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David Lama

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Beschreibung

David Lama bezwingt den mythischen Berg – »Eine Sensation.« Spiegel.de

„You haven’t got a snowball’s chance in hell“ – Du hast nicht den Hauch einer Chance, sagte Kletterlegende Jim Bridwell, als er von David Lamas Plan erfuhr. Doch nichts konnte für den damals 19-jährigen Tiroler reizvoller sein, als etwas scheinbar Unmögliches zu schaffen. Spannend und brutal ehrlich erzählt David Lama, was er in den drei Wintern am legendären Gipfel Patagoniens erlebt hat. Wie seine hochfliegenden Träume von der Realität einer international geführten Debatte um „Show“ und Regeln des modernen Alpinismus eingeholt wurden. Und wie ihm und seinem Kletterpartner am Ende gegen alle Zweifel die erste freie Besteigung des Cerro Torre gelang.

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David Lama

Christian Seiler

FREE

Der Cerro Torre, das Unmögliche und ich

Knaus

Christian Seiler, Jahrgang 1961, lebt als Autor und Journalist in Wien. Mit David Lama schrieb er bereits dessen erstes Buch »High«, weitere Bücher verfasste er mit Philipp Lahm, Toni Innauer und über André Heller.Alle Bilder mit freundlicher Genehmigung © Red Bull Content Pool.Karte: Eckehard Radehose.

2. Auflage

Copyright © der Originalausgabe 2013

beim Albrecht Knaus Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Redaktion: Hans Fleißner

Gesetzt aus der Minion von Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-05744-2www.knaus-verlag.de

»You haven’t got a snowball’s chance in hell.«

Jim Bridwell»Die Entwicklung des Bergsteigens war, ist und bleibt, Grenzen zu verschieben: Was vor zehn Jahren unmöglich war, kann möglich werden. David Lama hat den Cerro Torre 2012 frei geklettert – ich hätte das vor zehn Jahren noch für unmöglich gehalten.«

Reinhold Messner

Inhalt

Das Vorhaben

1

2

3

4

5

Der erste patagonische Sommer, November 2009 bis Januar 2010

6

7

8

9

10

Die Kontroverse um die Regeln der Kunst

11

12

13

14

15

16

Der zweite Versuch, Januar/Februar 2011

17

18

19

20

21

22

Vom Sportkletterer zum Alpinisten

23

24

25

26

27

Die dritte Saison in Patagonien, Januar 2012

28

29

30

31

32

33

34

35

Dank

BILDTEIL

Karte: Eckehard Radehose

Das Vorhaben

»Es heißt, dass es unmöglich ist, den Cerro Torre über die Südostkante und die Kompressorroute frei zu begehen, und irgendwie ist für mich damit das Projekt bereits definiert.«

1

Manchmal ereignen sich die wirklich wichtigen Dinge im Schlaf. Ich sitze in El Chaltén auf einem Campingstuhl und halte ein Nickerchen. Den Stuhl haben Peter und ich auf der Baustelle gegenüber gefunden, als wir uns das Plätzchen vor unserem Container ein bisschen gemütlich herrichten wollten. Der Stuhl ist super, er hat sogar eine Halterung für ein Getränk. Dazu haben wir eine Bank aus Brettern gebastelt, auf der liegt Peter jetzt in seinem dünnen Schlafsack und gönnt sich ebenfalls einen Mittagsschlaf.

Ich erwache, als ich Dirnis Stimme höre.

Dirni sagt: »David.«

Ich schlage die Augen auf und schaue durch meine Sonnenbrille ins Objektiv einer Kamera. Neben der Kamera ein Gesicht, eckig wie die Kamera, aber umgeben von blond glänzenden Barocklocken. Das ist Dirni, der Regisseur des Filmteams, das unser Projekt dokumentiert. In seinen Augen flackert es.

»Hmm?«, frage ich.

»Wir müssen euch leider aufwecken«, sagt Dirni.

»Weil?«

»Wir haben eine ziemlich neue Information für euch«, sagt Dirni.

Interessant. Ich setze mich auf und höre am Knurren neben mir, dass Peter Ortner, mein Kletterpartner und Freund, ebenfalls aufgewacht ist.

Dirni sagt: »Eine kanadisch-amerikanische Seilschaft ist vom Berg gekommen, die gestern die Kompressorroute ohne die Haken von Maestri geklettert ist. Beim Runterklettern haben sie alle Haken aus der Headwall und auch ein paar Seillängen drunter rausgeschlagen.«

Das ist jetzt aber wirklich eine Nachricht, auch wenn ich nicht verstehe, warum Dirni sich so darüber aufregt. Zur Sicherheit sage ich also: »Ist mir egal«, und Peter neben mir nickt, ihm ist es also auch egal, obwohl ich bezweifle, dass er zu diesem Zeitpunkt genau weiß, was ihm gerade egal ist.

