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Dieses eBook: "Gerhart Hauptmann: Der Mann und das Werk" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Gerhart Hauptmann (1862-1946) war ein deutscher Dramatiker und Schriftsteller. Er gilt als der bedeutendste deutsche Vertreter des Naturalismus, hat aber auch andere Stilrichtungen in sein Schaffen integriert. Im Jahr 1912 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. Paul Schlenther (1854-1916) war ein deutscher Theaterkritiker, Schriftsteller und Theaterdirektor. Er war einer der Vorkämpfer des Naturalismus und 1886 bis 1898 zunächst Kollege, dann Nachfolger von Theodor Fontane als Theaterkritiker für die Vossische Zeitung. Er setzte sich besonders für die Stücke von Henrik Ibsen und Gerhart Hauptmann ein. Zusammen mit Otto Brahm, Maximilian Harden und anderen gründete er 1889 die Freie Bühne. Von 1898 bis 1910 war Schlenther Direktor des Wiener Burgtheaters.
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Veröffentlichungsjahr: 2015
Lebensgeschichte des bedeutendsten deutschen Vertreter des Naturalismus
Als diese Schrift vor fünfzehn Jahren zum ersten Mal erschien, mußte sie bei der »Versunkenen Glocke« Halt machen, denn bis dahin war der Dichter auf der Höhe seines Lebens gelangt. Ich schloß damals mit den Worten: »Wir sind des Kommenden gewärtig«. Seitdem ist viel und Schönes gekommen. Ich darf nun auch davon sprechen. In der ersten, ältern Hälfte habe ich viel geändert, manches weggelassen. Es fehlen Zitate aus dem »Promethidenlos«, eine genaue Analyse der Liebesszene im Drama »Vor Sonnenaufgang«, eine eingehende Darlegung der historischen Quellen zu »Florian Geyer«. Auch Polemiken konnten wegbleiben, wo kein Streit mehr ist. Nach wie vor wendet sich diese Schrift weniger an die Zunft als an jenes Volk, das seine Dichter liebt und mit ihnen auch menschlich verkehren will.
1. November 1912.
Am 15. November 1862 wurde im schlesischen Kurort Obersalzbrunn dem Hotelbesitzer Robert Hauptmann von seiner Ehefrau Marie, geborenen Straehler, ein Sohn geschenkt, der am Neujahrstage 1863 in der Taufe die Namen Gerhart Johann Robert erhielt. Herr Robert Hauptmann besaß in Obersalzbrunn als Erbstück der eigenen Eltern den stattlichen Gasthof »Zur Preußischen Krone«. Er hatte eine der Töchter des fürstlich plessischen Brunneninspektors Ferdinand Straehler geheiratet. So hielten ihn doppelte Familienbande in dem ländlichen Badeort fest. Bei seiner strengen Ordnungsliebe leitete er das Haus, das er beträchtlich ausbaute, so sehr zur Zufriedenheit verwöhntester Gäste, daß ihm die fürstliche Verwaltung eines Tages auch die Pacht des Brunnenhofs und des Kurhauses antrug. Er sagte nicht nein, und so war ihm fast alles, was in Salzbrunn gutes Quartier und gute Pflege bot, eine Zeitlang anheimgegeben. Nach einigen Jahren aber löste er aus eigenem Willen dieses wenig ergiebige Pachtverhältnis auf und begnügte sich mit seiner Preußischen Krone. Der Kurort, dem er 1865 mit Mühe, Kosten und persönlichen Opfern auch die Gasanstalt gründete, dessen Gemeinwohl er hob und förderte, wurde nicht bloß vom deutschen, sondern noch mehr vom polnischen höchsten Adel besucht.
Ems, Reichenhall und andere Konkurrenzbäder lagen in jener Zeit des schwachen Eisenbahnverkehrs den östlichen Magnaten zu fern; an Algier und Ägypten war für Hals- und Brustleidende vollends nicht zu denken. So sammelte sich in den Salzbrunner Hotels ein ebenso anspruchsvoller wie zahlungsfähiger Kundenkreis. Robert Hauptmann und seine tüchtige Frau wußten diesen Ansprüchen zu genügen, ohne die Zahlungsfähigkeit ihrer Gäste auszunutzen. Die Gäste, mochten sie hoher oder niedriger Geburt sein, fanden in ihren Wirten ehrenfeste, an Bildung des Geistes und Herzens nie unter ihnen stehende Leute, die sich über Welt und Leben eine eigne Meinung gebildet hatten und ohne Zudringlichkeit, aber auch ohne Unterwürfigkeit, mehr bewirtend als bedienend, im wohlgebauten Hauswesen walteten.
Der Herr, der auf mehrjährigen Reisen durchs Ausland manches Gute für sein Gasthaus erfahren hatte, war ein ruhiger, kundiger, weise zurückhaltender Fürsorger und Berater seiner Fremden. Nicht bloß in den kleinen Beschwerden des alltäglichen Badelebens, sondern auch in den größern Dingen der Welt; nicht am wenigsten in der oft so schwierigen Wahl einer labsamen Flasche. Bier galt noch als Plebejergetränk. Wer sich etwas Höheres dünkte oder eine Stunde erhöhter Stimmung genießen wollte, den zog es in die dunkle, heimlich-unheimliche Ecke einer Weinstube. Wen solche Neigung anwandelte, der kam in der Preußischen Krone zu Salzbrunn auf den rechten Platz und bei Herrn Robert Hauptmann an den rechten Mann. Denn alte Weinkultur lag in beiden.
