Gespenster-Krimi 136 - Michael Blihall - E-Book

Gespenster-Krimi 136 E-Book

Michael Blihall

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Beschreibung

Unsanft wurde der Grundwehrdiener Mario Köhler von seinem Kameraden Severin aus dem verbotenen Schlaf geweckt. Sie waren zur Nachtwache eingeteilt, und er war eingeschlafen!
Schlaftrunken registrierte er die stummen Gesten, mit denen ihm Severin bedeutete, dass er bloß leise sein sollte.
Mario vernahm jetzt die seltsamen Geräusche, weswegen ihn Severin offensichtlich geweckt hatte, und verstand sofort den Ernst der Lage. Er konnte aber nicht verorten, woher die Geräusche kamen. Auch durch sein Nachtsichtgerät sah er nichts Außergewöhnliches.
Falls sich noch eine dritte - fremde - Person in der Nähe aufhalten sollte, dann hielt sich diese sehr gut versteckt. Und obwohl er das Gefühl hatte, er müsse einfach nur noch die Hand ausstrecken, um sie zu berühren, konnten weder er noch Severin sehen, um wen oder was es sich dabei handelte.
Und im gleichen Moment, als etwas Marios Gesicht berührte, schrie sein Kamerad hinter ihm los ...


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Inhalt

Cover

Im Stechschritt in die Hölle

Special

Vorschau

Impressum

Im Stechschrittin die Hölle

Von Michael Blihall

Unsanft wurde der Grundwehrdiener Mario Köhler von seinem Kameraden Severin aus dem verbotenen Schlaf geweckt. Sie waren zur Nachtwache eingeteilt, und er war eingeschlafen!

Schlaftrunken registrierte er die stummen Gesten, mit denen ihm Severin bedeutete, dass er bloß leise sein sollte.

Mario vernahm jetzt die seltsamen Geräusche, weswegen ihn Severin offensichtlich geweckt hatte, und verstand sofort den Ernst der Lage. Er konnte aber nicht verorten, woher die Geräusche kamen. Auch durch sein Nachtsichtgerät sah er nichts Außergewöhnliches.

Falls sich noch eine dritte – unbefugte – Person in der Nähe aufhalten sollte, dann hielt sich diese sehr gut versteckt. Und obwohl er das unangenehme Gefühl hatte, er müsse einfach nur noch die Hand ausstrecken, um sie zu berühren, konnten weder er noch Severin sehen, um wen oder was es sich dabei handelte.

Und im gleichen Moment, als etwas Marios Gesicht berührte, schrie sein Kamerad hinter ihm los ...

Neue Lage: 14 Tage

Der Tag war nicht mehr so drückend heiß gewesen wie die Wochen zuvor. Und da die Nächte im burgenländischen Seewinkel selbst bei hohen Tagestemperaturen kalt zu werden drohten, packten die beiden Grundwehrdiener Severin und Mario zusätzlich warme Oberbekleidung in ihre Rucksäcke ein.

Dann sprangen sie zusammen mit vier anderen Kameraden hinten in den Puch Pinzgauer hinein, der sie zum Einsatzort ihrer Nachtwache bringen sollte.

»Neue Lage?«, fragte einer der Gefreiten, der bereits im Geländewagen saß, als hinter Mario die Klappe geschlossen wurde.

»Vierzehn Tage«, antwortete er mit breitem Lächeln im Gesicht. Es war ein Ritual unter den Grundwehrdienern im österreichischen Bundesheer, sich immer wieder gegenseitig daran zu erinnern, wie viel Zeit sie bis zum Ende der Wehrpflicht noch zu absolvieren hatten.

Der Korporal, der am Steuer saß, startete den Motor und fuhr los. Nacheinander würde er die drei Hochstände abfahren, wo jeweils zwei Soldaten aus dem Wagen steigen und dabei die Kameraden, deren Schicht zu Ende war, ablösen würden.

Die Fahrt dauerte somit für Mario und Severin keine zwanzig Minuten, da sie sogar die Ersten waren, die den Wagen wieder verließen. Sie klatschten die beiden abgelösten Soldaten ab, die froh waren, dass ihre Zwölf-Stunden-Schicht nun vorbei war und sich nun ihrerseits in den Pinzgauer setzten. Natürlich hatte man sich auch hier wieder gegenseitig mit der »neuen Lage der Tage« motiviert.

Mario und Severin standen nun neben »ihrem« Hochstand am Feldweg und sahen den Rücklichtern des Geländewagens nach, bis dieser hinter einigen Bäumen verschwunden war.

