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Annemarie Schoenle

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Beschreibung

Frauen lügen besser »Ich habe gelesen, dass das männliche Gehirn unserer modernen Informationsgesellschaft nicht mehr gewachsen sei. Weil Männer linear denken, jetzt aber vernetztes Denken gefragt ist.« Drei Frauen, eine streitbare Journalistin, eine Lektorin und eine bildschöne Verkäuferin, wollen mit ihren vermeintlich so fortschrittlichen Geschlechtsgenossinnen, aber auch mit der selbstherrlichen Männerwelt abrechnen. Sie beschließen, einen Roman zu schreiben, eine Skandalbiographie, und ihn durch ein raffiniertes Marketingkonzept zum Bestseller der Saison zu machen. Der Plan gelingt, wenngleich anders als gedacht, denn die drei haben leichtsinnigerweise den Faktor „Männer“ außer Acht gelassen. »Intelligent und witzig erzählt. Annemarie Schoenle vermag den drei Frauengenerationen ein glaubwürdiges Profil zu geben.« Der Spiegel Nur eine kleine Affäre Eine Viertelstunde später war alles klar. Sie war schwanger. Der Blinddarm war kein Blinddarm, der Blinddarm war ein Kind. Schwanger, Job weg, Mann weg. Eigentlich hatte sich Theresa nur auf eine kleine Affäre mit dem gutaussehenden Victor eingelassen, um der Tristesse ihres Alltags zu entfliehen – und nun ist sie alleinerziehende Mutter und arbeitslos. Weder ihr Ehemann, noch ihr Liebhaber wollen etwas von dem Kind wissen. Was also tun? Theresa hat zwar keine Ahnung, dafür aber jede Menge Träume! Sie lässt sich nicht unterkriegen und ist sich sicher: Ich werde mein Glück finden! Annemarie Schoenle gelingt es wie keiner anderen, zugleich so leicht und so ernst zu erzählen.

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Über „Frauen lügen besser“:

Drei Frauen, eine streitbare Journalistin, eine Lektorin und eine bildschöne Verkäuferin, wollen mit ihren vermeintlich so fortschrittlichen Geschlechtsgenossinnen, aber auch mit der selbstherrlichen Männerwelt abrechnen. Sie beschließen, einen Roman zu schreiben, eine Skandalbiographie, und ihn durch ein raffiniertes Marketingkonzept zum Bestseller der Saison zu machen. Der Plan gelingt, wenngleich anders als gedacht, denn die drei haben leichtsinnigerweise den Faktor „Männer“ außer Acht gelassen.

»Intelligent und witzig erzählt. Annemarie Schoenle vermag den drei Frauengenerationen ein glaubwürdiges Profil zu geben.«

Der Spiegel

Über „Nur eine kleine Affäre“:

Schwanger, Job weg, Mann weg. Eigentlich hatte sich Theresa nur auf eine kleine Affäre mit dem gutaussehenden Victor eingelassen, um der Tristesse ihres Alltags zu entfliehen – und nun ist sie alleinerziehende Mutter und arbeitslos. Weder ihr Ehemann, noch ihr Liebhaber wollen etwas von dem Kind wissen. Was also tun? Theresa hat zwar keine Ahnung, dafür aber jede Menge Träume! Sie lässt sich nicht unterkriegen und ist sich sicher: Ich werden mein Glück finden!

Annemarie Schoenle gelingt es wie keiner anderen, zugleich so leicht und so ernst zu erzählen.

Über die Autorin:

Die Romane Annemarie Schoenles werden millionenfach gelesen, zudem ist sie eine der bekanntesten und begehrtesten Drehbuchautorinnen Deutschlands (u. a. wurde sie mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet). Alle ihre Bücher wurden verfilmt. Sie ist Mutter einer erwachsenen Tochter und lebt mit ihrem Mann in der Nähe von München.

Annemarie Schoenle veröffentlichte bei dotbooks bereits ihre Romane Frühstück zu viert, Verdammt, er liebt mich, Familie ist was Wunderbares und ihre charmanten Geschichtssammlungen Die Rache kommt im Minirock, Der Teufel steckt im Stöckelschuh, Die Luft ist wie Champagner und Das Leben ist ein Blumenstrauß.

Die Website der Autorin: www.annemarieschoenle.de

***

Originalausgabe Mai 2014

Copyright © der Originalausgabe Nur eine kleine Affäre 1993 Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Copyright © der Originalausgabe Frauen lügen besser 1998, für die deutschsprachige Ausgabe by Knaur Taschenbuch. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Copyright © der Originalausgabe 2014 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung eines Bildmotivs von Zunda / shutterstock.com

ISBN 978-3-95520-382-5

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Annemarie Schoenle

Frauen lügen besser & Nur eine kleine Affäre

Zwei Romane in einem Band

dotbooks.

Frauen lügen besser

Anna

Sie hatte immer schon befürchtet, dass dieser beknackte Psychologe von der Zeitschrift »Die moderne Frau« recht hatte: Ihr Bett war eine Höhle, in der sie in embryonaler Haltung kauerte und darauf hoffte, dass der Tag sie mit seinen Misslichkeiten verschone. Was er natürlich nicht tat. Denn draußen auf dem Flur pfiff Henriette nach der siebzehnten Übung ihrer Wirbelsäulengymnastik aus dem letzten Loch – Anna konnte es einfach nicht mehr hören. Gestrecktes Becken, uahh, gewölbter Bauch, pffff, und Rumpf nach unten, Mist verdammter! Hinterher hatte man, so klagte Henriette, keine Rückenschmerzen mehr, sondern war ein Fall für die chirurgische Endlösung.

Dann das Kindergetrampel aus dem dritten Stock. Das konnte Anna auch nicht mehr hören. Es erinnerte sie daran, dass sie ihrer Lebensplanung weit hinterherhinkte.

Sie hatte als Abiturientin, also vor Äonen von Jahren, genau gezählt fünfzehn, beschlossen, Anglistik zu studieren, eine Verlagslehre zu machen, Lektorin zu werden und reihenweise Bestsellerautoren zu entdecken. Ihr erfolgreiches Wirken sollte ihr die Ehe mit einem Verleger bescheren, sie würde zwei Kinder kriegen, sich mit interessanten Menschen umgeben und einen schöngeistigen Salon führen. Grass würde zum Tee kommen, Handke seine Schreibexistenz anhand der »Geschichte eines Bleistifts« erläutern und Reich-Ranicki … aber den kannte sie damals noch nicht. Den lernte sie erst kennen, als das Fernsehen die Selbstdarsteller entdeckte.

Nun ja. Lektorin war sie geworden. Bestsellerautoren betreute sie keine. Die schrieben nicht für den Jansen-Verlag. Er war zu klein und hatte zu wenig Geld; ein Garant zwar für gute Bücher, was bedeutete, dass er sich in permanenten Liquiditätsschwierigkeiten befand. Verleger hatte sich Anna auch keine geangelt. Das lag an den Verlegern. Sie waren entweder verheiratet oder mochten keine Frauen oder sie waren zu alt. Der Rest war, wenn auch nicht immer, aber immer öfter nur noch an hartgesichtigen Girlies interessiert. Der Trend der Zeit: Es lebe das Cover, wen kümmert der Inhalt.

