Freiheit mit Narben - Philipp Burger - E-Book
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Freiheit mit Narben E-Book

Philipp Burger

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Beschreibung

Die spannende Biografie von Frei.Wild-Frontmann Philipp Burger Philipp Burger ist ein Mann, der polarisiert. Kopf und Sänger von Frei.Wild, einer der umstrittensten deutschsprachigen Bands unserer Zeit. Aufmüpfig, laut, provokant. Aber auch ein liebevoller Familienvater, leidenschaftlicher ArcheHof-Landwirt und weltoffener Neulandbegeher. Irgendwie unschubladisierbar. etikettieren, statt wirklich offen diskutieren Aus seiner Jugend in der rechten Szene Südtirols hat er nie einen Hehl gemacht – und bezeichnet sie heute als "schlimmste Zeit meines Lebens". Dennoch steht für viele fest: "Der ist doch immer noch rechts, oder?" ungefiltert und schonungslos ehrlich In diesem Buch erzählt Philipp Burger seine Geschichte … ungefiltert, schonungslos ehrlich und mit einer gesunden Portion Selbstreflexion. Und wirft Fragen auf, die uns alle interessieren sollten: Wieso wird ein junger Mann aus einer liebevollen und gebildeten Familie Skinhead und brüllt rechte Parolen? Und noch wichtiger: Wie kam er wieder heraus? Welche Kämpfe hat er durchgestanden, gegen seine eigenen inneren Dämonen und gegen die Vorurteile einer Gesellschaft, die keine zweiten Chancen gewährt? Aber er schreibt auch darüber, was sein Leben jenseits von politischen Debatten und Schlagzeilen ausmacht. Wie er sich den Traum vom Bauernhof erfüllte, warum "Heimat" für ihn der einladendste Begriff schlechthin ist und warum er sich gegen alle Extreme einsetzt. Authentisch, ehrlich, reflektiert – und voller packender Storys!

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Seitenzahl: 424

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RECORDMAN

Trete auf geistige MinenMeide GelehrsamkeitenGanz klar bin ich schuldigHabe mir verziehen für die ZeitenHabe giftige PfeileIn meine Jugend gerammtMein Nicht-Verschweigen der VergangenheitHat mir ‘nen Stempel eingebrannt

Heute bin ich älter und weiterDenke noch quer und auch eigenFolge noch immer meinem DrangLieber zu reden als zu schweigenDenkkorsette und TabuthemenAkzeptierte ich noch nieIch klage nicht an, schreibe keine ZeilenFür meine Opfermythologie

Ich bin so, wie ich eben binEiner, der in der Brandung stehtDer der Stimme seines Herzens folgtUnd nur darauf etwas gibtIch verbiege mich nichtNicht für Fame und RampenlichtBin ein Recordman mit StandpunktDer, wenn er sich verbiegt, zerbrichtMehr bin, mehr war ich nicht

Liebe die Gefahr hoher WellenUnd auch die sichere WerftUnd jeder Flug durch die FalltürHat mein Bewusstsein geschärftDie Suche, mich selbst zu findenIch weiß, sie endet wohl nieIch folge meinem eigenen KompassHaue in die Saiten, ich schweige nie

Ich stelle mich nicht, auch dich nichtIn irgendein Licht

Worte können Waffen und Liebe seinUnd dazwischen stehe ichZwischen Ruhm, Glanz und ScherbenSind die Pfade echt schmalOb ich ankomme oder untergeheIch habe keine andere Wahl

Ich bin so, wie ich eben binEiner, der in der Brandung stehtDer der Stimme seines Herzens folgtUnd nur darauf etwas gibtIch verbiege mich nichtNicht für Fame und RampenlichtBin ein Recordman mit StandpunktDer, wenn er sich verbiegt, zerbrichtMehr bin, mehr war ich nichtMehr bin, mehr war ich nicht

Nach alten Ketten, die ich sprengteFühl ich die FreiheitIch denke zurück an das, was warAn all die ZeitSchreibe mit meinen eigenen Liedern Die Geschichte, die für immer in mir bleibt 1

Prolog

Die schweren dunkelgrünen Äste der beeindruckend hoch in den Himmel aufragenden Libanon-Zeder biegen sich im Takt der Windstöße, die nun in immer kürzer werdenden Abständen ihre Macht demonstrieren. Doch das Holz hält Stand und zeigt, wie viel Kraft in dieser genialen Mischung aus Verwurzelung, Härte und Flexibilität liegt.

Sie beugt sich und weicht doch nicht zurück, diese 150 Jahre alte exotische Schönheit, die ihre hölzernen Finger direkt vor dem Eingang des Vahrner Löwenhofs beharrlich in den Boden getrieben hat. Wie viele solcher Stürme sie wohl schon durchlebt hat? Wie viele trockenheiße Tage und wie viele tiefkalte Winternächte?

Zwischen den Berggipfeln links und rechts des Brixner Talkessels brauen sich bedrohliche schwarze Wolken zusammen. Es ist ein Spektakel, das nicht nur mich und meinen Kollegen Franz in den Bann zieht, sondern auch die anderen Gäste, die nun ebenso fasziniert durch die bis jetzt noch trockenen Fensterscheiben nach draußen schauen.

„Scheiße!“, stoßen wir plötzlich beide synchron hervor. Ohne dass wir uns absprechen müssen, stürzen wir aus der Kneipe und springen in den alten weißen Pritschenwagen. Wir schauen uns kurz an, beide reichlich blass. Kein Wunder, denn das, was uns nun bevorsteht, wird uns an unsere Grenzen bringen. Vielleicht sogar lebensgefährlich werden. Aber wir haben keine andere Wahl – das hier ist und bleibt unser Job. Und helfen wird uns jetzt niemand.

Erst am Vormittag haben wir einen Teil des Steildachs der altehrwürdigen Bibliothek im Kloster Neustift abgedeckt, um die verfaulten Dachlatten zu ersetzen und die uralten Ton-Dachsteine zu erneuern. Wir haben nicht alles geschafft. Die eine Seite des Dachs ist noch offen, ein sicher 50 Quadratmeter großes Loch klafft darin. Laut Wetterbericht sollte es über Nacht eigentlich klar bleiben, Regenwahrscheinlichkeit gleich Null.

Zwar haben wir das Loch provisorisch mit einer Plane abgedeckt und mit einigen Latten und Dachsteinen beschwert. Aber gegen das, was sich da am Himmel ankündigt, hat das flatterige Teil keine Chance. Soviel ist sicher.

Sonst ist nicht mehr so viel sicher in diesem Moment. Franz tritt aufs Gas, wir passieren Wiesen und Häuser, dann die letzte Station: die alte Holzbrücke vor dem Kloster. Wir hetzen aus dem Wagen, schnappen uns unsere Nageltaschen und Hämmer. Es bedarf keiner Worte, denn wir wissen: Wenn dieses Gewitter hält, was es androht, wird der herrliche Saal aus dem Jahr 1778 in wenigen Minuten geflutet sein.

Die wunderschönen vergoldeten Stuckaturen an den Decken, die kunstvoll geschnitzten, mit Aufsätzen verzierten Bücherschränke mit den über 20.000 jahrhundertealten wertvollen Büchern und Handschriften. Ein kulturelles Erbe, nichts weniger. Gott, oh Gott, vieles davon wäre für immer ruiniert. Oder zumindest nie mehr so, wie es einmal war.

Das müssen wir verhindern. Wir rennen Vollspeed über den Parkplatz, durch das Eingangstor. Hechten die unzähligen Treppenstufen bis zum Dachboden hoch, wo einige riesige, schwere Segeltuchplanen liegen. Das am Nachmittag dürftig befestigte Flattertuch hält noch, hat aber schon einige Risse. Wir steigen die Leiter hoch, quälen uns durch eine alte Dachluke ins Freie und klettern ohne weiter nachzudenken – und auch gänzlich ohne Sicherung – aufs Dach. Buchstäblich in Windeseile. Zwei der schweren Planen mit uns schleppend, um zu retten, was zu retten ist.

