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Ekkehard Wolf

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Ekkehard Wolf

fremdgesteuert

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Fremdgesteuert

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Impressum neobooks

Fremdgesteuert

Europakrimi „Schattenmann“ – Band 4

von Ekkehard Wolf

Kapitel 1

Viola Ekström blickte auf die Straße vor dem Cafe und lehnte sich zurück. Die Erinnerung hatte sie ausgerechnet vor dem schäbigen kleinen Hotel in Helsinki übermannt, das aufzusuchen sie sich gern erspart hätte. Noch vor wenigen Wochen hätte sie jeden für verrückt erklärt, der auf die Idee gekommen wäre, zu behaupten, ihre Vergangenheit würde sie noch einmal einholen. Aber jetzt war das doch geschehen. In Gedanken glitt sie zurück zu dem Moment, mit dem all das angefangen hatte. Gerade so, als ob es erst gestern gewesen wäre, entdeckte sie sich selbst in dem abgedunkelten Besprechungszimmer in Schottland, in dem sie gemeinsam mit ihren damaligen Kollegen den Versuch unternommen hatte, ihren Abteilungsleiter von den Beobachtungen in Kenntnis zu setzen, die ihr im Verlauf der vorhergehenden Tage „ins Netz gegangen“ waren.

Es war ein unangenehmer Tag gewesen. Alles grau in grau. Der Himmel war dicht mit Wolken verhangen. Das Kalenderblatt zeigte das Datum des 10. September. Sie hatte sich damals klar gemacht, dass ihr Vorgesetzter vermutlich mit Wehmut auf dem Weg ins Besprechungszimmer an den zurückliegenden Urlaub gedacht und dabei selbst noch intensiver gefröstelt haben dürfte. Im Vorführraum des kleinen, mit grauen, eingeschossigen Baracken ausgestatteten Gebäudekomplexes der Außenstation des weltweit arbeitenden Nachrichtendienstes war er bereits von ihr und ihren beiden Kollegen erwartet worden. Gemeinsam hatten ihm ihren damaligen Erkenntnisstand vorgetragen.

„Die hohe Schule der Hacker und Cracker also?“ hatte ihr damaliger Vorgesetzte zum Abschluss ihres Berichtes nachdenklich in einem Ton zurück gefragt, die sie zunächst als sarkastisch wahrgenommen hatte. Wie ihr später klar geworden war, hatte der Oberstleutnant die Perspektiven dessen, was seine Mitarbeiter da an Erkenntnissen zu Tage gefördert hatten als ausgesprochen beunruhigend empfunden. „Wer steckt dahinter?“, hatte er wissen wollen und dabei mit hochgezogenen Augenbrauen in die Runde geblickt. Ihre damaligen Kollegen und sie hatten diese Frage damals mit einer ganzen Reihe von Mutmaßungen beantwortet, schließlich aber einräumen müssen: „Wir wissen es nicht.“

Inzwischen war das lange her, aber Viola Ekström musste sich eingestehen, dass sich an dieser Einschätzung seither nicht wirklich viel geändert hatte.

In dem kleinen Café, das zu dem schäbigen Hotel gehörte, von dem Viola Ekström gehofft hatte, es nie aufsuchen zu müssen, kam Unruhe auf. Ein Gast hatte sich genau in dem Augenblick ruckartig von seinem Platz erhoben, als die Bedienung mit einem vollen Tablett hinter ihm vorbei ging. Natürlich gingen die Gläser zu Bruch und die Aufmerksamkeit der wenigen Gäste konzentrierte sich auf die Frage, wie der Gast und die Bedienung mit dem kleinen Missgeschick umgehen würden. Bei Viola Ekström hingegen klingelten bei dem Vorfall reflexartig sämtliche Alarmglocken. Schon fast mechanisch glitt ihre Hand in die Umhängetasche und umklammerte die kleine Galesi, die sie zu ihrem und ihrer Tochter Schutz ständig mit sich führte, wenn sie sich in eine Gefahrensituation begeben musste, deren Ausgang für sie nicht abschätzbar war. Seit einiger Zeit schienen sich solche Gefahrensituationen zu häufen. Die kleine Waffe war so zu ihrem ständigen Begleiter geworden. Doch in diesem Fall schien die Sorge unbegründet. Der Gast entschuldigte sich vielmals und half der überraschten Bedienung sogar dabei, die Scherben aufzusammeln. Das Interesse der anderen Gäste begann sich wieder auf das Geschehen auf der Straße zu konzentrieren und Viola Ekström kehrte in Gedanken zurück zu jenem denkwürdigen Ausflug nach Dänemark und Norwegen, in dessen Verlauf erst die polnische Sonderermittlerin Agnieszka Malik ermordet und anschließend ihr bisheriges Leben gründlichst durcheinander gewirbelt worden war.

Das alles war zwar lange her, aber trotzdem noch immer nicht eigentlich „Schnee von gestern“. Vor allem auch, weil Viola Ekström bis zum diesem Moment keineswegs wirklich klar war, wer damals die Mordaktion in Auftrag gegeben hatte. Jedenfalls schauderte es sie bei der Erinnerung an die Ereignisse noch immer. Sie versuchte, sich von den quälenden Gedanken zu befreien, sah genervt auf die Uhr und bestellte sich noch einen Kaffee. Wieder einmal hatte sich ihre Freundin verspätet und diese Erfahrung trug mit dazu bei, weitere Fetzen der Erinnerung bei ihr selbst zu aktivieren.