Anna rutschte vom Bett auf den Boden und zog ihre Beine nah an den Körper. Grauenvoll. Ihr Zimmer sah grauenvoll aus. Auf dem Bettvorleger ein Teller mit Pizzaresten, daneben ein Stapel von Büchern, die zu lesen sie nicht die geringste Lust verspürte, und das Manuskript von Sibylle Sonnenschein mit dem hinreißenden Titel: »Was erwartest du von deinem Körper?« Ewige Gesundheit und täglich einen Orgasmus, dachte Anna missmutig. Vor dem Fernseher lagen zwei DVDs: »Jenseits von Afrika« und »Die weiße Massai«. Sie hatte bis drei Uhr morgens mit Meryl Streep gelitten und geweint und war mit deren melancholisch-synchronisierter Stimme Ich hatte eine Farm in Afrika … eingeschlafen. Nur wenn sie ab und zu nachts ihre Anfälle von Romantik in einer Pizzaorgie und einem Liebesfilm ertränkte, konnte sie dem kommenden Tag mit dem nötigen Masochismus begegnen. Dann schoss die Nadel ihrer Waage in verfressene Pizzahöhe und gab treffende Kommentare ab – gefräßige Anna, böses Kind! Sogar die superschlanke Nervensäge Sibylle Sonnenschein war nach einer Leidensnacht mit Meryl besser zu ertragen. Sibylle – man duzte sich – hing der These an, dass man seinen Körper mindestens genauso gut behandeln solle wie sein Auto oder die Waschmaschine, also jährliches Check-up, Lackpflege, neue Bereifung, bessere Trommelhalterung. Die geborene Klempnerin. Ich hatte eine Farm in Afrika … Lieber Gott, betete Anna, schenk mir Günter Grass! Oder Handke und einen neuen Bleistift. Oder eine Rosamunde Pilcher, wenn’s denn sein muss. Aber keine Ratgeberautorinnen mit esoterischem Sendebewusstsein! Sie konnte das Leuchten in deren Augen nicht mehr ertragen. Und auch nicht die Tatsache, dass sie sich alle so herrlich selbst gefunden hatten und selbstherrlich über jene richteten, die angesichts der vielen täglichen Grausamkeiten Pizzen in sich hineinstopften und in Liebesfilmen badeten. Seltsam war nur, dass die Angehörigen von Selbstgefundenen so oft an der Flasche oder an der Nadel hingen – was den Schluss nahe legte, dass Selbstfindung für die Umgebung manchmal mörderischer war als Jack the Ripper für kleine englische Ladys.

Henriette brühte in der Küche Kaffee auf. Sie trug einen ihrer karierten Hosenanzüge und hatte die unvermeidliche schwarze Baskenmütze auf dem knallroten Haar. Sie war fünfundsechzig und fiel unter die Kategorie »schrille Alte«. Was an sich schon wieder antiquiert war. Jahrzehntelang gab es die guten Omis. Dann die grauen Panther. Dann die schrillen Alten. Jetzt befand man sich in einer Übergangsphase. Keiner wusste so recht, wo’s hinging. Aber da eine Umfrage bei Jugendlichen ergeben hatte, dass sie es total normal fanden, wieder unberührt in die Ehe zu gehen, befürchtete Anna, dass abermals die Zeit der gütigen Omas drohte (nicht mit Strickzeug, sondern TV-Fernbedienung in der Hand). Wenn schon Rückschritt, dann richtig.

»Wie geht es deinem Artikel?«, fragte Anna.

Henriette sah sie wütend an. »Was fällt dir zu ›Liebesspiele mal ganz anders‹ ein?«

Anna grinste und meinte, dass sie von einer interessanten Variante gelesen habe. Den Liebsten von Kopf bis Fuß einölen, ihn auf den Bauch legen und sich selbst, reibend wie ein Pavianweibchen, auf seinen festen Po … »Stimulanz, meine Liebe!«

»Krieg ich sofort wieder empörte Leserinnenbriefe von allen, die einen Mann mit Hängearsch haben.«

»Kannst es ja mal mit Leander testen.«

»Wenn ich Leander auf den Bauch lege, kommt er nicht mehr in die Rückenlage. Und außerdem …« Henriette drehte sich zornig um. »Ich bin Kolumnistin und keine Redakteurin für beschissene Sexfragen.«

»Ist denn die Redakteurin für Sexfragen auf einer Schulung?«

»Auf einem Selbstfindungskurs: ›Ich vermisse meine Unschuld‹ Haha. Und die Redaktion ›Lebensgefühl‹ ist durchwegs lesbisch, die ›Kochrezepte‹ treiben’s nur mit ihrem elektrischen Quirl, und ›Menschen heute‹ reden nicht mit normal Sterblichen, sondern führen Interviews mit Menschen von morgen.«

Anna nützte die Gelegenheit, ausgiebig über die Leserinnen der Zeitschrift »Die moderne Frau« zu lästern. Ein bisschen Mode, ein bisschen Sex, Wie verwöhne ich meinen Mann?, Schminkvorschläge und das Monatshoroskop. Die neuen Frauen! Schon Annas Mutter hatte in Mode und Schminkvorschlägen geblättert und gelernt, wie man es dem Mann recht macht.

»Ist’s in deiner Branche besser?«, fragte Henriette.

»Bei mir wimmelt es von Traumfrauen und Superweibern und von impotenten Männern, die dringend gesucht werden. Du hast die neuen Frauen, ich die neue freche Frauenliteratur.«

»Neu? Was denn?«

»Dass deine Frauen ihre Illustrierten selbst bezahlen können und dass meine Romane nicht mehr einen Groschen, sondern neunzehn Euro neunzig kosten.«

»Und was, bitte schön, ist frech?«

»Das Vokabular. Dreimal das Wort Schwanz, ein bisschen ödes Gefummel – doch dann schlägt der rosarote Blitz ein. Alles wie gehabt. Der richtige Held trifft die richtige Heldin, sie fallen sich in die Arme, heiraten, kriegen Kinder und suchen in ›Die moderne Frau‹ ein neues Rezept für den alten Napfkuchen.«

»Und meine Frauen, liebe Anna, glauben, weil sie beim Wort Schwanz nicht in Ohnmacht fallen, seien sie schon emanzipiert.«

Anna und Henriette stießen mit ihren Kaffeetassen an und grinsten.

»Prost, Tantchen!«

»Du mich auch!«, sagte Henriette.

Es gab drei Möglichkeiten für Anna, zum Jansen-Verlag zu gelangen: den Bus, das Auto oder einen Spaziergang durch den Nymphenburger Park. Sie wählte den Spaziergang, denn sie liebte den Park; sie kannte jeden Weg, zu jeder Jahreszeit. Im Sonnenschein, nebelverhangen, regengepeitscht. Die Amalienburg, die Pagodenburg, die Badenburg. Das Brunnenhaus, das Hexenhäuschen, das Schloss. Manchmal setzte sie sich auf eine Bank an einen der Parkseen und stellte sich vor, Thomas Keller sitze neben ihr und sie erörterten die »Atriden-Tetralogie« Gerhart Hauptmanns. Mit Bedacht hatte sie diesen Dramenzyklus gewählt. Über den konnte nämlich bis in eine lichtrote Abenddämmerung hinein diskutiert werden, viel länger als über »Hanneles Himmelfahrt« oder »Der Biberpelz«. Und dann das Licht des aufgehenden Monds, die lyrische Sprache der »Iphigenie in Aulis« und Thomas’ Römerprofil dicht neben dem ihren. Ich hatte eine Bank im Nymphenburger Park …

Thomas Keller war Cheflektor des Jansen-Verlags, Annas Vorgesetzter, und Gerhart Hauptmann sein Lieblingsklassiker, weswegen Anna sich schon seit geraumer Zeit mit dessen Dramen auseinander setzte. Wenn man einen Mann liebt, interessiert man sich auch für seinen literarischen Geschmack. Ihre Liebe betrieb Anna allerdings heimlich, ohne jede Aussicht auf Erfolg. Denn Thomas nahm Anna nur dann wohlwollend zur Kenntnis, wenn sie ihm als Lektorin Freude bereitete. Und das war nicht einfach, mit Sibylle Sonnenschein im Nacken und deren Klempnerauffassung vom Menschen an sich. Außerdem hatte Thomas eine eklatante, weil triviale Schwäche: Er vertilgte junge langhaarige Frauen wie andere ihren täglichen Schokoriegel. Keine Girlies, die waren ihm zu flachbrüstig und zu Daumen lutschend. Nein. Langbeinige, großbusige, bildschöne junge Frauen, die durchwegs mehr seine Sinne denn seinen Geist ansprachen. Sein neuester Schokoriegel hieß Sigi Stenzl und war fünfundzwanzig Jahre alt. Saftgirl im Kaufhaus Wertheimer. Sie mixte und verkaufte Vitamindrinks und hatte das Gesicht eines Engels. Als Anna Sigi das erste Mal gesehen hatte, nahm sie eine Familienpizza mit nach Hause und setzte sich den goldenen Schuss. Mit »Casablanca« bis zum Einnicken.

Der Jansen-Verlag, der zu einem großen Konzern gehörte, beschäftigte zwanzig Mitarbeiter, und Verleger Gebhardt liebäugelte bereits mit dem Ruhestand. Man munkelte, dass Keller durchaus Chancen habe, Johannes Gebhardts Nachfolger zu werden, und wartete gespannt auf die Entwicklung der Dinge. Denn andererseits war klar, dass die Konzernspitze mit den finanziellen Resultaten des Verlags nicht zufrieden sein konnte. Die Gewinne nahmen stetig ab, und ein Umschwung war nicht in Sicht. Gut möglich also, dass der Konzern einen seiner eigenen Leute Keller vor die Nase setzte.

