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Darts ist gut inszeniert, schnell und erlebt alle zwei Minuten eine Entscheidung – ein Mix aus Sport, verrückten Fans und toller Atmosphäre. TV-Moderator Elmar Paulke, das Gesicht des Darts in Deutschland, erzählt von seinen Erlebnissen in der verrückten Welt dieses faszinierenden Trendsports und liefert Anekdoten und Hintergründe zu allen wichtigen Spielern.
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Seitenzahl: 234
Veröffentlichungsjahr: 2016
GAME ON!
DIE VERRÜCKTE WELT DES DARTS
Edel Books
Ein Verlag der Edel Germany GmbH
© 2016 Edel Germany GmbH, Neumühlen 17, 22763 Hamburg www.edel.com
Projektkoordination: Dr. Marten Brandt
Lektorat: Ronit Jariv
Coverfoto: SPORT1
Fotos Bildstrecke:
Privatarchiv Elmar Paulke, sowie
PDC Europe / Stefan Straßenburg
Picture alliance / Jan Haas
SPORT1
Layout Datagrafix GmbH
Covergestaltung und Layout Bildstrecke: Groothuis. Gesellschaft der Ideen und Passionen mbH | www.groothuis.de
ePub-Konvertierung Datagrafix GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
eISBN 978-3-8419-0526-0
Vorwort
Strip-Darts für Anfänger
Kapitel 1: Faszination Darts
Kapitel 2: Let The Games Begin
Kapitel 3: Wozu hat man Experten?
Kapitel 4: Turnieralltag – hinter den Kulissen der European Tour
Kapitel 5: Mentalsport Darts – Erfolg beginnt im Kopf
Kapitel 6: Geschichte(n) – Darts gestern, heute und morgen
Kapitel 7: Presse, Profis, Preisgelder
Kapitel 8: There’s Only One Phil Taylor
Kapitel 9: Darts mit Promis
Kapitel 10: Road To Ally Pally
Check-out
Darts hat in Deutschland eine beeindruckende Entwicklung genommen. Ich habe das hautnah miterlebt, weil ich kaum ein European Tour Event in den letzten Jahren in Deutschland ausgelassen und ein paar ja auch gewonnen habe. Sobald du Turniere gewinnst, bekommen sie einen besonderen Platz in deinem Herzen. Weil bei uns in den Niederlanden der Darts-Boom rund 15 Jahre früher eingesetzt hat, sind wir verständlicherweise den Deutschen noch ein, zwei Schritte voraus. Ich glaube, dass Darts in Deutschland noch mehr Potential hat und könnte mir vorstellen, dass in ein, zwei Jahren auch ein Premier League Spieltag nach Deutschland kommt. Die Erfahrung, die wir mit der Premier League in Rotterdam gemacht haben, war fantastisch.
Elmar und ich kennen uns nicht nur seit einigen Jahren, zwischen uns ist längst eine Freundschaft entstanden. Neben den großen TV-Turnieren treffen wir uns vor allem bei Turnieren der PDC Europe. Wir haben in der Vergangenheit auch ein paar Exhibitions zusammen gemacht. 2015, im Vorfeld des German Darts Masters in München zum Beispiel, oder 2016 auf der ISPO, der internationalen Fachmesse für Sportartikel, gemeinsam mit Max Hopp. Elmar hat einen großen Anteil daran, dass Darts in Deutschland so gewachsen ist. Dafür bin ich ihm sehr dankbar.
Ich selber bin ja eher zufällig zum Darts gekommen, weil ich einfach an einem Schulturnier teilnahm und es gleich gewann. Der erste Pokal meines Lebens hat mich motiviert, viele, viele Stunden am Board zu verbringen, und das bereits in jungen Jahren. Game On befasst sich ja auch mit der Faszination Darts. Es ist tatsächlich ein Sport, der dich infiziert und dann nicht mehr loslässt.
Ich möchte Elmar zu Game On gratulieren.
Habt viel Spaß beim Lesen!
Michael van Gerwen
Es war kein ehrlich gemeintes Lächeln. Eher ein mitleidiges. So, als hätte ich in meiner beruflichen Laufbahn gerade einen herben Rückschlag erfahren. „Ach, du kommentierst ab jetzt Darts. O.k. Ist das Sport?“ Diese Frage habe ich oft gehört – sie war immer rhetorisch, die Antwort „nein“ schon vorausgesetzt. Und auch das Lächeln habe ich jahrelang in den Gesichtern vieler Kollegen gesehen. Sogar in den Gesichtern vieler SPORT1-Kollegen. Sie machten sich lustig über die Bäuche, die Tattoos der Spieler. Über den Abstand von albernen 2,37 m. Über die bierselige Stimmung bei den Events, über die Spitznamen. Letztlich über alles, was The Power, Dennis The Menace, Darts Vader, One Dart, The Tripod, The Artist und die anderen damaligen Topspieler so machten. Am Ende machten sie sich auch über mich lustig. Oder waren sie vielleicht pikiert, weil ich mit der Kommentierung eines Dartsevents die Ehre des Sportjournalismus infrage stellte? Nach dem Motto: Darf einer, der Darts kommentiert, sich eigentlich Sportreporter nennen? TV-Journalisten sind manchmal sehr eitel.
