Freitisch - Uwe Timm - E-Book

Freitisch E-Book

Uwe Timm

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Beschreibung

Sind wir die geworden, die wir sein wollten?»Damit hatte er nicht rechnen können, ausgerechnet hier, am Mare Balticum, von seinem Vorleben eingeholt zu werden.« Uwe Timm erzählt vom späten Wiedersehen zweier Männer, die in den frühen Sechzigern, noch vor dem großen Aufbruch, als Studenten in München ihren Weg suchten.Am Freitisch saßen sie mittags beieinander, in der Kantine einer spendablen Versicherung, und ihre Gespräche kreisten um Gott und die Welt und einen gemeinsamen Bezugspunkt: Arno Schmidt. Als sie sich in Anklam wiedertreffen, prallen zwei Lebensentwürfe aufeinander. Der Erzähler hat hier als Lehrer gearbeitet, Deutsch und Geschichte, und führt seit seiner Pensionierung ein Antiquariat. Der andere, Euler, damals Mathematiker mit literarischen Ambitionen, kommt als Investor und sondiert das Terrain, um eine Mülldeponie zu bauen.Beide helfen sich und der Erinnerung auf die Sprünge, geben Anekdoten zum Besten, zitieren ihre Lektüren und landen immer wieder bei dem Dritten im Bunde: Falkner, der damals schrieb, ohne jemals einen Text vorzuzeigen, und mittlerweile ein bekannter Schriftsteller ist. Und bei jener merkwürdigen Reise, die sie in die Heide, zu Arno Schmidts Grundstück führte.Wie man wurde, was man ist, und was man vielleicht hätte werden können – davon handelt Uwe Timms geistreiche, gewitzte, glänzend geschriebene Novelle, die voller Anspielungen steckt und der existenziellen Frage nachgeht: Was lässt sich umsetzen von den Wünschen und Hoffnungen, mit denen man angetreten ist?  

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Seitenzahl: 116

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Uwe Timm

Freitisch

Novelle

Kurzübersicht

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> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Uwe Timm

> Über dieses Buch

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Inhaltsverzeichnis

MottoFreitisch
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›warum &/ab wann beginnt ein Dichter, Bilder als Vorlagen zu verwendn?‹; (anstatt auf ›wirkliche Erlebnisse‹ zurückzugreifn) – ist das eine reine AltersFrage?; oder aber eine von Temperament?/Constitution?; (dh ›ist‹ Einer so; oder ›wird‹ Jeder so?).

Arno Schmidt, Die Schule der Atheisten

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Vor dem Rathaus hatte ich auf ihn gewartet.

Entschuldigung, sagte ich, wir kennen uns. Er sah mich an, suchte in meinem Gesicht und sagte dann: Hm.

Ist schon ’ne ganze Weile her, die Zeit, als Noah bei der Marine war.

Rührend ratlos stand er da, und man sah, innen lief der Gedächtnisspeicher auf Hochtouren, sortierte Gesichter und Zeiten. Nochmals sagte er: Hm, aber diesmal länger auf dem M ausruhend. Nein, weiß nicht. Helfen Sie mir.

Serves him right.

Die Stirnfalte vertiefte sich.

Wissen Sie, woher das Wort Mondamin stammt?

Das Suchen verschwand aus seinem Gesicht, wich einem Staunen, dann kam ein unwilliges Was-denn? Vermutlich dachte er, einer der Stadtalkoholiker wolle ein Bier schnorren.

Die Rentner auf den Parkbänken beobachteten uns. Am Fenster oben im Rathaus erschienen Gesichter – auch das des Dezernenten für Wirtschaft. Er hatte ein Fernglas in der Hand. Hielt es jetzt ganz ungeniert vor die Augen und auf uns gerichtet. Wollte wohl sehen, ob ihm da einer aus der Nachbarstadt den dicken Fisch wegzufangen versuchte.