Sein Vater Karl Ehrenfried Hauptmann, der schlesische Weberssohn aus Herischdorf bei Warmbrunn, hatte zwar in jungen Jahren selbst am Webstuhl gesessen und die Not der Brüder, wenn nicht geteilt, so doch erlebt. Aber nachdem er 1815 als Feldwebel aus den Befreiungskriegen heimgekehrt war, hatte er das kärgliche Handwerk verlassen und war in eine Gastwirtschaft eingetreten, wo er viele Jahre als Oberkellner diente. Schon 1824, als ihm sein Sohn Robert geboren wurde, hielt er in Flinsberg den Fremden das eigne Hotel offen. Er hatte von der Herrschaft Schaffgotsch das dortige Kurhaus in Pacht. Als sein Sohn Robert heranwuchs, saß Karl Ehrenfried mit der tugendsamen Hausfrau, einer Warmbrunnerin, schon unter größeren Geschäftsverhältnissen zu Salzbrunn in der Preußischen Krone, die er seit 1832 als Pächter, seit 1839 als Eigentümer besaß. Als Robert aber die Tertia des Schweidnitzer Gymnasiums erreicht hatte und so weit war, selber etwas zu werden, gab ihn der Alte nach Breslau in eine allgemein als musterhaft anerkannte Weinhandlung. Da der wohlbegüterte Mann seinen Sohn gut stellte, durfte der junge Salzbrunner Hotelbesitzerssohn zwar mit der Familie des gestrengen Prinzipals die Mahlzeiten teilen, aber bei der Arbeit im Keller mußte er heran wie der erste beste Küferjunge. Er lernte hier Fleiß und Zucht. Beides kam ihm zustatten, als er Herr im eignen Hause ward, und eine liebe Gattin ihm half.
An die Seite des besonnenen, aufrechten Mannes, der vor dem höchsten seiner Gäste den Nacken nicht beugte, aber auch dem geringsten der Kranken gütig und helfend die Hand bot, war ein schlankes, bewegliches Frauenwesen getreten. Zwei unbefangene Naturen hatten sich gefunden. Auch hier schloß sich an des Lebens ernstes Führen die Lust zu fabulieren. Neben das klare Haupt trat ein feuriges Herz, weltkindlich froh, frisch bei der Arbeit des Tages, frei im rechten Wort am rechten Ort und fromm im Glauben an eine ewige Güte und Gerechtigkeit.
Nicht weit von Salzbrunn, wo neben dem Gasthof zur Preußischen Krone die Töchter des Brunnenwarts Straehler aufblühten, liegt Gnadenfrei und Herrnhut. Seit langer Zeit hatte sich hier das Luthertum gegen die eng benachbarte, unablässig werbende katholische Kirche stark und streng zu behaupten. In diesem Kampf faßte der Glaube ans Evangelium tiefer Wurzel als anderwärts. Der Verkehr mit Gott, der Gedanke an ein Leben nach dem Tode ward zum täglichen, nicht bloß sonntäglichen Bedürfnis der Seelen. Gerade das nahe Beispiel katholischer Lebensführung lehrte, daß der Glaube an ein Jenseits den diesseitigen Freuden nicht widerstrebe. Auf dieser ausgleichenden Erkenntnis hatte einst die Pietät des philosophischen Schusters Jakob Böhme zu Görlitz beruht. Sie war als Fruchtsaat durch die Gärten der pietistischen Gemeinden Schlesiens gegangen und hatte auch in Salzbrunner Familien eine Anschauung gedeihen lassen, bei der sich Weltkind und Profet vertrugen.
In den Straehlers mußte diese Lebensanschauung besonders fest fußen; denn einerseits stammten sie aus den Niederungen des Landvolkes, das von Kanzel und Altar mehr oder minder abhängig bleibt; andrerseits standen ihre älteren Generationen im Untertanenverhältnis zum erbeingesessenen Grafengeschlecht. Wenn ein gallonierter Leibkutscher die durchlauchtige Herrschaft Sonntags nach der Kirche fuhr, wenn der gnädigen Gräfin eine Kammerzofe zur Abendandacht das Gebetbuch reichte, so stieg aus diesen Verrichtungen ein Weihrauch in die Hirne der Schloßleute und ging auch auf die Nachkommenschaft über, deren Ursprung nicht immer ganz sicher herzuleiten war. In Gerhart Hauptmanns »Webern« hält der Kutscher zur Herrschaft. Er bringt auf eigne Faust vor der Rotte heranziehender Empörer die Kinder des Hauses in Sicherheit. In ihrer blinden Angst flüchtet sich die Frau des Hauses an den Busen dieses treuen Johann. Wenn sich in den Nöten des Lebens zwischen Gesinde und Herrschaft ein solches Band schlingt, so gleichen sich Gegensätze aus. Selbst von einem so wenig sentimentalen Manne, wie dem schlesischen Barchentfabrikanten, wird dem treuen Kutscher das, was er im Augenblicke der Gefahr tat, an den eigenen Kindern vergolten werden. Auch die Familie Straehler, aus der Herr Robert Hauptmann seine Gefährtin holte, hat sich von einer Generation zur andern im Grafenschloß aus geringem Stande langsam emporgehoben. Aus Dienern des hohen Adels wurden Vertraute und Beamte. Langsam entwickelte sich die Untertänigkeit zum freieren Bürgertum. Gesunden Naturen wird ein solcher Entwicklungsgang heilsam sein. Derbe volkstümliche Kraft verbindet sich dann mit höherer Lebensführung. Zum festen Handeln gesellt sich ein feineres Empfinden. Neben anderen Tugenden gedeiht das werktätige Mitleid. Als solch eine gesunde Natur, urwüchsig und derb im Geschäft, mild und edel im Gefühl, haben wir uns die Kronenwirtin von Salzbrunn zu denken, die um ihren gemessenen Eheherrn in Hof und Haus, in Keller und Küche, herumhantierte und umherfabulierte. Mutter Vockerat aus den »Einsamen Menschen« und Herr Siebenhaar aus »Fuhrmann Henschel« sehen ungefähr aus wie Gerhart Hauptmanns Elternpaar.
