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Nach einem missglückten Exorzismus liegt der Wiener Geisterjäger Andreas Brauner monatelang im Koma ... und als er wieder zu sich kommt, hat sich sein Leben drastisch verschlechtert. Sein Arbeitgeber hat ihm gekündigt, ein neuer Job ist nicht in Sicht, und auf seinem Wohnzimmertisch stapeln sich die offenen Rechnungen. Das Angebot des türkisch-österreichischen Filmemachers Aykut Yardim scheint die einzige Rettung aus der ansonsten aussichtslosen Lage zu sein: Yardim will mit Andreas Brauner einen Dokumentarfilm über Gespenster drehen - in einer Villa, in der es angeblich spukt! Doch Aykut Yardim hat keine Ahnung, worauf er sich wirklich einlässt, als er mit Andreas Brauner das seit vielen Jahren unbewohnte Haus betritt. Denn hier wohnt die Angst.
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Seitenzahl: 142
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Hier wohnt die Angst
Special
Vorschau
Impressum
Hier wohnt die Angst
von Michael Blihall
Mit vorgehaltenem Revolver tappte Gerhard Plessner im Erdgeschoss seiner Villa durch die Dunkelheit. Nicht nur er, sondern auch seine Frau Ellen und die Kinder hatten Schritte und sogar Stimmen im Haus gehört.
Er fragte sich, ob er nicht besser die Polizei rufen sollte. Aber weder an der Tür noch an den Fenstern fanden sich Einbruchsspuren.
Es ist die Schuld des Kindes!, dachte er. Das Kind hatte ihnen etwas Dunkles ins Haus gebracht. Vielleicht sogar etwas Böses!
Er kehrte um und stieg wieder die Treppen in den ersten Stock hinauf. Oben warteten seine Frau und die Kinder. »Ellen, da unten ist niemand. Ich glaube ...«
Es verschlug ihm den Atem, denn es war gar nicht Ellen, die da oben am Treppenabsatz stand. Es war auch keines der Kinder.
Vor ihm befand sich ... ein Gespenst!
Die Geistergestalt warf einen Blitz nach ihm, und er stürzte rückwärts die Treppen hinunter. Er spürte noch einen stechenden Schmerz im Genick, und dann ...
... war da nichts mehr!
Österreichisches Tagblatt vom 29. Februar 2024
Wien. Noch immer gibt es keine Spur des vor einer Woche vom Wiener Straflandesgericht freigesprochenen Pfarrers Wilhelm Fink. Der katholische Geistliche, der nach einem kirchenrechtlich nicht genehmigten Exorzismus wegen schwerer Körperverletzung angeklagt war, ist gleich nach dem Freispruch wie von der Bildfläche verschwunden.
Eine offizielle Vermisstenmeldung liegt nicht vor. Es wird eher vermutet, dass sich der Priester mit Zustimmung oder sogar unter Druck der römisch-katholischen Kirche aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hat.
Eine diesbezügliche Anfrage an die Erzdiözese blieb bisher unbeantwortet.
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Donau-Post vom 22. März 2024
Wien. Andreas B., das vor einem Monat aus dem Koma erwachte Opfer eines nicht ordnungsgemäß durchgeführten Exorzismus, befindet sich laut Angaben seiner Familie auf dem Weg der Besserung. Man sei mit den Ergebnissen der Rehabilitation zufrieden und sich sicher, dass der Patient die Klinik bald wieder verlassen könne.
Die Familie bittet um Verständnis, dass detaillierte Angaben, auch was den Geisteszustand des Patienten angeht, erst nach Zustimmung des Patienten veröffentlicht werden.
†
Fernsehsendung »Zwei Köpfe bei Kopp« vom 28. Juni 2024
Natalie Kopp war nach jahrelanger Erfahrung beim Fernsehen geübt darin, schwierige Gesprächspartner im Zaum zu halten. Die heutige Fernsehdiskussion zum Thema »Geister und Dämonen – was ist dran am Aberglauben?« drohte der vierzigjährigen Moderatorin jedoch aus den Fingern zu gleiten.
Das lag vor allem an dem eigens aus Tirol angereisten Prälaten Marius Stöckl. Der hohe Geistliche fühlte sich durch die Aussagen seines Gegenübers, Beat Bühler, mit jedem Satz persönlich angegriffen.
Der zierliche, etwa sechzigjährige Autor aus der Schweiz konnte auf eine beachtliche Menge von Veröffentlichungen über den Aberglauben und den Umgang der katholischen Kirche damit zurückblicken.