»Wie ich diese Nachtdienste hasse«, seufzte Mario. »Tagsüber ein bisschen neben dem Hochstand in der Sonne zu sitzen, wäre mir eigentlich lieber.«

»Hör auf zu sudern*«, antwortete Severin in seinem Mühlviertler Dialekt. »Hast eh nur noch ein paar Tage.«

Mario kam aus Wien und hatte anfangs Schwierigkeiten gehabt, den Dialekt seines Kameraden zu verstehen. Aber jetzt, Monate später und gegen Ende der gemeinsamen Dienstzeit als Präsenzdiener des österreichischen Bundesheers, bereiteten ihnen ihre unterschiedlichen Mundarten keine Probleme mehr.

Wenn es zu diesem Zeitpunkt, kurz vor Ende der Pflichtzeit, aber eine Sache gab, die Mario bedauerte, dann dass sich in zwei Wochen ihre Wege wieder trennen würden. Wahrscheinlich sogar für immer.

Mario verscheuchte die trübsinnigen Gedanken und versuchte, sich lieber vorzustellen, was in seinem Leben alles besser werden würde, sobald er die Uniform endlich abgelegt hatte. Er würde wieder im väterlichen Betrieb arbeiten und seine Tätigkeit als Uhrmacher und in späterer Folge als Junior-Chef im Uhrengeschäft aufnehmen.

»Du hast ja recht«, antwortete Mario und stieg auf den Hochstand.

Von oben ließ er seinen Blick über die Umgebung schweifen. Weit sah er über die bereits abgeernteten Felder hinaus, die sich hinter dem Hochstand befanden. Vor sich überblickte er den Feldweg, über den sie soeben gekommen waren. Daneben befanden sich Reihen von Gebüschen, die den Weg und somit die österreichische Grenze säumten. Die vielen Bäume, die sich dahinter erhoben, befanden sich bereits auf ungarischem Territorium.

Severin war nach ihm den Hochstand hinaufgeklettert und schaltete das mitgebrachte Funkgerät ein.

»Hast du die Spielkarten mit?«, fragte er, während er das umgehängte Gewehr in eine Ecke stellte.

»Freilich.« Mario grinste und klopfte auf die ausgebeulte Hosentasche am rechten Oberschenkel.

Einige Kartenrunden später war die Sonne untergegangen, und die Müdigkeit machte sich bei beiden bemerkbar.

Jetzt, wo es so dunkel war, hatten sie keine Lust mehr auf Kartenspiele. Stattdessen unterhielten sie sich gegenseitig mit »Weibergeschichten«, die sie ohnehin schon hundertmal gehört hatten. Da sie diese Geschichten aber jedes Mal, wenn sie sie erzählten, noch mehr ausschmückten, störte es sie kaum.

Doch auch diese Unterhaltungen verebbten nach einigen Stunden. Irgendwann hatten sie keine Lust mehr zu reden. Es wurde kälter, und sie zogen ihr Übergewand an. Und dann kämpften sie damit, ihre Augenlider nicht zufallen zu lassen.

Mario träumte, dass er mit seiner Freundin Petra im Prater war und mit »seinem« StG 77 auf rosa Zuckerwattebällchen schoss, als Severin ihn mit einem unsanften Stoß in die linke Seite aus dem Schlaf riss.

»Hey, Alter ... spinnst du?«, rief Mario im Halbschlaf.

»Pscht«, machte Severin und hielt ihm sogar den Mund dabei zu.

Scheiße, durchfuhr es Mario. Es muss etwas passiert sein!

Severin löste die Hand von Marios Lippen und zeigte stumm mit seinem Zeigefinger an sein Ohr.

Mario sagte kein Wort mehr und horchte in die Dunkelheit hinein. Es war mucksmäuschenstill. Fast hätte er die Stille mit einer Frage unterbrochen, da hörte auch er ein seltsames Geräusch!

Sein Körper war nun vollkommen angespannt. Etwas glitt durch das Gras zwischen den Bäumen und dem Gebüsch! Es musste sich, dem Geräusch nach, entweder um ein großes Tier oder gar um einen Menschen handeln.

Severin deutete stumm auf das Nachtsichtgerät, das neben Mario lag. Dieser nickte und hob es in Zeitlupe hoch, um ja kein Geräusch dabei zu verursachen. Er löste leise die Kappe, die die Linsen des Gerätes schützten, und hob die Brille vor seine Augen.

Die Umgebung erschien ihm in satten Grüntönen. Severins Augen funkelten gespenstisch vor ihm. Dann drehte er die Brille von seinem Kameraden weg und beobachtete die gesamte Umgebung in einer Kreisbewegung durch das Gerät.