Oben angekommen, legt der Sturm erst richtig los. Fauchend peitscht er uns schmerzhafte Regentropfen ins Gesicht und zerrt wütend an der ersten, gerade mit zwei angeschraubten Dachlatten befestigten Plane. Die Latten halten, nur fährt der Wind dermaßen stark seine Krallen aus, dass er uns die anderen Ecken immer wieder aus unseren Händen reißt. Wie ein wildes Tier windet sich die Plane, bäumt sich auf und schlägt nach uns. Wir greifen immer wieder danach, können sie endlich wieder zurück in unsere Gewalt bringen und dann sicher mit den Sparren des Klosterdaches verschrauben.

Plane eins hält. Jetzt die zweite. Franz schaut mich beinahe durchbohrend an. Sein Blick sagt: „Wir werden auch das irgendwie hinbekommen!“

Über unseren Köpfen zucken jetzt helle Blitze, gefolgt von dröhnendem Donner. Es fühlt sich wirklich so an, als würde gleich die Welt untergehen. Der Regen, der nun hart wie Schrotkugeln auf uns niederprasselt, macht die Dachfläche unsicher und rutschig. Nach Halt lechzend verkeilen wir unsere Schuhe unter der Auflattung. Jetzt noch mal derselbe Wahnsinn. Wir schreien uns durch den pfeifenden Lärm Anweisungen zu: „Hier, nimm, zieh!“ – „Festschrauben!“ – „Achtung!“

Und schließlich gelingt es uns, auch die zweite Plane so zu befestigen, dass sie den wütenden Angriffen des Sturms standhält.

Schweiß läuft uns über die Gesichter. Oder sind es die Wasserströme von oben? Der Regen hat jetzt sintflutartige Dimensionen angenommen und zwingt uns, das Dach an der Stirnseite entlang nach unten zu steigen. Wer wegrutscht, stürzt über 20 Meter in die Tiefe. Aber es rutscht niemand weg. Noch ein paar Meter der Traufe entlang, ja nicht auf die Planen treten. Wir schaffen es. Packen hastig unser Werkzeug zusammen, bringen uns zurück in Sicherheit.

Das Dach ist dicht. Und wir beide leben noch.

Rasch trocknen wir uns notdürftig mit ein paar Klamotten aus dem Fahrerhäuschen des Lieferwagens ab und laufen dann doch noch einmal in den Bibliothekssaal, um ganz sicher zu gehen. Und ja, es ist alles trocken. Alles noch genau so, wie wir es am Vormittag bestaunt haben. Bis auf ein paar Wassertränen an den Wänden und einige Pfützen auf dem Marmorboden des Obergeschosses über der Bibliothek ist nichts durchgekommen. Einige Angestellte des Klosters, an denen wir eben auf dem Weg nach oben vorbeigestürmt sind, wischen die letzten kleinen Wasserreste zusammen.

Während wir die Treppe hinuntersteigen, holt mich das gerade Erlebte langsam ein. Puh, was für eine Aktion! Was für eine Gefahr das gerade war. Und dennoch hatte ich irgendwie diese tiefe Zuversicht in mir, dass wir das hinkriegen. Natürlich auch die Ehrfurcht im Nacken. Die respektvolle Anerkennung dieser knallharten Demonstration einer Naturgewalt, die insbesondere hier in den Bergen so viel schneller und heftiger aufbrausen kann als anderswo. Das sind die Momente, in denen wir Menschen merken, wie klein und wie unendlich unterlegen wir der Natur eigentlich sind. Eine Erkenntnis, die mich schon von Kindesbeinen an beeindruckt hat. Wenn der Sturm wirklich gewollt hätte, er hätte uns wie vertrocknetes Laub vom Dach wehen können. Er ließ aber Gnade walten, trotz unseres Leichtsinns. Was haben wir uns nur dabei gedacht? Franz und ich? Tja, wir beide haben eben nicht lange überlegt, nicht nachgedacht. Die Risiken kurz ein- und dann ausgeblendet. Und dann getan, was zu tun war. Man hat nicht immer alle Zeit der Welt, um abzuwägen.

So habe ich es auch schon als junger Bursche auf den Almen erlebt: Wenn der Regen kommt und das Heu noch nicht eingefahren ist, dann gilt das Motto: Rette, was zu retten ist! Einfach machen, machen, machen.

Die unvergessliche Erfahrung beim Kloster Neustift ist eine besondere – und doch auch „nur“ eine von vielen ähnlichen, denen ich in meinem Leben begegnet bin. Mal war es das gerade errichtete Einfamilienhaus eines jungen Ehepaares, mal ein hochtechnisierter Maschinenpark in den Firmenhallen eines großen Südtiroler Speckproduzenten, die abgesichert werden mussten. Und dieses Mal ein so wichtiger Kultur-Schatz wie die altehrwürdige Klosterbibliothek in Neustift. Tatenlos zusehen, wie alles im wahrsten Sinne des Wortes den Bach runter geht? Das geht einfach nicht, nicht mit mir!

Und genauso funktioniere ich auch in anderen Bereichen meines Lebens. Hauptsache, nicht tatenlos zusehen. Lieber agieren. Zupacken. Sich lieber einen Eimer Wasser schnappen und einen vielleicht sinnlosen Löschversuch starten, als den Flammen freien Lauf zu lassen. Lieber dem Sturm ins Auge schauen, Werte bewahren und dafür kämpfen, als sich allzu schnell in Sicherheit zu bringen und hinterher zu jammern. Der Intuition folgen – und machen!

So halte ich es auch mit der Band oder mit meinem Songwriting. Nicht selten sind so spontan Lieder entstanden, die ich irgendwo zwischen „mega gut“ und „wichtig“ ansiedeln würde, auf der anderen Seite aber auch welche von der Art „Na ja, wäre wohl besser gegangen“. Oder auch das eine oder andere unüberlegte und allzu schnell rausgehauene Posting. Oder eine unbedachte Aussage irgendwie, irgendwo, irgendwann …

Ja, ich weiß es selbst: Bei Weitem nicht alles, was ich in meinem Leben angefasst, vom Zaun gebrochen und umgesetzt habe, war ausreichend reflektiert oder gar schlau. Manches war sogar saudumm. Und nicht immer hatte ich so viel Glück wie beim Tanz auf der Dachlatten-Rasierklinge auf dem umkämpften Klosterdach.

Warum ich es dennoch immer weiter tue? Das frage ich mich seit Jahren. Und meine wahrscheinlich überzeugendste Antwort ist: Hey, ich bin eben Handwerker, so wie auch die anderen in der Band. Anpacken, loslegen, etwas Neues anfangen, etwas aufbauen, das steckt quasi in unserer DNA. Dinge zum Besseren verändern, zum Abschluss bringen, Verantwortung übernehmen für diese Welt, mein Umfeld und mich selbst – in meiner Jugend auf einem gefährlich missverstandenen Weg, aber später Gott sei Dank immer klarer. In Gedanken, Worten und Werken, wie es schon seit Urzeiten heißt … vor allem aber eben mit aktivem Handeln und schnellen Reaktionen, wenn es notwendig erscheint.

So haben wir als Band wenige Tage vor Tour-Start zu unserem Album „Rivalen und Rebellen“ eben mal tausende Fan-Boxen gepackt, weil der Dienstleister keine freien Hände mehr hatte und die Container wochenlang am Rotterdamer Hafen am Zoll hingen. In mancher Box fehlte nach der Aktion vielleicht der eine oder andere Inhalt – aber immerhin haben wir unzähligen vorfreudigen Gesichtern eine noch viel größere Enttäuschung erspart. Und die Veröffentlichung gerettet.

Ich mag den Sturm. Ich mag brenzlige Situationen. Es reizt mich, mich einer gewissen Gefahr auszusetzen, wenn auch heute nicht mehr ganz so unüberlegt. Und ja, ich liebe es auch, mich in vermeintlich aussichtslosen Situationen in den Ring zu stellen. Ob die Gefahr nun von unten oder oben, von links oder rechts, von vorne oder hinten oder auch mal gleichzeitig von überall kommt, liegt ja nicht immer an mir oder in meiner Hand. Aber eines bleibt immer gleich: Ich schaue ihr nicht ungern direkt ins Gesicht und stelle mich ihr.

Einige Jahre später drehten wir das Video für den Song „Die nur nach fremden Sünden fischen“ ausgerechnet in dieser prächtigen Bibliothek, für die ich damals Kopf und Kragen riskierte. Und das hat mir tatsächlich eine Art Reflexion beschert: Ich bin ein Teil eines größeren Ganzen. Alle meine Handlungen haben Folgen, gute oder schlechte, auch wenn man sie manchmal nicht direkt sieht. Und für manche Dinge lohnt es sich, Risiken einzugehen und zu kämpfen.