»Warum machen die das?«, fragt Dirni.

»Weil sie meinen, dass sie’s machen müssen«, sage ich, schäle mich aus meinem Schlafsack und stehe auf. »So wie ich halt meine, dass ich die Kompressorroute frei klettern muss.«

Dirni hält die ganze Zeit mit seiner Kamera auf mich. Ihm ist klar, dass sich gerade ein historischer Moment unserer Expedition auf den Cerro Torre ereignet, und er will keine Entgleisung in meinem Gesicht verpassen. Aber mein Gesicht entgleist nicht. Ich denke nichts, außer: Wenn die Bohrhaken nicht mehr in der Headwall sind, dann werden wir uns eben anders zu helfen wissen.

Die Geschichte der aus der Wand geschlagenen Bohrhaken ist der letzte Puzzlestein in der großen Historie des Cerro Torre, der mythenumwobenen Granitnadel im Süden Patagoniens, der wir gerade ein neues Kapitel hinzufügen wollen. Der Berg galt lange als unbezwingbar, bis der Italiener Cesare Maestri ihn mit seinem Bergkameraden Toni Egger im Jahr 1959 bestieg – oder, besser gesagt, zu besteigen vorgab. Denn Maestri kehrte von der vermeintlichen Erstbesteigung allein zurück, Toni Egger war abgestürzt, und mit ihm das Gipfelfoto, das sich in Eggers Rucksack befunden haben soll.

Als zusehends Zweifel an Maestris Geschichte aufkamen, entschloss sich dieser, den Berg erneut zu besteigen. 1970 rückte er mit schwerem Gerät an und bohrte sich mit Hilfe eines hundert Kilo schweren Kompressors eine Leiter aus hunderten Bohrhaken bis zum höchsten Punkt der Felswand unterhalb des Gipfel-Eispilzes. Den Eispilz, der wie ein blauweißer Pfropfen auf der Felsnadel sitzt, bewertete Maestri nicht mehr als Teil des Berges, er sei schließlich nur eine temporäre Verkleidung des Gipfels. Maestri hatte das Gefühl, es allen Zweiflern damit gezeigt zu haben.

Ich würde sagen: Er hat sein Ziel aus den Augen verloren und den Gipfel auf sehr eigenwillige Weise erreicht – und seine Spuren sowohl in der Alpingeschichte hinterlassen, in der er jetzt tatsächlich als erster Alpinist geführt wird, der sich die Gipfelwand, die Headwall des Cerro Torre, hinaufgearbeitet hat, als auch am Cerro Torre selbst: Der monumentale Kompressor, der Maestris Bohrmaschine betrieb, hängt auch 43 Jahre später noch immer in der Headwall – ich bin selbst schon darauf gestanden. Die über 350 Bohrhaken, die Maestri in den Granit schlug, stecken nicht nur die schnurgerade nach oben führende »Maestri-Route« ab. Sie nützen auch allen Alpinisten, die diese Route gehen, weil man sich ohne weiteres an ihnen sichern und hochziehen kann.

Maestris Vorgehen hat zu Diskussionen geführt, die seit mehr als vierzig Jahren andauern. Man ist sich unter Alpinisten ziemlich einig darüber, dass sein Vorgehen inakzeptabel war. Viele sprechen davon, dass er mit seinen Bohrhaken den Berg »entweiht« hat.

Aber die Nachricht, die uns gerade erreicht, sagt uns, dass diese Haken ab sofort nicht mehr da sind. Zwei Alpinisten, der Kanadier Jason Kruk und der Amerikaner Hayden Kennedy, haben sie aus der Wand geschlagen. Sie wollten den Cerro Torre von den »Fehlern der Vergangenheit« säubern und den Berg in einen Zustand versetzen, wie er vor der »Vergewaltigung« durch Maestri gewesen war.

Dirni hat offenbar das Gefühl, dass sich dadurch etwas an unserem Plan ändern könnte. Dieser Plan besteht darin, etwas zu vollenden, was von den meisten für unmöglich gehalten wird: Ich möchte den Cerro Torre im freien Kletterstil besteigen. Das heißt: Ich möchte einen Berg, dessen Besteigung bereits unter Verwendung aller technischen Hilfsmittel eine enorme Herausforderung ist, ohne jedes Hilfsmittel klettern. Nur mit der Kraft meiner Hände und Füße. Mit meiner ganzen alpinistischen Fantasie. Meiner Klettertechnik, die ich in vielen Jahren als erfolgreicher Wettkampfkletterer erworben habe.