Doch wenn sich hier wirklich noch eine dritte Person aufhalten sollte, dann hatte sich diese sehr gut versteckt.

Er erschrak, als er plötzlich Schritte hörte!

Es war nun nicht mehr nur ein leises Gleiten. Nein, das waren eindeutig Schritte!

Langsam zwar. Sehr langsam. Aber er konnte deutlich hören, wie jemand vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzte. Seltsam war dabei nur, dass diese Schritte aus einer völlig anderen Richtung als das Gleiten kamen! Vom Feldweg her. Ganz deutlich registrierten die beiden Soldaten, wie kleine Steinchen unter schweren Tritten knirschten.

Sie verließen vorsichtig den Hochstand und kletterten die schmale Holzleiter herunter.

Severin stellte sich mit seinem Gewehr im Anschlag mitten auf den Feldweg und rief in die Richtung, aus der die Schritte kamen: »Halt, Grenzkontrolle! Bleiben Sie stehen!«

Mario konnte nicht erkennen, wen Severin hier anschrie. Möglicherweise wusste der Kamerad es selbst auch nicht. Denn noch immer war die Person, die sich ihnen näherte, nicht zu sehen! Es war beinahe, als würde ein Unsichtbarer auf die beiden jungen Männer zuschreiten.

Mario versuchte, seine Angst zu unterdrücken, als er an Severin vorbei einige Schritte auf die Geräusche zuging.

Und obwohl er das Gefühl hatte, er müsse einfach nur noch die Hand ausstrecken, um eine Person berühren zu können, konnten weder er noch Severin sehen, um wen oder was es sich dabei handelte. Mario spürte jedoch, dass sich weniger als einen Meter entfernt vor ihm etwas befand.

Und im gleichen Moment, als jemand ... oder etwas sein Gesicht berührte, schrie sein Kamerad hinter ihm los ...

Noch mehr erschrak er aber, als er hinter sich das Krachen von Ästen und Rascheln von Sträuchern hörte! Er war sich mit einem Schlag sicher, dass sich jemand neben ihnen im Gebüsch versteckt und sie beobachtet hatte. Und dieser Jemand sprang mit einem Satz plötzlich auf den Feldweg!

Instinktiv drehte sich Mario um hundertachtzig Grad um und sah sofort einen dunklen Schatten, der vor ihm aufwuchs.

Vor Schreck ließ er sogar das Nachtsichtgerät fallen, und als er Glas brechen hörte, hatte er den irrealen Gedanken, dass ihm die Zerstörung von Heereseigentum teuer zu stehen kommen würde.

Nun erkannte er aber auch ohne technische Hilfsmittel die weit aufgerissenen Augen eines bärtigen und verwahrlost aussehenden Mannes. Im nächsten Moment versetzte ihm dieser einen leichten Schlag an die Brust. Mario stolperte rückwärts und fiel mehr aus Überraschung auf den Feldweg.

Der Fremde lief an ihm vorbei.

Da gellte Severins Stimme durch die Nacht: »Halt, stehen bleiben! Grenzkontrolle!« Panik schwang in dieser Aufforderung mit.

Mario drehte sich liegend zur Seite, um aufzustehen, als ihm auch schon der nächste Schreck durch die Glieder fuhr. Denn es ertönte ein ... SCHUSS!

Severins Gesicht wurde einen Augenblick vom Mündungsfeuer erhellt und verschwand wieder in der Dunkelheit. Mario konnte nicht glauben, dass Severin soeben einen Schuss abgefeuert hat!

Doch dann hörte er auch schon den Körper des Getroffenen hinter sich aufschlagen.

Auf einmal war es still.

Mario kniete auf dem Feldweg und blickte auf den reglosen Körper des Mannes, der ihn vor einer Sekunde noch umgeworfen hatte.

In seinen Ohren hörte er ein leises Pfeifen, das wahrscheinlich vom Schuss herrührte. Davon unbeirrt stand Mario aber auf und ging auf den am Boden liegendem Mann zu. Neben dessen zerschmetterten Kopf blieb er stehen.

Dann drehte er sich zu seinem Kameraden um.

Vor ihm stand Severin. Ein Grundwehrdiener. So wie er. Sie waren im selben Alter. Vor wenigen Sekunden war Severin noch ein ganz normaler neunzehnjähriger Junge gewesen ... ein Kind fast noch ... und jetzt ... ein Mörder.

»Du Vollidiot!«, entfuhr es Mario im Wiener Dialekt. »Du hast ihn erschossen! Was ist denn in dich gefahren?«

»Jetzt beruhige dich doch.« Severins Stimme zitterte. Mit wackeligen Schritten kam er auf Mario zu.