Alles begann im August 2004, als ich von meinem Arbeitgeber Deutsches SportFernsehen gefragt wurde, ob ich mir vorstellen könne, Darts zu kommentieren. Der Bereichsleiter Sports, Piet Krebs, kam damals auf mich zu. Haifischen, Billard und Poker waren auch noch in der Verlosung. Haifischen ist kein Witz. Da sind Hochseeangler mit ihren kleinen Bötchen unterwegs und angeln Haie. Das sollte kommentiert werden. Bis da am Ende mal ein paar Fische am Haken hängen, vergehen Minuten. Ich wusste relativ schnell, dass ich nicht Haifischen kommentieren wollte. Das DSF hatte ein großes TV-Rechtepaket der Firma Matchroom eingekauft, wollte neue Sportarten ausprobieren und suchte Kommentatoren. Da wurden zunächst mal festangestellte Mitarbeiter gefragt. Die verursachen keine Extrakosten. Ich kommentierte zu diesem Zeitpunkt ausschließlich Tennis.
Darts? Ich hatte als Student der Kölner Sporthochschule im Wohnzimmer meiner Zweizimmerwohnung ein Dartboard hängen. Das muss 1994 gewesen sein. Ein Jim-Pike-Board aus Schweinsborsten. Es gab auf der Venloer Straße in Köln Ehrenfeld, in meiner Nachbarschaft, tatsächlich einen kleinen Laden, der neben Angelequipment und Messern auch ein paar Darts und dieses Dartboard hatte. Keine Ahnung, warum ich mir damals ein Board kaufte. Woran ich mich allerdings noch gut erinnere, sind die legendären Dartsabende bei mir zu Hause. Die hatten nichts mit irgendeiner Übertragung aus England zu tun oder mit professionellem Darts. Das waren lustige und nicht immer ganz nüchterne Veranstaltungen unter Freunden und Studienkameraden. Eine davon fand irgendwann an einem warmen Sommerabend nach einem Tag am Baggersee statt. Einige Mädels und wahrscheinlich auch ein paar Typen in der Runde taten sich derart schwer, das Board zu treffen, dass ziemlich schnell ein wildes Lochmuster die Tapete zierte. Ich bin mir nicht mehr ganz sicher, aber es könnte mein Vorschlag gewesen sein, die Regel einzuführen, dass bei jedem Nichttreffen der Scheibe ein Kleidungsstück abgelegt werden müsse …
Köln Ehrenfeld war Anfang der 90er-Jahre ein eher heruntergekommener Stadtteil. Das rotbraune Mehrfamilienhaus uns gegenüber in der Hansemannstraße hatte einen zwielichtigen Ruf. Je länger unser Match dauerte, desto mehr Köpfe schauten aus den Fenstern dieses angeblichen Stundenhotels in meine Wohnung. Das war uns erst später aufgefallen. Vielleicht hielten sie uns ja für ein konkurrierendes Etablissement. Dieser Strip-Darts-Abend, der auf meine Nachbarn womöglich wie ein Vorläufer der SPORT1-Sexy-Clips wirkte, endete dann aber doch eher unspektakulär. Petra F. aus D. warf den letzten Dart oben ohne. Ich durfte meine Badehose und das T-Shirt anbehalten, weil ich trotz der einen oder anderen Kaltschale das Ziel nie aus den Augen verlor.