Es war in unserer kleinen Stadt mit dem Epitheton ornans »sterbend« schnell durchgesickert, dass ein Investor kommt. Und ich hatte auf ihn gewartet, hier vor dem Rathaus, errichtet in den Fünfzigerjahren aus entmörtelten Trümmerziegeln. Realsozialistische Neoklassik. Die Stadt war kurz vor Kriegsende erst von den Amerikanern und dann, nachdem die Rote Armee sie erobert hatte, noch einmal von der Deutschen Luftwaffe bombardiert worden. Die Einwohner sagen mit grimmem Ostseehumor: Dat heft se all platt mokt. Aber damit meinen sie dann doch nur die Amis, die Bomben der Deutschen Luftwaffe haben sie vergessen.

Das Kennerauge sieht sofort, einer aus dem Westen mit seiner schwarzen, knapp geschnittenen Windjacke aus irgendeinem atmungsaktiven Technostoff und einem leuchtend roten Reißverschlusszipp, dem einzigen Farbfleck, denn auch die weich fallende Hose war schwarz. Und das Saab-Cabrio, in einem dezenten Mittelgrau, hatte er rechts am Markt geparkt und das Verdeck offen gelassen.

Auch hatte sich schnell herumgesprochen, wann er kommt. So was bleibt hier nicht verborgen. Unser Briefträger meldet uns schon am Gartenzaun die Herkunftsländer der Briefe. Argentinien, Portugal, Norwegen – und, mit starkem Tremolo: Sönsterud. Die Eltern Ihrer Frau haben geschrieben, ruft er mir von der Gartentür aus zu.

Und jetzt jemand aus Berlin, der Investitionen versprach, und sei es nur für eine Mülldeponie. Auch die bringt Arbeitsplätze, hoffte man. Übrigens nicht irgendein normaler Müll, nein, ein ganz besonderer Müll, hochkontaminiert, erzählte uns die Eierfrau.

Den konnte man inzwischen nicht mal mehr den Afrikanern billig andrehen.

Gut sah er aus, graublondes, kurzstruppiges Haar, wettergebräunt, nicht die gelbliche Solarbräune. Es hieß, er habe im Haff ein Segelboot liegen, darum sei sein Blick auf die vergessene Stadt gefallen. Auch auf der Straße, zufällig, hätte ich ihn wiedererkannt, er aber, wie sich zeigte, nicht mich, der graue Bart, das kurze und, man muss es so sagen, schüttere Haar, die schlabberigen Kordhosen, das karierte Hemd, die runde Nickelbrille lassen vielleicht an einen Provinzkünstler denken. Oder an einen Penner. Nein, dafür fehlt dann doch das gewisse Odeur.

Ist es wirksam, gegen diebische Elstern in die Kirschbäume Salzheringe zu hängen, fragte ich ihn.

An Stirn und Augen krauste Vorsicht.

Ja, damals hätte ich betonter Vor-Sicht gesagt. Sie erinnern sich nicht?

Sein sehr energisches Nein war schon im Ab- und Umdrehen gesprochen.

Vor gut vierzig Jahren, da haben Sie uns mit den »Kühen in Halbtrauer« traktiert. In München. Am Freitisch. Mit Blick auf den Englischen Garten.

Er blieb mit einem überraschten Ach stehen.

Sie. Oder sollte ich angesichts der Erinnerung, die jetzt sein Gesicht aufhellte, du sagen? Nein, erst mal beim Sie bleiben. Sie haben Arno Schmidt, wie soll ich sagen, geradezu gepredigt. Erfüllt von der Botschaft, eine Art literarisches Pfingstwunder, damals.

Und da kam mit einem Ah und einem Ja die Erinnerung aus seinem Mund und ließ ihn heftig grinsen.

Was machen Sie – auch er zögerte bei dem Sie einen Moment – hier?

Lehrer, pensioniert, wohne zwischen Rosen und Porree, mit Kaufmanns-Und, versteht sich.

Und wieder lachte er.

Ist so ’ne Art Frimmersen und zeichnet sich wohltuend durch einen Mangel an Sehenswürdigkeiten aus.

Sein Blick richtete sich auf die Marienkirche.

Ja, etwas Backsteingotik ist stehen geblieben, auch ’ne holländische Dachwindmühle gibt’s.

Ich lud ihn ein. Zur Auswahl am Markt: Landbäckerei Grützmann. Oder das Stadtcafé Junge mit Blick auf die Rathausfront und die zerstörte Nikolaikirche?