Haken, Karabiner und Seil brauche ich nur, um mich abzusichern. Für diese Absicherung haben Maestris Bohrhaken in der Gipfelwand eine gewisse Rolle gespielt. Ich hatte vorgehabt, einige von ihnen im letzten Abschnitt meiner freien Begehung auf den Gipfel zu verwenden, aber jetzt sind sie nicht mehr da.

Der freie Kletterstil – wir Alpinisten sagen: frei klettern – ist meine bevorzugte Methode, einen Berg zu besteigen. Es ist eine Technik, den Berg mit seinen natürlichen Strukturen, seinen Rissen, Schuppen und Felsformationen als Herausforderung zu begreifen und ihn nur mit der Kraft und Geschicklichkeit der eigenen Arme und Beine zu besteigen. Selbst in den schwersten Passagen einer Wand darf man keinen Haken zu Hilfe nehmen, um sich daran hochzuziehen und die Passage auf diese Weise zu überwinden. Das Seil und die notwendigen Haken dienen nur dazu, um sich so abzusichern, dass ein möglicher Sturz nicht unweigerlich tödlich endet.

Ich bin bereits eine Reihe von schwierigen Wänden frei geklettert. Aber kein Projekt war annähernd so herausfordernd wie der Cerro Torre. Die Wände am Torre sind von einer ganz anderen Dimension als zu Hause in den Alpen. Zu den klettertechnischen Schwierigkeiten kommen jene des Wetters, der Bedingungen am Berg und der für mich anfangs noch völlig unbekannten Dimensionen. Nur an wenigen Tagen im patagonischen Sommer findet man überhaupt Voraussetzungen vor, um den Cerro Torre zu besteigen. Meist herrschen Sturm, Nebel, Schneefall, Kälte. Bedingungen, unter denen es völlig unmöglich ist, zu klettern, geschweige denn frei.

Aber auch das schöne Wetter hat seine Tücken. Der Cerro Torre ist die meiste Zeit von einem oft meterdicken Eispanzer überzogen, der sich bei Sonneneinstrahlung vom Fels lösen und in die Tiefe stürzen kann. Oft sind diese Eisbrocken so groß wie Fußbälle oder sogar wie ein Kleiderschrank, so dass man sich besser nicht in ihrer Falllinie befindet.

Dazu das ständige Gefühl, sehr weit von jeder Hilfe entfernt zu sein. Wenn man auf dem Cerro Torre stürzt und sich dabei nur ein Bein bricht, wird es bereits sehr schwierig, wieder zurück ins Tal zu kommen. Du brauchst einen Partner, der sehr fit ist und dich tragen kann, oder viel Glück: Wenn der Partner nach El Chaltén rennen muss, um Hilfe zu holen, kommt diese vielleicht erst nach drei Tagen bei dir an. Falls das Wetter es dann überhaupt noch zulässt.

Mein Team und ich sind schon zum dritten Mal hier. Beim ersten Versuch vor zwei Jahren kamen mein damaliger Partner Daniel Steuerer und ich nicht einmal bis auf den Gipfel des Torre, an freies Klettern war gar nicht zu denken. Beim zweiten Versuch schafften Peter und ich den Gipfel in technischer Kletterei, und ich gewann bei der Besteigung den Eindruck, dass mein Plan tatsächlich aufgehen könnte. Bis dahin hatte ich selbst, um ehrlich zu sein, noch immer Zweifel, ob mein groß angekündigtes Vorhaben, den Cerro Torre frei klettern zu wollen, nicht an der einen oder anderen Stelle in einer Sackgasse im Granit enden würde – ganz sind diese Zweifel auch jetzt noch nicht ausgeräumt.

Aber gerade die vielen Unmöglichkeiten des Projekts reizen mich. Reinhold Messner, der den Cerro Torre nie bestiegen, aber ein Buch über ihn geschrieben hat, hielt mein Projekt schlicht für »unmöglich«. Der amerikanische Kletterpionier Jim Bridwell, dem 1979 die Erstbesteigung des Cerro Torre über den Südostgrat gelang, sagte in seiner etwas blumigen Sprache sogar: »You haven’t got a snowball’s chance in hell« – frei übersetzt: nicht den Hauch einer Chance.