Als jüngstes unter vier Geschwistern wuchs Gerhart heran. Von der Schwester Johanna und den älteren Brüdern unterschied ihn, freilich nur vor Fremden, ein in sich gekehrtes Wesen. Wenig bedacht auf seinen Anzug, aber mit natürlicher Anmut trat er, ein kleiner, schlanker, blonder Prinz, unter die Dorfjugend. Wenn es ans Spielen ging, so war er mit Leidenschaft dabei; unter den wilden Jungen ein wildester. Mit den Kameraden, besonders in der engern Familie, konnte er von ausgelassenster Laune sein. Als er sieben Jahre alt war, begeisterte ihn die Freude, seine Geschwister nach längerer Trennung wiederzusehen, zu einem Ballettanz, den er aus eigenster Erfindung wie ein Wirbelwind vollführte, und den er dann noch öfter zum besten geben mußte.
Wenig oder gar nicht beteiligte er sich am Wirtshausleben im väterlichen Gasthofe, der nur während der Badesaison geöffnet war, und von dessen Restaurationsräumen die Kinder des Hauses ferngehalten wurden. Wenn er später einige Jahre lang zum grundsätzlichen Verächter alkoholischer Getränke geworden ist, wenn gerade die anstößigsten Motive seines Dramas »Vor Sonnenaufgang« vom Zorn über die Trunksucht erfüllt sind, so haben Kindeseindrücke, die der Dichter von Stammgästen der Preußischen Krone empfing, kaum mitgewirkt. Wohl aber sahen die Kinder auf der Dorfstraße so manches, was diesen früh eingeprägten Abscheu gegen Auswüchse der deutschen Zecherlust begründete.
Wie die älteren Geschwister, so kam auch Gerhart in die Obersalzbrunner Dorfschule. Der Lehrer hieß, wie der Lehrer des Ibsenschen Johannes Rosmer, Brendel. Aber ein Ulrik Brendel war dieser Salzbrunner Brendel nicht. Er war ein Schulmeister nach dem Lineal, der den Kindern auch dann noch was beizubringen wußte, als sie Lesen, Schreiben, Rechnen schon bei ihm gelernt hatten. Er führte sie durch Flur und Wald und Feld, über Berg und Tal; aber bei diesen Spaziergängen wies er sie nicht nur auf den Sang der Vögel hin, auf Blumen und Saaten, auf Käfer und Schmetterlinge, sondern zum Entsetzen des armen Gerhart paukte er ihnen auch in Gottes freier Natur die Versregeln der lateinischen Grammatik ein. Für diese Art von Poesie hatte Gerhart Hauptmann nie Verständnis. Von jeher war er das, was man einen schlechten Schüler zu nennen pflegt. Mehr als Lexikon und Grammatik reizte ihn der schöne Glasschrein seines Vaters, der mit Reihen goldbedruckter Bände den Kindern ein Heiligtum des Hauses blieb. Die Kinder fühlten sich geehrt, wenn der Vater ihn öffnete und ihnen bald aus der kleinen Cottaschen Klassikerbibliothek, bald aus guten naturwissenschaftlichen Werken mit weiser Auswahl eins oder das andere zu lesen gab. So lernte Gerhart manchen Abschnitt aus Buffon oder Alexander v. Humboldt früher kennen und würdigen als sein pflichtschuldiges Schulpensum.
Wie wenig ihn das Lernen in der Schule lockte, erwies sich, als er Ostern 74 zu seinen Brüdern nach Breslau in die Pension geschickt wurde, um mit ihnen dort die städtische Realschule erster Ordnung am Zwinger zu besuchen. Er kam nach Sexta, wo es noch leidlich ging; schon ein Jahr später ward er versetzt. Auf Quinta jedoch verweilte er drittehalb Jahre. Der kleine, freie Prinz aus dem Quellenland fühlte sich hier wirklich wie im Zwinger. Er verstand die Stadt und das städtische Leben nicht. Er verstand die Lehrer nicht, die Lehrer verstanden ihn nicht. Die Mitschüler hätten seine Träumereien verspottet, wenn sie bei deutschen Aufsätzen nicht seine Hilfe gebraucht hätten; denn in diesem Fach war er Oberster. Alles andere warf ihn auf die Lotterbank. Auch in den Pensionaten, wo Vater Hauptmann seine Jungen untergebracht hatte, ward Gerhart nicht heimisch, Bruder Carl, dessen wissenschaftlicher Geist zeitig erwacht war, der früher als andere hinter dem schulscheuen Wesen des Kleinen tiefe Anlagen erkannt hatte, sah, wie wenig Gerharts Geist und Gemüt im Zwinger gediehen. Selbst noch jung und unerfahren, wußte er nicht, wie dieses Knabenschicksal zu wenden sei. Aber während er sann und sorgte, wandte sich das Schicksal von selbst.