»Beruhigen?! Ich soll mich beruhigen?! Jetzt komm her und schau dir die Scheiße an! Du hast dem Kerl den halben Kopf weggeschossen!«

»Aber er hat dich angegriffen! Es war Notwehr!«, versuchte Severin sich zu verteidigen.

»Notwehr? Du hast ihm von hinten in den Kopf geschossen. Was ist da bei dir bitte Notwehr?!«

»Jetzt schrei doch nicht so! Wir kriegen das hin.« Severin keuchte, als wäre er einen Marathon gelaufen.

»Was willst du denn da hinkriegen? Willst du ihn ausstopfen und so tun, als wäre nichts passiert?«

»Wir behaupten einfach, es war Notwehr. Du, das wird schon. Wenn wir zusammenhalten, dann glauben die uns das. Wir müssen uns nur einig sein bei der Aussage.« Severins Stimme zitterte und brach an manchen Stellen.

»Wie bitte?« Mario war fassungslos.

»Schau, Mario. Wir müssen die Wahrheit gar nicht viel verbiegen. Der Mann da ist sicher ein Flüchtling. Wir haben ja gehört, wie er durch die Büsche geschlichen ist. Und als er dann herausgesprungen ist, hat er dich umgeschmissen. Wir sagen einfach, er ist auf dich losgegangen. Wir sagen, dass er dir das Feldmesser abgenommen hat und auf dich einstechen wollte. Ich habe ihn dann von hinten erschossen, bevor er dir was tun kann. Mario, bitte! Das funktioniert! Lass mich nicht in Stich!«

Mario dachte einige Sekunden lang nach. Ja, Severins Geschichte klang glaubwürdig. Es könnte sogar klappen. Vielleicht würden ihnen ihre Vorgesetzten die Geschichte tatsächlich abkaufen.

Aber dann ... es würde bestimmt weitere Untersuchungen geben. Spurensicherung, Kripo, Staatsanwaltschaft ...

Würde er bis zum Ende durchhalten? Sicherlich würden sie viele Verhöre über sich ergehen lassen müssen. Nein ...

Er sah auf den zerschmetterten Kopf des Toten vor sich.

Nein, dachte Mario. Bis jetzt habe ich mich nicht strafbar gemacht. Aber ich würde mich eines Mordes mitschuldig machen, wenn ich Severin die Stange halte ...

»Severin ... Ich kann nicht. Tut mir leid, ich ...«

Da spürte er plötzlich von hinten einen festen Griff an seinem Mund. Sein Kopf befand sich auf einmal in Severins Schwitzkasten.

Ein harter Schlag traf seine Brust. In seiner Herzgegend.

Dann noch einer.

Dann noch einer ...

Erst beim dritten Schlag wurde Mario bewusst, dass Severin ihn nicht nur mit der Faust geschlagen, sondern ihm ein Messer tief in die Brust gestochen hatte.

Der heiße Schmerz zog gleichzeitig mit der Erkenntnis durch seinen Körper. Noch zweimal trafen ihn die Stiche, bis seine Knie nachgaben und sich auch Severins Umklammerung löste.

Mario fiel neben den Erschossenen und drehte sich schwerfällig zur Seite, während das Blut pumpend seinen Körper verließ.

Die Nacht zog sich zurück. Zumindest erschien es Mario so, denn ringsum ihn herum wurde es heller.

Gleißendes Licht drang von allen Seiten auf ihn ein und in diesem Licht ... dieses unsichtbare Etwas, das ihn berührt hatte ... Kurz bevor dieser fremde Mann aus dem Gebüsch gebrochen war ...

Es war wieder da ...

... und es beugte sich zu ihm herab ...

24. Juni 2023, Donauinsel, Wien

Das Wiener Donauinselfest.

Es gab nur zwei Kategorien von Wienern. Diejenigen, die es liebten, und diejenigen, die es hassten.

Dennoch war dieses dreitägige Festival seit genau vierzig Jahren mit bis zu drei Millionen Besuchern ein Highlight, das inzwischen international bekannt war und nicht nur die Wienerinnen und Wiener anlockte.

Andreas Brauner gehörte eindeutig zur ersten Kategorie. Er rühmte sich damit, seit seinem ersten Besuch kein einziges Fest mehr ausgelassen zu haben und textete die Person neben ihm gerade mit seinen Erlebnissen aus vergangenen Inselfesten zu.

Bei dieser Person handelte es sich um eine Vertreterin der zweiten Kategorie. Andreas Freundin Johanna Schuster hatte dieses Fest bisher drei-‍, höchstens viermal besucht. Sie war in Kreuzbach, einer kleinen Gemeinde im niederösterreichischen Weinviertel, aufgewachsen. Dort gab es jedes Jahr im Juli ein Kellergassenfest, und das hatte ihr in ihrer Jugend schon vollkommen ausgereicht.