„Ich bin mir inzwischen nicht mehr sicher, ob es wirklich vernünftig war, mich damals so sang- und klanglos aus dem Staub zu machen.“

Wie so häufig in letzter Zeit ertappte sie sich dabei, diese Worte halblaut gesprochen zu haben, obwohl sie allein am Tisch saß. Ohne äußerlich erkennbare Unruhe wandte sich die Frau im nächsten Moment jedoch unmittelbar darauf wieder dem kleinen Mädchen zu, das nicht müde wurde, auf den Platten des Bürgersteigs vor dem kleinen Cafe laut juchzend von einem Bein auf das andere zu springen und mittlerweile aus Sicht seiner Mutter dem Straßenrand gefährlich nahe gekommen war.

„Larischka, Liebling, komm’ hierher, komm’ zur Ma,“ ertönte es gleich darauf aus ihrem Munde auf russisch.

Der Stimme war kaum eine Spur von Besorgnis anzumerken.

Einem Unbeteiligten musste diese leise vorgetragene Aufforderung wie die ganz alltägliche Reaktion einer Mutter erscheinen, die verhindern möchte, dass das eigene Kind sich dem Straßenverkehr zu sehr nähert. Irritierend hätte lediglich der Umstand wirken können, dass auf der Straße praktisch kein Autoverkehr zu verzeichnen war.

Lediglich ein einziges Fahrzeug näherte sich in einiger Entfernung, das jedoch mit geringer Geschwindigkeit und zudem noch auf der anderen Straßenseite.

Einem aufmerksamen Beobachter wäre indes sicherlich nicht die Hand entgangen, die sich im gleichen Moment wie beruhigend auf die Hand der Mutter legte, die sich ihrerseits so fest um die Tischkante geklammert hatte, dass das Weiße das Blut aus den Knöcheln verdrängt hatte.

Doch einen solchen Beobachter gab es nicht und so war lediglich der in genau diesem Moment eingetroffenen Freundin der unruhige Blick nicht entgangen, mit dem die Frau auf die Annäherung des PKW reagiert hatte, bevor sie sich dazu entschloss, ihre Tochter zu sich zu rufen. Während ihre Hand in der Hand der Freundin ruhen blieb, verschwand die andere Hand wie zufällig erneut in der Umhängetasche, die sie neben sich auf den freien Stuhl gelegt hatte.

Die Augen beider Frauen waren konzentriert auf das näher kommende Fahrzeug gerichtet.

„Lara, hierher, sofort.“

Der schärfer werdende Ton der zweiten Aufforderung an das weiterhin unbekümmert am Straßenrand spielende Kind verriet die zunehmende Anspannung, mit der die junge Mutter auf das Näherkommen des Fahrzeugs reagierte. Genau in dem Moment, in dem sie im Begriff war, ihre Hand aus der Umklammerung durch ihre Freundin zu befreien, hielt der Wagen genau auf der gegenüber liegenden Straßenseite.

Viola Ekströms Nerven lagen in diesem Augenblick bereits so blank, dass sie meinte ganz deutlich das summende Geräusch des kleinen Elektromotors zu vernehmen, mit dem der Fahrer des Wagens die Seitenscheibe herunterließ. Während ihre Freundin weiterhin wie gebannt auf das gegenüberstehende Fahrzeug starrte, schnellte die nicht mehr ganz junge Frau wie von einer Feder getrieben von ihrem Stuhl hoch. Mit einem Satz erreichte sie ihre Tochter und zog das völlig überraschte Kind mit einer schon panikartigen Bewegung hinter sich. Während ihr Blick, dem eines gehetzten Wildes ähnlich, fieberhaft nach einer schützenden Deckung suchte und sie zugleich mit einem Sprung versuchte, gemeinsam mit ihrer fest umklammerten Tochter den nahen Müllcontainer zu erreichen, brach sich bei der Landung mit einem stechenden Schmerz in der Schulter bei ihr die Erkenntnis Bahn, von ihren Verfolgern aufgespürt worden zu sein. Sie spürte, wie das warme Blut aus der verletzten Schulterwunde sich auf dem Pflaster ausbreitete, verharrte nichtsdestotrotz zusammengekrümmt hinter dem Container und benötigte einige Zeit, bis sie begriff, dass in Wirklichkeit nichts geschehen war. Auch zu dieser Einsicht gelangte sie schließlich erst, als sie die rüttelnde Hand ihrer Freundin an ihrer unverletzten Schulter spürte und zugleich das leise Wimmern ihrer Tochter wahrnahm, die sie noch immer umklammert hielt. Dem Wagen auf der anderen Straßenseite war zwischenzeitlich ein junger Mann entstiegen, der offenkundig lediglich die Absicht hatte, in dem dahinter liegenden Geschäft seine Einkäufe zu tätigen und der von der durch ihn verursachten Panik auf der gegenüber liegenden Straßenseite anscheinend nicht einmal etwas mitbekommen hatte.

„Komm hoch,“ vernahm sie die energische Stimme ihrer Freundin, die sich erst im nächsten Atemzug danach erkundigte, ob sich die noch immer am Boden Liegende verletzt habe. Als Viola Ekström aufblickte, musste sie zur Kenntnis nehmen, dass sich in der kurzen Zeit bereits ein kleiner Menschenauflauf von Passanten gebildet hatte. Deren mitleidsvolle Reaktionen machten ihr deutlich, dass die Umstehenden davon ausgingen, sie sei beim Spiel mit ihrer Tochter versehentlich gestürzt und habe sich dabei eine Verletzung zugezogen. Noch während sie sich mühsam versuchte aufzurichten, registrierte sie in einem neuerlichen Panikanfall, wie ihre Tochter in die Reihen der Umstehenden eintauchte und dort verschwand. Erst als ihre Freundin mit ihrer Tochter an der Hand wenige Augenblicke später wieder auftauchte, begann sich die innere Spannung allmählich zu lösen. Sie erhob sich, torkelte leicht, so dass sie sich an den Müllcontainer lehnen musste, spannte dann energisch ihre Muskeln an und teilte sich und den Umstehenden mit: „Es geht schon wieder.“ Deren Blicke verrieten ihr zwar, dass sie nicht sonderlich überzeugend gewesen sein konnte, doch als sie gestützt auf ihre Freundin mit ihrer Tochter nunmehr an der eigenen Hand in der Lage war, den Ort des Geschehens zwar langsam aber immerhin zu verlassen, legte sich auch deren Interesse wieder.