PS: Die Libanon-Zeder steht natürlich noch immer im Wind. Und im Regen. Im Schnee und im Frost. Und zum Glück oft auch einfach nur im wärmenden Licht der Sonne. Mit starken Wurzeln und Ästen. Im satten Grün. Im Löwenviertel von Brixen. In meiner direkten Nachbarschaft. In meinem Tal. In meinem Südtirol. Mitten in meinem Leben.

Auftakt: Auf die Vielfalt!

März 2016. Eigentlich liegen auf den Hängen meiner Zweifel noch viel zu viele Schatten. In den letzten Wochen sind Vergangenheit und Gegenwart schlichtweg zu nah beieinander gewesen. Auch bin ich noch viel zu sehr in die gerade geführten Gespräche mit Peter Maffay vertieft, als dass ich unsere Echo-Rede wirklich konzentriert aufs Papier bringen könnte. Ich fange immer wieder von vorne an, gehe jede einzelne Zeile nochmal durch: Ist das wirklich passend? Ich fasse immer und immer wieder in die Farbpalette meiner inneren Vorstellungskraft: Wie wird das alles sein? Ich sehe unsere Fans, sehe unsere Familien zu Hause vor dem Fernseher, sehe aber auch unsere schärfsten Kritiker. Sind es die richtigen Worte? Oder fange ich es doch ganz anders an?

Stefan und meine Bandkollegen sind sich einig: Die Mail muss jetzt endlich raus. Die Echo-Veranstalter haben gerade erneut angerufen, um auf die Dringlichkeit hinzuweisen. Und noch ein paar Tipps zu geben: „Ein paar kurze, knappe Sätze. Probier einfach eine Balance zu finden zwischen Dankbarkeit und Wertschätzung für die Fans, Friedenspfeife rauchen und trotzdem nicht den Schwanz einziehen. Lass die Vergangenheit zu diesem leidigen Thema am besten ganz weg.“

Tja, das wird eine Wanderung über einen verdammt schmalen Grat werden. Einmal ist da die Unsicherheit, ob man uns am Schluss nicht doch wieder vor einem Millionenpublikum aufs Abstellgleis schiebt. Dann die Stimme des schwarzen Engelchens auf meiner linken Schulter, die mir ins Ohr zischt: „Sag doch einfach nur ‚Fickt euch alle, ihr Heuchler! Wir brauchen euch nicht und werden euch auch in Zukunft nicht brauchen!‘“

Was ich natürlich nicht tun werde. Obwohl es sich in meinem zermarterten Hirn nicht mal falsch anfühlt. Und dann sind da noch zwei andere Dinge, die uns fast wie böse Omen vorkommen: Heute Abend haben wir eigentlich eine ausverkaufte Show in Emden zu rocken – und die ist nur dann spielbar, wenn wir bei der Echo-Verleihung ganz am Anfang drankommen und dann sofort in den Flieger steigen. Doch gerade eben haben wir erfahren, dass das von uns gecharterte Flugzeug, das uns nach Emden bringen soll, am Nachmittag in einen Vogelschwarm geflogen ist und nun mit zertrümmerter Schnauze im Hangar steht. Na prima. Wenn es läuft, dann läuft es.

Ach ja: Peter Maffay, für mich ein sehr menschlicher und mutiger Künstler, der unsere Echo-Laudatio halten sollte (und mit mir die Rede geschrieben hat), wurde kurzfristig in eine andere Kategorie verschoben. Dass wir als Band nicht gerade Everybody‘s Darling sind, wissen wir selbst. Dass aber die Echo-Veranstalter über Stunden schlichtweg gar niemanden finden konnten, der uns den Echo für die Kategorie „Rock national“ überreichen will, ist heftig. Alex Wesselsky von Eisbrecher übernimmt den Part schließlich.

Ja, der Echo und wir – das ist und bleibt auch im Rückspiegel betrachtet eine unheilige Allianz. Ein bisschen wie eine Beziehung, in der von Anfang an der Wurm drin ist und es irgendwie nicht passt. Und man versucht es doch immer wieder, obwohl es keinen Sinn hat. Eine Hassliebe, die in den letzten Jahren wirklich absurde Blüten getrieben hat: Wir wurden nominiert, aber jemand anders hat gewonnen. Wir wurden nominiert und dann wieder ausgeladen. Wir wurden nominiert und haben freiwillig auf den Preis verzichtet. Und jetzt sind wir wieder nominiert und werden das vermaledeite Ding anscheinend auch wirklich erhalten – und annehmen. Auch wenn ich immer noch nicht ganz sicher bin, ob es die richtige Entscheidung ist.

Denn das, was 2013 passierte, sitzt uns noch allen tief in den Knochen …

2013. Im Grunde wär’s ein Grund zur Freude gewesen: Frei.Wild war für den Echo nominiert. Den durch uns offenbar angesägten und später durch zwei Rapper endgültig zu Fall gebrachten Musikpreis, mit dem jedes Jahr die Künstler mit den höchsten Verkaufszahlen ausgezeichnet wurden.

Doch dann kam alles anders: Wie aus dem Nichts tauchte der selbst ernannte (und unter Pseudonym agierende) „Enthüllungsjournalist „Thomas Kuban“ auf und berichtete bei Günther Jauch von seinen Undercover-Besuchen auf Naziband-Konzerten. Er zeigte mit versteckter Kamera gefilmte Aufnahmen von Hitlergrüßen und eindeutig rechtsextremen Parolen. So weit, so schlimm. Leider mischte er uns aber als gänzlich falsche Gewürzzutat in denselben Topf. Aufnahmen von uns? Natürlich Fehlanzeige. Weil es kein entsprechendes Material gab und gibt, was seine kruden Thesen untermauert hätte. Kein Problem für ihn – aber für uns beinahe der Todesstoß.

Wohl getriggert durch die tendenziösen Behauptungen dieses „Kuban“ kündigten die ebenfalls nominierten Bands Kraftklub und MIA an, die Echo-Verleihung boykottieren zu wollen, da Frei.Wild mit rechtem Gedankengut in Verbindung gebracht werde. Weitere Bands schlossen sich dem Anti-Frei.Wild-Zug an: Die Ärzte, ­Casper, K.I.Z, die Broilers, die Toten Hosen, Jennifer Rostock, Jupiter Jones. Bis zum Abend hielten die Echo-Veranstalter stand und sagten, es gebe keinen Grund, uns auszuladen. Doch schließlich knickten sie ein und strichen uns von der Nominierungsliste.

Doch damit nicht genug: Ganze Häuserwände in deutschen Städten wurden danach mit „Fuck Frei.Wild“ oder ähnlichen Phrasen beschmiert. Antifa-Gegendemonstrationen vor, während und nach unseren Konzerten standen auf der Tagesordnung. Ein halbes Weltwunder eigentlich, dass nicht der eine oder andere Fan, der sich fortan bespucken, anschreien und als Nazi betiteln lassen musste, die Fassung verloren hat. Der Spiegel, die TAZ, die Süddeutsche, sämtliche Fernsehsender von ZDF bis RTL, plötzlich hatten alle eine Meinung zu Frei.Wild – und zwar keine gute. Was es da an Widersprüchen, Falschaussagen, Vermutungen und Behauptungen zu hören und zu lesen gab, war nicht zu fassen. Von willkürlichen Angriffen anderer Bands, aber auch diffamierenden „Experten“-Veranstaltungen in Jugendzentren und Schulen ganz zu schweigen, zu denen wir natürlich nicht selbst eingeladen waren. Plötzlich hatte gefühlt jeder das konsequenzenlose Recht, ja fast schon die moralische Pflicht, sich gegen Frei.Wild zu positionieren.

Unter dem öffentlichen Druck begannen auch Veranstalter und Festivalsponsoren abzuspringen. Über Wochen wussten wir bei keinem einzigen Konzert bis kurz vorher, ob wir überhaupt spielen dürfen. Auch Bürgermeister und Lokalpolitiker warfen sich plötzlich öffentlichkeitswirksam in die sich drehende Moraltrommel. Oder kurbelten kräftig mit am Frei.Wild-Fleischwolf – so fühlte es sich jedenfalls für uns an.