Grützmann, sagte er, das klingt doch gut.

Ja, wenn die Provinz ihre Fantasie spielen lässt. Landbäckerei, riecht man doch das Brot. Dagegen dieses dröge HO in der Zeit des realen Sozialismus – die Deutsche Demokratische Republik – man muss sich diese verzweifelte Dopplung auf der Zunge zergehen lassen, um zu ahnen, wie weit entfernt der Name von der Wirklichkeit war. Aber immerhin – es gab hier mal das interessanteste Theater der Republik. Frank Castorf. Muss eine wunderbare Chaostruppe gewesen sein. Die Leute kamen sogar aus Berlin. Dafür sah man nur wenige Anklamer, aber die, die hingingen, schwärmen noch heute. Ein Ensemble aus Alkoholikern, Abgemahnten, Vorbestraften, Leuten, die aus der Partei ausgeschlossen worden waren. Eine tolle Mannschaft.

Nun ja, sagte er bemüht verbindlich, immerhin, die Stadt hat ja auch einen Hafen, und die Peene ist bis hierher schiffbar, sogar für Kümos. Und ein Bootshafen, der nicht völlig überlaufen ist.

Damit verriet er sich als Segler. Als wir das erste Mal hierhergekommen waren und durch die sommerliche Stadt streiften, staunten wir, Kinder schwammen im Fluss, in dieser grünen, langsam fließenden Pommern-Peene, im Hafen sprangen sie von der Kaimauer ins Wasser. Eine Erinnerung an die eigene Kindheit, die mir diese von der Geschichte geschundene Stadt nahebrachte – die Erinnerung an das Schwimmen in der Pinnau, bevor sie begradigt wurde. Kam man aus dem Wasser, hatte man Entengrütze im Haar. Die Peene fließt dann doch etwas schneller und ist zumindest hier breiter und tiefer. Am Ufer sitzen die Angler, in sich versunken und auf das Glück hoffend. Wenn schon nicht sechs Richtige, dann wenigstens einen Hecht.

An den Cafés wurden, kaum war die Sonne herausgekommen, sofort die Stühle rausgestellt. Man musste sich nicht schämen, gutes Design, Alurahmen mit beigem Bast beflochten. Ein Mädchen kam schnellen Schritts, die Bedienung, das Haar glänzend tiefschwarz gefärbt, die Ohren mit vier Goldringlein gepierct und auf dem braunen Busen ein Tattoo, passend zum Ort ein kleiner Greif, felix pomerania. Sie brachte zwei übergroße, in Kunststoff gebundene Karten: Strammer Max, Kartoffelsalat, heute, Hawaii-Toast, Torten, Hefegebäck.

Er wollte nur einen Cappuccino.

Wir können auch zu Mittag essen, schlug ich vor, ist zwar kein Witzigmann, Gasthof »Am Steintor«, aber es gibt gute Hausmannskost, Flunder, Bratkartoffeln, Rotkohl, Rinderrouladen, Königsberger Klopse. Wir haben auch einen mutigen Italiener und zwei bedürfnislose Chinesen am Ort. Kanton-Küche. Ente auf Vorbestellung. Der drehen sie hinterm Haus den Hals um. Ich redete wie der Tourismusbeauftragte.

Nein, er könne nicht länger bleiben. Wollte, musste, wie er betonte, nach Berlin zurück. Ein Termin warte dort. Und das Wort bleiben löste bei ihm die Frage aus, was mich an diesem Ort hält. Er war taktvoll genug, nicht Kaff zu sa-gen.

Sagen Sie ruhig Kaff, auch Mare Crisium genannt, sagte ich, ist doch nichts anderes.

Alles sehr weit weg, murmelte er, und auf meine Frage, ob er noch schreibe, nein, schon lange nicht mehr. Jugendsünden. Damals schrieben doch alle. Konnten allerdings auch noch die meisten schreiben und lesen. Allein an unserem Tisch schrieben doch drei von vier, genau drei Viertel, also nicht nur geschätzt.

Nein, nur die Hälfte, sagte ich, Falkner und Sie, ich habe nie geschrieben, gelesen ja. Einer muss das ja übernehmen.