„So geht das nicht weiter,“ zischte noch auf dem Weg zu ihrem Wagen die Freundin der jungen Mutter. Die Frau ohne eigene Identität hatte sich extra einige Tage frei genommen, um ihre langjährige Freundin wiedersehen zu können. Intuitiv hatte sie gespürt, dass ihre früher so lebenslustige Bekannte seit ihrem erzwungenen Abtauchen vor knapp vier Jahren immer stärker unter der Abkapselung und der Isolierung litt, in die sie seither geraten war. Es bereitete ihr körperlich Schmerzen zu erleben, wie die junge Mutter sich immer stärker in eine Art Verfolgungswahn hineinsteigerte und auf dem besten Weg war, entweder schizophren zu werden oder zumindest jedoch depressiv. Das soeben Erlebte bestätigte ihr nachdrücklich, dass es so nicht weiter gehen konnte. Viola Ekström sah die Sache völlig anders. Sie wollte endlich Gewissheit haben. Die Aufregung über das gerade Erlebte löste eine kleine Kreislaufschwäche aus. Nur mühsam gelang es ihr, sich an der Lehne eines Stuhles festzuhalten. „Ich muss mich einen Augenblick setzen,“ stellte sie klar und ließ sich am nächsten Tisch nieder. Erneut glitten ihre Gedanken daher ab zu den Ereignissen, die sie seither nicht mehr losließen.

Gleich nach ihrer Rückkehr aus Norwegen, hatte sie nach dem Mord an der Malik damals versucht, alle Hebel in Bewegung zu setzen, um herauszufinden, wer und was sich hinter der ominösen Organisation verbarg, die unter der Bezeichnung „GLOVICO“ firmierte. Überschattet worden waren ihre Bemühungen allerdings von dem unerwarteten Ableben dreier weiterer Personen. So musste sie sich eingestehen, dass nach der Mordaktionen gegen die Malik, Olaf Haffner und das Ehepaar Bird faktisch eine grundlegende Veränderung eingetreten war. So waren die Hintermänner der seltsamen Onlineplattform seither auf einen Schlag von der Bildfläche verschwunden gewesen. Viola Ekström rätselte noch immer, ob hierfür tatsächlich die Kommandoeinheiten des Oberst Rudenko verantwortlich waren, oder ob die Täter mit den Abräumaktionen bei den Banken einfach ihr Ziel erreicht hatten und nun auf den Bahamas oder anderswo die Strände bevölkerten. Völlig verändert hatten sich seither auch die Aktivitäten der früheren Kandidaten des obskuren Onlinerekrutierungsbüros. Hier hatte sich offenkundig ein Generationswandel vollzogen. Denen, die da inzwischen die Zügel in der Hand hielten, reichte offenkundig der Kick nicht mehr aus, sich in irgendein fremdes Netz erfolgreich eingehackt zu haben. Ihr Vorgehen war jetzt personenorientiert. Mithilfe der modernen Navigationstechnik orteten sie ihre Opfer, klemmten sich an sie und versuchten sie so zu bearbeiten, dass diese sich zu willfährigen Instrumenten ihres Willens verwandelten. Die Art und Weise, wie sie das taten, hatte durchaus sadistische Züge. Natürlich gehörte ausgerechnet auch sie einmal wieder zum bevorzugten Kreis dieser Opfer. Auch wenn sie nicht begriff, warum. Als Geheimnisträgerin kam sie jedenfalls nicht mehr in Frage. Eher schon als Mittel zum Zweck. Was immer der Zweck sein mochte, der diese Mittel heiligte. War es möglich, dass die Verursacher von damals identisch waren mit den Hintermänner ihres aktuellen Problems?

Viola Ekströms Erinnerung wurde unterbrochen. Der junge Mann, der zuvor mit seinem Wagen ihren Panikanfall ausgelöst hatte, verließ das Geschäft, in dem er eingekauft hatte. Er setzte sich wieder in sein Fahrzeug, wendete und lenkte die Limousine jetzt genau in Richtung des Lokals, in der sich Viola zur Erholung niedergelassen hatte. Sofort umklammerten ihre Hände panikartig den Rand des Bistrotisches an dem sie Platz genommen hatte. Der Wagen kam näher. Beim Hinschauen entdeckte sie, dass der Fahrer nicht allein im Auto saß. Als im gleichen Augenblick ihr Handy klingelte, war sie kurz davor, sich erneut fluchtartig aus dem Staub zu machen. Wieder versuchte ihre Freundin beruhigend auf sie einreden. Aber Viola Ekström war nicht bereit, sich beruhigen zu lassen. Zu offenkundig waren für sie die Versuche der vergangenen Wochen gewesen, sie ausfindig zu machen. Die SMS, die ihr gerade jetzt übermittelt worden war, trug nicht dazu bei, ihre Besorgnisse zu vermindern. Wie ihr ein kurzer Blick auf das Display verriet, enthielt die Botschaft nichts anderes, als einen Link zu einer Internetseite, die ein zweites Leben anpries. Aber sie zögerte diesen anzuwählen, da sie ein Ablenkungsmanöver befürchtete, mit dem ihre Aufmerksamkeit von dem Geschehen vor ihr abgelenkt werden sollte. Zwar hatte der Wagen das Lokal inzwischen passiert, doch hielt er bereits wenige Meter weiter erneut. Abermals verließ der Fahrer sein Fahrzeug und betrachtete die Auslagen eines Schaufensters.