Ob dieser Abend ausschlaggebend war für meine Zusage zehn Jahr später? Wohl kaum. Das waren schon eher die vielen Stunden, die ich im Vorfeld der Weltmeisterschaft 2005 mit Olaf Nies verbrachte, der sich redlich bemühte, mir Darts zu erklären. Olaf war kein herausragender, aber ein guter Dartsspieler, der sich auch mit der internationalen Dartsszene beschäftigt hatte. Er brachte Videos von Weltmeisterschaften mit, wir durchstöberten das Internet nach legendären Momenten, und ich fuhr zu einem Spieltag der Darts-Bundesliga des Deutschen Dart Verbands (DDV). Es war ein Spieltag der Bundesliga-Süd, irgendwo südlich von Frankfurt. Ich war mit der damaligen DDV-Präsidentin Elke Unterberg verabredet. Besonders schmuckvoll war der Austragungsort nicht: zehn Boards, eine kleine Bar, circa 40 Leute insgesamt, kaum Zuschauer. Rauchen war erlaubt, aber die Fenster zu öffnen war wegen der entstehenden Luftbewegung verboten. Das alles hatte nichts mit dem zu tun, was ich bis dahin auf den Videos aus England gesehen hatte. Als Zuschauer stand ich in der zweiten oder dritten Reihe. So richtig viel erkennen konnte ich nicht. Aber ich hörte den Kommentaren, den Geschichten zu. Mir ging es damals vor allem darum, ein Gefühl für Darts zu bekommen. Eher ein Gespür für die Leute als für das Spiel. Matches wurden beendet, Partien an der Theke nachbesprochen. Es waren diese typischen Gespräche, wie sie im Sport überall vorkommen. Spieler erzählten detailliert von Verläufen einzelner Legs – mit vielen Konjunktiven der Marke „Wenn ich die Doppel-8 getroffen hätte, dann wäre der Gegner wahrscheinlich zusammengebrochen und das Match hätte sich in eine ganz andere Richtung bewegt“. Darts wurden verglichen, neue Flights ausprobiert, über unterschiedliches Gewicht der Darts gefachsimpelt. Ich konnte die Begeisterung, die mir überall entgegenkam, überhaupt nicht teilen. Ich merkte nur, dass dieser Sport alle in diesem Laden berührte. Er bedeutete ihnen enorm viel. Und das wiederum berührte mich. Woher kommt diese Faszination? Das wollte ich herausfinden. Noch auf der Rückfahrt nach München rief ich Piet Krebs an, um ihm mitzuteilen, dass ich die Darts-Weltmeisterschaft 2005 kommentieren würde.
Seit Jahren steigen in Deutschland die TV-Einschaltquoten von Dartsübertragungen. Knapp zwei Millionen Zuschauer sahen in der Spitze das WM-Finale 2016, bei dem Gary Anderson im legendären Alexandra Palace seinen Titel verteidigte. Das ZDF berichtete im Heute Journal, ARD, RTL, SAT1, ProSieben sendeten Beiträge. Sogar die Süddeutsche Zeitung nimmt inzwischen von den Herren van Gerwen, Taylor, Anderson und Co. Notiz; bei der Frankfurter Allgemeine Zeitung sind sie schon länger Thema – genau wie in der ZEIT, der Welt und natürlich der BILD. Die Medienwelt hat das Interesse des Zuschauers und Lesers an Darts längst erkannt – teilweise allerdings, ohne das Phänomen wirklich verstanden zu haben. Redakteure starten Selbstversuche und scheitern an der Erklärung, warum sie selber danach immer wieder bei einer Dartsübertragung einschalten. Sie reiben sich zu sehr an Nebensächlichkeiten: am Übergewicht vieler Spieler, an der Oktoberfestatmosphäre, die ihrer Meinung nach nicht zu einem Sportevent passt. Sie weigern sich, Darts als Sport anzuerkennen. Doch es sitzen immer mehr Zuschauer vor den Bildschirmen, wenn eine 180 auf die nächste folgt und die Fans mit ihren Gesängen im Phil-Taylor-Wonderland taumeln. Dieses Interesse kann keine Sportredaktion mehr ignorieren. Und das ist gut so. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass man eine Weile braucht, um Darts zu verstehen. Auch ich habe mich in der Anfangszeit durchaus manchmal gefragt, wieso ich dickbäuchigen, tätowierten Männern dabei zusehen soll, wie sie kurze Pfeile über eine kurze Distanz auf eine Zielscheibe von 45 cm Durchmesser werfen. Und das stundenlang. Was bewegt Tausende von Zuschauer, derart ausgelassen auf ein Dartsmatch zu reagieren? Warum hat Darts den Weg aus der Kneipe, aus dem eigenen Hobbyraum auf eine 50 m große Bühne geschafft? Und ins Fernsehen!
