Vorurteile gegenüber der jüdischen Konkurrenz zu den letzthin unhaltbaren Denunziationen führten. Verdächtigungen und Vorwürfe schadeten ihm aber auf Dauer nicht: 1895 wurde er zum k.k. Sachverständigen beim Handelsgericht ernannt und damit als allgemein respektierter Geschäftsmann ins bürgerliche Leben der Stadt integriert. Die repräsentativen Briefbögen seines Unternehmens zierte in diesen Jahren bereits eine von Eichenzweigen umrankte, einfarbig gezeichnete Dohle – ein Hinweis auf die Etymologie des Familiennamens, der auf das tschechische Wort ‹kavka› (Dohle) zurückgeht. Der schreibende Sohn wird später mit dieser Bedeutung spielen und sie in mehreren seiner literarischen Texte – Ein altes Blatt (1916/17), Der Jäger Gracchus (1917) – aufgreifen.

In den Gründungsjahren hatte Hermann Kafka seinen Laden im Häuserkomplex des Hotels Goldhammer am Nordende des Altstädter Rings untergebracht, seit 1887 in der Zeltnergasse 3, zwischen 1906 und 1912 im ersten Stockwerk des Hauses Zeltnergasse 12; im unweit entfernten Haus Nummer 2 wohnte die Familie selbst bis Ende Juni 1907, anschließend in der von prunkvollen Neubauten geprägten Niklasstraße (im hohen Eckhaus Zum Schiff, Nummer 36). Im Oktober 1912 wurde das Geschäft, das fortan als Großhandel firmierte, an den Altstädter Ring ins rechte Erdgeschoß des Kinsky-Palais verlegt. Das war ein Symbol des ökonomischen Aufstiegs, denn man residierte nun im modernen, wirtschaftlich lebendigen Stadtzentrum. Die Familie übersiedelte ein Jahr später, im November 1913, in das luxuriöse Oppelt-Haus an der nördlichen Ecke des Altstädter Rings. Die vier Domizile, in denen Hermann Kafka zwischen 1882 und 1918 sein Geschäft betrieb, sind durch eine Entfernung von knapp hundert Metern voneinander getrennt: Berechenbarkeit und Kontinuität bildeten für den Inhaber wesentliche Prämissen des ökonomischen Erfolgs.

Nach 1900, als Hermann Kafka sich einen festen Kundenstamm erobert hatte, begann die Zahl der Angestellten zu wachsen. Im Jahr 1910 belief sie sich bereits auf mehrere Kontoristen (Verkäufer) und Lehrmädchen sowie einen Geschäftsführer (den ‹Kommis›). Hermann Kafka war ein launischer Chef mit wechselnden Stimmungen und Strategien – nicht jener tyrannische Despot, als den ihn sein Sohn später beschrieb, sondern eine unberechenbare Autorität voller innerer Widersprüche. Frantisek Xaver Basik, der 1892 als Lehrling in das Unternehmen eintrat, erinnert sich an eine Haltung väterlicher Milde und Fürsorglichkeit, die jedoch stets von unerwarteten Ausbrüchen und Wutanfällen abgelöst werden konnte (V 69ff.). Die patriarchalische Einstellung schloß Zuneigung und Willkür, Hilfsbereitschaft und Schikanen gleichermaßen ein. Waren, die am falschen Platz lagen, pflegte Hermann Kafka auf den Boden zu werfen, wo sie der Kommis unter den Augen der übrigen Angestellten aufzusammeln hatte. Verdächtigungen und Anschuldigungen standen auf der Tagesordnung; der mißtrauische Chef, der sich seinen materiellen Wohlstand nach entbehrungsreichen Jahren mühsam erobert hatte, sah in seinen Mitarbeitern «‹bezahlte Feinde›», die ihn unaufhörlich zu betrügen suchten (G 32). Der Begriff des ‹Betrugs› wird in Kafkas literarischem Wertsystem eine entscheidende Rolle spielen. Er steht dort jedoch niemals für einen objektiven Tatbestand, sondern bezeichnet eine subjektiv gefärbte Zuschreibung im Raum des Imaginären.