Es war eine verdammt einschneidende Erfahrung, mit vielen schlaflosen Nächten und einem angeschlagenen Team. Ich konnte es nicht fassen: Jemand erhebt irgendwelche Vorwürfe, streut sie ins Netz und muss diese nicht mal mit stichhaltigen Argumenten oder Beweisen unterlegen, um einen Sturm auszulösen, der sämtliche Rechtsgrundlagen mit Füßen tritt.

Denn wirklich ans Zeug flicken konnte uns eigentlich niemand was. Zumindest nicht die Organe, die aus rechtlich-demokratischer Sicht zur Wahrung der Kunst- und Meinungsfreiheit installiert wurden. Weder Gerichte noch der Verfassungsschutz noch die dafür zuständige Bundesprüfstelle, ja nicht mal der eigens wegen uns ins Leben gerufene Echo-Ethikrat konnten in unseren Texten irgendetwas finden, was den Ausschluss von der Nominierungsliste gerechtfertigt hätte.

Dennoch – fortan wurde Frei.Wild als Speerspitze der rechten Mainstream-Musikwelt gehandelt. Das mehr und mehr aufkommende Phänomen der „Cancel Culture“ versetzte uns täglich neue schwere Schläge. Ganz egal, wie viele Interviews wir gaben. Ganz egal, wie offen und selbstkritisch ich mit meiner Vergangenheit umgegangen war: meine Worte zerschellten an der „Interessiert uns nicht“-Wand. Fakt war, dass unsere Aussagen und Texte so lange in die jeweils dienliche Richtung gebogen wurden, bis sie dem Ziel des Zeitungsartikels und der Meinung der eigenen Bubble entsprachen. Ja, es war Hardcore.

Je mehr wir betonten, dass wir zwar sicher für eine konservative Südtiroler Wertehaltung stehen, nicht aber für Ausgrenzung, Überheblichkeit oder gar Menschenverachtung, desto mehr gewann der fast schon reflexhafte Gegenwind an Macht.

Die Folgen dieser Kuban-Jauch-Sendung setzten so ziemlich alle Regeln außer Kraft, an die wir bis dahin geglaubt hatten. Treue Partner wurden zu Ex-Partnern, befreundete Bands wollten plötzlich nichts mehr mit uns zu tun haben. Veranstalter, für deren Event wir fest gebucht waren, vergaben den Slot lieber an andere – immer dem Druck der anderen auftretenden Künstler oder Sponsoren geschuldet. Wie oft hörten wir: „Jungs, ich mag euch echt total. Nehmt mir das bitte nicht übel, aber ich muss euch kicken. Sonst gehe ich mit euch gemeinsam unter. Das versteht ihr doch sicher.“

Einen Scheiß verstanden wir. Wir sahen uns in eine Ecke gedrängt, in der wir nicht sein wollten. Eine, für die wir auch überhaupt nicht standen. Insbesondere ich selbst, letztlich der Siede- und Reibepunkt der ganzen Sache, hatte das ekelhafte Gift der braunen Skinhead-Szene doch schon in meiner Jugend gekostet und nach drei Jahren mit großem Ekel wieder ausgekotzt. Noch einmal Spielball für Hater und Unbelehrbare? Noch einmal Hass über Liebe? Noch einmal stumpfe Gewaltfantasien und verdammte Kreuze mit Haken?

Niemals! Dafür stehe ich nicht, dafür stehen meine Lieder nicht, dafür steht Frei.Wild nicht. Hört mir einfach zu, filtert meine Lieder, ich stelle mich – aber bleibt bitte fair. Gebt mir eine gerechte Chance, mich zu zeigen, wie ich wirklich bin. Lasst mich einer von denen sein, die sich geändert haben und sich in der Mitte der Gesellschaft sauwohl fühlen.

Mein Wunsch nach Gerechtigkeit ließ damals nur eine Möglichkeit zu: Innerlich zwar fast zu explodieren, aber nicht die Fassung zu verlieren. Ich habe so oft Lust verspürt, den einen oder anderen Journalisten aus dem Backstageraum zu werfen. Aber genau das wäre eine Niederlage gewesen – für mich, für die Band und auch für unsere Fans. Und die Bestätigung, dass ich mich doch nicht verändert hätte. Also erklärte ich mich gebetsmühlenartig immer wieder. Stellte mich den immer gleichen Fragen. Und sollte zu Themen Stellung beziehen, die selbst hochgebildete Politikwissenschaftler ins Grübeln gebracht hätten.

Und dennoch, ich suchte weiter den Dialog. Und ich suche ihn bis heute. Ich bin einfach der tiefen Überzeugung, dass die einzige Möglichkeit zur Annäherung im Gespräch liegt. Auch wenn ich den ersten Schritt machen muss – falscher Stolz und eine enttäuscht-bockige Haltung führten mich bis heute nicht ein einziges Mal ans Ziel. Nicht an das Ziel, das ich mit meinem Leben, meinen Liedern, meiner Musik erreichen möchte.

Nicht mit Leuten zu sprechen, sondern über sie, Menschen auszugrenzen und abzulehnen, ohne sich ihre Seite des Ganzen anzuhören – das bewirkt immer nur, dass alles noch schlechter wird. Genauso war es in meiner Rightwing-Sturm-und-Drang-Jugendzeit: Je mehr Menschen mir die kalte Schulter zeigten, umso mehr bäumte ich mich gegen sie auf. Je mehr Menschen mich als Nazischwein bezeichneten, desto mehr wollte ich mich von ihnen abgrenzen. Und desto radikaler vertrat ich Ansichten, die der nackten Provokation dienten.

So sind wir Menschen nun mal gestrickt. Oder zumindest ich. Niemand wird umdenken oder seine geistigen Systeme wirklich in Frage stellen, wenn die vermeintlich „bessere“ Seite von oben auf ihn herabsieht und auf ihn eindrischt. Meinen jugendlichen Drang nach Rebellion, meinen Wunsch, Grenzen auszutesten, hätte ich weiß Gott besser stillen können, dessen bin ich mir bewusst. Eines weiß ich aber auch: Das beste Auffangnetz meines Lebens war aus Liebe und Verständnis gestrickt – und eben nicht aus Ablehnung und Zorn.

Zum Glück bin ich in dieser Zeit irgendwann auch Menschen begegnet, die genau da angesetzt haben. Die sich meine Meinung geduldig anhörten und mir aus meinem kruden Weltbild zwischen Gruppenzwang und Alkohol keinen Strick drehten. Menschen, die stundenlang mit mir diskutiert und mir das Gefühl geschenkt haben, mich ernst zu nehmen. Ich dankte es ihnen mit Zuhören und einer wiedererwachenden Offenheit für andere Sichtweisen. Sich auf Augenhöhe zu begegnen, darin lag der Hebel, der in mir ein Umdenken bewirkte.

Langsam aber sicher bemerkte ich, dass mir die Werte und Einstellungen dieser Leute – nämlich Gemeinschaftssinn, Nächstenliebe und Toleranz – besser gefielen als das, was ich bisher gelebt hatte. Und mit dem ich so viele Menschen enttäuscht und besorgt hatte. Nicht selten auch mich selbst. Ich fing an, mich zu hinterfragen, mich zurück in die Mitte zu bewegen – und schaffte so schließlich den Ausstieg.

Ich stelle mich nicht, auch dich nichtIn irgendein LichtWorte können Waffen und Liebe seinUnd dazwischen stehe ich 2

Ja, ich hätte meine Jugendsünden verschweigen können. Oder zumindest kleinreden. So, wie es viele andere gemacht haben, von denen ich mir eigentlich gewünscht hätte, dass wir diesen Weg gemeinsam zurücklegen würden. Die Prügel gemeinsam beziehen. Ich habe mich aber für die Variante mit offenem Visier entschieden. Und sogar dafür, dieses Visier im Zweifel lieber fast schon übertrieben weit zu öffnen, als mich der Vermutung auszusetzen, ich würde irgendwas unter den Teppich kehren. Ich wollte mein neues Abenteuer Leben auf keinen Fall mit der berühmten Leiche im Keller starten. Mit dem Faktor Unsicherheit hatte ich schon damals keinen guten Deal.