»Die katholische Kirche versucht jetzt, den Aberglauben, den sie über Jahrhunderte selbst in der Bevölkerung geschürt hat, zu bekämpfen«, war der aktuelle Vorwurf des Schriftstellers, der den Prälaten gerade auf die Palme brachte. »Jetzt, da es sogar eindeutige Beweise dafür gibt, dass es außer unserer irdischen Welt noch ein ›Darüber‹ gibt, will ausgerechnet die Kirche auf einmal die Existenz solcher Wesen abstreiten?« Er beugte sich dabei so weit über das Stehpult, dass er fast auf dessen Platte lag.
»Das ist doch Unsinn!«, brauste Marius Stöckl auf. »Das Einzige, was die katholische Kirche abstreitet, ist, dass es auch nur den kleinsten Beweis im Fall Fink gibt!« Beim Wort ›Beweis‹ malte er mit den Fingern Apostrophe in die Luft. »Bedauerlicherweise muss ich, im Namen der katholischen Kirche, zugeben, dass wir mit Fink einen völlig inkompetenten und ungehorsamen Geistlichen in unseren Reihen hatten, der ...«
Bühler fiel dem kirchlichen Würdenträger ins Wort, und dann unterbrachen sich die beiden etwa gleichaltrigen Herren gegenseitig, sodass keiner mehr dazu kam, auch nur einen Satz zu Ende zu sprechen.
Wie Kinder auf dem Schulhof, dachte Natalie Kopp, die sich allmählich für die Vorstellung, die ihre heutigen Diskussionspartner boten, zu schämen begann.
»Mach dem ein Ende!«, hörte sie auch schon die Stimme ihres Regisseurs aus ihrem Knopf im Ohr. »Man versteht ja gar nichts mehr!«
»Meine Herren!«, reagierte die Moderatorin prompt auf die Anweisung. »Bitte versuchen wir, uns wie erwachsene Menschen zu benehmen! Unsere Sendung soll keinen neuen Religionsstreit in Gang setzen, sondern informieren. Bitte, meine Herren, bringen wir wieder etwas Sachlichkeit in dieses verständlicherweise für beide Seiten emotionale Thema.«
Tatsächlich verstummten ihre Studiogäste und griffen fast gleichzeitig nach ihren Wassergläsern. Natalie hörte ihren Regisseur aufatmen.
»Herr Prälat Stöckl«, nahm sie den Faden wieder auf. »Sie waren bei der Gerichtsverhandlung gegen Pater Wilhelm im vergangenen Februar nicht nur anwesend, sondern haben sogar gegen Ihren ehemaligen Kollegen ausgesagt. Sie haben bestritten, dass der Exorzismus an dem damals siebenjährigen David Brauner erfolgreich durchgeführt wurde, und ...«*
»Ich habe gar nichts bestritten, Frau Kopp!«, fiel ihr Stöckl ins Wort. »Meine Aussage vor Gericht bezog sich einzig und allein ...«
»Sie haben Ihren eigenen Priester ins offene Messer laufen lassen!«, rief Bühler erregt.
»Lassen Sie mich bitte ausreden, Bühler.«
»HERR Bühler. So viel Zeit muss sein. Und ganz nebenbei, ich habe auch noch zwei Doktortitel. Aber die korrekte Anrede schenke ich Ihnen heute, weil ich im Gegensatz zu Ihnen ein gnädiger Mensch bin.«
»Bitte, Herr Doktor Bühler«, warf Natalie ein, »lassen Sie Prälat Stöckl kurz die Gelegenheit zu ...«
»Also, wie ich schon sagte, Frau Kopp ... Ich habe nicht den Erfolg des Exorzismus an dem Jungen bestritten, sondern einzig kritisiert, dass der Exorzismus gar nicht erst durch Pater Wilhelm Fink hätte durchgeführt werden dürfen. Zuerst hätte eingehend geprüft werden müssen, ob überhaupt ...«
»Der Junge war BESESSEN, Stöckl!«, rief Bühler wieder dazwischen, und Natalie registrierte, dass der Schweizer nun selbst die korrekte Anrede seines Gegenübers vergaß. »Das konnte eindeutig anhand des Videomaterials BEWIESEN werden!«
»Das Handyvideo dieser Zeugin beweist meiner Meinung nach GAR NICHTS!«, entgegnete der Prälat. »Aber selbst, wenn das Kind besessen gewesen wäre, Pater Fink hätte NIEMALS den Exorzismus allein und schon gar nicht OHNE Zustimmung des VATIKANS durchführen dürfen!«
»Was glauben Sie«, wandte sich Natalie an den Geistlichen, »ist damals wirklich passiert? Was geschah mit dem Onkel des Kindes, der nach dem erwähnten Vorfall für drei Monate ins Koma fiel?«
»Ich glaube«, antwortete Beat Bühler anstelle des Gefragten, »dass viele Fragen über die Hintergründe erst geklärt werden können, wenn man Pater Fink und den bedauernswerten Andreas Brauner selbst befragen könnte. Aber die beiden hat der Vatikan ja in der Versenkung verschwinden lassen, stimmt's, Stöckl?«
Natalie hörte den Prälaten sowie ihren Regisseur gleichzeitig aufstöhnen.