Darts unter Wettkampfbedingungen ist nicht vergleichbar mit ein paar Pfeilwürfen am heimischen Board. Knapp 30 Jahre lang kämpfte der Deutsche Dart Verband um die offizielle Anerkennung seines Spiels. Ist Darts Sport? Ich kenne diese Frage aus zahlreichen Diskussionen. Jeder aktive Spieler in Deutschland hat sich damit wohl schon auseinandersetzen und wahrscheinlich auch für seinen Sport rechtfertigen müssen. Ich empfinde es inzwischen als leidige Diskussion, weil immer nur diejenigen daran zweifeln, die sich mit Darts nicht wirklich beschäftigt haben. Sie sehen es nicht als Sport an, einen Pfeil über eine Distanz von 2,37 m zu werfen. Das sehe ich isoliert betrachtet übrigens ähnlich. Ist Schach Sport? Andere Präzisions- oder Denksportarten kennen diese Kontroverse um die Anerkennung ihres Sports ebenfalls. Das Internationale Olympische Komitee (IOC) bezeichnet das Kartenspiel Bridge als Sport. Sport ist nicht leicht zu definieren, weil die Grenzen unscharf sind. Es gibt Leute, die sagen, dass die Abgrenzung von allgemeinen Bewegungsformen entscheidend ist. Die Wurfbewegung ist keine allgemeine Bewegungsform, sie ist antrainiert. Unabhängig davon wird Darts im Wettkampf ausgetragen, auch ein entscheidender Faktor, wenn es um die Definition von Sport geht.
Darts ist Sport. Gerade im professionellen Bereich genügt Darts vom mentalen Aspekt her höchsten Ansprüchen. Es ist die Verquickung von drei großen Herausforderungen: der Kampf eins gegen eins, das zielgenaue Agieren unter höchstem mentalen Druck, die Ausübung eines Konzentrationssports vor einer lautstarken Kulisse. Auch der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) erklärte Darts im Dezember 2010 mit der Aufnahme des Deutschen Dart Verbands zum Sport. Ende der Diskussion.
Selbst Werner von Moltke, der heutige Chef der Professional Darts Corporation (PDC) Europe, dem deutschen Ableger des britischen Profi-Dartsverbands, brauchte Zeit, um sich dem Thema anzunähern. Ende 2005 verbrachte er die Weihnachtsferien mit seiner Familie im Skiurlaub. Weil die Kinder noch klein waren, blieb Familie von Moltke abends häufig im angemieteten Apartment. Im TV lief die Darts-WM: Wayne Mardle „Hawaii 501“ war drauf und dran, den letzten Schritt in seiner Karriere zu gehen, er spielte sein drittes WM-Halbfinale in Folge. Dieses Match zwischen Mardle und Phil Taylor gab für von Moltke den Ausschlag, solch ein Event nach Deutschland zu holen. Mardle führte 4:3 in Sätzen, 2:0 in Legs. Taylor kam wieder ran. Es ging in den Entscheidungssatz. Und wie so oft hatte The Power am Ende die ruhigere Hand. Er versenkte den Match-Dart in der Doppel-20 und hörte gar nicht mehr auf, sich über den Sieg zu freuen. Es war eine Nervenschlacht. Ein brutaler Kampf Mann gegen Mann.
Vier Monate später, im April 2006, war Taylor zum ersten Mal seit 1993 wieder in Deutschland und gewann das erste „Meet The Power“-Event von München. Es war ein Turnier frei nach dem Motto: Phil Taylor gegen den Rest der Welt. Werner von Moltke hatte das Thema Darts nicht mehr losgelassen, obwohl es komplettes Neuland für ihn war. Er nahm diesen Sport ernst. Er war der Erste in Deutschland, der für ein Dartsturnier Eintritt kassierte. Davon hatten ihm die deutschen Spieler und viele Insider abgeraten. Sie alle glaubten nicht an die Stärke, an die Faszination ihres Sports. „Meet The Power“ war ein Erfolg. Es war der Beginn von großen Dartsveranstaltungen in good old Germany, wie man sie bis dahin nur via TV aus Großbritannien kannte.
So simpel das Spiel von seinen Regeln her ist, man benötigt Zeit, um sich in seinen Bann ziehen zu lassen. Darts ist viel mehr als 501 Punkte auf Null zu bringen oder drei Pfeile pro Aufnahme zu schmeißen. Es geht nicht nur um das Treffen von 8 mm schmalen Treble- oder Doppelfeldern. Es geht schon eher darum, sie dann zu treffen, wenn der Gegner sie nicht trifft, wenn er Fehler begeht. Es geht um höchsten mentalen Druck, wie er im Sport nur selten vorkommt, weil die Wurfbewegung so kurz und schnörkellos ist. Das mag widersprüchlich klingen, aber wenn die Hauptaktion lediglich das Beugen und Strecken des Arms ist, ergänzt durch einen letzten Impuls aus dem Handgelenk, dann besteht kaum Zeit und Gelegenheit, den Bewegungsablauf zu korrigieren. Kann ich beim Fußball vorübergehend mein fehlendes Gefühl durch erhöhte Laufbereitschaft wettmachen, bleibt mir bei Darts fast nichts anderes übrig, als es beim nächsten Mal einfach besser zu machen. Es sind kleinste, minimale Veränderungen, die die Darts perfekt ins Ziel steuern sollen. Golfspieler kennen diese Problematik. Auch sie haben nur diesen einen Schwung, diesen einen Versuch, der gelingen muss, wenn sich Erfolg einstellen soll. Nicht grundlos reden die Engländer beim Darts vom Golf der Arbeiterklasse.