Dieser Falkner, sagte er sinnend, hat weiter und weiter geschrieben, und irgendwann ist man dann wohl Schriftsteller. Manchmal lese ich über ihn in der Zeitung.

Mit Falkner hatte ich damals zusammengewohnt. Eine Wohngemeinschaft. Nichts Ideologisches, von wegen Türen ausheben, offene Beziehungen und so. Vier Studenten und ein Kühlschrankvertreter hatten eine Dachwohnung gemietet. Falkner schrieb, er sprach nicht darüber, und gelesen hatte auch niemand etwas, aber man wusste, er schrieb Gedichte, er schrieb Prosa, er schrieb Hörspiele. Er hatte bis dahin nichts veröffentlicht, und niemand konnte sagen, woher die Kunde kam, dass er schrieb. Vielleicht hatte er es irgendwann irgendjemandem einmal verraten. Vielleicht reichte auch nur die Vermutung. Ungewöhnlich war, wie er Prosa kritisierte, die Sprache sei ungenau, spannungslos, schlicht, habe keinen Rhythmus, das war noch die gängige Kritik, aber dann kam sein verräterisches Das-bringt-nichts-Neues.

Ich aber konnte mit Sicherheit sagen, er schrieb. Unsere Zimmer lagen nebeneinander. Ich hörte ihn auf und ab gehen, die Wände in diesem Fünfzigerjahre-Neubau waren dünn, und ich hörte ihn tippen, ein stotterndes, nachdenkliches, metallenes Picken. Er bekam oft Besuch. Manchmal traf ich ihn mit einer Frau auf dem Flur der Wohnung, er ging voran, die Frau hinterher, meist Frauen, die älter waren, um die dreißig, also schon in Lohn oder Ehe, hin und wieder Studentinnen.

Das ist vielleicht einer, sagte die vom Vermieter bezahlte Putzfrau. Sie schüttelte den Kopf mit betonierter Dauerwelle, schnaufte anerkennend und keineswegs verächtlich durch die Nase. Wäre froh, wenn der Sohn, der nun schon dreiundzwanzig ist, endlich mal mit ’nem Mädel antanzt. So ganz anders die Tochter, Friseuse, einundzwanzig, verheiratet und schon zwei Kinder.

Das Tack Tack der hohen Absätze auf dem Gang. Nebenan Gemurmel, Lachen, Stille. Dann ein aufseufzendes Bett. Ich stopfte mir Ohropax in den Gehörgang.

Und Sie? Freiwillig hier?, fragte Euler.

Durchaus. Dienstverpflichtung gibt’s ja nicht. Er schien wirklich ahnungslos, was des deutschen Beamten Rechte und Pflichten sind.

Lehrer, Deutsch, Geschichte. Wie gesagt, jetzt pensioniert. Rosen und Porree. Und so nebenher ein Antiquariat, nichts Großes und mehr als Tarnung vor Frau und Familie. Ich sammle Erstausgaben. Verkaufe aber praktisch nichts. Kann mich einfach nicht trennen. Höchstens mal, wenn ich was doppelt oder dreifach habe. Bin wie ein Wirt, der sich selbst der beste Gast ist. Spezialisiert auf Achtundsechzig und Arno Schmidt.

Ich sah ihn an, intensiv, ja ich fixierte ihn. Damit hat er nicht rechnen können, ausgerechnet hier, am Mare Balticum, mit seinem Vorleben konfrontiert zu werden.