Allein die Vorstellung, sich gleichzeitig mit etwa einer Million Menschen auf ein Areal zu begeben, das gerade mal vier Kilometer lang und höchstens 250 Meter breit war, reichte, um kleine Panikattacken auszulösen.

Und sie fühlte sich tatsächlich nicht wohl, als sie neben Andreas inmitten dieser Menschenmassen die Insel von der Reichsbrücke entlang bis zur Festbühne marschierte. Immer wieder mussten sie entgegenkommenden Personen oder jenen, die einfach langsam vor ihnen schlenderten, ausweichen.

Zum Glück war es nicht mehr so heiß wie in der vergangenen Woche. Am Tag davor hatte es geregnet und ein klein wenig abgekühlt. Auch das hatte – laut Andreas – Tradition: Meist war es im Juni vor dem Inselfest heiß, mit Temperaturen um die dreißig Grad. Nur damit es rechtzeitig bei der Eröffnung am Freitag regnete. Und manchmal passierte es auch, dass es die gesamten drei Tage durchregnete.

Andreas Brauner schienen die Menschenmassen nicht zu stören.

Ausgerechnet er, dachte Johanna. Normalerweise scheute Andi soziale Kontakte wie der Teufel das Weihwasser.

Aber heute lief er fröhlich in seinem Buck-Rogers-Shirt neben ihr und unterbrach den Redefluss nur, wenn er von seiner Bratwurst abbiss oder von seinem Plastikpfandbecher mit Inselbier nippte.

Johanna musste zumindest zugeben, dass sie es gut fand, dass der Eintritt zu diesem Festival gratis war und den Besuchern durchaus ein tolles Musikprogramm auf mehreren Bühnen gleichzeitig geboten wurde.

Sie waren auf dem Weg zur Hauptbühne, auf der heute Bonnie Tyler ihren Auftritt haben würde. Und sie war auch der einzige Grund gewesen, warum es Andreas in diesem Jahr gelungen war, seine Freundin zu überreden, mitzukommen.

»1993. Da hättest du dabei sein müssen«, schwärmte Andi, und sie fragte sich, ob sie damals als Fünfjährige wirklich viel von diesem Fest gehabt hätte.

Ihr Freund war immerhin zehn Jahre älter als sie und hatte zu dieser Zeit wahrscheinlich gerade damit begonnen, auszugehen und Konzerte zu besuchen.

Mit einem Seitenblick erkannte sie, dass sie den Vorsprung – zumindest, was den Umgang mit Nahrungsmitteln betraf – locker eingeholt haben dürfte. Denn Andi kleckerte gerade Ketchup auf Captain Rogers, der sich über seinem stattlichen Bauch wölbte. Und im Vollbart glänzten einige Tropfen in der Sonne, bei denen es sich wahrscheinlich um Bier handelte.

»Da war das beste und legendärste Konzert überhaupt!« Er biss von der Bratwurst ab und redete mit vollem Mund weiter. »Das Falco-Konzert.«

»Ja, ich habe davon gehört, dass das gut gewesen sein soll.«

»Gut? Gut? GUUUT? Es war grandios!«

Innerlich verdrehte Johanna die Augen. Wahrscheinlich würde sie jetzt zum gefühlt hundertsten Mal hören, wie Andi damals mit hunderttausend anderen Fans im strömenden Regen gestanden hatte, während ...

»Wir standen im Regen, Falco performte auf der Bühne. Aber ihm und den Leuten war das Wetter in diesem Moment scheißegal. Eine Stimmung kann ich dir sagen ... Und dann ... während seinem Lied Nachtflug ...«

»Hat da nicht der Blitz eingeschlagen?«

»Da hat der BLITZ eingeschlagen!«

Johanna wusste nicht, ob Andi ihr zugestimmt oder einfach weitergesprochen hatte, ohne ihre Frage überhaupt zu hören.

»Ich sage dir ... das war schon geil.« Er steckte das letzte Stück seiner Wurst in den Mund und leckte sich Reste von Ketchup und Senf von den Fingern.

»Die Bühnentechnik fiel kurz aus. Der Ton war weg und hunderttausend Fans haben einfach für ihn weitergesungen ...« Andi hatte vor Begeisterung nicht auf seine Umgebung geachtet und lief in eine Personengruppe, die aus der Gegenrichtung gekommen war.

»He, hoppala ... Augen immer geradeaus, der Herr«, sagte eine weibliche Stimme zu ihm.