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»Nimm dich vor den Tentakeln in Acht!«, rief Johanna Schuster aus und verzog vor Ekel das Gesicht.
»Da passiert schon nichts«, antwortete ihr Freund Andreas Brauner mit ruhiger Stimme. »Das Monster ist schon längst erledigt. Das tut niemandem mehr etwas.«
Dann griff er zu Messer und Gabel, während ihm das Wasser bereits im Munde zusammenlief. Der gegrillte Pulpo auf seinem Teller duftete, trotz seines widerlichen Aussehens, wirklich vorzüglich.
»Möchtest du kosten?«, fragte er.
Doch sie schüttelte sich und lachte. »Nein, dieses eklige Zeug gehört dir ganz allein!«
»Als ob ich damit ein Problem hätte«, antwortete Andreas und schnitt sich selig lächelnd das erste Stück ab.
»Ich werde mich wohl nie dazu überwinden können, mir so ein Tintenfischfüßchen in den Mund zu stecken. Bleiben diese Saugnäpfe denn nicht an der Zunge haften?«
Sie lachten beide, während nun auch Johanna endlich ihre Gabel in die linke Hand nahm. Sie stach in die gebackene Käsekruste ihres Pastitsio, woraus sofort heißer Dampf hochstieg. Mit der rechten Hand hätte sie die Gabel nicht einmal halten können, seit ihr diese von einem amoklaufenden Bundesheeroffizier durchschossen worden war.*
Sie wartete noch eine Weile und stocherte ein wenig in ihrem griechischen Nudelauflauf herum, bevor sie die kleinen dicken Nudeln auf ihrer Gabel aufspießte.
Als sie sich den ersten Bissen in den Mund schob, hatte Andreas schon fast die Hälfte seines Gerichts gegessen. Er schmatzte und lächelte selig vor sich hin.
Sie verbrachten bereits die zweite Woche auf der griechischen Insel Kos, und Andi hatte inzwischen die Meeresfrüchte für sich entdeckt. Hier im Urlaub ernährte er sich fast nur noch von Fisch, Muscheln und eben Tintenfischen.
Andis Appetit hatte nach seinem langen Koma und der anschließenden Reha wieder frühere Ausmaße und sein abgemagerter Körper fast wieder sein ›ehemaliges Kampfgewicht‹ erreicht, wie er es nannte.
Johanna machte sich deswegen zwar manchmal Sorgen um seine Gesundheit, aber solange Andi seinen Hunger mit Meeresfrüchten stillte, sah sie noch kein Problem.
Außerdem wirkte er bei Weitem gesünder, als sie ihn je erlebt hatte. Die griechische Augustsonne hatte seine Haut etwas gebräunt, sein Haar und sein Vollbart, die seit seinem Koma sehr viel grauer geworden waren, wirkten dadurch noch heller, und er sah wirklich ... knackig und frisch aus, befand Johanna mit einem Schmunzeln.
Die Probleme würden erst wieder auf sie beide zukommen, wenn sie nach Wien zurückkehrten. Eigentlich wollte sie jetzt noch gar nicht an zu Hause denken. Der Urlaub würde ohnehin viel zu schnell vergehen.
Das Wichtigste war vor allem, bald einen neuen Job für Andreas zu finden, da er von seinem – und Johannas derzeitigem – Arbeitgeber während seines dreimonatigen Komas gekündigt worden war.
Und auch wenn es sich dabei ›nur‹ um eine langweilige Tätigkeit in einem Call-Center gehandelt hatte, hatte diese immerhin bisher dafür gesorgt, dass Andi pünktlich seine Miete und seine Rechnungen bezahlen konnte.
Natürlich empfand auch sie keine rechte Freude dabei, in einem Unternehmen zu arbeiten, das ihrem Lebensgefährten während seiner größten Not nicht die Stange hielt. Es war wohl nur eine Frage der Zeit, bis sie ihrem Arbeitgeber den Rücken kehrte.
Johanna ärgerte sich, dass ihre Gedanken nun doch zu den auf sie beide zukommenden Problemen gewandert waren.
Wir sind im Urlaub, verdammt! Und da erholt man sich! Sie strich sich eine Strähne ihres langen kastanienbraunen Haars aus dem Gesicht.