Irgendwann hört Dirni auf zu filmen, und ich gehe im Kopf die Stellen in der Wand durch, die jetzt von Maestris Haken befreit sind. Peter und ich haben im Vorjahr eine ziemlich genaue Vorstellung unserer Linie für meinen Freikletter-Versuch gewonnen. Maestris Bohrhaken-Traverse wollen wir sowieso nicht benützen. Sie ist meiner Meinung nach einfach nicht frei kletterbar, wir müssen die Stelle umgehen, indem wir der Südostkante bis in die Iced Towers folgen. Dort sind noch alle Bohrhaken Maestris vorhanden, auch wenn wir sie nicht brauchen werden, wir sind also nur vom Fehlen der Haken in der Headwall betroffen. Aber unsere Route führt etwa zwanzig Meter unter dem Kompressor nach rechts, wir wollen auf einer großen Felsschuppe Stand machen und von da aus rechts der Bohrhaken bis ins Gipfelschneefeld nach oben klettern. Wir haben also für vielleicht dreieinhalb Seillängen das Problem, dass uns die Haken fehlen. Aber ich weiß, dass die Headwall zahlreiche Schuppen hat, wo wir uns mit Klemmkeilen und Friends sichern können. Ich weiß: Das Fehlen der Maestri-Haken wird unseren Versuch schwieriger und gefährlicher machen. Aber ihr Fehlen wird nicht über das Gelingen oder Scheitern meines Projekts entscheiden. Diese Einsicht fühlt sich erst einmal gut an. Wenigstens solange ich nicht zwanzig Meter über einer beschissenen Sicherung in der Headwall hänge.

Unser Lead Guide Markus Pucher hat Dirni aus dem Nipo Nino mit dem Satellitentelefon angerufen. Das Nipo Nino ist das Lager, um die Ostseite des Cerro Torre zu erreichen, eine windige, zugige Ecke, wo man in der Regel nur die nötigste Zeit vor oder nach einer Tour verbringt. Markus war bereits auf dem Weg zum Torre, um dort unseren Kameramann zu postieren, der meinen Freikletterversuch filmen sollte.

Aber diesmal, erzählt Markus, ist im Nipo Nino Party. Einige Amerikaner sind da, die mit Jason und Hayden feiern. Die beiden haben gerade ihre Tour auf den Torre geschafft und sind mit der sensationellen Nachricht zurückgekommen, dass sie beim Abseilen vom Gipfel mehr als 120 alte Haken der Maestri-Route herausgedreht oder abgeschlagen haben.

Auf der Website des »Alpinist« erscheint später ihre Erklärung dazu, in der die beiden das Entfernen der Haken mit dem Abriss der Berliner Mauer vergleichen.

»Die Geschichte«, formulieren sie, »bleibt nicht stehen.«

Ich bin mir nicht so sicher, was die Sache betrifft. Sie ist sehr kompliziert. Reinhold Messner hat in einem Aufsatz einmal die Verwendung von Bohrhaken als »Mord am Unmöglichen« bezeichnet. Das ist ein interessanter, philosophischer Ansatz, der sich auf das Vorgehen Cesare Maestris am Cerro Torre eins zu eins anwenden lässt. Maestri verschaffte sich mit technischen Mitteln die Möglichkeit, einen Berg zu bezwingen, der sonst für ihn zweifellos unmöglich gewesen wäre.

Der slowenische Alpinist Silvo Karo hat Messners grundsätzlicher Haltung eine interessante Perspektive hinzugefügt. Er sagte: Die Kompressorroute »ist der Zukunft gestohlen worden. Ohne all diese Bohrhaken wäre die Geschichte dieses herrlichen Berges ganz anders verlaufen. Ich bin davon überzeugt, dass es im Alpinismus wichtiger ist, wie man klettert, als was man klettert.«

Dieser Gedanke bewegt mich sehr. Was für uns unmöglich ist, muss noch lange nicht für die Generationen nach uns unmöglich sein. Wir selbst sind hier, um etwas zu vollenden, was man bisher für unmöglich hielt.

Ich bespreche die Sache kurz mit Peter. Wir sind uns einig, dass wir die Aktion nicht besonders lässig finden. Wie ich die Tatsache, dass die Maestri-Haken nicht mehr in der Headwall stecken, grundsätzlich finden soll und welche Auswirkungen diese Tatsache auf den Zustand des Cerro Torre hat, weiß ich noch nicht. Ich brauche manchmal ein bisschen Zeit, um so komplexe Ereignisse zu analysieren und mir meine Meinung zu bilden, und diese Zeit habe ich gerade nicht.

Sicher ist, dass unser Projekt noch ein bisschen schwerer geworden ist.

Wir ziehen uns in den Container zurück und kontrollieren einmal mehr die Wetterdaten. Die meteorologische Botschaft ist eindeutig: Wir erwarten ein Wetterfenster, das optimale Bedingungen für unser Projekt mit sich bringt – wenig Wind, kein Niederschlag. Wir bereiten uns also darauf vor, demnächst ins Nipo Nino aufzubrechen und unseren Versuch am Cerro Torre zu starten.