Meine Zeit in der rechten Skinhead-Szene Südtirols habe ich schon öfter als die beschissenste meines Lebens bezeichnet. Weil auf dem Rückspiegel einfach extrem eklige Scheiße klebt. Ich habe andere Menschen gehasst, die ich weder kannte noch kennenlernen wollte. Ich ignorierte mein eigenes Herz, das mir doch eigentlich genau sagte, was richtig und falsch ist. Ich hatte offensichtlich zu wenig Selbstbewusstsein, um dem Gruppendruck zu widerstehen – und andersherum war ich leider auch oft genug dafür verantwortlich, ihn selbst zu erzeugen. Ich habe viele Menschen bewusst verängstigt. Ich möchte auch gar nicht wissen, wie viele tolle Menschen ich mit meiner kahlrasierten Fratze abgeschreckt und damit für immer verpasst habe. Was für eine verdammte Arroganz ihnen gegenüber – und Zeitverschwendung für mich selbst!

Dass überhebliches, radikales, rassistisches oder ausgrenzendes Gedankengut in schlimme Sackgassen und zu unfassbar viel Leid und Elend führen, brauche ich an dieser Stelle eigentlich gar nicht zu erwähnen. Davon zeugen viele, viele Zeilen aus meiner Feder. In meinen Songs. Ich tu’s an dieser Stelle trotzdem nochmal. Ich werde nicht aufhören, genau vor diesen falschen Wegen zu warnen. Und andere bei der Entscheidung für einen besseren Weg in ihre Zukunft zu unterstützen. Für gesunde Werte zu kämpfen und für Freiheit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit einzustehen.

Gerne auch mit überspitzt-provokativer Kunst, die ich nach wie vor als effektivsten und verlockendsten Köder für verirrte Seelen sehe. Vor allem diejenigen, die ihr Leben noch vor sich haben: junge Menschen.

Wisst ihr, was ich mir wünschen würde?

Dass in unser aller Hirne und Herzen eine Art von neuer Fehlerverzeihkultur wächst. Nur so können wir Gräben schließen. Also: Treten wir doch endlich in einen Dialog ein – ohne einseitige moralische Absolutheitsansprüche. Lasst uns über unsere unterschiedlichen Sichtweisen sprechen und auch gern hart diskutieren. Ich liebe solche von mir aus auch lauten und wild geführten Gespräche. Eine Diskussionskultur – wenn sie anständig gepflegt wird – ist unumgänglich, sei es auf dem Schulhof oder am Arbeitsplatz in der Kaffeepause. Weil dadurch etwas in Bewegung gesetzt wird, etwas Neues wächst, das über sofortiges Ablehnen des Anderen und Andersartigen hinausgeht. Im einfachsten Fall ist man sich seiner eigenen Meinung danach sicherer. Im besten Fall hat man mehr Verständnis für alternative Positionen gewonnen. Mauern aufgebrochen und vielleicht sogar die Fähigkeit erlangt, sich besser in die Lage des anderen hineinzuversetzen.

Statt dieser ewigen Angriffs- und Verteidigungskämpfe gäbe es so viel Potenzial, uns gemeinsam um die zu kümmern, die wirklich Hilfe brauchen und gehört werden sollten. Menschen, die aufs Abstellgleis gerieten, vom Schicksal Gebeutelte, unterdrückte Kinder, missbrauchte Frauen, Jugendliche in Drogenhöllen, Verarmte, Geflüchtete, Depressive. Die Liste derer, für die wir unsere Energien bündeln sollten, ist schier endlos.

Es ist wunderschön und ein hohes Gut, dass es so viele unterschiedliche Meinungen gibt. Und dass wir in einer Demokratie leben, in der das Recht auf freie Meinungsäußerung im Grundgesetz verankert ist. Leider werden heute in öffentlichen Debatten nicht selten eher Etikettierungen verteilt statt Argumente ausgetauscht. Genau das hat in meinen Augen zu einem weitaus eingeengteren Diskussionsklima geführt, als ich es mir wünschen würde. Ich finde es gut, wenn sich Menschen aneinander reiben. Sich auseinandersetzen. Aber miteinander. Genau das sehe ich als eine total wertvolle und einzigartige Fähigkeit der Menschheit an. Genau das unterscheidet uns nämlich von Steinen, die nur rumliegen und nichts sagen. Lasst uns also aufhören, Steine zu sein. Oder welche zu werfen. Und lieber miteinander reden. Egal wie hart es wird.

Ich fang mal an und erzähl euch meine Geschichte. Ich möchte euch mitnehmen auf die Reise, die mein Leben beschreibt. Ein Leben, das einerseits nach Freiheit, andererseits nach Kuhstall, Heimatidyll und – für viele zu – konservativem Rock riecht. Ich habe nicht vor, irgendwas kleiner zu reden, als es war. Ich möchte sowohl Niederlagen als auch Erfolge teilen. Möchte für mich Dinge klarkriegen und vielleicht dem einen oder anderen den Spiegel vorhalten.

Es ist nun mal so, dass das Leben keine lineare Einbahnstraße ist, sondern ein Marsch über Gipfel und durch Täler. Eine kurvige Schussfahrt. Manchmal auch eine Hängepartie. Von Niederlagen, offenen Händen, Dreck, Sturm und Regen begleitet. Aber auch von Sonne und himmlischen Gefühlswelten. Nie gleich, nie fehlerfrei, nie allein. Die nächste Falltür wartet schon, das nächste Katapult ebenso. Und immer neue leere Seiten, die nach frischer Tinte gieren.

Solange du mich nicht kennst

Wirst du mich nicht verstehen

Bedrohlich ragt die Überzeugung zum Himmel

Ich will nichts anderes als du

Knöpfe mir die Welt vor

Mir lässt der Irrsinn auch keine Ruh

Halte eisern am Lamm fest

Doch ich lasse mich gerne belehren

Seine Meinungen auf den Prüfstand zu stellen

Heißt einfach besser zu werden 3

1.Teil

Ein Baum ohne Wurzeln kann nicht bestehen. Meine Kindheit in Südtirol

Manchmal gibt es diese Momente, die sich ins Gehirn einbrennen und die man einfach nie mehr vergisst. Das für mich unvergesslichste Bild, „geschossen“ mit meinen fünfjährigen Kinderaugen und abgespeichert für immer, hat das geschafft, was wohl kein Werbeclip der internationalen Zimmerei-Innung besser hätte rüberbringen können:

Die Axt schwingt beeindruckend, ein langer Bogen zurück über die Schultern und dann mit voller Wucht nach vorne. Rumms, punktgenau auf das Ziel. Jeder Schlag sitzt. Jeder einzelne, ich schaue ganz genau hin. Tatsch, tatsch, TACK, schallt es wie ein heller und weit entfernter Donner von den massivsten Felswänden der Aferer Geisler zurück. Tack, Tack, Tack. Ein langer Sparrennagel nach dem anderen dringt wie durch Butter durch das vorher abgebundene Fichtenholz und vereint die sauber geschnittenen Kerben mit dem Rest der Konstruktion. Was vor wenigen Stunden noch zwischen Holzbalken, Maschinen und Sägespänen, zwischen langen Gewindestangen und Brettern lose und scheinbar ohne System am Boden lag, ragt jetzt als stolzes Bauwerk in den blauen Himmel: die neue Bienenhütte auf unserer Alm auf der Plose.

Mit offenem Mund starre ich sie an, diese beiden muskulösen Zimmermänner. Hinter ihnen die massive Bergkette und unter ihnen mehrere Meter Abstand zum Boden. Beide eine Kippe im Mund. Beide immer eine Bierflasche in Reichweite und einen lockeren Spruch auf den Lippen. Zum Beispiel, dass ihr Beruf der wichtigste der Welt sei, weil Zimmerer schließlich mit Abstand am besten nageln könnten. Was sie damit meinen, verstehe ich mit meinen fünf Jahren zwar noch nicht, aber ich vergesse es nie.