Als Anna an diesem Morgen die Treppen zu dem kleinen, schlösschenartigen Verlagsgebäude hinaufstieg, hielt Thomas’ flottes Cabrio – offenes Verdeck, was sonst? – am Straßenrand. Er stieg aus, Sigi Stenzl stieg aus, er küsste Sigi, Sigi setzte sich hinters Steuer und brauste davon. Werbespot, befand Anna. Der braun gebrannte, schlanke Held, Designersakko, offenes Hemd, Nappajeans, grau meliertes Haar, dunkle Sonnenbrille. Und die strahlende junge Frau, graue Leinenhose, transparentes Wickeltop, schulterlanges Haar in einem vibrierenden Kastanienrot. Glücklich, trendy, vital und busy – da lagen keine Pizzareste auf dem Bettvorleger herum, da lag auf dem Bettvorleger das Traumpaar selbst und testete Henriettes »Liebesspiele mal ganz anders«. Und sie? Anna fiel bestenfalls unter den Begriff »zeitloser Stil« mit ihren langen Röcken, den schwarzen Pullis und der Brille am Kettchen. Und Haare auf dem Kopf, weil sie eben zufällig dorthin gehörten. So was konnte man sich nur leisten, wenn man mit seiner Farblosigkeit kokettierte oder wenn man Bügelbrettmodel bei »Cosmopolitan« war. Neben diesen Mädchen stand gewöhnlich ein Adonis, gepiercte Brustwarzen, nackte Lenden, schön wie Christus. Raffiniert. Man betrachtete die Models und dachte: Wenn die es schaffen, solche Kerle neben sich zu haben, was kann man dann selbst alles schaffen? Dann konnte man sich sogar Thomas Keller auf dem abgewetzten Wohnzimmerteppich vorstellen. Nackt. Die Arme geöffnet. Mit begehrlichem Blick.

Für zehn Uhr sagte sich Sibylle Sonnenschein an. Ihr Buch »Was erwartest du von deinem Körper?« sollte noch im Frühsommer erscheinen, und in der letzten Nacht hatte Sibylle ein paar zündende Ideen gehabt. Sie bringe ihr, so teilte sie Anna am Telefon mit, noch ein kurzes Kapitel, das auf den Mondrhythmus des Körpers eingehe. Klar. Der Mondrhythmus bescherte anderen Verlagen und anderen Autoren gerade ein Schweinegeld, und warum sollte nicht auch noch Sibylle Sonnenschein dem Heer Esoterischgläubiger erläutern, weshalb man seine Brustbehaarung am besten an Jungfrautagen wusch.

Sibylle saß nun Anna gegenüber und erklärte, wie gründlich sie recherchiert und interviewt habe. Einen Dr. Ungemach zum Beispiel, der ihr bestätigt habe, dass man Zysten an den Eileitern niemals an Fischetagen operieren solle. Fischetage seien gut für die Behandlung von Hühneraugen, aber Zysten – nein.

Ob Sibylle sicher sei, nicht anderen Autoren urheberrechtlich in die Quere zu kommen, fragte Anna und erfuhr, dass über Zysten und den Mond noch nichts geschrieben worden sei und dass der Mond an sich nicht auf Urheberrechtsschutz pochen könne.

Aha. Anna nahm also den Zysteneinschub in Empfang. Sibylle hatte sich auch Gedanken gemacht über die Qualität von Bettplätzen und über Rutenpendler und Gänger … ach nein, sie kicherte. Es müsse natürlich heißen, über Rutengänger und Pendler. Denn es sei zum Beispiel enorm wichtig, wo das Bett stehe. »Das Bett am falschen Platz macht alles zunichte. Die Gesundheit, den Geist, die Potenz.« Ob Anna sich schon mal überlegt habe, ob sie vielleicht nur deshalb noch unverheiratet sei, weil sich ihr Bett nicht am richtigen Platz befinde? Anna sah das anders: Sie war nicht verheiratet, weil sie außer Thomas keinen Kerl kannte, für den es sich gelohnt hätte, sein Bett an den richtigen Platz zu rücken. Ja, wenn da nur ein Funken von Hoffnung bestand. Dann wollte sie auch mit Freude Thomas’ Hühneraugen an Fischetagen im Mondschein besprechen (mit Zysten an den Eileitern war kaum zu rechnen).

Als sie Sibylle fragte, ob noch weitere Einschübe folgen würden, meinte diese, vielleicht schreibe sie noch ein winziges Kapitel über Bewegung als Ausdruck von Freiheit. Aber das müsse sie erst testen. Sie habe sich eine Machete gekauft und wolle damit das Gestrüpp in ihrem Garten beseitigen. An körperliche Grenzen gehen, nenne man so etwas, und sie lasse wieder von sich hören.

Anna beschloss, doch kurz Peter Handke anzurufen und zu fragen, ob er nicht den Verlag wechseln wolle. Aber vorher musste sie einen Happen essen. Handke konnte sehr schweigsam sein, und Anna wollte nicht mit einer von Hunger entkräfteten Stimme bedeutsame Monologe von sich geben, die der andere dann gar nicht hören konnte.

Im »Bistro Alfons« aß sie ein Schinkencroissant und trank ein Glas Weißwein. Alkohol während der Arbeitszeit war nicht die Regel, aber wenn sie sich vorstellte, dass Sibylle Sonnenschein mit der Machete ihren Garten bearbeitete, Sigi Stenzl im transparenten Wickeltop Kokosmilch servierte oder amerikanische Powerfrauen Cyber-Feministinnen wurden und den revolutionären Satz »Cybernetic ist weiblich« ins Internet spuckten, konnte sie ihre deprimierende Normalität nur noch im Alkohol ertränken. Es musste etwas geschehen. Dieser Kurs der Volkshochschule, den sie seit drei Wochen besuchte – »Wie verändere ich mein Image?« –, war ja wohl das Letzte an Einfallslosigkeit. Überhaupt nicht geeignet, um dem globalen Netzsurfzeitalter gerecht zu werden.

Thomas Keller aß auch ein Schinkencroissant und trank ein Glas Rotwein. Er hatte sich zu ihr gesetzt. Sein Blick blieb irgendwo zwischen Brillenkettchen und Bröseln auf ihrer schwarzbestrickten Brust hängen.

»Wie geht’s deinen Esoterikern?«, fragte er und grinste.

Anna ärgerte sich. Thomas betreute die wirklich guten Belletristikautoren, während sie außer der Esoterik- und Ratgeberecke nur noch ein paar Schriftstellerinnen am Hals hatte, die so genannte freche Frauenbücher schrieben oder Krimis. In diesen Krimis führten ältere, aber gut erhaltene Kommissarinnen jungen, ehrgeizigen Assistenten gnadenlos vor Augen, wo deren fachliche Defizite lagen. Natürlich hatten die Kommissarinnen interessante Liebhaber, die aber meist als Undercover oder Special Agents tätig waren und heldenhaft das Zeitliche segneten, damit die Kommissarinnen weiterhin Kommissarinnen bleiben konnten und nicht heiraten mussten.

»Hast du zu Hause einen PC?«, fragte Anna.

»Natürlich«, sagte Thomas.

»Internet?«

Thomas nickte.

»Ich habe gelesen, dass das männliche Gehirn unserer modernen Informationsgesellschaft nicht mehr gewachsen sei. Weil Männer linear denken, jetzt aber vernetztes Denken gefragt ist.«

»Aha.«

»Frauen denken vernetzt.«

»Frauen denken?«

»Wie geht’s … wie heißt sie gleich?«

»Sigi. Gut. Es geht ihr gut.«

»Über was sprecht ihr eigentlich?« Er sah sie an und grinste wieder. »Ich meine … kannst du mit ihr zum Beispiel über die ›Atriden-Tetralogie‹ von Hauptmann reden?«

»Ist nicht grade das, was mir einfällt bei ihrem Anblick.«

»Und das macht dir nichts aus?«

»Wenn ich daran denke, was mir einfällt, wenn ich sie ansehe – nein, macht mir nichts aus.«

Anna kräuselte die Lippen.

»Und wenn ich über die ›Atriden-Tetralogie‹ reden will, habe ich ja dich«, sagte er und lächelte die neue Bedienung an, die mit sehr viel Ausschnitt Espresso servierte.