In El Chaltén ist die Story, dass Jason und Hayden die Maestri-Haken aus der Wand geschlagen haben, talk of the town, Tendenz: negativ. Jason und Hayden werden bei ihrer Rückkehr ins Dorf Erklärungsbedarf haben, denke ich mir, aber dann wird es auch schon Zeit, dass Peter und ich uns für unsere eigene Tour fertig machen.

Ich bin inzwischen so oft von El Chaltén aufgebrochen, um den Cerro Torre frei zu klettern, dass ich gar keinen Gedanken daran verschwende, ob heute tatsächlich der Tag sein soll, an dem alles, was ich mir ausgedacht habe, endlich Wirklichkeit wird. Zu unberechenbar ist dieser Berg, zu oft hat er mich bereits mit all seinen Wetterlaunen und spezifischen Gefahren zum Umkehren gezwungen.

Es ist der dritte patagonische Sommer, den ich hier verbringe, und ich kann mit Sicherheit eines sagen: Ich bin jetzt 21, aber sicher nicht mehr derselbe junge Mann, der ich war, als ich vor zwei Jahren zum ersten Mal mit meinem Projekt hier ankam.

Der Cerro Torre hat viel von mir verlangt. Er hat mich als Kletterer, als Alpinist und als Mensch verändert. Dieser ungeheuer schöne, majestätische Berg mit seinem Charisma und seinen Tücken hat mich dazu gebracht, über das Klettern reiflich nachzudenken und meine eigene Rolle im modernen Alpinismus genauso zu reflektieren wie den modernen Alpinismus selbst. Ich habe Demut gelernt und Geduld. Ich habe eine Vorstellung davon bekommen, welchen Stellenwert das Klettern für mich hat und dass es sich lohnt, für den richtigen Weg und das Recht auf das eigene Abenteuer zu kämpfen. Ich habe gelernt, so lange an der eigenen Position zu feilen, bis sie unverrückbar und richtig ist. Ich habe gelernt, dass alpinistische Erfolge nicht von ungefähr kommen und niemandem einfach zufallen.

Klettern ist eine permanente Reise zu dir selbst. Der Cerro Torre ist ein Ziel, das dir diese Tatsache immer wieder vor Augen führt, oft in den überraschendsten Momenten. Davon handelt dieses Buch.

2

Schon als Kind bin ich von den Bergbüchern meiner Eltern begeistert. Es sind Bücher über Nepal, das Land, aus dem mein Vater Rinzi kommt, in denen Berge abgebildet werden, deren Namen ich nicht aussprechen kann, die mich aber trotzdem faszinieren. Ich schaue mir die Wände an, wie sie hochziehen, und stelle mir vor, wie es wäre, sie zu durchsteigen. Schon damals sehe ich in der Struktur jedes Berges das, was Bergsteiger eine Linie nennen: den logischen Weg von unten hinauf auf den Gipfel.

Linien können sich stark unterscheiden. Manche sind leicht, manche schwer, manche sicher, manche gefährlich. Als ich die Bücher meiner Eltern durchblättere, kann ich diese Unterscheidung noch nicht treffen. Aber ich weiß, dass Linien Linien sind.

Der berühmte Tiroler Bergsteiger Peter Habeler sieht mich bei einem Sommercamp klettern, als ich fünf bin, und sagt meinen Eltern, dass ich talentiert bin. Meine Mutter Claudia bringt mich in der Klettergruppe von Reini Scherer unter, wo ich die Grundbegriffe des Sportkletterns lerne. In der Halle ist die Linie eine Frage der Farbe: Alle Griffe, die man benützen darf, um durch die Wand zu steigen, sind in der gleichen Farbe gehalten.

Beim Sportklettern geben die im Fels verankerten Bohrhaken den Verlauf der Route vor. Du hängst deine Expressschlingen in die Bohrhaken und dein Seil in die Expressschlingen und bist dadurch gut gesichert. Du kannst dich voll und ganz aufs Klettern konzentrieren.

Die Absicherung erlaubt dir, jede Passage so oft wie nötig zu probieren. Ein Sturz hat keine Konsequenzen, du fällst einfach ins Seil. Wie die Route eingerichtet wird, interessiert eigentlich niemanden. Manche Sportkletterer setzen die Haken, indem sie von unten nach oben klettern und die Haken in den Fels bohren. Die meisten seilen sich aber von oben ab und verrichten die Arbeit am Seil hängend, was einfacher und weniger anstrengend ist.

Ich erzähle das so ausführlich, weil es erstens beschreibt, wie ich als junger Sportkletterer in der Trainingsgruppe von Reini Scherer das Klettern am Fels kennengelernt habe. Zweitens aber gehören das selbstverständliche Setzen von Bohrhaken und das entsprechende Einrichten von Touren zu den großen Missverständnissen, die mich in mein erstes großes Abenteuer als Alpinist begleiten.