„Was für ein geiler Beruf das ist!“, denke ich mir. Gefährlich, kräftezehrend, fordernd. Ohne Sicherung da oben über die Sparren zu tanzen, immer mit einem Fuß am Abgrund und darüber nur der weite Himmel – das scheint mir der Inbegriff von cooler Männlichkeit. Bauwerke zu planen, zusammen an immer neuen Orten zu arbeiten, Sonne, Wind und Wetter im Nacken, der Geruch des Holzes, das Hobeln, Schneiden und Montieren. Diese beeindruckenden Werkzeuge. Ich bin wie elektrisiert. „Papa, hast du gesehen wie schnell das ging? Wie schön das aussieht? Die haben mich mitmachen lassen, ich hab’ überall mitgeholfen …“

Es ist dieser Moment, in dem ich es mit absoluter Sicherheit weiß: Das ist genau mein Ding. Ich werde Zimmermann.

Ich bin in Südtirol geboren und aufgewachsen. Als Teil der deutschen Volksgruppe in Italien, die sich zu großen Teilen kulturell seit Jahrhunderten Österreich zugehörig fühlt, aber durch verlorene Kriege und politische Entscheidungen 1920 an Italien fiel. Eine radikale Veränderung. Ein Bruch, ein Verlust, den meine Großeltern noch live miterleben mussten und den sie in vielen Gesprächen an ihre Kinder und Enkel weitergaben. Genau wie die vielen anderen Menschen, die in den Zeiten des Faschismus plötzlich italienische Nachnamen verpasst bekamen – und deren deutsche Muttersprache fortan nicht mehr gesprochen werden durfte. Es war für alle eine schwierige Zeit. Auch für viele Italiener, die hier angesiedelt wurden und den Zorn der Südtiroler am eigenen Leib erleben mussten. Die Wurzeln der Menschen in Südtirol reichen wegen alledem tiefer in den Boden, weiter in die Vergangenheit zurück als vielleicht in so manch anderem Grenzland.

Meine beiden Großeltern väterlicherseits waren einfache Menschen. Mein Opa Sepp kam von einem kleinen Bergbauernhof in Sankt Peter Lajen am Eingang des Grödnertals und war ein Bauernknecht. Meine Oma Luise kam aus Feldthurns und war Waschfrau und Magd. Ihrer beider Leben war geprägt von harter Arbeit. Wie die meisten Menschen in Südtirol, das damals noch eine richtig arme Gegend war, hatten sie nur das Nötigste zum Überleben.

Aus ihrer Ehe gingen zwei Söhne hervor – mein Onkel Walter, den ich leider nie kennenlernen durfte, weil er früh bei einem Bergunfall verstarb, und mein Vater Wilhelm, von allen nur Willi genannt. Wie viele andere Kinder damals arbeitete mein Vater schon als kleiner Junge im Sommer auf entlegenen Bauernhöfen. Es war so üblich, Kinder in den Sommermonaten fernab der eigenen Familie zum Arbeiten zu schicken. Zum Beispiel zu Bauern, die selbst keine Kinder hatten. Sie nahmen Stadtkinder zum Helfen, die damit zu Hause schon mal „aus dem Brot“ waren. Zwar erging es meinem Vater bei diesen Bauernfamilien nicht ganz so schlecht wie den sogenannten Verding- oder Schwabenkindern, die noch vor gar nicht so langer Zeit auf regelrechten „Kindermärkten“ fast wie Sklaven gehandelt wurden. Aber dass ein knochenharter Sommerjob bei wildfremden Leuten auf einem entlegenen Hof bei einem Kind keine Begeisterung für die Landwirtschaft auslöst, erklärt sich wohl von selbst. Das führte dazu, dass mein Vater einen gänzlich anderen Berufsweg einschlug. Er machte neben Sommerjobs in der Gastronomie und als Mechaniker eine kaufmännische Ausbildung, danach eine zum Technischen Zeichner, holte die Matura nach und erfüllte sich dann seinen beruflichen Traum: Er wurde Geometer, also eine Art Vermessungsingenieur, mit einem eigenen Planungsbüro.

Meine Großeltern mütterlicherseits kamen beide aus Natz, einem Dorf bei Brixen. Mein Opa Alois war der verwöhnte Jüngste in einer großen Bauernfamilie mit zahlreichen Geschwistern, Knechten und Mägden, in der hart geschuftet, aber auch ordentlich gefeiert wurde. Meine Oma Balbina, deren Vater – ein Jurist – schon mit 29 Jahren starb und seine junge Frau mit zwei Kleinkindern zurückließ, wuchs sehr behütet und streng erzogen auf. Wenn meine Oma Besuch von ihrem zukünftigen Bräutigam hatte, saß ihre Mutter mit dem Strickzeug dabei … geil!

Opa Lois war im Krieg unter anderem auch in Russland gewesen. Nach seiner Rückkehr heiratete er in den Hof meiner Oma ein. Fortan war mein Opa Kleinbauer und nach dem Besuch der Forstschule wurde er Gemeindeförster, was die finanzielle Situation der Familie wesentlich verbesserte. Leider hat die Ehe meiner Großeltern aufgrund der sehr unterschiedlichen Erziehung und der ausgeprägten Feierfreudigkeit meines Opas nicht gehalten. Es kam zur Scheidung, übrigens der ersten im Dorf und deshalb ein Riesenskandal. Oma hat sie aber durchgezogen und auch nie bereut. Eine von vielen starken Frauen in unserer langen Familiengeschichte.

Opa verließ den Hof und Oma führte ihn alleine weiter, baute ein zweites Haus und übergab den Hof nach einigen Jahren an meine Eltern. Und später kam der „Tölzlhof“ dann schließlich an mich. Aber dazu später mehr.

Meine Eltern Wilhelm und Margherita gehören zur ersten Generation in Südtirol, die einen weitaus leichteren Zugang zu Bildung hatte – bis zu ihrer Pensionierung war meine Mutter Lehrerin und mein Vater, wie gesagt, Geometer. Ich würde von einem elterlichen Glückstreffer sprechen. Für die beiden empfinde ich große Bewunderung, weil sie einen extrem liebevollen Umgang miteinander pflegen. Natürlich werden auch sie von manchem Streit nicht verschont geblieben sein. Aber definitiv wurde kein einziger davon vor uns Kindern, also mir und meinen beiden Schwestern Claudia und Alexandra, ausgetragen. Was das angeht, sind sie echte Vorbilder für mich – und ebenso für meine Frau in unserer Ehe und im Umgang mit unseren Kindern. Es ist einfach toll, ein Paar zu sehen, das drei Kinder großgezogen und natürlich auch viele Ups und Downs des Lebens durchlaufen hat. Und trotzdem noch diese Freude in den Augen hat, wenn sie einander anschauen!

Sie sind eigentlich sehr verschieden, aber in vielen Dingen dennoch sehr ähnlich. Vielleicht harmonieren sie auch deshalb so gut. Er der Sportler, sie die Sportverweigerin. Er der Kopfrechenfan, sie die Deutschlehrerin. Er ist der Risikobereite, sie die selbsternannte Sicherheitsbeauftragte der Familie. Sie sind beide klug. Beide gläubig. Beide belesen. Beide total reisefreudig. Immer an Neuem interessiert. Beide hassen Angeberei, sind grundehrlich und in den allermeisten Fällen sehr direkt. Während mein Vater der gelassene und entspannte Typ ist, der auch mal auf Durchzug schalten kann, agiert meine Mutter eher wie eine aufbrausende Rakete.

Das habe ich dann wohl von ihr geerbt. Diese integrierte Raketentechnik hat zwischen uns beiden nicht selten zu lautstarken Clashs geführt. Und dennoch: So schnell die Gewitter auch aufzogen, so schnell verziehen sich die Wolken zwischen uns auch wieder. Und der alte, uns beiden so wichtige Frieden liegt wieder in der Luft.

In Sachen Erziehung waren sie sich auch immer einig: klare Aufgaben, viel Lob und auch mal Rügen. Eine gewisse Konsequenz und Strenge, vor allem aber Forderung und Förderung. Von anti-autoritärer Erziehung in Helikoptereltern-Manier hielten und halten sie rein gar nichts. Und nach meiner jugendlichen Rebellionsphase sehe ich das heute ganz ähnlich. Ich bin auch für eine gewisse Strenge und Aufgabenpflicht.