Was es für den Dartsspieler im mentalen Bereich noch schwieriger macht – auch das mag verwundern –, sind die jeweils nahezu identischen äußeren Gegebenheiten beim Match. Auf der einen Seite vereinfachen sie das Spiel, weil man sich nicht umstellen muss. Auf der anderen haben sie zur Folge, dass Niederlagen nur einen Schuldigen kennen: den Spieler selbst. Du kannst nichts und niemanden für dein Versagen verantwortlich machen. An jedem Spielort dieser Welt hängt der Board-Mittelpunkt 1,73 m hoch. Bei jedem Profiturnier wird penibel auf die Ausleuchtung und die korrekte Lichtstärke am Board geachtet. Kein Dart darf auf dem Board einen Schatten werfen, da Spieler in der Kürze der Zeit Probleme haben könnten zu erkennen, wo genau ihr Spielgerät steckt. Jede minimale Luftbewegung ist ein No-Go, sie verändert die Flugbahn der Darts. Klimaanlagen müssen ausgeschaltet sein. Solche im Regelwerk der PDC festgehaltenen Vorgaben meinen es eigentlich gut mit den Spielern. Nur Ausreden lassen diese Regeln nicht zu. Erst in Formkrisen erkennt man, wie brutal Darts ist. Es gibt eine Reihe von Profis, die innerhalb von ein, zwei Jahren abgeschmiert sind. Hungrige Spieler im besten Alter wie Paul Nicholson oder Wes Newton. Eben noch standen sie in den Top 10, und plötzlich spielen sie keine Rolle mehr.
Wer Darts auf diesem Niveau spielt, nimmt es letztlich mit der Perfektion auf. Ein Kampf, den du bekanntlich nicht gewinnen kannst. Das Fatale ist, dass es trotzdem immer wieder kurze perfekte Momente gibt: bei jeder 180, wenn alle drei Darts in diesem 8 mm schmalen Feld stecken. Oder eben beim perfekten Spiel, dem 9-Darter. Wer mit neun Darts 501 Punkte auf Null bringt, schreibt Geschichte. Neun Darts sind mindestens vonnöten, um ein Leg zu checken. Klingt einfach, gelingt jedoch nur den Allerbesten und macht dich zum Helden. Perfekte Momente lassen dich zudem immer wieder ans Board zurückkehren. Spieler erzählen häufig von einer Sucht, trainieren zu müssen, besonders nach großartigen Momenten. Der Wunsch nach Perfektion treibt an. Wer die Vollkommenheit einmal erlebt, will sie ein weiteres Mal erreichen. Und das geht dem Hobbyspieler nicht anders. Das Gefühl „ich kann es diesmal besser machen als eben“ kennen alle. Jede einzelne 180 motiviert den Kneipenspieler, weiter Darts zu spielen, besser zu werden. Und sie lässt kurz vergessen, dass der nächste Moment des Versagens schon im Hintergrund lauert. Darts ist schwieriger, als es den Anschein macht. Das ist tückisch und faszinierend zugleich.
Für den Zuschauer ist die Faszination Darts ein Mix aus verschiedenen Komponenten: Sport, Party, Fußballgesänge, Genauigkeit, Verkleidung und ein nicht unwesentlicher Teil Ausgelassenheit und Selbstironie. Das macht übrigens auch den Reiz aus, solch einen Wettkampf im Fernsehen zu kommentieren. Auch wenn an allererster Stelle immer der Sport stehen muss: Du kannst und darfst den Rhythmus dieser Veranstaltung leben. Diesen Kontrast zwischen Präzision und Ausgelassenheit, zwischen Historie und Hype, zwischen kleinstem Ziel und großer Kulisse, zwischen Konzentration und Karneval. Darts ist bunt. Darts kommt ohne Hightech aus. Die Pfeile von heute sind letztlich immer noch mit den Holzpfeilen von vor 100 Jahren vergleichbar. Darts bietet so viele Geschichten auch abseits des Boards. Und es hat außergewöhnliche, extrem lautstarke Zuschauer, die ein wichtiger, aktiver Teil der Show sind. Das ist mit Sicherheit ein Geheimnis des Erfolgs von Dartsevents. Die PDC, der Profi-Dartsverband, hat das früh erkannt. Sie bietet dem Zuschauer bewusst eine Bühne und baut dadurch eine besondere Verbindung zwischen Fan und Event auf. Ich habe mich in den letzten Jahren nach einem langen Turniertag oft mit Zuschauern unterhalten, die nicht nur von Taylor, MVG und Co. erzählten, sondern auch von sich selbst, ihren Kostümen und wie die Idee zum Kostüm entstand. Dartsfans sorgen nicht nur für den Jubel, den Applaus, die Buhrufe und die Gesänge, sie werden gekürt für besonders gelungene Outfits oder die witzigste Zeile auf dem 180er-Pappschild. Vielleicht fühlt sich der Zuschauer dadurch auch irgendwie in der Pflicht, für gute Stimmung zu sorgen, und womöglich herrscht deshalb auf Dartsevents diese einzigartige Atmosphäre, die mit keiner anderen Veranstaltung vergleichbar ist, auch mit keiner anderen Sportveranstaltung.