Daheim in Obersalzbrunn war es mit den Jahren bergab gegangen. Die Zuspitzung nationaler Gegensätze, die zunehmende Bequemlichkeit und Billigkeit des Reisens wies der vorteilhaftesten Badekundschaft neue Wege und Ziele. Salzbrunn verlor seine leistungsfähigsten Sommergäste. Das Kurpublikum verminderte sich an Zahl, noch mehr an Zahlungskraft. Statt der polnischen Magnaten kamen neben armen deutschen Adligen sparsame, um den Pfennig feilschende polnische Handelsleute. Die Pekesche verdrängte der Kaftan. Man wollte nicht mehr gut, sondern billig leben. Der Kronenwirt aber und seine Kronenwirtin hielten nach wie vor auf die wirtschaftliche Ehre ihres Hauses. Sie ließen die Gäste, auch wenn sie billig lebten, gut leben. Zurückblickend auf seine Salzbrunner Tätigkeit durfte sich Herr Robert Hauptmann einmal das Zeugnis geben: »Ich hab nie gefragt, ob es meinen Gästen gefiel, ich hab nie eher geruht, als bis es mir selbst gefiel.« Daß sein Geschmack gut war, haben ihm ansehnliche Gäste seines Hauses bezeugt. So schrieb ihm ein Breslauer Universitätsprofessor beim Abschied auf sein Konterfei: »Kehr ich einstens aus der Erde moderigem Schlunde wieder – nur zu Hauptmann, nur zu Hauptmann kehre ich zur Stunde wieder.« Aber die meisten, die so dachten, kehrten doch nicht wieder. Mochten im Keller drunten die alten teuren Weine als unverzinsliches Kapital lagern, mochte ihnen höchstens mal ein oder der andre reich gewordene Kohlenbauer aus Weißstein und Hermsdorf den staubbedeckten oder drahtbepanzerten Hals brechen, mochte oben auf den Tischen höchstens noch ein Pilsener Flaschenbier als später Eindringling des Hauses serviert werden: Kost und Unterhalt wurden darum nicht schlechter. Denn der Hausherr meinte, das Tüchtige müsse doch zuletzt zur Geltung kommen. Die weiten, luftigen Säle, die Herr Robert Hauptmann seinen vornehmen Gästen gebaut hatte, aus deren hohen Fenstern es sich so vergnüglich auf den Kurgarten hinübersah, an deren hohen Spiegeln schöne Polinnen vorüberstolziert waren, diese Säle blieben im besten Stand, auch jetzt, da bescheidnere Leute sie kaum zur Hälfte füllten. Der grüne, bewaldete Hügel, an dem das Wirtshaus würdig und wuchtig wie ein Herrensitz emporstieg, wurde nach wie vor von blumenfreundlichen Gärtnerhänden gepflegt. An den Spazierwägelchen zogen Rosse von gutem Geblüt. Der kostbarste Schatz des Hauses aber blieb ungehoben. Die heilkräftige Kronenquelle, die den spätern Besitzer des weitläufigen Grundstücks zum Millionär gemacht hat, für die jetzt durch ganz Europa die Reklame dringt, die Kronenquelle, die schon für Hauptmanns zum Quell des Wohlstandes hätte werden können, war damals eine Pferdetränke. Später läßt Gerhart seinen Fuhrmann Henschel zu Siebenhaar sagen: »Unsere Quelle ist die beste.« Das blieb damals noch unverwertet.
Während die Gäste von einem Umschwung der Verhältnisse in der Preußischen Krone nichts ahnen konnten, und kaum die Ortsinsassen was merkten, sah sich Vater Hauptmann eines Tages genötigt, sein schönes, treu gehegtes Erbgut, das vom Gericht damals auf 250 000 Mark geschätzt wurde, in die Hände der Hypothekengläubiger abzugeben. Nur mit einem kargen Notgroschen, aber mit wohlbehüteter Bürger- und Kaufmannsehre zog er 1877 vom Hofe weg. Wer jetzt in diesen Hof tritt, findet im großen Festsaale zwischen zwei deutschen Kaisern das Bildnis Gerhart Hauptmanns, und an der Einfahrt die Kutscherkneipe heißt »Zum Fuhrmann Henschel«. Wie aber würde Vater Hauptmann erst staunen, wenn er nicht weit von seiner alten Preußischen Krone, nur durch den Kurgarten getrennt, jetzt einen allermodernsten Hotelpalast sähe, der an Größe und Glanz in Berlin seinesgleichen sucht. Die Herzogin von Pleß ließ ihn bauen, um Bad Salzbrunn als Sommer- und Winterfrische wieder in Schwung zu bringen.
Durch Vermittlung des Realschuldirektors Kletke in Breslau erhielt Vater Hauptmann in dem damals neu eingerichteten Bahnhof, der jetzt Niedersalzbrunn heißt, die Gastwirtschaft zur Pacht. Aber der Erwerb an dieser kleinen Stelle war gering, und es galt, sich einzuschränken. Am wenigsten freilich sollte nach des Vaters Willen die standesgemäße Erziehung der beiden jüngeren Söhne drunter leiden. Der älteste, Georg, hatte die Realschule mit dem Zeugnis der Reife verlassen, hatte längere Zeit daheim dem Vater in kaufmännischen Geschäften zur Seite gestanden und war nun zur Zeit der Krisis in einem großen Hamburger Handelshause tätig. Der mittlere der Brüder, Carl, sollte seine wissenschaftlichen Fähigkeiten noch weiter auf der Schule ausbilden, um sich durch akademisches Studium forthelfen zu können. Das Angstkind blieb Gerhart, der jüngste. Da er auf der Schule nicht mitkam, so ward er, noch lange bevor er das Recht zum einjährigen Militärdienst hätte erwerben können, aus der Schule genommen. Das Abgangszeugnis, das Direktor Meffert und der Ordinarius der Quarta B., Dittrich, am 29. April 1878 unterzeichneten, nennt Betragen gut, Fleiß genügend, macht aber durch die Aufmerksamkeit einen dicken verschwiegenen Strich. Unter den Leistungen fehlt bei Religion die Zensur. Gut ist nur das Zeichnen. Am wenigsten befriedigt das Rechnen. Alle übrigen Fächer halten sich auf der Durchschnittshöhe des Genügenden. Auch Naturgeschichte und Deutsch, die man als Lieblingsfächer Gerharts voraussetzen darf, erreichen keinen höhern Grad. Was sollte aus dem Jungen werden? Unter seinen freien Ausarbeitungen hatten gute Urteile gestanden. In seinen Heften standen lyrische Gedichte und Märchen, die den Einfluß Andersens verrieten. Bruder Carl las diese stillen Sünden, die von der goldnen Mittelstraße der richtigen Schularbeit so weit abwichen. Der Beruf des Kleinen zum Dichter dämmerte ihm auf. Aber wie sollte ein fünfzehnjähriger Bursch, bei dem die Schulweisheiten so locker saßen, von Unterquarta aus deutscher Schriftsteller werden? Auf diese Zweifelsfrage wußte auch der ratende, fördernde Bruder keine Antwort. So kam Gerhart zu Verwandten aufs Land.