Anna beschloss, sich am Abend mit den vier Teilen der »Dornenvögel« zu bestrafen. Thomas Keller zu lieben war nämlich ähnlich aussichtslos wie einen Pfarrer, der Papst werden wollte. Nein. Falsch definiert. Es war noch aussichtsloser. Denn der angehende Papst in den »Dornenvögeln« schenkte seiner Geliebten wenigstens einen Sohn. An einem Schützetag bei zunehmendem Mond im Licht des Abendrots mit so viel Leidenschaft im Blick, dass man beim Zusehen jedes Mal einen begehrlichen Schluckauf bekam und die längste Praline der Welt aus dem Kühlschrank holte.

Henriette hatte eine ihrer magentötenden Kreationen geschaffen: Karottengemüse, aufgeplatzte Würstchen und Nudeln. Dabei war in »Die moderne Frau« erst vor Kurzem ein Artikel erschienen mit dem Titel: »Das alternative Abendessen«. Anna wagte vorsichtig, auf das Rezept »Orangen-Pilz-Salat mit geräucherter Gänsebrust« hinzuweisen, aber Henriette sagte, sie solle endlich aufhören, mit dem Bauch zu denken.

»Mir ist nach Revolution zumute. Und Revolutionäre essen, was daherkommt. Ich bin stinksauer«, fuhr sie fort und berichtete von ihrem Orthopäden, der sie schändlich behandelt habe und dem sie in ihrer Kolumne »Henriette ärgert sich« gründlich die Meinung sagen werde.

Anna sortierte verbrannte Karottenstücke aus. Henriettes Orthopäde interessierte sie im Moment nur sekundär, aber Henriette nahm darauf keine Rücksicht. Sie sei in dieser Praxis gezwungen worden, ohne Seil und Haken auf eine Schwindel erregend hohe Liege zu steigen, frierend und fast nackt habe sie eine halbe Stunde auf den Arzt gewartet, bevor dieser anhand eines monströsen Apparates feststellte, dass ihre Knochen entkalkt und daher nur mehr bedingt einsatzfähig seien. Henriette hatte dem Orthopäden erwidert, dass sie diese Diagnose aufgrund ihres Alters auch selbst hätte stellen können, weshalb sie sich eine Rechnungsstellung dringend verbiete. Der Orthopäde hatte ihr daraufhin begütigend die Wange getätschelt und sie angelächelt, als sei sie plötzlich nicht ent-, sondern verkalkt, debil obendrein. Er wünschte ihr alles Gute und verschwand aus dem Zimmer. Einem schockgefrorenen Maikäfer gleich lag Henriette auf dem Rücken und versuchte, ihr entkalktes Rückgrat in senkrechte Lage zu bringen. Eine Viertelstunde quälte sie sich ab, bevor sie todesmutig von der Liege springen, sich anziehen und den Raum verlassen konnte. Nur um zu sehen, wie der Orthopäde um eine dralle Mittdreißigerin herumschwänzelte und ihr sogar ein Schemelchen brachte, damit sie beschwerdefrei auf den Röntgenstuhl klettern konnte. Henriette hatte zu dem Orthopäden gesagt, dass sie ihn wegen unterlassener Hilfeleistung verklagen werde und dass er ein ignorantes Arschloch sei.

»Kannst du mir erklären«, schloss sie, »warum jüngere Männer ältere Frauen behandeln, als seien sie eigentlich schon nicht mehr von dieser Welt?«

»Du lädst zu keinen sexuellen Assoziationen ein, meine Liebe«, sagte Anna heiter.

»Und warum beachten dann, umgekehrt, jüngere Frauen ältere Männer?«

»Sie beachten nur Männer, die was in der Brieftasche haben.«

»Du meinst, wenn ich meinem Orthopäden erzählt hätte, dass ich zwei Telekomaktien besitze, hätte er mich in seine starken Arme genommen und zu meinem Fahrrad getragen?«

»Die Telekomaktien sind gefallen«, sagte Anna.

»Ich könnte ihm erzählen, dass ich noch berufstätig bin, einen verheirateten Geliebten habe und gerade einen Artikel schreibe: ›Liebesspiele mal ganz anders‹.«

»Dein Orthopäde ahnt gar nicht, dass Frauen über sechzig noch wissen, was Liebesspiele sind. Der glaubt, du meinst, Liebesspiele seien, wenn du mit deinen Enkeln spielst.«

»Und was sagt er zu einer Frau mit fünfunddreißig, die im Zölibat lebt und ihre sexuellen Bedürfnisse in ›Casablanca‹ und ›Jenseits von Afrika‹ auslebt?«

Anna würdigte Henriette keiner Antwort. Was hätte sie auch sagen sollen? Ist mir schietegal, was dein Orthopäde meint. Oder: Zölibatäres Verhalten hält den Kopf frei für Hauptmanns »Atriden-Tetralogie«.

Sie zog ihren Mantel an und sagte Henriette, dass sie heute ihren Imagekurs habe.

Die Kurse der Volkshochschule fanden in einem modernen Schulgebäude mit riesigen Glasfenstern, bunten Böden und farbenfrohen Bildern an den Wänden statt. Ein heiterer Ort, tagsüber bevölkert von hyperaktiven Kindern oder fernsehbedingten Autisten und abends von müden, frustrierten Erwachsenen, die sich mit so wichtigen Themen befassten wie »Das linkshändige Kind«, »Bossing – Wenn der Chef zum Alptraum wird«, »Ist Oma jetzt im Himmel?« oder »Wie verändere ich mein Image?«

Kursleiter war Harry Kemper, ein dreißigjähriger Schauspieler, der sich mit Werbespots und mit Vorlesungen an der Volkshochschule über Wasser hielt. Fünfzehn Teilnehmer, zwei Drittel davon Frauen. Das Image, wie es vorlag, war klar: Ein Haufen Normalos, die mit ihrem momentanen Leben unzufrieden waren und sich umkrempeln lassen wollten, saßen mit erwartungsvollen Gesichtern da und hofften, den Kurs als Seelen- und Outfitanarchos zu verlassen. Natürlich unterschied sich Harrys Unterricht in nichts von anderen Veranstaltungen dieser Art. Auch Harry erzählte, Schönheit sei ein oberflächliches Geschenk, ein Geschenk auf Zeit. Es sei vielmehr der Mensch als Gesamtheit, der etwas Positives ausstrahlen müsse, um wirklich schön und erfolgreich zu sein. Das Besondere an Harry war, dass er seinen Job mit dem Herzen machte. Er glaubte, was er sagte. Er gab sich Mühe. Er ging auf die Menschen ein. Er wollte ihnen wirklich helfen. Er war ein Idealist.

»Was oder wer, würden Sie gerne sein und warum?«, fragte er an diesem Abend. Anna kam erst als vierte Frau an die Reihe, hatte also Zeit, um zu überlegen. Laetitia Casta? Michelle Pfeiffer? Gott! Sie war illustriertenverseucht! Henriette, die streitbare Kolumnistin, würde beipflichten. Sie schrieb seit zehn Jahren ihre Artikel für »Die moderne Frau« und vertrat die Ansicht, dass Frauen permanent zeitschriftenmanipuliert waren. Sie wollten aussehen wie Schauspielerinnen oder Models, wollten erfolgreich sein, kochten nach Hochglanzrezepten und schminkten sich die Gesichter sklavisch prall oder leer und krank. Modischer Kokainchic. Als Henriette davon zum ersten Mal gelesen hatte, tobte sie vor Zorn und bedachte ihre Geschlechtsgenossinnen mit den unflätigsten Schimpfnamen. Zeitgeist der Dekadenz! Warum mussten ausgerechnet Frauen sich dazu hergeben, die Auswüchse schräger männlicher Gehirne nachzuspielen. Sollten die Männer doch als Gerippe herumlaufen, die Unterhosen schlotternd an mageren Schenkeln, schwarze Augenringe, unbehandelte Haltungsschäden, auf der Schwelle der Magersucht! Aber die Männer, meinte Henriette, seien nicht so blöd. Testosterongeschwängert glänzten ihre Bizepse und Muskelstränge geheimnisvoll im Scheinwerferlicht, während neben ihnen knochige, kaputte weibliche Modelskelette an alten Hausmauern hingen und das Leben verweigerten. Als Anna Henriette darauf hinwies, dass es auch Männermode im Junkiestil gebe, männliche Models in hautengen Seidenanzügen, neben eine Kloschüssel gekauert, ins Nichts stierend, lachte Henriette böse. Also, bitte! Gleichberechtigung im großen Wahnsinn. Das Leben eine irre Party. Wir sind ja so hip, Kinder, auch wenn wir morgen tot sind.