Als ich zum ersten Mal nach Patagonien reise, um den Cerro Torre frei zu klettern, denke ich nicht in erster Linie darüber nach, ob die Absicherung durch Bohrhaken ein großes Problem ist. Für mich bleibt die Kletterherausforderung schließlich die gleiche, egal ob ich Haken setze oder nicht. Was mir unmöglich scheint – und mich deshalb so reizt –, hat mit diesen Haken nichts zu tun.

Klar, ich überlege mir, dass es elegant und sauber ist, mit so wenig Haken wie möglich auszukommen. So viel Alpinist bin ich schon, dass ich das verstehe.

Im Normalfall ist Sportklettern ein total sicheres Unternehmen. Es geht auch nicht darum, dass es nicht sicher ist. Es geht darum, gut abgesichert so lange an die eigenen Grenzen zu gehen, bis man zuerst die einzelnen Stellen geschafft hat und am Ende die ganze Tour.

Im Alpinismus ist das anders. Die Unsicherheit ist ein bestimmender Faktor. Wetter. Ausgesetztheit. Beschaffenheit des Fels. Gefahren, die durch Eisschlag oder Lawinen drohen. Sehr allgemein gesprochen, geht es dem Alpinisten beim Klettern darum, Abenteuer zu erleben, die Probleme, denen er begegnet, auf individuelle Art zu lösen und dabei die Berge möglichst wenig zu belasten. Alpinisten hinterlassen auf ihren Touren, wenn möglich, keine Spuren.

Wenn der Sportkletterer also nicht weiter darüber nachdenkt, ob er für seine Tour einen Haken mehr oder weniger setzt, dann betrachtet der Alpinist das mit gemischten Gefühlen. Er bevorzugt temporäre Absicherungen wie Klemmkeile oder Friends, weil sie sich nach Gebrauch wieder entfernen lassen. Die Unversehrtheit des Berges ist ein Motiv, dem im Zweifelsfall sogar eine ähnliche Wichtigkeit beikommen kann wie der Sicherheit des Kletterers.

Schon bei meinen ersten schwierigen Touren im alpinen Gelände entscheide ich mich dafür, es mir nicht zu einfach zu machen. Das ist eher ein Ergebnis meines Instinkts als ein Resultat präziser, kletterphilosophischer Überlegungen. Als ich zum Beispiel mit meinem Freund Jorg Verhoeven, einem Wettkampfkletterer, mit dem ich auch gern in den Bergen unterwegs war, eine Erstbegehung an der Sagwand im Valsertal unternehme, beschließen wir, jeden Bohrhaken nur mit der Hand in den Fels zu bohren. Das ist echt Arbeit, saugt aus, kostet Kraft und Zeit. Aber wir haben trotzdem darauf verzichtet, einen Akkubohrer mitzunehmen. Es ist, auch ohne genau darüber nachgedacht zu haben, für mich befriedigender, meine Route ohne den Einsatz von zu viel Technik zu Ende zu bringen.

3

Das Paradebeispiel für Technik am Berg ist das, was Cesare Maestri 1970 am Cerro Torre unternahm. Oder um es in den Worten von Yvon Chouinard, dem amerikanischen Big-Wall-Kletterer und Gründer der Outdoor-Marke Patagonia, zu sagen: »Das vielleicht unerhörteste Beispiel für die egoistische alpinistische Bestimmungsphilosophie, die darauf abzielt, Berge um jeden Preis zu erobern, auch wenn dafür Haken, Seile und Kabel am Fels zurückgelassen werden. Das entwertet eine Route, indem sie für die zugänglich bleibt, die weder die Fähigkeiten noch die Nerven haben, sie in gutem Stil zu klettern.«

Die Geschichte Maestris beginnt lange vor dem Bohrhaken-Desaster. Maestri, Jahrgang 1929, galt in seiner Jugend als einer der besten Kletterer der Welt. Diesen Ruf verdankte er vor allem seinen Touren in den Dolomiten, für die er den Spitznamen Ragno delle Dolomiti, Spinne der Dolomiten, bekam.

1959 reiste Maestri, der bis dahin noch kaum im Ausland geklettert war, mit seinen Kletterfreunden Toni Egger und Cesarino Fava nach Argentinien. Das Ziel der Seilschaft war der Cerro Torre, das Ergebnis der Expedition mutmaßlich der größte Schmarren der Alpingeschichte.