Auch die Eltern auf ihrer kleinen Bahnstation, die damals noch den ominösen Namen Sorgau führte, mögen nicht ohne Zweifel in die Zukunft des Knaben geblickt haben, der so vorzeitig aus dem regelrechten Bildungs- und Erziehungsgange deutscher Jugend verschlagen wurde. Aber der Vater pflegte in schwierigen Lebenslagen um so zuversichtlicher und tatkräftiger zu werden; es sollte ihm überdies eine pekuniäre Last abgenommen werden, und – das wußten die Eltern – ihr Kind kam in liebevolle Hände. Der einzige jedoch, der dieses Wechsels ganz froh wurde, war Gerhart selbst. Nun lagen Schulbank und Schulbücher hinter ihm, und vor ihm lag das offene Land. Hinter ihm Staub und Stubendunst, vor ihm Luft, Licht, Leben. Hinter ihm die Zucht, vor ihm die Freiheit. So wenigstens hoffte er, als er in seine »Stromtid« eintrat.
Dem treuen Vater, der ihn hat geleitet, Gibt er die herben Grüße in die Hand.
Er kam in den Striegauer Kreis, wo sein Oheim Gustav Schubert zwei Landgüter bewirtschaftete, das Freiherrn v. Tschammer abgepachtete Rittergut Lohnig und eine eigene bäuerliche Besitzung in Lederose. Gustav Schubert war, ebenso wie Robert Hauptmann, mit einer von den Töchtern des Obersalzbrunner Kurinspektors Straehler verheiratet. Gustav und Julie Schubert hatten einen einzigen Sohn, ihren Georg, in strenger Gottesfurcht herangezogen, und der Segen des Himmels schien an diesem begabten Kinde das fromme Tun der Eltern, ihr Gebet und ihre Arbeit, zu lohnen. Georg war der Stolz der engeren und weitern Familie. Man erwartete Großes von ihm. Da plötzlich bewies Gott seinen Getreuesten, daß alles Irdische eitel sei. Eines Tages standen die Eltern am Sarg ihrer Freude. Zugleich standen sie ratlos vor der Unerforschlichkeit des göttlichen Willens. Ihr gläubiges Herz hielt fest zum Himmel, darin sie ihr Kind wußten. Aber ihr Haus hienieden war verödet, und so suchten sie für den seligen Knaben eine Art Statthalter auf Erden. Das sollte kein anderer sein als Georgs junger Vetter Gerhart Hauptmann, der nun in eine streng religiöse Geistesrichtung kam.
In den Jahren der Entwicklung drückte diese Geistesrichtung dem lebhaften Knabengemüt, welches ohnehin zur transzendenten Spekulation neigte, einen so starken Stempel auf, daß Gerhart Hauptmann seither kaum was Größres gedichtet hat, ohne die Macht dieses Gepräges irgendwie und irgendwo spüren zu lassen. Vielleicht hat er in »Emanuel Quint«, wo er selbst als Kurt Simon und seine Tante Julie als die »temperamentvolle Christin« – Frau Oberamtmann Julie Scheibler – erscheint, über diese letzten Dinge sein Letztes gesagt. Überall ist zu fühlen, wie tief und auch wie ungestüm Glaubenssachen den Geist und das Herz des Jünglings aufgeregt haben. Schon im Elternhause war Gott mehr gewesen als ein guter Mann. Im täglichen Tischgebet, das eins der Kinder sprechen mußte, wurde seiner gedacht. Und wie Mama Vockerat der »Einsamen Menschen«, so wird auch Mutter Hauptmann in der Preußischen Krone, wenn es nichts zu braten und zu backen gab, Geroks Palmblätter und Lavaters Worte des Herzens gelesen haben. Aber herrnhutische Traktätchen an Berliner Gepäckträger, wie der alte Vockerat, hätte Herr Robert Hauptmann nimmermehr verteilt. Vom Vater hatten die Kinder nie religiöse Äußerungen gehört, sondern nur in ganz entscheidenden Augenblicken des Lebens sein stilles Gottvertrauen bemerkt. Seinem Schwager Gustav Schubert, dem Pflegevater Gerharts, dem Urbilde des alten Vockerat, wäre jene Handlungsweise eher zuzutrauen gewesen, obwohl seinem kindlich ringenden Gemüt, das alle Welt beglücken wollte, seiner »natürlichen Milde« jeder Zug des Eiferers fehlte; und seine Frau, die herzensgute und herzensfrische Tante Julie, der Liebling der ganzen Verwandtschaft, sorgte in ihrer resoluten und werktätigen Art dafür, daß dem christlichen Geist ihres Hauses Zelotisches und Zionswächterisches fernblieb. »Es war«, heißt es von Julie Scheibler, »in ihrer Natur neben allerlei ideellen Rumoren eine nicht gerade derbe, aber gesunde Sinnlichkeit.« Wie in Herrnhut selbst, an das die Bauerntochter Helene aus »Vor Sonnenaufgang« so liebliche Erinnerungen bewahrt, lag auch in Lohnig und Lederose das Hauptgewicht des gottgefälligen Lebens auf der Gemütsseite.