Es beginnt mit den Walk-on-Liedern der Spieler, die gerade von Topstars wie Phil Taylor, Michael van Gerwen, Gary Anderson, Raymond van Barneveld oder Peter Wright perfekt inszeniert sind, mit aufwendiger Lichtshow, einprägsamen Melodien und einem Master of Ceremonies, der stimmgewaltig die Spieler auf die Bühne holt. Und später wird jede einzelne 180 gefeiert, als wäre es die Erste, vielleicht auch die Letzte. Sollte es wegen fehlender Genauigkeit am Oche ein bisschen zäh werden, starten Dartsfans ihr eigenes Fest: „Stand up if you love the darts“ – das ist für jeden unter den paar Tausend Fans die Verpflichtung, sich zu erheben und mitzusingen. Ganze Zuschauerblöcke beginnen plötzlich in Richtung anderer Tribünen zu rufen. Oder sie grölen wie so oft im Taylor-Wonderland: „There’s only one Phil Taylor ...“ Es gab Matches vom 16-maligen Weltmeister Phil „The Power“ Taylor, bei denen pausenlos dieses Lied gesungen wurde. Vor ein paar Jahren in Düsseldorf zum Beispiel: 20, 25 Minuten lang, immer wieder in Schleife „There’s only one Phil Taylor ...“ auf die Melodie von „Winter Wonderland“.
Interessanterweise nehmen Spieler diese Gesänge vor allem dann wahr, wenn es im Match nicht wie gewünscht läuft. Wenn es ihnen schwerfällt, sich nur auf sich und das eigene Spiel zu konzentrieren. Die ausgelassene Party von kostümierten, alkoholisierten, singenden Fans mitten in einer Präzisionssport-Veranstaltung ist verrückt und einzigartig. Für einen Golf- oder Tennisspieler wäre es absolut undenkbar, bei dieser Geräuschkulisse eine Topleistung abzurufen. Für einen Schützen oder Snookerspieler ebenfalls. Beim Darts funktioniert das. Da wird das Verhalten der Fans nicht nur geduldet, sondern ist sogar erwünscht. Zwar bitten Schiedsrichter immer mal wieder um Ruhe, aber meistens ohne Erfolg. Und den größten Fehler, den du als Spieler begehen kannst, ist dich mit den Fans anzulegen. Wenn eine Gruppe von 10.000 Menschen plötzlich gegen dich ist, dich ausbuht oder, noch schlimmer, auspfeift, dann ist die Gefahr ziemlich groß, dass du auf der Bühne mental einbrichst. Irgendwann nimmt die Publikumsreaktion Einfluss auf dein Spiel und leitet damit die Niederlage ein.
Deutsche Dartsfans machen auf Veranstaltungen der European Tour häufig das nach, was sie von TV-Übertragungen der Profiturniere aus England kennen. Sie kopieren zu großen Teilen das Verhalten des englischen Publikums, was überhaupt nicht schlimm ist. Darts hat in Großbritannien eine ganz andere Tradition. Seit den frühen 1980er-Jahren sind Dartsevents dort auch Quotenhits für TV-Sender. Das WM-Finale von 1983 erzielte die bis heute höchste TV-Einschaltquote in der Geschichte der Sportart Darts: Über zehn Millionen Zuschauer verfolgten in der Spitze die BBC-Übertragung zwischen der Nummer eins der Welt, Eric Bristow, und Keith Deller, dem ersten Qualifikanten, der es jemals in ein WM-Finale schaffte und so begeisterte, dass selbst Bristows Vater damals heimlich gegen den eigenen Sohn auf ihn wettete. Und Deller gelang der Coup: Er gewann den Titel mit einem legendären 138er-Finish.