„Lass’ uns hier abhauen,“ raunte Viola ihrer Freundin zu und musste feststellen, dass diese ihre Bedenken anscheinend zu teilen schien. Sie hatte sich erhoben, ging jetzt ohne zu zögern auf den jungen Mann zu und sprach ihn an. Viola konnte nicht verstehen, was beide miteinander sprachen, doch die erschrockene Reaktion des jungen Mannes machte deutlich, dass ihre Freundin ihn dienstlich aufgefordert haben musste, sich auszuweisen. Früher hätte sie eine solche Beobachtung in Erstaunen versetzt. Aber mittlerweile hatte sie sich daran gewöhnt, dass ihre Freundin offenkundig keinerlei Schwierigkeiten hatte, sich mit Dienstausweisen einzudecken. Unwillkürlich fragte sie sich zwar, wie es der Frau gelungen war, den Unbekannten in seiner Sprache anzusprechen, aber anscheinend war auch das nicht unmöglich. Der junge Mann jedenfalls kam der Anweisung nach, wies sich mit einem Dokument aus, setzte sich gleich darauf wieder in sein Auto und fuhr davon. Als ihre Freundin wieder am Tisch angelangt war, hatte Viola Ekström bereits die Internetseite aufgerufen, die ihr gerade per SMS zugestellt worden war. Das, was sie jetzt zu sehen bekam, bestätigte ihre Befürchtungen. Die aufgerufene Seite enthielt nichts anderes, als eine persönliche Widmung mit der schlichten Mitteilung, dass sie identifiziert sei und auch ihr nunmehr die Möglichkeit gegeben werde, ein zweites Leben zu beginnen. Wie immer aber hatte sie keinerlei konkreten Hinweise darauf, wer sie identifiziert hatte. Aber sie begriff, dass es dem Absender der Meldung wohl vorrangig darum ging, sie mürbe zu machen. Sobald ihre Freundin wieder am Tisch war, reichte sie ihr das Handy. Per Blickkontakt verständigten sich beide Frauen darauf, jetzt erst einmal den Versuch zu unternehmen, sich der unmittelbaren Beobachtung zu entziehen. Sie bestellten sich ein Taxi und starteten ihr Verwirrspiel, indem sie sich kreuz und quer durch die Stadt chauffieren ließen. Während ihre Freundin den nachfolgenden Verkehr im Blick behielt, bemühte sich Viola Ekström, die kleine Reise für ihre Tochter wie einen Ausflug aussehen zu lassen. Schließlich hatte sie die kleine Lara mit einer ausgedachten Geschichte unterhalten, bis das Kind eingeschlafen war. Als sie gleich darauf aus dem Fenster blickte, glaubte sie für einen Moment lang ihren Augen nicht zu trauen. Stand da nicht ihr ehemaliger Vorgesetzter von der NSA ganz ungeniert direkt an der Ampel? „Was machst du hier Schultz?“ Viola Ekström war aufrichtig erstaunt und wandte ich im Vorbeifahren zurück nach dem Mann am Straßenrand.

Im gleichen Moment wurde die frühere NSA Agentin kräftig nach vorn gedrückt. Der Taxifahrer hatte scharf gebremst. Hierdurch wurde die kleine Tochter der Frau aus ihrem Schlaf geweckt. Sogleich fing sie an, sich über die lange Reise zu beschweren, da sie Hunger habe. Dem Wunsch des Kindes konnten sich die Frauen nicht entziehen und so forderten sie den Taxifahrer auf, am nächsten Schnellimbiss zu halten, zahlten, begaben sich in das Lokal und bestellten das, worauf das Kind gerade Appetit hatte.

„Ola, ich denke, wir sollten unbedingt erneut Deine Identität wechseln. Mir wird das so allmählich unheimlich. Wie haben die das geschafft, Dich zu identifizieren?“ Ihre Freundin schien aufrichtig besorgt und zugleich ratlos. Sie gab sich zugleich Mühe, im Ton nicht aufgeregt zu erscheinen, um nicht auch noch das Kind zu beunruhigen, obwohl Lara natürlich genau das Element war, das die Sache für beide Frauen besonders beunruhigend machte. Die Kleine machte sie hilflos und erpressbar – zu eben dem potentiell willenlosen Opfer eben, auf das diese Typen so scharf waren.