Ganz tief geprägt haben mich die Werte, die mir von meinen Eltern, aber auch anderen Verwandten und Freunden mit auf den Weg gegeben wurden: Wenn man eine Sache anfängt, hat man sie auch zu Ende zu bringen. Wenn man jemandem sein Wort gibt, hat man es auch zu halten. Wenn man etwas eingerissen hat, stellt man es wieder auf. Und wenn du dich mit jemandem in die Haare gekriegt hast, reich ihm auch gerne als Erster die Hand und schau, dass wieder Harmonie einkehrt.

Ich bin sehr froh, dass es bei uns zu Hause kein tagelanges Rumschmollen gab, auch nicht bei uns Geschwistern. Man stritt sich, man schrie sich auch mal an, dann kühlte man kurz runter, reichte sich die Hand – und weiter ging’s. Problemaussitzende Menschen ohne die Fähigkeit, sich fürs Kriegsbeilbegraben auch mal selbst die Hände schmutzig zu machen, sind bis heute nicht mein Fall.

Jedenfalls bin ich meinen Eltern unendlich dankbar, diesen für mich heiligen Hafen namens Familie erfahren zu haben, der mich bis heute immer mit offenen Armen empfangen hat. Egal, wie hart die Wellen mich durchpeitschten; egal, wie tief ich in der Scheiße steckte, die ich mir oft selbst eingebrockt hatte. Nur in einer Sache hätte ich mir von ihnen mehr Unterstützung gewünscht …

Böse und gemein – die Kehrseite der alten Schule

Philipp, sofort nach vorne!“

Mir rutscht mein Herz in die Hose, meine Hände werden feucht, ich spüre einen Kloß in meinem Hals. Sie schreit noch mal: „Philipp, SOFORT nach vorne, habe ich gesagt!“

Ich stehe auf. Oh Gott, diese Stimmlage kenne ich nur zu gut! Ich hab’ mal wieder was angestellt, was Frau R., meiner Grundschullehrerin, nicht passt. Für sie Grund genug, den Unterricht zu unterbrechen und mich vor der ganzen Klasse fertig zu machen. Es geht nie um ­nennenswert schwere Vergehen, das wäre eh undenkbar bei dieser Lehrerin. Angst, Zucht und Gewalt sei Dank.

Mein Verbrechen heute: Ich habe vom Tintenlöscher vorne und hinten die Spitzen abgedreht, also ein Rohr fabriziert, und damit in Spucke zu Kügelchen gerollte Papierfetzen durch die Klasse geschossen. So etwas machen natürlich auch alle anderen, sie bestraft aber immer nur die gleichen Schüler. Und zwar vor allem mich. In ihren Augen bin ich immer schuld. Sie hält mich für böse, widersetzlich und dumm. Denn genau das sagt sie mir auch.

„Streck deine Arme aus!“, bellt sie mich an und ich gehorche. Bleibt mir auch nichts anderes übrig, denn sonst setzt es Stockschläge oder Schlimmeres. Sie stapelt mir Bücher auf die ausgestreckten Arme. Schwere, dicke Schulbücher. Eins, zwei, drei, vier. Meine Arme sacken ein wenig nach unten.

Ssssst – patsch. Ein sengender Schmerz fährt über meine Hände, wo mich der Stock getroffen hat. „Ich hab’ nichts von Runternehmen gesagt!“

Ich beiße die Zähne zusammen und spanne meine Armmuskeln an, um dem Gewicht der Bücher etwas entgegenzusetzen. Erst ist es nur unangenehm, dann fängt es an zu ziehen und dann zu brennen. Und dann beginnt das Zittern. Nicht mehr lange, und ich werde die Bücher fallen lassen. Und was dann passiert, weiß ich nur zu genau.

Ich balle meine Hände zu Fäusten und wappne mich innerlich für das Sssst-Geräusch und das, was danach kommt …

Unsere Grundschullehrerin war eine Frau mit tyrannischen Zügen. Überautoritär, grob, handgreiflich. Frau R. hat uns sicher einiges beigebracht, das rede ich auch nicht klein. Und die Disziplin in der Klasse war zweifelsohne gegeben. Drei Kinder hatte sie aber besonders auf dem Kieker: Mich, meinen Kumpel Stief und Kathrin. Interessanterweise waren wir alle überdurchschnittlich großgewachsen. Den Rest der Klasse verschonte sie zwar nicht gänzlich mit ihren Attacken, aber insgesamt saß der Stock nicht so locker. Die Schwere des Vergehens der jeweiligen Sündenböcke maß sie anscheinend am Reifegrad in Form von Körpergröße. Was natürlich totaler Blödsinn war, weil wir ja alle Jahrgang 1981 waren.

Die Bücher-Folter war nur eine ihrer „Erziehungsmethoden“. Der Tafelstock aus Plastik landete immer mal wieder auf den Handrücken der Schüler. Kinder, die in der Nase gebohrt hatten, mussten teilweise die ganze Stunde mit Stiften in der Nase und in den Ohren an der Tafel stehen. Heute zum Glück unvorstellbar, hoffentlich. Sie ließ Schüler nicht aufs Klo gehen, bis diese auf den Stuhl gepinkelt haben. Und hat mal jemand nicht zugehört, packte sie denjenigen, schleifte ihn an den Haaren zum Waschbecken und wusch ihm richtig grob die Ohren aus. Von durch die Klasse fliegenden Büchern und Linealen, von Backpfeifen, Haareziehen oder Kopfnüssen ganz zu schweigen.

Was ich aber noch schlimmer als besagte Strafen fand, war, dass Frau R. uns auch psychisch zu brechen versuchte. Fünf harte Jahre lang bombardierte sie mich mit den immer gleichen Sätzen: Ich sei voller Komplexe. Ich könne nicht singen. Es sei halt einfach so, dass ich keinerlei Talent besäße. Und dass ich es, genau wie Stief und Kathrin, sicher zu nichts bringen würde. Was für ein wunderbares Rezept dafür, Kinder zu fördern und nachhaltig zu tollen Leistungen zu motivieren. Nicht!

Mit viel Abstand glaube ich heute, dass das Ganze vielleicht tatsächlich ihre „Methode“ war – wenn auch eine extrem schräge und krankhafte –, mich anzuspornen. Denn Fakt ist, dass Frau R. mich entgegen ihrer vernichtenden Prognosen oft „präsentiert“ hat. Ich bekam von ihr die tragenden Rollen bei Theateraufführungen, spielte bei Chorkonzerten die Ziehharmonika oder übernahm Soloparts. Sie schickte mich mit nur noch einer weiteren Mitschülerin zum Südtiroler Geschichtenschreib-Wettbewerb. Irgendwie schizophren, oder?

Es ist mir bis heute schleierhaft, wieso ihr über all die Jahre nicht das Handwerk gelegt wurde, obwohl die anderen Lehrer, vor allem aber alle Eltern über ihre Methoden Bescheid wissen mussten. Eines ist sicher: Solche Dinge würde heute ein Lehrer genau ein einziges Mal machen. Dann wäre er weg. Mit Pauken und Trompeten – und einer Anklage von hier bis nach Rom. Und mit was? Mit Recht!

Wie gesagt war es aber so, dass meine Eltern überhaupt keine Sympathien für anti-autoritäre Erziehungsmethoden hatten, sodass sie die eine oder andere Backpfeife als nicht sonderlich schädlich empfunden haben dürften. Sie kannten eine solche Behandlung durch Lehrer oder auch Priester auch aus ihrer eigenen Schulzeit. Und waren wohl der Ansicht, dass ihnen das keineswegs geschadet hätte. Ihre Message, wenn ich mich über die schlimme Lehrerin beklagte, war eher wie die meiner Großeltern: „Junge, beiß die Zähne zusammen und lass dich nicht unterkriegen.“ Dafür gaben sie mir zu Hause das Gegenprogramm mit viel Ermutigung und Bestätigung. Vielleicht hat auch das bei mir zu einer inneren „Jetzt erst recht – dir werd’ ich’s zeigen“-Haltung geführt.

Trotz all ihrer Schikanen und ihrer Abwertung war ich imstande, die schulischen Leistungen ohne Probleme und sogar ohne sonderlich große Anstrengung hinzukriegen. Und wenn es um Dinge ging, die mir wirklich Freude bereiteten, wie etwa die Auftritte vor der ganzen Schule oder Projekte in der Natur, entwickelte ich einen ungemeinen Biss und Ehrgeiz, Dinge auch zu Ende zu bringen. Ob ich dieser Lehrerin und ihren beschissenen Methoden also vielleicht tatsächlich etwas zu verdanken habe? Ab und zu denke ich das sogar. Weil sie mich fürs Leben gestählt hat. Aber nur ein ganz klein wenig. Versteht sich.