Das Schubertsche Haus war eine weltliche Domäne herrnhutischen Geistes. Hier erholten sich an schönen Sonntagsnachmittagen in traulicher Geselligkeit, wohl auch beim Schachbrett, das Onkel Schuberts irdische Leidenschaft war, die Dorfpastoren der Umgegend von ihrer Morgenpredigt, der die Hausherrschaft zuvor andächtig gelauscht hatte. Und wie sich fromme, reine Christenherzen immer am höchsten, am heiligsten, am freudigsten auf den Schwingen der Musik über die Zeitlichkeit erheben, so war auch für die schlanke Tante Julie und deren älteste Schwester, die Respektsperson der Familie, für das kluge Fräulein Auguste Straehler, die ihren verwachsenen Körper am liebsten in Herrnhuter Tracht kleidete, die Musik der herrlichste Lebensgenuß. Beide waren tief musikalisch begabt und gebildet. Frau Juliens Stimme »war von Schmerz und Inbrunst geheiligt und niemals, so weit Emanuel Quint sich erinnern konnte, war der verehrte Name des Heilands, der Name Jesus, wie hier, auf so vollen, reinen und zärtlichen Liebeswellen zu seinem Ohr herabgeschwebt«. So schön wie Tante Julie sang, so wunderschön spielte Tante Auguste auf dem Fortepiano. Neben den kirchlichen Chorälen, wie »O Jesus, süßes Licht«, durchschwirrten dann alte liebe Lieder des Volkes das Haus. Neben Bach und Händel fehlten auch weltlichere Meister nicht. Allgemeiner Liebling war Beethoven. Der junge Gerhart schwelgte in diesen erhabenen Klängen, die ein Zauber der Unschuld umgab, und in denen sich eine freudige Klarheit der musizierenden Frauen aussprach.
Wie »das seltsame Wesen der verschlossenen Jünglingsseele« Kurt Simons, so machte auch Gerhart seinen Gastfreunden Kummer. Wie Kurt Simon mag er über Tantens Evangelienbuch »in heimlichen Stunden oft und mit Inbrunst« gebetet haben, ohne daß »sich die Wirrnis seines Innern durch seine Gebete in Klarheit gelöst hatte«. Die Selbstqual und Sündenangst seiner verschlossenen Seele ergoß sich in Verse. »Es weinte in diesem Gedicht von Selbstanklage, von Abkehr und Überwindung der Welt, die dem heißen, in Liebe überwallenden Herzen nur Kälte und Gleichgültigkeit entgegenbrachte.« Gerhart hat seine Tante und seinen Onkel herzlich verehrt, und er bewahrt sie im dankbaren Gemüt. Aber heimisch ist er auf ihrer Scholle nicht geworden, und ein vollkommener Landwirt ward er in Lederose so wenig wie ein vollkommener Christ. Er nahm von diesen guten Menschen mit sich den läuternden Kampf um Gott, darin seine Seele ehrlich und glühend rang. Er nahm mit sich Tante Juliens Lieder. Und das Werk des Landmanns, der nächste Verkehr des kultivierenden Menschen mit der Natur, war ihm in heißer Arbeit nahgetreten. Aber alles das führte doch nicht zu den Zwecken seines Daseins. Das empfand er. Darum ward er auch des Landwirtberufes nicht froh. Und darum ging er neuen Wegen und Zielen nach. Als er nach Jahren wieder bei Tante Julie zum Besuch war, schrieb er ihr ins Stammbuch:
Ich kam vom Pflug der Erde Zum Flug ins weite All – Und vom Gebrüll der Herde Zum Sang der Nachtigall.
Die Welt hat manche Straße, Und jede gilt mir gleich; Ob ich ins Erdreich fasse, Ob ins Gedankenreich.
Es wiegt in gleicher Schwere Auf Erden jedes Glied. – Ihr gebt mir Eure Ähre,
Einstweilen stand das Lied noch nicht im Sterne seines Lebens. Zunächst winkte ihm eine andere Kunst. Gelegentlich hatten sich Anlagen zum Bildhaun gezeigt. Wie sein ältester Bruder, der temperamentvolle, leichtlebige, in Wort und Witz überaus bewegliche Georg beim Karikaturenzeichnen ein gewisses Genie dilettantisch entfaltete, so hatte auch Gerhart in Lehm oder Wachs an allerhand possierlichen Figürchen nicht unglücklich geknetet und mit umgekehrten Stahlfedern in grobe Kreidestücke hineingemeißelt. Das brachte seinen Bruder Carl, der ihn in künstlerischer Sphäre halten wollte, auf den Gedanken, diese spielerische Fertigkeit systematisch auszubilden. Er erreichte das um so eher, als auch der künstlerisch wohlerfahrene Vater an Gerharts kleinen Arbeiten sein stilles Vergnügen fand und sie guten Freunden mit einigem Stolz zeigte. So kam Gerhard wieder nach Breslau zurück. Diesmal nicht auf die Realschule am Zwinger, sondern auf die dortige königliche Kunstschule. Er trat am 6. Oktober 1880 in die Vorbereitungsklasse ein, ließ sich eine Künstlermähne wachsen und belegte beim Direktor der Anstalt, Baurat Lüdecke, ornamentales Zeichnen, bei Alwin Schultz Kunstgeschichte, beim Bildhauer Michaelis Modellieren. Gegen die Schulregeln dieses Vorbereitungsunterrichts lehnte sich der herangewachsene Jüngling innerlich bald auf.