Der Cerro Torre galt zu dieser Zeit als »unmöglicher Berg«. In der Abgeschiedenheit des südlichen Patagoniens gelegen, Teil des Chaltén-Massivs im Grenzgebiet zwischen Argentinien und Chile, steht der Cerro Torre etwas abseits der Fitz-Roy-Kette. Die 3128 Meter hohe Granitnadel war unberührt und unbestiegen. Der Osttiroler Kletterer Toni Egger sagte, dass die Wände des Cerro Torre aussehen »wie mit dem Käsemesser geschnitzt«.

Der französische Alpinist Lionel Terray, dem 1952 die Erstbesteigung des Fitz Roy gelang, sagte nach seiner Expedition, dass der Fitz Roy mit Sicherheit der schwierigste Berg der Welt sei – nur »der Cerro Torre, ein Nachbar des Cerro Fitz Roy, ist viel schwieriger zu besteigen als dieser«. Terrays Expeditionsarzt Marc-Antonin Azéma ging in seinem Urteil noch weiter: »Das Problem einer Besteigung gibt es am Cerro Torre nicht … Allein der Gedanke an einen Versuch wäre irre. Lächerlich …«

Die Expedition Lionel Terrays begründete mit ihrem kategorischen Urteil den Mythos des Cerro Torre. Auf den wunderbaren Berg zwischen argentinischer Pampa und chilenischem Inlandeis konzentrierten sich von da an die Wünsche und Hoffnungen der besten Bergsteiger der Welt. Was könnte reizvoller sein, als etwas Unmögliches zu schaffen?

Auch Maestri fühlte sich vom Cerro Torre magisch angezogen. Er konkurrierte Ende der fünfziger Jahre mit seinem italienischen Landsmann Walter Bonatti um den inoffiziellen Titel des besten Bergsteigers der Welt. Die »unmögliche« Tour auf den Cerro Torre kam ihm dafür gerade recht. Maestri sparte in seiner Ankündigung, den »unmöglichen« Berg klettern zu wollen, nicht mit martialischer Rhetorik.

»Für mich gibt es weder Bedenken noch Kompromisse«, trompetete er vor der Abreise nach Patagonien. »Entweder ich bezwinge diesen Berg, oder ich lasse mein Leben in seinen Wänden.«

Maestri wurde auf seiner Expedition von Toni Egger und dem Trientiner Cesarino Fava begleitet. Egger war ein brillanter Eiskletterer, Fava ein willensstarker Bergsteiger, der bei einer früheren Expedition schwere Erfrierungen an seinen Füßen davongetragen hatte, so dass der vordere Teil hatte amputiert werden müssen. Somit war klar, dass Fava die schwierigsten Passagen des Aufstiegs nicht würde mitmachen können.

Maestri, Egger und Fava wählten die Nordostseite als plausibelste Route für ihren Aufstieg auf den Gipfel des Cerro Torre. Sie kamen bei ihrem zweiten Versuch mit Hängen und Würgen bis zu einem dreieckigen Schneefeld etwa 300 Meter über dem Einstieg in die Wand. Gemäß der Version von Maestri passierte dann Folgendes: Er und Toni Egger seien von besagtem Schneefeld zügig weiter nach oben gestiegen und hätten – unter anderem über ein 300 Meter hohes, zwischen 20 Zentimeter und einem Meter dickes Eisfeld, das die Nordwand zur Gänze bedeckte – den Weg zum Gipfel in einem unglaublichen Tempo zurückgelegt. Cesarino Fava sei ins Base Camp abgestiegen, um dort auf die Kameraden zu warten.

Beim Abstieg, so Maestris Geschichte, sei man von schlechtem Wetter überrascht worden. Nahe dem dreieckigen Schneefeld wurde Toni Egger, der wohl die Fixseile für den Abstieg gesucht hatte, von einer Lawine erfasst und in die Tiefe gerissen. Mit ihm verschwand das Gipfelfoto, das auf dem Cerro Torre aufgenommen worden sein soll – fünf Wimpel im Wind, der über den Eispilz pfeift, ein italienischer, ein österreichischer, ein argentinischer, einer der Stadt Trient und das Banner der Società Alpinisti Tridentini. Der einzige Beweis für die Erstbesteigung des Cerro Torre. Erst sechs Tage später kehrte Maestri von seiner Tour zurück, erschöpft und fast erfroren fand ihn Fava am Fuß der Wand.

Maestris Geschichte schlug große Wellen. Die Erstbesteigung des Cerro Torre, wie er sie beschrieb, sprengte alle Grenzen, die der Alpinismus zu diesem Zeitpunkt kannte. Lionel Terray, der Erstbesteiger des Fitz Roy, nannte die Tour »das wichtigste alpinistische Unternehmen aller Zeiten«.