Noch 1919 erinnert sich Kafka, daß er als Kind gegenüber dem Personal devot aufgetreten sei, um die Unfreundlichkeit des Vaters zu kompensieren: «Und hätte ich, die unbedeutende Person, ihnen unten die Füße geleckt, es wäre noch immer kein Ausgleich dafür gewesen, wie Du, der Herr, oben auf sie loshacktest.» (G 33) Im Auftrag der Eltern mußte der diplomatisch veranlagte Sohn in späteren Jahren bisweilen Vermittlungsdienste versehen. Nachdem die gekränkten Angestellten ihrem temperamentvollen Dienstherrn Mitte Oktober 1911 geschlossen gekündigt hatten, führte er geduldig Einzelgespräche mit ihnen, um sie zur Revision ihrer Entscheidung zu veranlassen (T I 67). Selbst vor Familienmitgliedern machte der Zorn des von schwankenden Launen beherrschten Inhabers nicht Halt. Als Irma Kafka, die zweite Tochter seines jüngsten Bruders Ludwig, nach dem Tod ihres Vaters 1911 ins Geschäft am Altstädter Ring eintrat, wurde sie von Hermann Kafka mit besonderer Ausdauer schikaniert. Sie suchte sich, wie Kafka rückblickend attestiert, auf subversive Weise zu wehren, indem sie «Vergeßlichkeit, Nachläßigkeit, Galgenhumor» an den Tag legte: jene Strategien der Abwehr, mit deren Hilfe auch der Sohn seine eigene Rolle auszufüllen suchte (G 39). 1918 verließ Irma Kafka das Geschäft, weil sie die Spannungen mit ihrem Onkel nicht mehr ertrug (den äußeren Anlaß bildete ihre Verlobung mit dem Tschechen Gustav Vesecky). Nach ihrem frühen Tod im Mai 1919 erinnerte sich Hermann Kafka mit einer ebenso mitleidslosen wie drastischen Formel an sie: «‹Die Gottselige hat mir viel Schweinerei hinterlassen.›» (G 39)[16]

Spätestens seit der Jahrhundertwende gehörten Kafkas Eltern zur etablierten Mittelschicht. Sie waren finanziell gesichert, beschäftigten in ihrem Haushalt zwei Bedienstete (was sich nur knapp 12 Prozent aller Familien in Prag leisten konnten[17]) und bewohnten ein relativ geräumiges Domizil. Das gespannte Klima der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg nahmen sie jedoch trotz ihrer gesicherten sozialen Position wahr. Die Streitigkeiten, die der Vater mit seinen Angestellten auszufechten hatte, fanden ihre Ursache vermutlich nicht nur in seinem – vom Sohn fraglos übertrieben geschilderten – Jähzorn, sondern zugleich in antisemitischen Vorurteilen der tschechischen Bediensteten. Franz Molnars Drama Liliom (1909) hat die Judenfeindschaft des depravierten Kleinbürgermilieus in der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie prägnant beleuchtet; seine auf die Budapester Verhältnisse bezogene Diagnose gilt zweifellos auch für Böhmen.

Hermann und Julie Kafka ziehen in den Jahren der ökonomischen Etablierung häufig um. Der Laden vergrößert sich, die Zahl der Angestellten wächst. Das Leben ist unruhig, aber seine Unruhe gehorcht dem geregelten Rhythmus des Waren- und Geschäftsverkehrs. Kafka erklärt später, daß es ihm stets Freude bereitet habe, seinen Vater bei der Arbeit zu beobachten; das Auspacken von Kisten, die Gespräche mit Kunden, das Verhandeln mit Lieferanten nimmt das Kind als Zeichen bewältigten Lebens wahr (G 31f.). In diese Beobachtung mischt sich bereits die Faszination für die Leichtigkeit, mit der andere Menschen ihren Alltag absolvieren, ohne unter seinen Lasten zusammenzubrechen. Zu solchen Lasten gehört für den erwachsenen Kafka die bedrückende Gewißheit, daß das Leben ihm keine Selbstverständlichkeiten zu bieten hatte, sondern nur die befremdlichen Irritationen angesichts einer Normalität, deren Erfahrung ihm verschlossen blieb.