Ein Volk von Krämern schleift des Marmors Decken, Ein Volk von Bäckern bäckt den braunen Ton, Statt heil'ger Priester Lumpen nur und Gecken, Statt stiller Wahrheit Lug und Leid und Hohn.
Schon am 26. Oktober zog er sich »wegen seines Benehmens« eine direktoriale Verwarnung zu. Mit dem Modellierlehrer, bei dem er am meisten zu tun hatte, kam es zum Bruch. Desto mehr Verständnis und Ermutigung fand er im Bildhaueratelier Robert Haertels, den er später in freundschaftlicher Beziehung zu »Michael Kramer« setzte. Haertel erteilte ihm Privatunterricht, als Gerhart Anfang 1881 zusammen mit einem Kameraden namens Urban elf Wochen lang von der Kunstschule ausgeschlossen war, weil sie laut Konferenzbeschluß vom 5. Januar »hinsichtlich ihres Betragens und ganzen Wesens, bei mangelhaftem Stundenbesuch, geringen Fortschritten und bösem Beispiel für die andern Schüler sich nicht mehr für die Anstalt eigneten.« Auf Haertels Betreiben aber wurde der störrische Scholar bereits am 23. März wieder zu Gnaden angenommen, ohne daß der Vater von dem ganzen Zwischenfall erfuhr. Bei Haertel blieb Gerhart noch ein Jahr, bis er am 15. April 1882 die Anstalt »wegen Krankheit« für immer verließ. Die Lehrer hielten ihn für schwindsüchtig. Da auf der Kunstanstalt auch wissenschaftlicher Unterricht erteilt worden war, und der sogenannte Künstlerparagraph der Wehrordnung Akademikern ein Recht zum einjährigen Militärdienst gibt, so setzte es Haertel durch, daß sein Lieblingsschüler das Zeugnis für den Dienst als Einjährig-Freiwilliger erhielt. Haertel hatte aber nicht bloß sein bildnerisches Schaffen gefördert und eine in rotem Wachs modellierte, durch die Wolken dahinjagende Gottheit anerkannt, sondern er ließ sich auch Gerharts Dichtungen vorlesen, die ebenso wie jenes Bildwerk der germanischen Sage entstammten. Vom Dänen Andersen war der junge Dichter zum Schweden Tegnér gelangt, aus dessen Frithjofsage er ein Drama »Ingeborg« schuf. Wie Wilhelm Jordan, den er unter starkem Eindruck las und wohl auch rezitieren hörte, wollt' er es »wagen zu wandeln verlassene Wege zur grauen Vorzeit unseres Volkes«. Er plante ein Hermannsepos in zwölf Gesängen, von denen anderthalb im Stile Jordans fertig wurden. Derselbe Stoff sollte auch zum Gegenstand eines Dramas werden. Die Tragödie sollte heißen: »Germanen und Römer«. Der Held war wiederum Hermann der Cherusker. Neben ihm sollte ein alter Sänger Sigwin hervortreten, dessen Tochter von einem Römer verführt und dann verlassen wird. Der Dichter ließ seinen Sigwin in dem Augenblicke sterben, da man ihm die Botschaft vom Siege der Germanen über die Römer bringt, und diesen Augenblick stellte der Dichter später auch bildnerisch in einer kleinen Statuette Sigwins dar.
Sein Kunstlehrer merkte, daß diese Jünglingsseele ein andres Land suchte. Bruder Carl hatte inzwischen seine Reifeprüfung bestanden und studierte in Jena bei Ernst Haeckel Naturwissenschaften. Mit mannigfaltiger Gewalt zog es die Brüder damals noch zueinander. Was Gerhart auf der Schule versäumt hatte, sollte und wollte er im freien Getriebe der Universität, nachholen. Haertel und der gute Zechbruder Professor James Marshall, das Urbild des Collegen Crampton, hatten Beziehungen zum Weimarer Hof. Sie erreichten es, daß auf Veranlassung des Großherzogs Karl Alexander der Breslauer Kunstschüler Ostern 1882 an der Jenaischen Universität als studiosus historiae immatrikuliert wurde. Er belegte nach junger Füchse Art für den Winter eine Überfülle der unterschiedlichsten Collegia, nur keine historischen. Er belegte nicht bloß bei Rudolf Eucken und Otto Liebmann Philosophisches, sondern auch bei Haeckel Zoologie und bei Chr. Ernst Stahl Botanik. Am meisten aber interessierte ihn eine Vorlesung über Pompeji von Professor Gaedechens. Im nächsten Sommer war sein Wissensdurst wesentlich vermindert. Er belegte nur noch die Vorlesungen seines Tischgenossen Arthur Boehtlingk über das Revolutionszeitalter und über Goethe. Lieber jedoch ging er zu einem Steinmetzen, griff eine Hand voll Ton auf und formte zum Vergnügen der Freunde allerhand Sächelchen draus: einige Köpfe und auch jenen sterbenden Sieger. Diese Art der körperlichen Gestaltung schärfte seinen dichterischen Blick für das Charakteristische und Individuelle der Menschen. Die eine Kunstübung kam der andern zugute.