Maestris Erstbesteigung wurde groß gefeiert, Maestri widmete ihr ein Buch und unzählige Vorträge. Für fast ein Jahrzehnt etablierte er sich mit seiner Story als einer der führenden Abenteurer und Alpinisten der Welt. Doch die Geschichte schien zu genial, um wahr zu sein.

Im Jahr 1968 meldete eine englische Seilschaft, die Maestris und Eggers Tour wiederholen wollte, Zweifel an. Es gab Ungereimtheiten zwischen den Beschreibungen Maestris und dem, wie die Engländer den Berg vorfanden. Die Seilschaft scheiterte dort, wo Maestri den Aufstieg als »relativ leicht« beschrieben hatte, und konnte sich die gewaltigen Unterschiede zwischen ihrer und Maestris Wahrnehmung nicht erklären. Von da an wurde in der Kletterszene hinter vorgehaltener Hand darüber diskutiert, ob Maestris Geschichte überhaupt stimmen konnte.

Als eine italienische Seilschaft um Carlo Mauri im Februar 1970 eine andere Route auf den Gipfel wählte und 250 Meter unterhalb ihres Ziels umkehren musste, sprach Mauri diese Zweifel erstmals öffentlich aus: »Unser Sieg liegt darin«, schrieb er in einem Telegramm in die Heimat, »dass wir alle gesund und unversehrt vom unmöglichen Torre zurückkehren.«

Das Wort »unmöglich« war selbstverständlich ein Affront gegen Maestri. Es stützte sich nicht nur auf die offensichtlichen Ungereimtheiten in Maestris Beschreibung seiner Tour, sondern auch auf die Indizien, die die Engländer zusammengetragen hatten. Bis hinauf zu dem dreieckigen Schneefeld, wo Toni Egger mutmaßlich ums Leben gekommen war, waren die Spuren von Maestris Seilschaft eindeutig und einfach zu finden. Oberhalb des Schneefelds gab es jedoch keine Spuren mehr: weder Seile noch Haken, obwohl Maestri behauptet hatte, mindestens sechzig Haken mit einem Handbohrer in den Fels getrieben zu haben.

Maestri blieb bei seiner Version. Er gab Mauri beleidigt Kontra: »Der Cerro Torre ist nur für diejenigen unmöglich, die ihn nicht besteigen können.« Bis heute weicht Maestri keinen Millimeter von seiner Darstellung ab, den Cerro Torre als Erster bestiegen zu haben, obwohl spätestens der argentinische Kletterer Rolando Garibotti 2004 in einem penibel recherchierten Artikel für das »American Alpine Journal« unzählige Indizien dafür zusammengetragen hat, dass Maestris Geschichte nicht mehr ist als eine Geschichte.

Die Reaktion Maestris war ein Denkmal seines Trotzes. Er reagierte patzig. Aber er tat nicht das Naheliegende, nämlich zur Wiederholung seiner Erstbesteigungsroute nach Patagonien zu reisen, sondern kündigte an, den Cerro Torre diesmal auf seiner schwierigsten Seite zu besteigen.

»Also gut, Herr Alpinist Mauri«, schrieb er, »gut, ihr Herren Zweifler, ihr wollt den Krieg? Ihr könnt ihn haben, aber ich kämpfe mit meinen Waffen. Ich werde zum Torre zurückkehren. Ich werde ihn an seiner schwierigsten Flanke attackieren, in der schwierigsten Jahreszeit.«

Reinhold Messner sagt, dass er bei dieser Ankündigung Maestris wusste, »dass die Geschichte von 1959 nicht stimmen kann. Warum sonst kehrt Maestri nicht zur einst von ihm und Egger anvisierten Route zurück? (…) Alle Zweifler ein für alle Mal mundtot zu machen, wäre nur an jener Route möglich gewesen, wo er mit Egger zum Gipfel gekommen sein will.«

Mein eigenes Gefühl sagt mir, dass Maestri nicht einmal zu seiner ersten Route zurückgekehrt wäre, wenn er die Wahrheit gesagt hätte. Ein Bergsteiger, der sich seiner Sache sicher ist, hat nicht die geringste Veranlassung, jemand anderem etwas zu beweisen. Ihm hätte die Gewissheit genügt, dass er auf dem Gipfel gestanden ist, und er hätte keinen Grund gehabt, auf den Cerro Torre zurückzukehren, weder über die Nordwand noch über die Südostkante.

Aber Maestri, inzwischen über vierzig, mietete im Juni 1970, im patagonischen Winter, einen Helikopter, um sein Material zum Einstieg einer neuen Tour auf den Cerro Torre zu fliegen. Das wichtigste Gepäcksstück dieser Expedition war der hundert Kilogramm schwere, benzinbetriebene Kompressor, den Maestri von der italienischen Firma Atlas Copco zur Verfügung gestellt bekommen hatte.