Ach ja, ich habe Frau R. vor Kurzem nochmal wiedergetroffen. Irgendwo beim Wandern. Da sagte sie doch tatsächlich im Beisein meiner Frau, meiner Kinder und meiner Schwiegereltern: „Ganz ehrlich, Philipp, ich hätte ja niemals gedacht, dass aus dir mal was wird.“

Manche können scheinbar nicht anders.

Für Glaube, für Liebe, für Hoffnung – der liebe Gott und ich

Ich sitze im Halbdunkel und schaue mich neugierig um. Es riecht nach altem Holz, genauso alter Politur und hundert Jahren schlechtem Gewissen. Schon immer wollte ich wissen, wie es wohl ist in so einem Beichtstuhl. Beziehungsweise habe ich mich natürlich schon heimlich reingesetzt, nur um mal zu gucken, ist klar. Aber eben nicht „in echt“, mit einem amtlichen Gegenüber, das von Gott höchstpersönlich die Autorität erhalten hat, über mein ewiges Schicksal zu richten und meine Sünden zu vergeben.

Es ist meine Erstbeichte. Jetzt wird’s ernst.

Kurz kommt mir der Gedanke, ob das überhaupt eine so sichere Sache ist. Also dass mir vergeben wird. Aber nein, unser Kooperator Josef Knapp hat uns in der Vorbereitung ja genau erklärt, wie das mit der Beichte und der Vergebung abläuft. Wir alle mögen den jungen Priester echt total gern. Weil er mit uns Fußball spielt, weil er nicht so streng ist, weil er uns immer zum Lachen bringt.

Er ist in diesem Jahr auch unser Religionslehrer in der Schule. Einmal sagte er, dass die Erstbeichte eine „liturgische Versöhnungserfahrung“ sei. Ein heiliges Sakrament, das uns dabei helfen soll, Gut und Böse zu unterscheiden. Dass Gott gnädig ist und jedem Menschen, besonders uns Kindern, immer alles vergibt. Und dass es ihm nicht um Bestrafung geht, sondern um das gereinigte Gewissen. Das gute Gefühl, dann frei von Sünden sein Leben zu leben. Am besten voller Freude – das sei das größte Geschenk, was wir dem lieben Gott machen könnten. Und es würde darum gehen, aus seinen Fehlern zu lernen. Um seine Zukunft für sich und vor allem auch für seine Mitmenschen besser zu gestalten.

Ich habe nicht alles im Detail verstanden. Aber mir ist auf jeden Fall klar, dass das, was jetzt kommt, wichtig und besonders ist. Wichtiger ist aber noch, wie jeden Dienstag in der Kindermesse, bei der übrigens wirklich jedes Mal die ganze Kirche voll Grundschulkinder ist, ob wir’s denn noch rechtzeitig nach Hause schaffen, um kurz vor 5 „Wickie und die starken Männer“ zu schauen. So ist das mit den Prioritäten.

Die Eltern der Erstbeichte-Kinder sitzen am Tag der Tage im hinteren Teil der Kirche, die Kinder vorn. Wir singen ein paar Lieder, Josef Knapp erzählt eine Bibelgeschichte, wir sprechen gemeinsam ein in der Schule gelerntes Reuegebet. Und dann warten alle in den Bänken. Und sind nervös. Einzeln und nach genau definierter Reihenfolge gehen wir zum Beichtstuhl. Pfarrer Knapp sitzt hinter dem kaum durchsichtigen Trennfensterchen, begrüßt mich und fragt, welche Sünden ich denn loswerden wolle.

Ich stelle dem Kooperator aber gleich eine Gegenfrage. Eine, die mich bei meiner Sündenerforschung in den letzten Tagen umgetrieben hat: „Ist es eine Sünde, wenn man bei der Beichte etwas verschweigt, das vielleicht eine Sünde ist, das einem aber zu peinlich ist, um es zu erzählen?“

Der Geistliche ist ein weiser Mann. Er überlegt nur ganz kurz, dann sagt er: „Aus meiner Sicht ist es recht sinnlos, zur Beichte zu gehen, wenn man dann die Sachen nicht sagt, die einen belasten. Weil es ja gerade der Sinn der Beichte ist, Vergebung zu erfahren. Gott hat es eh schon mitbekommen. Deshalb würde ich nicht sagen, dass es eine Sünde ist, es jetzt nicht zu sagen, aber es ist einfach nicht schlau.“ Und dann meint er noch: „Egal, was es ist, es kommt aus diesem Beichtstuhl nicht raus, Philipp, das verspreche ich dir. Das ist eine Sache zwischen dir, mir und Gott. Und es geht niemand anderen irgendetwas an. Ich wiederhole, niemanden.“

Dass er das extra nochmal sagt, hat vermutlich den Hintergrund, dass er die unstillbare Neugier von Müttern kennt und ahnt, dass mich meine hinterher löchern könnte, was ich dem lieben Gott denn alles auf den Tisch gelegt hätte. Was sie auch tat.

Ich erzähle erstmal ein paar eher harmlose Sachen: „Ich war frech zu meinen Eltern, ich hab’ meine Schwester gehauen, die andere ungerecht behandelt …“

Und dann meint er: „Ist das alles oder war da noch was?“

Wie gesagt, ein weiser Mann.

Ich will es wirklich nicht sagen, aber da ist sie wieder, diese innere Stimme, die ich nun schon ein paarmal vernommen habe und die mich zu eher unangenehmen Dingen drängt. Schließlich gebe ich den Widerstand auf und sage ganz schnell: „IchhabmeinemFreunddenFahrradsitzaufgeschlitztundreingepinkelt.“

Er sagt: „Was, ich hab’s nicht ganz verstanden?“, und dabei schmunzelt er schon, das kann ich hören.

Und dann kriegt er einen Lachanfall, den er zwar halbwegs unterdrückt. Aber eben nur halbwegs, obwohl das sicher nicht sein Plan war bei einem so ernsthaften Ereignis. Da ist mir schon klar, dass es so schlimm nicht sein kann. Schnell fährt er fort, dass ich vier Vaterunser sprechen und meinen Eltern in der nächsten Woche täglich beim Tisch abräumen helfen soll. Und damit ist die Sache auch schon erledigt.

Am Tag davor

„Hey, Michl!“ Ich winke meinem Freund zu. Er wohnt im Haus gegenüber dem unseren, etwa 20 Meter entfernt. Wir haben zwischen unseren Fenstern eine Plastikleine gespannt, über die wir uns Nachrichten und Musikkassetten hin- und herschicken.

Michl, übrigens ein Cousin zweiten Grades, lehnt sich aus dem Fenster. In der Hand hat er einen ganzen Packen kleiner Karten. Ich weiß sofort, was das ist: Der Luna Park ist in der Stadt, eine Wanderkirmes, dessen Betreiber im Vorfeld immer an manche Leute Freikarten verteilen. Um Besucher anzulocken. Michls Vater hat eine Altstadt-Kneipe und bekommt meist eine ganze Menge solcher Freikarten. Auf die sind wir Kinder natürlich alle super scharf, weil das Budget, das unsere Eltern uns für den Luna Park zugestehen, immer viel zu gering ist.

Michl wedelt mit dem Kartenstapel: „Guck mal, was ich hier habe!“ Es sieht nach richtig vielen Freikarten aus, ich schätze, an die hundert. Ich freue mich schon, weil ich davon ausgehe, dass er mir auch welche abgeben wird, wie all die Jahre zuvor. Schließlich sind wir Freunde.

Doch er erklärt mir mit verschlagenem Grinsen, dass er mir dieses Jahr keine geben könne, weil er sie alle schon mit Patrick, dem gerade neu hergezogenen Nachbarsjungen, teilen würde. Ich halte das erst für einen Scherz. Michl, der bei uns Tag für Tag ein und aus geht, der mit mir am Baumhaus gebaut hat, entscheidet sich für einen neuen Freund, den er gerade erst kennengelernt hat? Unfassbar, aber es ist kein Witz. Er zuckt die Achseln: „Sorry, Philipp.“