Viola Ekström zwang sich dazu, in ebenso belanglosem Tonfall zu antworten. Ihr war klar, dass ihre Freundin recht hatte, aber sie war es leid, auf den Vorschlag einzugehen und brachte das auch zum Ausdruck. Wie oft hatten sie sich bereits auf diesen Ausweg geeinigt? Der wievielte Pass steckte inzwischen in ihrer Tasche? Viola Ekström hatte oft Mühe, sich auf ihren jeweiligen Namen und die dazu gehörende Legende noch ernsthaft einzustellen. Wie hieß sie noch? Wer war sie wirklich? Das, was gerade geschehen war, bewies ja, dass es trotzdem noch möglich war, sie zu identifizieren. Sie wusste auch warum. Das Problem war das Kind. Dem konnten sie nicht ständig eine neue Identität verpassen, ohne es restlos zu verwirren. Anfänglich hatte sie versucht zu verhindern, dass ihre Tochter in einer dieser vielen miteinander vernetzten Datenbanken erfasst wurde, aber selbstverständlich war dieser Versuch fehlgeschlagen. Auch der Versuch, es mit Hilfe von Märchen zu versuchen, war fehlgeschlagen. Das Mädchen hatte da wie alle Kinder eine Zeitlang begeistert mitgespielt, aber immer, wenn es ernst wurde, war sie natürlich zurück in ihre vertraute Identität geschlüpft. Sie war nun einmal die Lara und bestand auch darauf. Dementsprechend musste sie in den offiziellen Dokumenten auch diesen Namen tragen. Ein einziger offizieller Arztbesuch hatte vermutlich auch jetzt ausgereicht, um alle zuvor ausgetüftelten Tarnstrategien gegenstandslos werden zu lassen. Vermutlich würde es trotzdem wieder gelingen, für einige Zeit abzutauchen und sich dem Gesichtsfeld der Häscher zu entziehen, doch gelang das eben immer nur vorübergehend. Inzwischen war Viola Ekström überzeugt davon, diese Herrschaften spielten mit ihr und ihrer Tochter ein ganz übles Katz- und Mausspiel und sie ging davon aus, dass sie nicht die einzige Mutter war, mit der dieses Spiel gespielt wurde. Was sie zunächst nicht verstanden hatte, war, warum diese Typen ihr immer wieder Gelegenheit gaben, sich ihnen zu entziehen, nachdem ihre Enttarnung gelungen war. Inzwischen war ihr auch hier ein Licht aufgegangen. Sie ausfindig zu machen, war zu einem Teil eines Spiels geworden. Für die Anderen war sie zu einer virtuellen Gestalt geworden, die in der realen Welt ausfindig gemacht werden musste. Diese Erkenntnis hatte ihr eine Zeitlang ein wenig die Angst genommen. Solange es für wen auch immer eine Herausforderung blieb, sie auftragsgemäß ausfindig zu machen, solange war das ganze Spiel im Grunde zwar ausgesprochen nervig, aber letztlich zu handhaben, wie andere Spielregeln auch. Die einzige Regel bestand in diesem Fall offenkundig darin, sich eine neue Identität zulegen zu müssen, sobald sie von irgendjemandem enttarnt war. Wann dieser Zeitpunkt gekommen war, wusste sie ja sofort, da der oder diejenige, dem das gelang, offenkundig den Auftrag hatte, ihr ihre Enttarnung mitzuteilen. Solange sie mitspielte, war sie also für diejenigen, die anderen diesen Suchauftrag erteilten, von einer gewissen Bedeutung. Vermutlich fanden die da es richtiggehend spannend zu erleben, wie sich ihre kleine Agentin von Level zu Level immer weiter dabei steigerte, ihre Identität vor dem Zugriff der Mitspieler zu verbergen. Wussten diejenigen, die den Auftrag hatten, sie ausfindig zu machen überhaupt, dass sie real existierte und kein Teil ihrer virtuellen Welt war? Mit ihrer Ruhe war es vorbei gewesen, als sie begriffen hatte, dass sich die Spielregeln jederzeit ändern konnten. Was würde geschehen, wenn sich der Auftrag eines Tages ändern sollte, von suchen und finden in suchen und zerstören? Search and Destroy! War das nicht einmal eine Devise, mit der die amerikanischen Truppen in Vietnam die dortigen Rebellen verfolgten? Würde auch sie dann einfach ausgeknipst? Vielleicht sogar einfach nur aus einer Laune heraus, weil es so viel Spaß machte und lustig war, dabei zuzusehen, wie jemand reagierte, der damit rechnen musste, gleich ausgeknipst zu werden? War sie vielleicht nur deshalb noch am Leben, weil’s sie sich so viel Mühe gab, sich immer wieder ihrer Entdeckung zu entziehen und damit das Weiterspielen mit ihr spannend machte? Gab es bereits andere, die schon längst ausgeknipst worden sind und deshalb bereits tot sind, weil sie sich geweigert hatten mitzuspielen oder sich diese Mühe nicht gegeben hatten und daher einfach langweilig geworden waren und gegen andere Figuren ausgetauscht wurden, die vielleicht noch nicht einmal begriffen hatten, Teil dieser virtuellen Realitiyshow zu sein, in der von ihnen verlangt wurde, real um ihr Leben zu kämpfen und die, wenn sie versagten, eben ihr Recht verwirkt hatten weiter zu leben? Wer entscheid eigentlich darüber, welche Regel galt? Laufen lassen, quälen oder liquidieren? Konnte das vielleicht sogar derjenige selbst entscheiden, der den Suchauftrag erfolgreich erledigt hatte? Viola Ekström lief ein kalter Schauer den Rücken hinunter, als sie sich klar machte, dass dann ihr eigenes Leben und das ihrer Tochter möglicherweise allein davon abhing, ob es ihr auch weiterhin gelingen würde, für die Spieler ein spannendes Objekt zu bleiben. Viola Ekström traten die Tränen in die Augen. Aber die scheute sich, ihrer Freundin diese Gedanken anzuvertrauen. Nicht weil sie wirklich Sorge hatte, auch sie könnte bereits ein Teil der virtuellen Realität geworden sein, obwohl - so gänzlich ausschließen mochte die ehemalige NSA Agentin inzwischen auch diese Variante nicht mehr, immerhin bildete ja ihre Freundin über weite Strecken die einzige Verbindung in der realen Welt, die ihre wirkliche Identität kannte - sondern vor allem deshalb, weil sie Sorge hatte, von dieser ihrer Freundin danach als restlos irre eingestuft und in eine geschlossene Anstalt eingewiesen zu werden. Dass diese Gefahr real bestand, zeigte ihr bereits jetzt die zunehmende Besorgnis, die ihre Freundin ihrem Gesundheitszustand entgegenbrachte. War es vielleicht sogar möglich, dass auch diese Option bereits Teil einer virtuellen Spielvariante geworden war? Viola Ekström versuchte sich aus dem Dilemma der Entscheidungsnot zu befreien, indem sie sich dazu zwang, sich an das zu erinnern, was geschehen war, nachdem sie sich nach ihrem Kurzurlaub in Dänemark und Norwegen ihrem damaligen Vorgesetzten offenbart hatte. War es möglich, dass der Schlüssel für ihr weiteres Schicksal bereits dort zu finden war? Das könnte zumindest erklären, dass sie Schultz vorhin an der Ampel gesehen hatte. Andererseits erschien ihr die Vorstellung, dass ausgerechnet dieser steife Vollprofi als Organisator einer kriminellen Internetbande in Frage kommen sollte, bei Licht besehen, doch schon ziemlich abwegig vor.