Als ich 1999 für das Deutsche SportFernsehen beim Tennisturnier von Wimbledon die Interviews führte, es war das Abschiedsjahr von Steffi Graf und Boris Becker, wartete ich 14 Tage lang unter anderem mit einem niederländischen Kollegen auf die verschiedensten Gesprächspartner. Das war die Zeit von Agassi und Sampras. Ein Roger Federer lief noch mit der Trommel um den Weihnachtsbaum, Angelique Kerber war gerade mal elf. Dieser Job im Interviewroom bestand vor allem aus Warten. Das sind elend lange Tage. Die ersten Matches beginnen am Vormittag, die letzten Partien enden am Abend mit Eintritt der Dunkelheit. Du wartest also den ganzen Tag, um etwa zehn Interviews von jeweils drei, vier Minuten zu führen. Wir haben damals viele Stunden einfach untätig herumgesessen und kamen natürlich ins Quatschen. Der Kollege aus Holland erzählte irgendwann von unglaublichen Einschaltquoten, die sie mit Darts erzielen würden. Das konnte ich überhaupt nicht glauben. Ich zweifelte an seinem Englisch und dachte, der bringt irgendwas durcheinander. Er meinte wahrscheinlich ein paar Hunderttausend Zuschauer, redete aber von ein paar Millionen. Doch er hatte natürlich Recht. Das war der Beginn der großen Zeit von Raymond van Barneveld. Die Niederlande erlebten Ende der 1990er-Jahre einen ähnlichen Boom wie die Briten Anfang der 1980er. Als Barney 1998 zum ersten Mal Weltmeister wurde, warteten 15.000 Fans am Flughafen Schiphol in Amsterdam auf ihn. Die Einladung ins Königshaus folgte prompt. (Später wurde van Barneveld sogar zum Ritter geschlagen und ist seitdem ein offizielles Mitglied des Königshauses.) Acht Jahre danach, 2006, verfolgen im Schnitt sieben Millionen Niederländer das WM-Finale zwischen Raymond van Barneveld und dem 21 Jahre jungen Jelle Klaasen. Bei 15 Millionen Einwohnern entspricht das einem Marktanteil von deutlich über 50 Prozent – Einschaltquoten wie bei einem Spiel der Fußballnationalmannschaft während einer Europa- oder Weltmeisterschaft. Die Niederlande sind also längst vom Dartsvirus infiziert, und es steht die Frage im Raum, ob eine ähnliche Entwicklung in Deutschland möglich wäre. Was passiert, wenn ein Max Hopp das WM-Finale gegen Phil Taylor spielt? Van Barneveld selbst spricht immer wieder vom Barney-Faktor, den Deutschland braucht.
Darts ist etwas ganz Besonderes, auch wenn der Laie das zunächst nicht erkennt. Wer sich mit diesem Sport ein wenig befasst, ist irgendwann angefixt. Als Spieler, weil immer die Hoffnung lebt, die nächste Aufnahme könnte besser sein als die letzte. Als Zuschauer, weil es ein Wettkampf eins gegen eins ist, weil es schnell ist, weil es laut ist, weil es puristisch, weil es anders ist, vielleicht auch weil es unmodern, eigentlich nicht zeitgemäß ist. Und dazu passen dann auch die Hauptdarsteller, die Spieler. Ihr äußeres Erscheinungsbild entspricht nicht den Helden unserer Zeit. Sie sind nicht zurechtgemacht oder gestylt. Dartsprofis wollen keinen Glamour versprühen, das passt nicht zu ihnen. Sie sind echt, stehen mit beiden Füßen auf dem Boden. Sie wissen, wo sie herkommen, und sind stolz darauf: aus der Arbeiterklasse. Das gilt tatsächlich für alle Profis, auch für den 16-maligen Weltmeister Phil „The Power“ Taylor, den erfolgreichsten Dartsspieler aller Zeiten. Er ist durch seinen Sport zum Multimillionär geworden und dennoch seiner Welt treu geblieben. Der Fan spürt das und empfindet dadurch eine enorm hohe Identifikation. Viel intensiver, weil realistischer als bei den Cristiano Ronaldos dieser Welt. Professionelle Dartsspieler sind im wahrsten Sinne des Wortes Volkshelden.