Die drei Frauen, die im Kurs vor Anna befragt wurden, wollten gern Jil Sander, Jane Fonda und Kate Moss sein. Der Mann entschied sich für den Flamencotänzer Cortés.

»Und Sie?«, fragte Harry und wandte sich an Anna.

»Sigi Stenzl.«

»Nein. Ich will nicht wissen, wie Sie heißen, sondern wer Sie sein wollen.«

»Sigi Stenzl«, wiederholte Anna.

Harry schwieg.

»Ich meine«, sagte Anna, »ich möchte eine junge Frau namens Sigi Stenzl sein. Sie ist Saftgirl im Kaufhaus Wertheimer.«

»Und was sind Sie von Beruf?«, fragte Harry.

»Lektorin.«

»Sie möchten lieber Saftgirl als Lektorin sein?«

Anna nickte.

»Virginia Woolf … Simone de Beauvoir …?«

»Sigi Stenzl«, sagte Anna.

Als die Kursstunde zu Ende war, kam Harry zu ihr. »Trinken wir noch ein Bier zusammen?«

Anna war völlig überrascht.

Harry sagte: »Ich möchte dem Geheimnis der Sigi Stenzl auf die Spur kommen.«

Das erste Bier tranken sie also auf Sigi. Harry ließ sich von Anna deren Aussehen beschreiben, drehte Annas Gesicht hin und her und meinte, rein äußerlich könne man viel aus ihrem Typ machen. Aber das sei wohl nicht das Problem. Das Problem sei, dass ihr Leben in eine Art Sackgasse geraten sei und sie nicht mehr herausfinde aus dieser Gasse.

Das zweite Bier tranken sie auf Harry. Er erzählte, dass er eine fundierte Ausbildung als Schauspieler erhalten habe, dass seine Traumrolle die des Mephisto im »Faust« sei, dass er aber lediglich mal in der TV-Daily-Soap »Lindenhof« einen Discobesucher gespielt habe, der verprügelt wurde. Er sei wirklich gut gewesen in der Rolle, aber da noch fünf andere genauso verprügelt wurden wie er, sei sein Talent in künstlichem Blut und berstenden Knochen untergegangen. Beim dritten Bier gingen sie zum Du über. Beim vierten Bier schwärmten beide von Meryl Streep und »Jenseits von Afrika«, und Anna bestätigte Harry, dass er aussehe wie ein junger Robert Redford. Das gab ihr auch Gelegenheit, von Thomas Keller zu sprechen. Harry meinte, sie solle nicht den Fehler machen und sich durch seinen Imagekurs äußerlich in eine zweite Sigi Stenzl verwandeln zu wollen – was ohnedies nicht gehe, weil sie viel zu wenig Oberweite besitze. Nein. Sie solle zum Widerspruch herausfordern. Reizen. Was will dieser Thomas Keller denn? Eine Frau, die nur seine Sinne anregt, damit er sich geistig nicht mit ebenbürtigen Frauen auseinander setzen muss. Schuppenflechte im Hirn, das sei die Krankheit dieses Herrn. Und Menschen mit Schuppenflechte würden heute sogar von der AOK in ein Reizklima beordert werden. Also: Sie, Anna, solle das Reizklima für Thomas werden. »Zuerst wird das sicherlich heftige negative Auswirkungen auf ihn haben, er wird dich ablehnen, sich mit dir streiten, er wird seine Schuppenflechte behalten wollen, um sich nicht als gesunder Mann den Anforderungen gleichberechtigter Partnerschaft stellen zu müssen. Aber nach und nach wird sich Heilung einstellen.« Anna fragte, wie sie zu einem erst zu nehmenden Reizklima werden könne. Harry meinte, während er das fünfte Bier bestellte, sie müsse einfach eine bildhübsche Powerfrau werden, diese Powerfrauen gebe es doch heute überall, zumindest habe er davon gelesen.

Anna lachte. »Henriette würde dich jetzt in der Luft zerreißen. Sie ist der Ansicht, dass lediglich mit ein paar Vorzeigedamen der freien Marktwirtschaft ein weiblicher Fortschritt proklamiert wird, der so niemals stattgefunden hat.« Daraufhin musste sie Harry erklären, wer Henriette war, und Harry fand, dass Henriette eine interessante Frau sei. Er meinte, es sei im Übrigen vollkommen egal, in welcher Menge es diese Powerfrauen gebe. Wichtig sei nur, Thomas Keller glauben zu machen, dass er eine solche vor sich habe. Männer seien im Grunde infantil und überhaupt nicht in der Lage abzuschätzen, ob eine Frau nur scheinbar oder wirklich etwas darstellt.

Das war eine interessante Theorie, zumal sie von einem Mann kam. Sie tranken zum Abschluss noch einen Grappa, umarmten sich und machten sich getrennt auf den Heimweg.

Zwei Stunden nachdem Anna eingeschlafen war, wurde sie wieder wach. In einem medizinischen Ratgeber, der schon vor ein paar Jahren im Jansen-Verlag erschienen war, stand, dass eine erhöhte Tätigkeit der Leber exakt nach zwei Stunden Tiefschlaf Schlaflosigkeit beschere. Da Anna sich nicht auf einen Machtkampf mit diesem Organ einlassen und keine Schlaftablette schlucken wollte, korrigierte sie Sibylle Sonnenscheins letzten Einschub und nahm sich – zum richtigen Zeitpunkt, wie sie fand – die Konkurrenzliteratur vor, um eventuellen Einsprüchen anderer Verlage zuvorzukommen. Bei dieser Gelegenheit erfuhr sie aus einem Bestseller, dass das Entwöhnen von Kälbern kurz vor Vollmond beginnen solle. Das war interessant. Jetzt wusste sie auch, warum dieses Buch so ein Erfolg geworden war. Immer schon hatten sich wahrscheinlich Tausende gefragt, wann man Kälber entwöhnt. Sie überlegte, wann sie entwöhnt worden war. Da fiel ihr ein, dass ihre Mutter sie nicht gestillt hatte. Weil diese damals andere Bestseller las, die proklamierten, dass nichtgestillte Kinder genauso glücklich würden wie gestillte. Was die Fragwürdigkeit solcher Bücher unterstrich.

Am nächsten Morgen erzählte sie Henriette von Harry und von seiner Schuppenflechtentheorie.

»Ist er schwul?«, fragte Henriette. »Nur schwule Männer verfügen über so viel emotionale Intelligenz.«

Anna überlegte, ob Harry wohl schwul war. Er hatte sie wie ein Neutrum behandelt, das schon. Aber sie war, ehrlich gesagt, momentan nicht gerade eine visuelle Herausforderung für einen etwa dreißigjährigen Mann. Auch keine physische, wie sie befürchtete. Oder war die Uniform intellektueller Frauen – lange Röcke, schwarze Pullis – dazu angetan, Männern einen erotischen Schock zu versetzen?

»Ich glaube nicht, dass er schwul ist«, sagte sie deshalb. »Ich glaube eher, dass ich nicht sein Typ bin.« Sie lachte tapfer. »Was wieder die Frage aufwirft, wessen Typ ich überhaupt bin.«

Henriette rückte ihre Baskenmütze zurecht. »Für eine intelligente Frau stellst du saublöde Fragen.«

Anna sah sie vorwurfsvoll an.

»Du sollst nicht fragen, ob du im Trend liegst, sondern ob der, der bei dir im Trend liegt, auch deinen Ansprüchen genügt.«

Anna überlegte. Sie glaubte nicht, dass Thomas gern Pizza aß und bei »Jenseits von Afrika« in Tränen ausbrach. Auch war Gerhart Hauptmann, genau betrachtet, nicht gerade ihr Lieblingsautor, er war mehr Pflichtlektüre. Und körperlich konnte sie Thomas überhaupt nicht einschätzen, aber sie hatte so eine Ahnung, dass seine Potenz im umgekehrten Verhältnis zu seiner Bindungsfähigkeit stand. Genügte er also ihren Ansprüchen? Man durfte die Hoffnung nicht aufgeben. Positives Denken. Allerdings hatte Schiller, auch ein Lieblingsautor von Thomas, gesagt: »Ach! Vielleicht, indem wir hoffen, hat uns Unheil schon getroffen.« Sie war zu kopflastig! Sigi Stenzl schlug sich sicherlich nicht mit tausend theoretischen Fragen herum. Die reichte Thomas einen Becher Kiwi-Ananas-Sellerie-Saft und wartete darauf, dass seine Physis sich stärke.