Politische Kräftespiele

3. Juli 1883, Prag in Böhmen: Ort und Zeit von Franz Kafkas Geburt verweisen auf einen sozialen Schauplatz, der durch ein kompliziertes Geflecht unterschiedlicher Einflüsse gekennzeichnet ist. Die gesellschaftlichen Widersprüche, die hier herrschen, bleiben symptomatisch für die Zwänge, die von der europäischen Großmachtordnung des späten 19. Jahrhunderts ausgehen. Als Teil der österreichischen Monarchie repräsentierte das Königreich Böhmen ein künstliches politisches Gebilde, dessen innere Spannungen aus dem Widerstreit nationaler Interessen resultierten. Deutsche und Tschechen standen in einem schwer überwindbaren Gegensatz, der sich in verschiedenen Krisenkonstellationen jeweils neu auffrischte. Im Zeichen der erstarkenden tschechischen Nationalbewegung gerieten die Deutschen in Böhmen zunehmend unter Druck. Sie verteidigten sich ihrerseits mit ideologischen Gegenentwürfen, unter denen die Vorstellung von der deutschen Kulturnation zunächst der mächtigste und einflußreichste blieb. Nachdem das Metternich-System 1848 zusammengebrochen war, präsentierten sich die Deutschen in Böhmen als Vertreter eines bürgerlichen Liberalismus, der die Zugehörigkeit zu Österreich prinzipiell nicht in Frage stellte. Dagegen sympathisierten die Tschechen mit (zunächst moderaten) Konzepten der politischen Selbständigkeit, was erhebliche Distanz zur Politik der Paulskirche und deren Vision von der inneren Einheit Deutschlands einschloß. Im Umfeld der 1848er Revolution entwickelten deutsche und tschechische Politiker verschiedene Ordnungsvorschläge, mit deren Hilfe man Böhmen als sozial diversifizierten Vielvölkerstaat neu zu gliedern suchte. Solche Entwürfe, die den Einzelgruppen eine relative Autonomie zu sichern trachteten, wurden jedoch niemals praktisch erprobt.

1846 waren 38,6 Prozent der Menschen in Böhmen Deutsche, knapp 60 Prozent Tschechen. In der benachbarten Provinz Mähren lag der Anteil der Tschechen bei 70 Prozent, jener der Deutschen bei 27,6 Prozent; den Rest der Bevölkerung bildeten slawische Minoritäten (darunter Slowaken und Ungarn).[18] Die politische Selbständigkeit des gesellschaftlich zerrissenen Landes wuchs seit 1860, unter dem Einfluß diverser Verfassungsänderungen, erheblich an. Nach der Niederlage Österreichs im Krieg gegen Italien und Frankreich kam es in Böhmen zu einem ersten Reformschub. Mit Diplom vom 5. März 1860 gewährte Kaiser Franz Joseph I. dem böhmischen Reichsrat größere Autonomie und eine erweiterte Mitgliederzahl; der föderalistische Charakter des Landes und die Position seiner Hauptstadt Prag wurden auf diese Weise gestärkt. Schon 1861 stellten die Tschechen, gemäß ihrem hohen Bevölkerungsanteil, die Mehrheit im böhmischen Landtag, ohne daraus aber politischen Einflußgewinn ableiten zu können. Im Spektrum der Parteien dominierte der deutschnationale Liberalismus, der sich in Sachfragen zumeist mit der gemäßigt reformwilligen Ordnungspolitik des josephinischen Neoabsolutismus verbündete. Unter der Oberfläche, die das Bild des harmonischen Interessenausgleichs vermittelte, gärten jedoch die Konflikte. Seit den 1860er Jahren kam es immer wieder zu massiven Spannungen zwischen den Abgeordneten des Landtags. 1868 verließen die tschechischen Deputierten aus Protest gegen die prodeutsche Kulturpolitik Böhmens den Landtag. 1871 formulierten sie einen ‹Fundamentalartikel›, in dem sie einen Forderungskatalog für die gleichberechtigte parlamentarische Interessenvertretung aufstellten.[19]