In Jena lernte er auch den Segen junger brüderlicher Kameradschaft näher kennen. Schon auf der Breslauer Kunstschule war er mit dem spätem Landschaftsmaler Hugo Ernst Schmidt, dem Urbilde Gabriel Schillings, und mit dem jetzigen Rassenhygieniker Alfred Ploetz, der damals in Breslau Nationalökonomie studierte, innig befreundet gewesen. Die beiden großen Lebensinteressen seiner Seele, Kunst und Philanthropie, hatten hier jede in einem Freunde zugleich den Förderer gefunden. Aber ein rechtes Studentenleben konnte sich in Breslau nicht entfalten. Das fand er erst in Jena im Akademisch-naturwissenschaftlichen Verein bei seinem Bruder Carl und dessen Kameraden. Es war ein Kreis junger Leute, die, vorwiegend mit realistischer Bildung ausgerüstet, zur Universität gingen und in den beiden Mächten der modernen Entwicklung, den Naturwissenschaften und der Sozialpolitik, das Heil der Welt suchten. Darwin war der Heros dieses Bundes. Naturwissenschaftliche und philosophische Ideen wurden bei den täglichen Studien und den abendlichen meist sehr leidenschaftlichen Debatten am Biertisch ausgetauscht. Gerhart Hauptmann, der Jüngste, der Ungelehrteste, der Poet in diesem Kreise, hielt wacker mit im Kneipen wie im Streiten. Seine Freunde wissen nichts von jener stillen Schweigerart, die in fremder förmlicher Gesellschaft bei ihm zu jener Zeit auffiel, als er anfing berühmt zu werden, die sich aber dann wieder verloren hat. Am engsten schloß er sich in Jena einem jungen, musikalisch fein empfindenden, wundervoll Klavier spielenden Wagnerianer, Max Müller, an. Von Müller und Gerhart ging das Künstlerische jenes Kreises aus. So oft Kunstfragen oder auch Fragen der Menschlichkeit aufgeworfen wurden, vermochte Gerhart seinen Standpunkt ebenso lustig wie hartnäckig, ebenso selbstbewußt wie beredt zu verteidigen. Von Inhalt und Gangart dieser Debatten bekommt einen Begriff, wer in einem der Breslauer Schlußkapitel des Quintromans den »blauäugigen, blonden verstandestüchtigen« Arzt Hülsebuch (Alfred Ploetz) diskutieren hört.
Allmählich trieb es ihn aber von den Freunden weg in die Welt. Im Frühling 1883 besuchte er seinen Bruder Georg, der eine von den fünf Töchtern des Großkaufherrn Thienemann geheiratet und in Bergedorf bei Hamburg neben dem jungen Hausstand ein Geschäft begründet hatte. Von Hamburg aus fuhr Gerhart auf einem Kauffahrteidampfer die europäische Küste entlang ins mittelländische Meer. Er fuhr denselben Wasserweg, den einst Byrons Harold gepilgert war, und wie das Buch von Harolds Pilgerfahrt während dieser Reise oft in seiner Hand lag, so lebten in seiner Seele Harolds Schmerzen. Den ersten längern Aufenthalt nahm er in Malaga, wo teils lockend, teils widrig die Sünde auf ihn zutrat, und ihn im Anblick entweihter Frauenreize der Menschheit ganzer Jammer anfaßte. Ihn überkamen Empfindungen des Grauns und des Grams, Empfindungen aber auch, wie sie Jesus Christus jener Sünderin darbrachte, gegen die Andre den Stein hoben. Auch in Barcelona hielt er sich bei ähnlichen Eindrücken auf. In Marseille verließ er das Schiff, um auf dem Schienenweg die Riviera entlang nach Genua zu fahren. Hier traf er seinen Bruder Carl, der inzwischen über die Alpen gewandert war. Beide reisten selbander nach Neapel. Sechs Wochen verlebten sie auf Capri, von der Schönheit dieser Insel nicht mehr bezaubert als von der realistischen Poesie dieses Volkslebens, vom Reize dieser Volksgestalten. Abends pflegte sich um die beiden lichtblonden deutschen Jünglinge ein kleines Lumpengesindel schwarzgeäugter Lausebübchen zu sammeln. Die junge italienische Volksseele klang und sang. Als endlich die Brüder Abschied nahmen, vergoß Jung-Capri bitterliche Tränen.
Aber Gerhart Hauptmann war schon damals nicht der Mann, sich wie Gottfried Kellers Schöngeist an den romantischen Fetzen der Armut in ästhetischer Kaltherzigkeit zu vergnügen. Wie in Malaga der Anblick gemeiner Unzucht, so ergriff ihn in Neapel das soziale Elend mit herbem Weh. Klagend ruft er aus: »Schafft mir Neapel aus Neapels Welt!«
Im Juni kehrte Carl zu einer militärischen Übung zurück. Gerhart blieb zunächst in Rom, von wo ihn bald die Malaria ebenfalls nach Hause hetzte. Unterwegs hatte ihn das Heimweh oft übermannt. Zumal wenn er in Gesellschaft kalter, fader, vernünftlerischer Dutzendmenschen sein volles Herz nicht gewahrt hatte und statt auf Verständnis nur auf Spott und Schimpf gestoßen war. Dann wünschte er sich, wie Goethes Faust, den Fittich der Vögel:
Was solls? Ich wandre heim euch zu vergessen, Zu sitzen dort, wo selig ich gesessen, Wo stiller Wiesen duft'ge Blumen sprießen, In meiner Liebe zu der Liebsten Füßen.