Anna beschloss deshalb, bei der nächsten Sitzung des Imagekurses Harry zu erklären, dass sie trotz aller intellektueller Bedenken wirklich wie Sigi Stenzl sein wolle.

Sigi

Die Leute hatten gar keinen Begriff davon, wie dämlich manche Männer sich an der Safttheke des Kaufhauses Wertheimer benahmen. Echt nicht. Standen da, glotzten, füllten sich mit Vitamindrinks plus Pestiziden ab und ließen sich wunderbar kategorisieren. Kategorisieren, was für ein Monstrum von Wort!, dachte Sigi. Sie hatte es von Thomas, und es hieß nichts anderes, als dass man anhand männlichen Trink- und Balzverhaltens jeden der Kerle sofort in die richtige Schublade stecken konnte.

Da gab es zum Beispiel jene, die sie ganz gezielt ansprachen und denen es egal war, was sie bestellten. Meistens das Billigste, O-Saft vielleicht. Ein Schluck Orangensaft, und schon war man beim Thema. Was so ein schönes Mädchen in dieser tristen Umgebung zu suchen habe, wann das schöne Mädchen nach Hause gehe, ob das schöne Mädchen befreundet sei und ob man nicht mal ein Gläschen mit dem schönen Mädchen trinken könne. Natürlich keinen O-Saft, haha.

Das waren die Typen, die einen in eine schäbige Pilskneipe schleppten und so taten, als sei es die Pianobar im »Hilton«. Die ihre Hände nicht bei sich behalten konnten. Und blöde Zicke sagten, wenn man ihnen die Hände leer zurückgab.

Die Männer der zweiten Schublade wollten tatsächlich gesund leben, gelangten aber bei Sigis Anblick zu der Erkenntnis, dass auch ein gehobener Adrenalinspiegel gesundheitsfördernd war. Die kriegten plötzlich den totalen Kickdown, sie lehnten sich vertraulich an die Theke, dehnten ihren Brustkorb, wohl in der Hoffnung, dass Sigi es ihnen gleichtue, und luden sie zum Abendessen ein. Das Ziel: ein anschließendes Frühstück.

Die Männer der dritten Schublade registrierten Sigis hinreißendes Aussehen wohlwollend und schweigend, gaben großzügige Trinkgelder und gingen ihrer Wege. Eine angenehme Spezies.

Und dann gab es noch die vierte Kategorie. Die Männer mit Köpfchen und Stil. Anzug, Krawatte, Aktenkoffer, Handy, gutes Rasierwasser. Sie verkehrten wiederum nur mit Leuten mit Köpfchen und lebten unter dem Glassturz der sozial Abgesicherten. Dachten, ihre Welt sei im Grunde auch die Welt der anderen. Zwar lasen sie in ihren superklugen Zeitungen von Arbeitslosigkeit, Armut, Raub und Mord, aber sie kapierten nicht, was sie lasen. Denn richtig kapieren konnte man nur, was man selbst oder in seinem Umkreis erlebte und mitempfand. Arbeitslosigkeit zum Beispiel. Sigi kam aus einer Kleinstadt und hatte mit zwanzig Jahren ihren Job als Textilverkäuferin verloren. In einem Pleiteladen. Sie ging nach München und jobbte als Bedienung. Der Wirt kam ihr zu nahe – sie musste gehen. Dann die Fabrik: Feinlöterin. Sie verliebte sich in einen Kerl, der in der Versandabteilung Kartons füllte und Gabelstapler fuhr. Stephan. Nach einigen Wochen stellte sie fest, dass er außer einem knackigen Hintern und einem hübschen Gesicht nichts zu bieten hatte. Ein Stammtischhengst, der alles nachplapperte, was die »Blöd-Zeitung« schrieb. Ein Typ ohne Ehrgeiz, ohne Interessen (Fußball mal ausgenommen), stolz auf seine schlechten Manieren, die er für urig-bayrisch hielt. Im Bett ein Stellungsakrobat, mehr nicht. Als sie ihn zum Teufel jagte – in der Mittagspause –, wurde er handgreiflich. Sie knallte ihm ihr Essenstablett auf den Kopf. Hätte sie abwarten sollen, bis er ihr den Kiefer brach? Ihre Schlagkraft hatte einen Ruf ins Personalbüro zur Folge, wo man ihr die Papiere aushändigte. Ihm nicht, er hatte ja kein Firmeneigentum beschädigt.

Jetzt galt sie auf dem Arbeitsamt als rabiat. Wieder jobbte sie. An der Rezeption eines Fitnessclubs. Bis sie darauf kam, dass dieser Club nicht Muskeln, sondern Schwellkörper aufbaute. Sie besuchte einen PC-Kurs, stinklangweilig. Sie las die Anzeige einer Agentur, die Models für ein Versandhaus anwarb, aber sie wurde nicht genommen, weil es ihr an Berufserfahrung mangelte und ihr Busen zu groß war. Und dann erhielt sie die Stellung im Kaufhaus Wertheimer. Mies bezahlt, aber besser als gar nichts. Tja … sie wusste, wie hart das Leben mit einem umsprang. Die Männer der vierten Schublade wussten nur, ob der DAX wieder ein paar Punkte gestiegen war, wie es auf den Datenautobahnen zuging, welche Premiere gerade verrissen worden war und dass im Jahr 2007 jede Saftverkäuferin ein Display besitzen würde, auf das der Saftkäufer drei Euro zwanzig elektronisch überweisen konnte – mittels eigenem City-PC.

Genau das machte diese Männer für Sigi so reizvoll. Guter Stall, Intelligenzquotient hoch, emotionaler Quotient unterentwickelt. Und erschreckend naiv, wenn es um Frauen ging. Was wiederum mit den Müttern dieser Männer zusammenhing. Die hatten den kleinen Liebling beschützt und bewahrt und in seinem Kopf ein Frauenbild geschaffen, das dem der heiligen Maria gleichkam. Solche Männer hofften, später auch so eine Mutterfrau zu ergattern, die ihnen ein Leben lang wohlgesonnen war und sie unbehelligt mit ihren diversen technischen und kulturellen Spielsachen spielen ließ. Wenn sie dann auf eine Frau wie Sigi stießen, sprengten ihre Hormone schnell ihre geistig-elitären Grenzen – vielleicht hätten diese Söhne auch mal mit ihren Vätern reden sollen. Die Triebe überwucherten wie kleine, borstige Killeralgen den Intellekt. Ein junges, schwellendes Weib, das bezaubernd lächelte und mit einer angenehm weichen Stimme herzerfrischend natürliche und weltkluge Sachen von sich gab, wirkte wie ein Aphrodisiakum. Und dann das Pygmalionsyndrom, das diesen Männern eigen war. Auf eine moderne Eliza Doolittle zu stoßen, sie zu formen und neu zu erfinden, sich ihrer geistigen Abhängigkeit sicher zu sein und in ihrer sinnlichen Natürlichkeit zu ertrinken – welche Wonne!

Thomas Keller, das ahnte Sigi, war so ein Mann. Deshalb hatte sie ihm absichtlich ein Glas Mangosaft über den Anzugärmel geschüttet – Mangoflecken waren hartnäckig.

Sie machte kein großes Aufhebens, sparte sich auch einen hysterischen Ausbruch, schrieb lediglich ihre Adresse auf einen Notizzettel und bat Thomas, ihr die Rechnung für die Reinigung zu schicken. Sie werde den Betrag dann auf sein Konto überweisen.

»Sechs Euro fünfzig?«, sagte Thomas.

»Oder Sie kommen wieder vorbei. Dann – cash in die Hand.«

»Oder Sie gehen mit mir essen.«

»Als Bestrafung?«

Thomas lachte. Dieses Lachen war es gewesen, das sie in ihrer positiven Einschätzung bekräftigt hatte. Er lachte mit den Augen, das taten die wenigsten Menschen. Die meisten rissen nur den Mund auf und malträtierten ihre Stimmbänder.