Die politische Anpassung an die gesellschaftlichen Mehrheitsverhältnisse in Böhmen vollzog sich jedoch nur zögerlich. Erst ab dem Beginn der 80er Jahre verloren die Deutschen ihren übermächtigen Einfluß im öffentlichen Leben des Königreichs. Seit 1878 war die national orientierte Partei der Jungtschechen im Landtag vertreten und zog dadurch auch zunehmendes publizistisches Interesse auf sich. 1880 setzten die Tschechen die Zweisprachigkeit bei den böhmischen Gerichten durch; zur selben Zeit begann man, Straßenschilder und offizielle Bekanntmachungen auf das Tschechische umzustellen. «So wahr die Sprachenverwirrung beim babylonischen Turmbau nicht durch Verordnungen geregelt wurde», schreibt Karl Kraus 1907 spöttisch, «so wahr sind die tschechischen Straßentafeln nicht die richtigen Tafeln Mosis.»[20] 1897 führte Ministerpräsident Kasimir Badeni, seit 1895 Nachfolger des katholisch-konservativen Böhmen Eduard Graf von Taaffe, einen Erlaß ein, der die Zweisprachigkeit in sämtlichen böhmischen Behörden vorschrieb. Unter massivem Druck der deutschen Bevölkerung, der sich in Massenprotesten und gewaltsamen Ausschreitungen entlud, wurde diese Initiative zwei Jahre später, nach dem Sturz des Badeni-Kabinetts, wieder rückgängig gemacht. Freilich vermochte auch die neue Regelung, der gemäß sich die Wahl der Amtssprache nach der jeweiligen Bevölkerungsmehrheit in den Bezirken richten sollte, den Streit um die kulturelle und gesellschaftliche Dominanz nicht zu schlichten. Mehrfach kam es nach 1900 zu öffentlichen Zusammenstößen zwischen Tschechen und Deutschen. In Gewalttätigkeiten kulminierende Demonstrationen, Straßenkämpfe, Plünderungen, Prügeleien an Schulen und Universitäten dokumentierten die von der Politik zumeist geleugneten Spannungen in einer, wie es Stefan Zweig nannte, «windstillen Epoche».[21] Sie bildeten die unerfreulichen Zeichen des unbefriedeten Zusammenlebens – die Spuren eines latenten Bürgerkriegs als Abbild jener destruktiven Kräfte, welche die nur oberflächlich harmonisierte Gesellschaft Böhmens beherrschten.

Die neoabsolutistische Ära förderte zwischen 1849 und 1860 die aufkommende Industrialisierung des Königreichs.[22] Sie erfolgte im Bereich des Bergbaus, der Holzverarbeitung und der Stahlproduktion, wo man vor allem tschechisches Arbeitspersonal rekrutierte; die chemische und elektrische Industrie spielten dagegen nur eine nachgeordnete Rolle. Die heiße Konjunktur der Gründerphase vertiefte die sozialen Gegensätze zwischen dem deutschen Wirtschaftsbürgertum und dem tschechischen Proletariat. Mit dem Aufbau von Fabriken und Handelszentren verband sich eine Landflucht, die den Charakter einer unaufhaltsamen Umsiedlungsströmung gewann. Sie führte zu einer erheblichen Bevölkerungskonzentration in den Städten, wo sich das böhmische Industrieproletariat niederließ. Der «Dampf» habe die Menschen, so schreibt Theodor Herzl 1896, «in den Fabriken versammelt» und auf engem Raum zusammengetrieben wie eine Naturgewalt.[23]

Der im gesamten Kaiserreich weiterhin über 50 Prozent umfassende Anteil der in der Landwirtschaft tätigen Menschen sank in Böhmen rapide ab und betrug nach der Jahrhundertwende nur noch ein Drittel der arbeitenden Bevölkerung. Das böhmische Königreich trug weit über die Hälfte (nach 1900 75 Prozent) der Industrieproduktion ganz Österreichs.[24] Innerhalb Böhmens kam es unter dem Einfluß von Berg- und Montanbau zu beträchtlichen Migrationsbewegungen. Vom Osten zog die Landbevölkerung in die weitläufigen Industrieregionen des Nordens, die sich wie ein immer breiter werdender Gürtel an die großen Städte – Prag, Pilsen – lagerten. Hinzu kamen erhebliche Ströme von Rückkehrern aus der Neuen Welt, die in der Fremde gescheitert waren. Schon 1868 konnte Karl Marx registrieren, die Vereinigten Staaten hätten «aufgehört, das gelobte Land für auswandernde Arbeiter zu sein.»[25] In einem vom Prager Tagblatt am 5. November 1911 nachgedruckten Interview, das auch Kafka gelesen hat, erklärte der Erfinder Thomas Alva Edison zurückhaltender, das hohe Tempo der böhmischen Industrialisierung sei daraus zu erklären, daß zahlreiche tschechische Amerika-Emigranten nach den Jahren des Auslandsaufenthalts in ihre Heimat zurückgekehrt seien, um dort ihre Arbeitserfahrungen nutzbringend weiterzugeben (T I 189).