Viola Ekström wurde aus ihren Gedanken gerissen. Vor dem Lokal hatte sich eine Gruppe junger Leute eingefunden, die offenkundig stark angetrunken waren. Bei der jungen Mutter und ihrer Freundin läuteten erneut die Alarmglocken. Sie sahen sich an und die Amerikanerin schwedischer Abstammung forderte ihre Tochter auf, dass es jetzt aber wirklich an der Zeit sei, einmal die Toilette aufzusuchen. Ohne den Einspruch der Kleinen zu beachten, erhob sie sich und schob das überraschte Kind vor sich her in Richtung der Toilette. Sie war vielleicht gerade einmal zehn Schritte gegangen, als sie abrupt wieder innehielt und sich erschrocken nach ihrer Freundin umsah. Doch die war anderweitig beschäftigt. Die jungen Leute hatten sie gleich nach dem Betreten des Lokals als Trinkkumpanin auserkoren und sich lärmend so um sie herum versammelt, dass Viola nicht ausmachen konnte, in welcher Lage sich ihre Freundin gerade befand. Sofort war ihr damit klar, dass sie mit der Situation, die sich unmittelbar vor ihr aufbaute, selber fertig werden musste. Vor ihr standen wie aus dem Boden gewachsen zwei junge Glatzköpfe und starrten sie aggressiv an. Sie nahm ihre Tochter zur Seite und versuchte sich mit ihr gesenkten Blickes an den beiden Burschen vorbeizudrücken. Doch die hatten anscheinend etwas anderes im Sinn und machten keinerlei Anstalten, den Weg frei zu geben. Sie war bereits im Begriff, dem größeren der Beiden an die Gurgel zu gehen, als sie bemerkte, dass nicht sie es war, der die Aufmerksamkeit der Glatzköpfe galt. Die beiden waren aus der Herrentoilette gekommen und hatten überrascht feststellen müssen, dass mittlerweile die Gruppe der jungen Leute das Lokal betreten hatte. Im Vorbeigehen gewann Viola Ekström den Eindruck, dass sie vermeiden wollten, von den jungen Leuten wahrgenommen zu werden. Erst jetzt kam ihr die Idee, es könnte sich bei den jungen Leuten und den Glatzköpfen um Angehörige rivalisierender Gangs handeln, die nicht gut aufeinander zu sprechen waren. Die beiden Männer zögerten einen Augenblick, verständigten sich dann per Augenkontakt zum Rückzug und gingen eiligen Schrittes in Richtung des hinteren Ausgangs. Gerade, als sie im Begriff waren, den Raum zu verlassen, wurden sie von den Mitgliedern der anderen Gruppe entdeckt und wie auf Kommando nahmen diese nunmehr die Verfolgung der beiden Glatzköpfigen auf. Viola Ekström war es gerade noch gelungen, sich und ihre Tochter in den Türrahmen der Damentoilette zu drücken. Sonst wären sie vermutlich ganz einfach über den Haufen gerannt worden. Gerade hatte sie sich dazu durchgerungen, erleichtert durchzuschnaufen, als ein Mobiltelephon zu klingeln begann. Irritiert sah sie ihre Tochter an und tatsächlich entdeckte sie in deren Kapuze das kleine zappelnde Gerät, das ihr vermutlich von jemandem aus der Gruppe der jungen Leute im Vorbeieilen zugesteckt worden war. Viola Ekström schwante nichts Gutes. Mit einem schnellen Handgriff fingerte sie das Gerät aus der Kapuze ihrer Tochter und hob ab.

„WIR HABEN DICH“ war alles, was die Absender ihr mitzuteilen hatten.

Viola Ekström musste sich an die Wand lehnen, bekam dann weiche Knie und sackte käsebleich zusammen.

Als sie wieder zu sich kam, hockte ihre Freundin neben ihr und sah mit besorgtem Blick in ihre Augen. „Hey Ola, was machst Du denn für Sachen?“

Die Angesprochene sah sie mit glasigen Augen an, antwortete aber nicht. Suchend wanderte ihr Blick im Raum herum, aber sie fand nicht, was sie suchte. „Lar?!“ Es waren nur die drei Buchstaben, die unendlich gequält aus ihr herausbrachen, aber der Klang ihres Schreies war so durchdringend, dass selbst den hartgesottenen Angestellten das Blut erfror. Erst jetzt begriff auch die Frau ohne eigene Identität, dass das Kind nicht mehr da war. Mit einem Gesichtsausdruck, der nichts Gutes ahnen ließ, schnellte ihr Körper aus der Hocke nach vorn, um im gleichen Augenblick erst zu erstarren und dann entspannt zusammen zu fallen. Larischka hatte sich ganz brav zur Toilette begeben und war nun, auf den Schrei der Mutter hin, vor dorther zurückgekehrt auf den Flur.

„So geht das nicht weiter!“

Die Frau mit den vielen Identitäten hatte ihr diese Feststellung nur zugezischt, um das Kind nicht aufmerksam werden zu lassen, aber Viola hatte trotzdem verstanden. Sie sah ihre Freundin mit traurigen Augen an und hatte Mühe, ihre Tränen zu unterdrücken. Sie wusste selbst, dass es so nicht weiter gehen konnte. Aber das hier jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um die Angelegenheit zu diskutieren. Von hier mussten sie jetzt ganz einfach erst einmal verschwinden und hoffen, dass es ihnen noch einmal gelingen würde, sich für eine Zeitlang unsichtbar zu machen.

Die Frau an ihrer Seite sah das offenkundig ganz ähnlich. Schulterzuckend wandte sie sich dem erschrocken herbeigeeilten Kellner zu und bat ihn höflich darum, ein Taxi zu bestellen.