Ja, dann gingen sie also essen. Thomas erzählte, dass er Lektor sei. Später erfuhr sie, dass er sogar Cheflektor war, dass Bücher immer schon seine Leidenschaft gewesen waren, dass er in einem kleinen Verlag arbeitete und eine Eigentumswohnung in Nymphenburg besaß. Sie fragte ihn geradeheraus, warum er mit einer kleinen Saftverkäuferin zum Essen gehe.

So klein sei sie gar nicht, antwortete Thomas und umfing sie und ihr Dekolletee mit einem anerkennenden Blick. In diesem Moment erschien er ihr ein bisschen farbloser, es berührte sie sonderbar, ein kleiner Stich, und da wusste sie, dass sie sich verliebt hatte. Sie sagte ihm, jetzt sei es wohl er, der klein sei, schade. Er wurde verlegen.

Sie nahm ihn mit in ihr Appartement. Sie war stolz auf ihre Wohnung, die keinen Klischees entsprach. Ein paar bäuerliche Möbel, ein schlichter Teppich, weiße Wände, Kunstdrucke, darunter Picassos »Mädchen mit Taube«, dezent beleuchtet.

»Dein wahres Ich?«, fragte Thomas und zeigte auf das Bild. Sigi meinte, es gebe kein wahres Ich. Weil sie morgen vielleicht schon wieder eine andere sei. Und in zehn Jahren sowieso.

Thomas lachte. Wo sie das gelesen habe?

Sie sei durchaus in der Lage, selbst zu denken, sagte Sigi. Sie müsse sich nicht immer alles anlesen. Ein Lektor schon, oder wie?

Sie ging an diesem Abend nicht mit ihm ins Bett. Sie wollte die Beziehung auf eine andere Basis stellen, aber es gelang ihr auf Dauer nicht. Thomas nahm sie nicht wirklich ernst. Er war sehr leidenschaftlich, ein besserer Liebhaber als Stephan, doch seine Distanz war nicht gespielt wie die ihre, sie war echt. Sie erkannte, dass er hochmütig war und im Grunde Probleme mit Frauen hatte.

»Denkst du auch mal an jemand anderen als an dich?« Auch solche Bemerkungen nahm Thomas nicht ernst. Sie amüsierten ihn, ja, er gab ihr sogar zu verstehen, dass sie unter all den geistig eher schlichten Geschöpfen, die er während der letzten Jahre konsumiert hatte, das intelligenteste war. Aber nie sprach er von Vergangenheit oder Zukunft. Er hatte eine Art, sie aus seinem Leben hinauszukomplimentieren, die verletzend war und nur durch seinen Charme gemildert wurde.

»Wenn ich dich mal sitzen lasse, an was erinnerst du dich dann später, wenn du alt bist?«, fragte Sigi.

»An unsere Lust«, sagte er.

»An Lust kann man sich nicht erinnern. Man hat nur Bilder im Kopf, die zur Lust geführt haben … Und an was sonst?«

Sonst an nichts. Das sah sie seinem Gesicht an.

Von einigen Autoren sprach er voller Hochachtung. Manchmal, wenn Sigi neben ihm lag und sein Atmen hörte, malte sie sich aus, eine berühmte Schriftstellerin zu sein. Da scharwenzelte er in ihrer Vorstellung eilfertig um sie herum, hing an ihren Lippen, ging mit ihr in die edelsten Lokale, überschüttete sie mit Komplimenten. Autorin. Schriftstellerin. Wie wurde man das?

Sie schrieb einen Aufsatz, wie damals in der Schule:

Ein Mensch, der mir viel bedeutet

Er heißt Thomas Keller. Er ist vierzik Jahre alt, einsachtziggros, schlank und hat grüne Augen. Er hat was mid Büchern zu tun. Er liebt mich nicht, er liebt nur meine Titten Brüste. Er mag, wen ich herumblödle. Aber er mag nicht, wen ich ziirtlich bin. Zu viel Ziirtlichkeit macht imbotent, sagt er …

Sie schrieb ihren Aufsatz nicht zu Ende, weil er sie traurig machte und nicht frei, wie es in einer Talkshow im Fernsehen geheißen hatte. Es war sicherlich etwas anderes, über sich selbst zu schreiben als über Menschen, die man sich ausdachte. Denen konnte man in den Mund legen, was man wollte, man konnte sie mit den herrlichsten Eigenschaften ausstatten. Und man konnte auch machen, dass sie nicht impotent wurden, wenn man zärtlich zu ihnen war.

»Was macht eigentlich ein Lektor?«

Er erklärte ihr, dass er Manuskripte begutachte und überarbeite.

»Und woran merkst du, dass es ein gutes Buch ist und du viel Kohle mit ihm machen kannst?«

»Die Frage ist in sich falsch. Mit einem wirklich guten Buch machst du wenig Kohle – Ausnahmen bestätigen die Regel.«

»Du prüfst also, ob das Buch schlecht genug ist, damit man mit ihm Kohle machen kann?«

»Nicht ich. Anna Meissner macht das. Die Lektorin für Unterhaltendes, Ratgeber und Esoterik.«

»Diese Anna bringt die Kohle rein?«

»Nicht so viel, wie der Konzern gerne hätte.«

»Weil die guten schlechten Schriftsteller bei anderen Verlagen sind?«

Thomas grinste. »Du sagst es, mein Engel.« Er zog sie an sich.

Aber Sigi gab sich noch nicht zufrieden. »Nenn mir einen solchen schlechten deutschen Autor!«

»Darf’s auch eine Autorin sein?«

»Macho!«

»Realist. Momentan haben nur Frauen eine Chance, mit schlechten Büchern Kohle zu machen. Dabei ist der Inhalt des Buches ziemlich einerlei, der Titel ist ausschlaggebend. Und der Klappentext. ›Fetzig freche Frauenkomödie‹ zum Beispiel.«

»Was ist ein guter Titel?«

»Wenn die Frauen sich mit ihm identifizieren können.«

»Hm?«

»Traumhaft schöne Superfrauen, die sich einen impotenten Mann zur Ehe wünschen.«

»Spinnst du? Eine Traumfrau wünscht sich keine Niete. Sie wünscht sich einen Supermann.« Sigi lachte. »Wenn Frauen so was schreiben, schreiben sie’s nicht für die Frauen, sondern für die Männer.«

»Vielleicht sind die neuen, frechen Frauen gar nicht so modern? Vielleicht gibt es die neue Frau überhaupt nicht? Vielleicht gibt es nur eine neue Sprache für alte Klischees?«

Sigi schwieg. Sie war keine neue Frau – nur eine hundertprozentige.

»Sag’s mir!«, meinte Thomas aggressiv.

»Ich weiß nicht«, antwortete Sigi. »Etwas Neues kann nur aus etwas Altem entstehen. Es ist also nichts Neues, sondern etwas Verändertes. Und bloß frech sein muss nicht heißen, dass ich was dazugelernt habe.«

Thomas blickte sie mit einer Art Erstaunen an.

»Na ja … Wenn ich stinknormalen faden Sirup nehme, ihn ›Sweet Surprise‹ nenne und in einem giftgrünen Designerglas anbiete, bleibt es trotzdem, was es immer war: langweiliger Sirup.«

»Bist ein kluges Mädchen«, sagte Thomas und griff nach ihr. »Wie wär’s mit einer ›Sweet Surprise‹ von mir … für dich?«

»Bist du schwanger?«

»Zumindest nicht impotent.«

In der Buchabteilung des Kaufhauses Wertheimer gewöhnte Sigi sich an, Romane und Sachbücher durchzublättern, um sich die Inhalte einzuprägen. Sie befürchtete nämlich, dass ihre Zeit mit Thomas bemessen sein könnte, weshalb es ihr sehr schnell gelingen musste, ihn davon zu überzeugen, dass sie gesellschaftlichen Anforderungen gewachsen war. Diese hatten im Falle Thomas’ zwangsläufig etwas mit Büchern zu tun, also traf man Sigi immer häufiger in der Buchabteilung.

Die Chance, Thomas eine erste Kostprobe ihres Bildungsdrangs zukommen zu lassen, bot sich, als sie ihn zufällig mit einem Autor namens Holger Hufnagel telefonieren hörte. Die beiden verabredeten sich zu einem Abendessen in einem neu eröffneten Tessiner Restaurant, »Locarno« hieß es. Thomas sagte daraufhin, dass er am Dienstagabend eine berufliche Verpflichtung habe.