Der Anteil der Deutschen in Böhmen und Mähren nahm seit dem Ende des Jahrhunderts erheblich ab. Die Entwicklung in Kafkas Geburtsstadt trug hier symptomatische Züge: während im Jahr 1880 noch 38 591 der Einwohner Prags deutschsprachig waren, sank diese Zahl bis 1910 auf 32 332. Da sich im selben Zeitraum die Gesamtbevölkerung von 260.000 auf 442.000 erhöhte, bedeutete das eine Verringerung von 14 auf 7,3 Prozent. Ähnlich verhielt es sich mit dem jüdischen Bevölkerungsanteil, der in Böhmen unter dem Einfluß der Amerika-Emigration zwischen 1880 und 1900 von 95.000 auf 92 700 zurückging. Lediglich Prag bildete dabei eine bemerkenswerte Ausnahme: nach der Jahrhundertwende stieg hier die Quote der jüdischen Einwohner leicht an; um 1900 lebten in Prag 26 342 Menschen mosaischen Glaubens, 1910 waren es 28.000 (darunter jeweils die Hälfte Tschechen), was einem Anteil von 10 bzw. 6 Prozent entsprach (in Wien belief sich dieser Anteil kurz vor der Jahrhundertwende auf 8,7, in Berlin auf 4 Prozent).[26] Einen wesentlichen Faktor bildete die Zuwanderung von Juden aus den ländlichen Regionen, die insbesondere den Händlern schlechtere Geschäftsbedingungen boten. «Das Kapital», bemerkt Aharon David Gordon 1917 über die Migrationswelle, die das Europa vor dem Ersten Weltkrieg durchzog, «flieht aus dem Dorf, aus der Natur in die Stadt, wo es bessere Geschäfte machen kann, die Arbeit ihm nach (nicht nur aus Not).»[27] Neben dem wirtschaftlichen Interesse war es der zumal im Zarenreich enthemmt tobende Antisemitismus, der die großen Wanderungsbewegungen der Jahrhundertwende herbeiführte. Aus Galizien und Rußland, wo die von Nikolaus II. gebilligten Pogrome die Existenz der Juden permanent bedrohten, drängten zahlreiche Emigranten in den Westen. Zwischen 1880 und 1910 floß ein gewaltiger Umsiedlerstrom mit 3 Millionen Ostjuden nach Böhmen, Mähren, Österreich und Deutschland. Ungefähr 400.000 von ihnen hielten sich nur kurz in ihren mitteleuropäischen Aufnahmeländern auf und entschlossen sich dann zur Ausreise nach Amerika.

Parallel zur Abnahme des deutschen Bevölkerungsanteils wuchs jener der Tschechen.[28] Das Zurücktreten des deutschen Übergewichts spiegelte sich auch in den kulturellen Vorlieben und Vorbildern des böhmischen Judentums. Bei einer Volkszählung im Jahr 1890 gaben 73,8 Prozent der Prager Juden Deutsch als ihre Hauptsprache an, eine Dekade später dagegen nur noch 43,7 Prozent.[29] Hinter diesem Vorgang offenbart sich die wachsende Annäherung der Juden an die tschechische Bevölkerung, die sich auch auf institutioneller Ebene vollzog. Während die Juden im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts vornehmlich in deutschen Vereinen Mitglieder waren, strebten sie jetzt, angeführt durch die Sammlungsbewegung Alois Zuckers, verstärkt zu tschechischen Gruppierungen. Andererseits bevorzugten auch nach 1900 die meisten Prager Juden deutsche Schulen für ihre Kinder. Hier vollzog sich der Umverteilungsprozeß äußerst langsam, weil die deutsche Sprache trotz der Verschiebung der gesellschaftlichen Gewichte weiterhin als Sprache der Gebildeten galt. Die kulturelle Vormacht der Deutschen in Böhmen blieb als letzte Bastion einer fragwürdigen Dominanz bis ins 20. Jahrhundert erhalten. Wer nach sozialem Aufstieg strebte, mußte sich um Kontakt zu den deutschen Clubs und Vereinen bemühen. Diesem Credo folgte auch Kafkas Vater, der sich, wo immer es um den Ausweis seines gesellschaftlichen Erfolgs ging, als Freund der Deutschen zu profilieren suchte.