Damit war erst einmal sicher gestellt, dass sie sich von diesem Ort entfernen konnten, ohne dass bereits die Bestellung des Fahrzeugs von ihrem eigenen Handy aus erfolgen musste und damit das Gespräch entweder mitgeschnitten oder sie zumindest geortet werden konnten. Das bestellte Taxi verließ das Trio bereits wenige Straßenzüge später wieder, um in die Anonymität eines Warenhauses abzutauchen, aus dem sie ebenfalls kaum eine halbe Stunde später frisch kostümiert wieder auftauchten. Dieser Ablauf hatte sich mittlerweile so eingespielt, dass sogar das Kind anfing, ein wenig nölig zu reagieren, weil es keine Lust mehr darauf hatte, immer wieder dieses langweilige Spiel zu spielen. Es dauerte eine weitere knappe halbe Stunde, bis sie nach dem dritten Folgetaxi schließlich am Bahnhof angelangt waren. Dort lösten sie getrennte Fahrkarten nach Turku und bestiegen anschließend ebenso getrennt den Zug, um sich - ganz zufällig - wenig später in einem der nicht reservierten Abteile wieder zu treffen. Tatsächlich war sich Viola nie wirklich sicher gewesen, ob diese Variante der Absetzbewegung mehr Sinn machte als ihr eigenes Gewissen zu beruhigen. Schließlich waren die Möglichkeiten, sich mit der Bahn von Helsinki wegzubewegen, überschaubar und letztlich war da immer ihr kleines Handikap, was die Tarnung ein wenig erschwerte. Auf der anderen Seite sprach die Erfahrung der vergangenen Monate für dieses Verfahren. Schon möglich, dass dieser Erfolg tatsächlich nur darauf zurückzuführen war, dass diejenigen, die dieses Spiel mit ihr spielten, sich entschlossen hatten, ihr von Zeit zu Zeit immer wieder eine kleine Schonzeit zu gewähren. Doch selbst, wenn das so sein sollte, der früheren Mitarbeiterin der Nationalen Sicherheitsagentur halfen diese Phasen relativer Ruhe dabei, ihr seelisches Gleichgewicht wenigstens einigermaßen zu stabilisieren. Andernfalls hätte sie sich möglicherweise bereits längst zu der Lösung entschieden, die sich ihr bei jedem Zug, den sie sah, von Mal zu Mal stärker aufdrängte. Die Zeit im Abteil nutzte sie statt dessen nun dazu, sich ihres schlechten Gewissens wegen der düsteren Gedanken dadurch zu entledigen, dass sie sich als gute Mutter betätigte und ihrer Tochter deren Lieblingsgeschichten vorlas. Erst nachdem Lara eingeschlummert war, entschloss sich die Frau an ihrer Seite dazu, den Gesprächsfaden wieder aufzugreifen. Bis dahin hatte sie schweigend am Fenster gesessen, hinausgeblickt auf die vorbeiziehende Landschaft und versucht, sich von der inneren Angst ein wenig frei zu machen, die auch sie immer wieder überkam, wenn sie es mit Gegnern zu tun hatte, deren wahre Absichten sie nicht zu durchschauen vermochte. Aber sie war Profi genug, um sich von dieser Angst nicht überwältigen zu lassen.

„Sag’ mal, warum drehen wir den Spieß nicht einfach um?“

Viola Ekström sah ihrer Freundin nachdenklich in die Augen, überlegte einen Moment und wischte den Gedanken gleich darauf mit einer Handbewegung weg.

„Das schaffen wir nicht. Die sind zu stark, zu reich, zu mächtig. Die sind die und das weißt du auch.“

„Und wenn wir Verbündete mobilisieren, die ebenfalls stark sind und mächtig?“

Der Frau, die sich in ihrer Jugendzeit Ruth Waldner genannt hatte, war die Lust darauf vergangen, die Suche nach einer Lösung für das Problem ihrer Freundin so ausgehen zu lassen, wie sie in den vergangenen Wochen immer ausgegangen war.

Bereits seitdem sie von ihrem früheren Führungsoffizier und jetzigem Vorgesetzen mit der Mission „Norilsk“ beauftragt worden war und diesen Auftrag zur allgemeinen Zufriedenheit erledigt hatte, saß sie wieder fest im Boot. Dass sie daneben auch im Rahmen des vorangegangenen Einsatzes im Zusammenhang mit den ominösen Aufforderungen zur Sabotage an Kernkraftwerken nicht eben eine schlechte Figur gemacht hatte, trug ebenfalls dazu bei, ihre Freiräume zu erweitern. Konkret bedeutete das in einer Situation, wie der jetzigen, dass sie faktisch mit diplomatischer Identität ausgestattet, sich eine ganze Weile aus ihren eigenen dienstlichen Aktivitäten verabschieden konnte, um das zu tun, was zu tun war. Die Betonung lag auf einer Weile. Offiziell hatte sie natürlich Urlaub.

Aber das bedeutete praktisch eigentlich nur, dass diese Weile stündlich zu Ende gehen konnte und je länger sie andauerte, desto wahrscheinlicher war es, dass genau dieses Ende ganz plötzlich eintreten würde. Auch Viola Ekström war das klar und dennoch unternahm sie nichts, um sich für die Zeit danach zu wappnen. Die junge Mutter fühlte sich in Gegenwart und Begleitung ihrer Freundin ganz einfach sicherer und sah daher keinen Grund, der einen Vorwand dafür zu liefern, sich wieder von ihr zu verabschieden. Die letzten Worte ihrer Freundin ließen sie trotzdem aufhorchen. „Verbündete, die ebenfalls stark und mächtig sind?“ wiederholte sie mit hochgezogenen Augenbrauen. Der Anwerbeversuch erschien ihr derartig plump, dass sie Zweifel hatte, ob die Mitarbeiterin des russischen Inlandsgeheimdienstes das ernst meinen konnte. Doch die Frau an ihrer Seite ließ sich nicht irritieren.