Das sei kein Problem, meinte Sigi, sie selbst habe auch eine Verabredung.

Sie bereitete ihren Auftritt sorgfältig vor. In der Konfektionsabteilung des Kaufhauses erstand sie mit Personalrabatt einen schlichten schwarzen Hosenanzug, dessen einziges Raffinement ein tiefes Dekolletee war. Als Schmuck trug sie kleine Perlenclips. Sie leistete sich einen Besuch bei Luigi, ihrem Friseur, und sie überredete den bestaussehenden Verkäufer der Herrenabteilung, Franz Faltermeier, sie ins »Locarno« zu begleiten. Er erhielt genaue Instruktionen, wie er sich zu verhalten habe.

Als sie das Lokal betraten, führte der Ober sie zu einem Fenstertisch. Aus den Augenwinkeln bemerkte Sigi, dass Thomas mit einem jungen Mann an einem Tisch in der Mitte des Raumes saß und sich angeregt unterhielt. Sie und Franz nahmen Platz. Ein Ober legte ihnen die Speisekarte vor, was Franz, mit Blick auf die Preise, in eine mittelschwere Panik stürzte. Sigi bedeutete dem Ober, dass es noch etwas dauern würde, bis sie sich entschieden hätten, er solle inzwischen zwei Gläser Prosecco als Aperitif servieren. Der Ober entfernte sich, und Sigi nickte Franz aufmunternd zu. Der nahm Sigis Hand und drückte sie innig. Sigi lachte ein glockenreines Lachen und schielte nach Thomas: Er hatte sie entdeckt. Sie entzog Franz die Hand und nickte ihm abermals aufmunternd zu. Da holte Franz ein Handy aus der Tasche, wandte sich diskret in Richtung Fenster, tippte ein paar Ziffern ein und tat, als telefoniere er.

»Aber ich bin gerade beim Essen«, sagte er weithin vernehmlich. »Also gut«, meinte er dann ebenso laut und runzelte verärgert die Stirn. Der Prosecco wurde serviert. Sigi und Franz prosteten sich zu. Franz steckte sein Handy ein. »Tut mir so leid, Sigi. Ich muss noch mal weg. Direktor Spengler braucht noch ein paar Daten von mir«, sagte er und erhob sich.

In diesem Moment begegnete Sigis Blick dem von Thomas. Die Überraschung war groß, auf beiden Seiten. Franz brachte Sigi mit dankbarem Lächeln an Thomas’ Tisch. Er sei ja so erleichtert, Frau Stenzl nicht allein hier zurücklassen zu müssen.

Während dann die Vorspeisen serviert wurden, stellte sich heraus, dass Kellers Begleiter ein junger Sachbuchautor war, der ein Buch über den Generationenkonflikt geschrieben hatte. Das Buch sollte im nächsten Frühjahr erscheinen und gipfelte in der revolutionären Forderung, dass man Menschen, die das fünfundsechzigste Lebensjahr erreicht haben, verschiedene medizinische Betreuungen und Verordnungen vorenthalten soll. »Jagd auf die Alten« lautete der Titel. Weil das Thema so brisant war, hatte sich Thomas anstelle von Anna des Projektes angenommen, was im Vorfeld zu einigen gereizten Diskussionen geführt hatte. Doch nachdem Anna sich näher mit dem Inhalt des Buches befasst hatte, hatte sie es Thomas gern überlassen.

Man erwarte noch eine Journalistin der Zeitschrift »Die moderne Frau«, sagte Thomas, der sich in Sigis Gegenwart sichtlich unwohl fühlte. Diese Dame wolle den jungen Autor interviewen und in ihrer Kolumne darüber berichten. »Haben Sie sich auch schon mit Gerontozid befasst?«, fragte, an Sigi gewandt, Holger Hufnagel.

»Nicht so genau«, sagte Sigi, die fand, dass das Wort irgendwie nach Insektenvernichtungsmittel klang. Sie lächelte den Autor strahlend an. »Erzählen Sie!«

Er dozierte, das Wort Gerontologie sei zwar in jedem Lexikon angeführt, dass Wort Gerontozid jedoch nicht. Es bedeute im Grunde die Tötung alter Lebewesen zur Lösung eines gewissen Ungleichgewichts in der Bevölkerungsentwicklung.

»Im Jansen-Verlag ist ein Buch erschienen, das sich mit Schädlingsbekämpfung befasst«, sagte Sigi ernst.

Thomas räusperte sich. »Was Herr Hufnagel meint«, sagte er, »ist, dass es immer mehr alte Menschen geben wird, die von jungen Menschen erhalten werden müssen. Und dass das auf Dauer nicht hingenommen werden kann.«

Sigi vergaß ihre guten Vorsätze und starrte Holger Hufnagel an. »Sie meinen, man soll alte Menschen killen, damit sich alles wieder ausgleicht?«

Holger Hufnagel strich sich ein wenig Butter auf ein Stückchen Weißbrot und lächelte. »Nicht … killen. Nur ab einem gewissen Alter nicht mehr mit allen medizinischen Leistungen überschütten.«

Thomas mischte sich wieder ein. »Äh … Sigi. Wenn du dich langweilst … ich meine …«

Sigi lächelte ihn herzlich an. »Aber nein, Lieber. Das Thema interessiert mich.« Sie wandte sich wieder an Hufnagel. »Also bei Herzinfarkt keine Intensivabteilung mehr? Und bei Nierenversagen nicht mehr dieser Apparat, der alles wieder in Schwung bringt?«

»Dialyse«, sagte Hufnagel herablassend.

»Meine Oma ist achtzig«, meinte Sigi. »Sie ist klapprig und muss jeden Tag zehn verschiedene Pillen schlucken. Aber sie guckt immer noch politische Sendungen im Fernsehen an, sie liest die Zeitung, und sie ist die Einzige in der Familie, die einen Christstollen backen kann. Sie passt auch auf die Kinder meiner Schwester auf, und wenn Mucki, der Aidskranke, der einen Stock tiefer wohnt, nicht auf die Beine kommt, holt sie den Arzt und kocht Mucki Fleischsuppe. Und so was wollen Sie abmurksen?« In diesem Moment trat eine Frau an den Tisch.

Thomas machte bekannt: »Henriette Fassbender, Kolumnistin der ›Modernen Frau‹, Frau Stenzl, Herr Hufnagel.« Sigi sah zu Henriette auf. Sie war immer noch fassungslos. »Der schreibt ein Buch, das heißt ›Jagd auf die Alten‹«, sagte sie zu Henriette. Und als ihr klar wurde, dass Henriette zur potenziellen Beute des Jägers Hufnagel gehörte, meinte sie empört: »Der tickt doch nicht mehr richtig, oder?«

Henriette

Henriette spürte das Wetter in allen Knochen, als sie sich zu Thomas, Sigi und Holger Hufnagel an den Tisch setzte. Nur ihre Wut war es, die sie ihre Mattigkeit vergessen ließ. Sie bestellte sich ein Glas Rotwein und holte Block nebst Kugelschreiber aus der Handtasche, während die drei anderen ihren Fisch entgräteten. Holger Hufnagel träufelte Zitronensaft über seine Seezunge, ein Lächeln spielte um seinen Mund, um anzudeuten, dass er um Henriettes Pfeile im Köcher wusste und dass er gewappnet war. »Um auf Ihre Frage zurückzukommen, meine Liebe: Ich finde auch, dass Herrn Hufnagels Thesen einigermaßen … gewagt sind«, sagte Henriette zu Sigi. Dann lächelte sie den Autor überaus freundlich an. Mein Jüngelchen, dachte sie, wenn ich mit dir fertig bin, taugst du gerade noch zum Klatschkolumnisten beim »Bunten Blatt«. Wenn überhaupt, bei dem saumäßigen Stil, in dem du schreibst.

»Sie sind also dafür, Reservate zu schaffen, in denen man alle Menschen über siebzig hält wie Affen im Zoo? Aufbewahrt, gefüttert und entmündigt?«

Hufnagel lächelte immer noch. Thomas mischte sich ein. »Natürlich ist es ein Reizthema.«

»Genau. Ein reizendes Thema. Besonders in meiner … hinfälligen Lage.«

»Die Alten konsumieren und überwintern auf Teneriffa, während die Jungen immer höher besteuert und abgezockt werden. Von einem Urlaub auf Teneriffa können die meisten doch nur träumen«, sagte Holger Hufnagel.

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