Das war kein Sprung ins kalte Wasser, sondern eine richtige Arschbombe. 19. Dezember 2004: Die allererste Dartsübertragung in der Geschichte des Deutschen Sport Fernsehens (DSF) stand an. Bis zu diesem Sonntag hatte ich kein einziges Profi-Dartsmatch live gesehen. Ich kannte weder den Austragungsort, die Circus Tavern, noch war ich zuvor bei irgendeiner Veranstaltung der Professional Darts Corporation (PDC) gewesen. Und plötzlich durfte ich die Zuschauer durch die Darts-Weltmeisterschaft 2005 führen. Ein Turnier mit 48 Teilnehmern, das mit 300.000 Pfund dotiert war. Ich kannte keinen der Spieler persönlich, hatte mit niemandem im Vorfeld sprechen können. Einzig der Kontakt zur PDC bestand. Matt Porter, inzwischen seit vielen Jahren die rechte Hand von PDC-Chef Barry Hearn, fungierte damals noch als Ansprechpartner für die Medien. Die Turnierinformationen waren rar. Für die britischen Kollegen war so eine Darts-WM ja nichts Ungewöhnliches. Darts ist in Großbritannien seit Anfang der 1980er-Jahre ein wichtiges Thema. Für den Profiverband PDC, der Anfang der 1990er-Jahre gegründet wurde, war es die zwölfte WM-Auflage. Dass da einer bei null beginnt, konnten die Verantwortlichen nicht wirklich nachvollziehen. Phil Taylor, Peter Manley, Colin Lloyd waren für sie seit Jahren große Nummern. Für mich nicht. Natürlich kannte ich den WM-Modus, den Spielplan, doch am Ende ging es mir nicht viel anders als den meisten TV-Zuschauern.
Das erste Match, das wir übertrugen, war die Partie zwischen James Wade und Mark „Top Banana“ Holden. Wade, inzwischen bei acht Major-Siegen angekommen, galt zu dieser Zeit als hoffnungsvolles Talent, war gerade 20 Jahre jung. Dass Holden damals an der sogenannten Dartitis litt, wusste ich nicht. Dartitis ist eine Art Yips des Darts, eine Nervenkrankheit, bei der Spieler das Öffnen der Hand nicht mehr kontrollieren können. Er gewann das Match dennoch, und Wade erzählte mir mal Jahre später, dass es eine der bittersten Niederlagen in seiner Karriere war, weil alle schon im Vorfeld sagten: „Gegen einen Holden mit diesen Problemen kannst du nicht verlieren.“ Wade konnte. Er verlor 0:3 in den Sätzen. Wir waren live dabei und hatten trotzdem keinen blassen Schimmer von dem Drama, das sich vor unseren Augen abspielte.
Es soll ja immer noch Zuschauer geben, die der Annahme sind, Reporter wären bei jedem Event, das sie kommentieren, live vor Ort. Das ist längst nicht mehr der Fall. Seit Anfang der 90er-Jahre sparen Fernsehsender immer häufiger an Produktionskosten und lassen ihr Redaktionsteam in Deutschland. Sie greifen ein sogenanntes Worldfeed ab, das von einer anderen TV-Station produziert wird – bei Profi-Dartsturnieren der PDC seit Gründung des Verbands sind es die Bilder von Sky Sports England. Da die Darts-WM 2005 nur ein Testlauf für das DSF war, kommentierten wir alles aus der kleinen Kommentatorenkabine in der Sendeabwicklung in Ismaning. Ein ziemlich grauer Raum, drei mal zwei Meter groß, ausgestattet mit zwei Monitoren, zwei Headsets und einem Computer. Der eine Monitor zeigte das Bild, das aus England gesendet wurde, der andere das DSF-Programm inklusive grafischen Einblendungen und Werbung. Darts über einen Monitor zu kommentieren, ist generell gar nicht das Problem. Das machst du auch, wenn du mitten in der Halle sitzt, da man nie erkennen kann, wo exakt die Darts im Board stecken. Man muss Darts also über das Fernsehbild kommentieren. Aber wenn man nie bei einem Turnier war, kein Gefühl für die Lautstärke, die Atmosphäre hat, dann fällt es schwer, dem Zuschauer dieses Event vorzuleben.
Wenn ein Sender mit dem Einkauf von TV-Rechten in eine komplett neue Welt eintaucht, besteht das Problem, dass der Zuschauer erschlagen wird von all dem, was für ihn neu ist. Es geht nicht nur darum, die Faszination des Sports zu erklären, sondern auch Spielregeln und Turniermodus. Fachbegriffe müssen etabliert werden. Was sind Legs? Wann ist ein Set beendet? Und warum wird die Distanz mit Turnierverlauf immer länger? Wer sich noch nie mit Darts beschäftigt hat, lernt zudem in viel zu kurzer Zeit 48 neue Spieler kennen. Das überfordert. Wer ist Favorit? Auf wen lohnt es sich, besonders zu achten? Wir mussten den Zuschauern Hilfen an die Hand geben, damit sie sich besser orientieren konnten.