„Genau,“ bestätigte sie statt dessen und ließ weiter offen, was genau sie sich darunter vorstellte.

„Du meinst jetzt aber nicht im Ernst, dass wir Seite an Seite für Frieden und Fortschritt kämpfen sollen, oder?“ Viola Ekström zog es vor, auf den vermeintlichen Vorschlag mit sanfter Ironie zu reagieren, auch wenn ihr im Moment eigentlich gar nicht danach war, dieses Thema zu vertiefen.

Erst jetzt begriff ihre Freundin, wie sie selbst verstanden worden war und reagierte gereizt.

„Also, nun pass mal auf du Mimose. Wir beide wissen doch nun wirklich Bescheid. Du hast keinerlei Skrupel gehabt, für deine Agentur zu schnüffeln und wir beide wissen doch nun auch wohl ganz genau, welch Geistes Kind diese Herrschaften sind. Also komm’ mir hier bloß nicht auf die Moralische.“

Sie legte eine kleine Pause ein, vergewisserte sich, dass ihre Freundin diese Worte nicht „in den falschen Hals bekommen“ hatte und stellte dann klar, dass sie eigentlich „an etwas ganz anderes“ gedacht hatte.

Was das war, ließ sie erneut offen, denn gerade in diesem Moment wurde die Schiebetür zum Abteil aufgezogen, weil der Schaffner die Fahrkarten kontrollieren wollte. Die Aktion war für beide Frauen so überraschend gekommen, dass sie regelrecht zusammenschraken. Dem Kontrolleur schien diese Reaktion geradezu Spaß zu machen. Er sah sich um, als ob noch jemand hinter ihm stünde, wandte sich dann wieder den beiden Frauen zu, machte sodann eine theatralische Handbewegung und erklärte mit lachendem Gesicht, dass es keinerlei Grund zur Panik gebe. „Der beißt nicht.“ Die kleine Spontanvorstellung ließ die aufgebaute Spannung augenblicklich zusammenbrechen und trug dazu bei, dass alle drei Erwachsenen in verhaltenes Lachen verfielen, um das Kind nicht zu wecken.

Nach Ende der kurzen Kontrollprozedur nutzte die Frau, die sich jetzt gerade Nadja nannte, die gelöstere Stimmung, um ihren vorherigen Vorschlag zu erläutern.

„Eigentlich habe ich mehr daran gedacht, ob du dich nicht von deinem alten Dienst reaktivieren lassen willst? Verstehst du, es macht schon einen kleinen Unterschied, ob ich eine einzelne Person hetze, die über nicht viel mehr verfügt, als ihre allmählich älter werdenden Netzkenntnisse, oder ob ich mich mit der NSA anlege. Aber das weißt du ja eigentlich auch selber“.

„Du meinst, die würden mich dann in Ruhe lassen?“

Viola Ekström blieb skeptisch.

„Wenn nicht, dann würde dein Dienstherr zumindest alle Hebel in Bewegung setzten, um dich vor denen zu schützen.“

„Vorausgesetzt, die, die mich jagen, sind nicht auch die, die mich nach deiner Ansicht dann schützen würden.“

Die Frau mit den vielen Identitäten hatte das Gefühl, Viola Ekström suche erkennbar nach Ausreden, um sich der Diskussion nicht stellen zu müssen. Sie war sensibel genug, um sich den Grund vorstellen zu können, wollte aber sicher gehen und erkundigte sich daher direkt.

„Du hast Angst wegen Larischka, stimmt’ s?“

Viola Ekström ließ sich Zeit mit ihrer Antwort, entschied sich dann für eine sachbezogene Entgegnung.

„Also, nun pass mal auf. Für meinen alten Verein bin ich ein Sicherheitsrisiko. Die werden den Teufel tun. Die waren froh, als sie mich gehen lassen konnten und die haben mich gehen lassen, weil ich schwanger war. Die werden mich jetzt ganz sicher nicht wieder einstellen, nur weil ich ein Kind habe. Außerdem bin ich seit Jahren raus. Du weißt, wie schnell das Know How in unserer Branche veraltet. Das kannst du wirklich vergessen.“

Die Frau, die vom BND zum FSB abgeordnet war, musste sich eingestehen, dass ihre Freundin so unrecht nicht hatte. Andererseits war weiterhin klar, dass es so wie bisher ebenfalls nicht weitergehen konnte. Sie hakte daher nach.

„Und wenn du ganz einfach bei den Deutschen anheuerst? Dein Günther kann dir da doch sicher die eine oder andere Tür aufmachen. Der ist ohnehin noch immer tottraurig, weil du ihn damals verlassen hast.“

Sie unterbrach ihren Redefluss und sah ihre Freundin fragend an. Die schien ernsthaft nachzudenken.

„Der Rogge, ehrlich gesagt, ich hab’ da auch schon dran gedacht, aber wo bleibt denn da der Schutz, von dem du die ganze Zeit geredet hast.?“

Ihre Freundin musste sich eingestehen, dass das tatsächlich nicht sehr logisch war, hütete sich aber, das auch zuzugeben. Allein die Rückfrage bestätigte ihr, dass ihre Ola angebissen hatte und sie war viel zu sehr Profi, um sie jetzt noch wieder von der Angel zu lassen.

„Der Schutz, der ergibt sich in dem Fall ganz einfach daraus, dass du deine Identität ganz real so grundlegend veränderst, dass überhaupt keine Veranlassung besteht, dich zu jagen.“

Die Frau mit den wechselnden Identitäten wollte weitersprechen, wurde aber abrupt von ihrer Freundin unterbrochen.