Er hatte an unserem Vierertisch die Schmidt-Lektüre eingeführt. Auch der Jurist, der außer der Zeitung und seinen Kompendien kaum etwas las, hatte sich »Kühe in Halbtrauer« geliehen. Falkner und ich hatten das Buch gekauft, natürlich Hardcover. Und der Streit zwischen Falkner und ihm, dem Mathematicus, darum sein Spitzname Euler, über die Bedeutung von Arno Schmidt war der Cantus firmus in den Tischgesprächen, die sonst über Gott und die Welt gingen, Hochpolitisches und ganz Alltägliches, so was wie: Gibt es ein Leben nach dem Tod, was der Jurist behauptete, der, wenn es dann auch noch ein Gericht geben sollte, wohl in die größten Schwierigkeiten von uns vieren gekommen wäre. Also ein Jenseits, Kreation, Gottvater, der Herr des Gartens, der alles in Gang gesetzt hat und nun staunt über Mord und Totschlag, auf höchster Ebene Unterhaltung, Welttheater. Amüsiert er sich? Oder ist er verzweifelt, weil ihm da etwas aus dem Ruder gelaufen ist? Der Jurist glaubte an einen Schöpfergott, wie er sagte, und mit dem Tod sei nicht alles vorbei. Was kommt nach dem Tod? Kann ich genau sagen, das, was vor der Geburt war, sagte der existentialische Jungautor Falkner. Nichts.

Aber dann ist doch die entscheidende Frage: Warum is’n etwas und nicht vielmehr nix.

Hm. Brummelte dann Falkner: Weil wir nun mal zufällig auch diese Frage stellen können.

Plötzliche Wendung ins Alltägliche. Der Aufmacher in der Abendzeitung. Ein Junge war im Kölner Zoo in ein Bärengehege geklettert. Wollte das niedliche Bärenbaby mal streicheln. Er wurde sofort von der Bärin angegriffen. Der Vater des Jungen sprang hinterher. Beide wurden zerfleischt.

Was würde man machen? Opfergang oder besser Instinkt. Reflex oder Ratio. Vaterliebe. Gibt’s die, so wie es Mutterliebe gibt? Gibt’s auch nicht. Wird der Stammaffe, das Alphatier, vertrieben und ein neuer Patriarch kommt, beißt er die alte Brut tot und die Mutter schaut ungerührt zu, wartet auf die nächste Kopulation.

Nein. Ja. Der Jurist sagte entschieden, er würde nicht springen. Er war eine ehrliche Haut. Warum lacht, wenn es blitzt, unser Bundespräsident Lübke? Wir wussten es, trotzdem lachten wir.

Die an den Nachbartischen stumm ihre Suppe in sich Hineinlöffelnden sahen verbittert herüber. Sieben Freitische mit immerhin achtundzwanzig Plätzen. Drei Gänge gab es zum Mittagessen: Suppe, Hauptgericht, Nachtisch. Weit besser als das Mensaessen aus der Gulaschkanone, einen Schlag Nudeln und klatsch, ’ne Kelle roter Sauce rüber. Sah aus wie hingekotzt.

Hier hingegen wurde adrett gedeckt, serviert und abgeräumt von Bedienungen mit weißen Schürzchen vor Brust und Schoß. Die Freitische waren Spende und Werbung der Großversicherung. Ich habe denn auch später meine Lebensversicherung bei ihr abgeschlossen. Gute Taten zahlen sich eben aus.

Man musste, um in diesen Genuss zu kommen, Stipendiat sein und nachweisen, dass ein Notfall vorlag. Plötzliche Mieterhöhungen, Verzögerungen bei der Auszahlung der Stipendien. Gründe ließen sich immer finden, und die meisten, die sich hier versammelten, hatten welche oder doch Verbindungen. Das waren Typen, die mit Pralinen die Sachbearbeiterin im Studentenwerk betörten wie unser Jurist, der den Freitisch wohl am wenigsten brauchte.

Lebt jetzt, wie ich hörte, in einem Chalet mit Blick auf den Großglockner. Also sogar dieser sonst literaturferne Mensch begann sich unter Ihrem Einfluss in Arno Schmidt’scher Diktion zu üben, vielleicht auch darum, weil er sonst nichts las. War aber ein witziger Kopf. Begann am Montagmittag nach ereignisreichem Wochenende vom Proto-Sonntag ankläglich zu erzählen. Der Jurist schlemmte nicht nur kostenfrei, sondern verdiente auch noch zu, als Schlafwagenschaffner, alle vierzehn Tage nach Italien. Und ganz Geschäftsmann, der er später einmal werden sollte, brachte er in seinem Abteil drei Wassereimer Schnittblumen aus Italien mit. Die verkaufte er einem Straßenhändler, der sie wiederum auf der Münchner Freiheit feilbot. Geschäftssinn durch und durch.