Dass sie sich überhaupt den Urlaub in Griechenland leisten konnten, lag an der Spendierfreudigkeit ihres Vaters. Der erfolgreiche Winzer hatte sich wieder einmal als großzügiger Sponsor hervorgetan und seiner Tochter und ihrem gesundheitlich angeschlagenen Freund diese Möglichkeit zum Ausspannen ermöglicht.
»Weißt du, woran ich gerade gedacht habe?«, unterbrach Andreas ihre Gedanken.
Johanna war froh über die Unterbrechung. »Nein. Woran denn?«
»Vielleicht könnten wir ... na ja, natürlich auch um Geld zu sparen ... äh, zusammenziehen?«, stammelte er etwas nervös.
Sie lächelte. »Ich habe auch schon mal daran gedacht. Aber ... mir geht es nicht nur darum, Geld zu sparen ... also, ich meine ...«
Sie merkte, dass sie nun selbst nervös wurde.
»Ach«, überwand sie sich schließlich mit einem Schulterzucken. »Warum sollten wir nicht zusammenziehen? Ich meine, wir sind ja schon seit einer Weile ein Paar und ...«
»Johanna, willst du mich heiraten?«, platzte es aus Andreas hervor.
Ihr fiel vor Schreck die Gabel auf den Teller. »Du ... du willst mich heiraten?«
Andreas saß mit großen Augen vor ihr und schluckte. »Tut mir leid, ich ... äh ... ich wollte nicht ... Also, wenn es dir zu plötzlich ... Tut mir leid, vielleicht hätte ich mich besser darauf vorbereiten sollen und ...«
»Nein«, sagte sie und legte ihre gesunde linke Hand auf seine rechte. »Nein, das ist schon in Ordnung so, Andi. Wirklich. Ich war nur etwas überrascht, weil ... ich ... ich hatte selbst gerade denselben Gedanken und ...«
Seine Hand zitterte, und sie hielt sie noch fester.
»Ja, Andi. Ich würde dich gerne heiraten. Wirklich gern.«
Sie bemerkte eine Träne in seinem Augenwinkel, und schnell beugte sie sich über den Tisch, um ihn zu küssen. Es störte weder sie noch ihren frisch Verlobten, dass sie sich dabei ihre weiße Bluse mit Pastitsio bekleckerte.
†
Eine Woche später saß Andreas in seiner kleinen Wohnung in Wien und sortierte die Post. Der Briefkasten war mit Werbematerial, aber vor allem Rechnungen voll gewesen. Andreas stand kurz vor der Verzweiflung, als er bemerkte, wie der Stapel mit den Rechnungen immer höher wurde.
Johanna und er waren vom Flughafen aus mit der S-Bahn nach Wien gefahren und hatten sich an der Station Wien-Mitte getrennt, da sie noch an entgegengesetzten Enden der Stadt wohnten.
»Wie war's in Griechenland?«, fragte sein Freund Felix, der ihm bei der Arbeit über die Schulter schaute.
Andreas stöhnte. »Ich wünschte, ich wäre dortgeblieben, wenn ich mir den Haufen Rechnungen hier so ansehe.«
»Bist schön braun geworden.«
Täuschte sich Andreas, oder klang sein alter Kumpel etwas eingeschnappt? Er nahm sich vor, fürs Erste nicht darauf einzugehen, und sprach weiter, als hätte er nichts bemerkt.
»Danke«, erwiderte er nur. »Dabei war ich eigentlich die meiste Zeit über mehr im Schatten.«
»Du siehst jedenfalls erholt aus. Hast wieder zugenommen, was?«
Jetzt platzte Andreas doch der Kragen. »Sag schon, was willst du eigentlich? Bist du sauer, weil ich dich nicht in den Urlaub mitgenommen habe?«
Er drehte sich zu Felix um.
Ja, gegen Andreas' Haut sah die seines Kumpels sehr blass aus. Aber der war immer schon ein blasser Typ gewesen. Wobei ihm sein Fünfziger-Jahre-Outfit mit schwarzer Lederjacke, Stulpenjeans und roten Chucks wenigstens eine interessante Note verlieh. Einzig die dicke Brille trübte ein wenig den Eindruck der Coolness.
James Dean ist er ja keiner, dachte Andreas. Eher Woody Allen in John-Travolta-Klamotten.
Wie um das Klischee verstärken zu wollen, holte Felix einen Kamm aus der Innentasche seiner Jacke und fuhr damit durch seine Elvis-Tolle. »Ich weiß schon, dass du mich nur brauchst, wenn du in Schwierigkeiten bist.«
»Felix, das stimmt doch gar nicht. Wie oft haben wir früher ...«
»Ja, du sagst es: früher!« Felix steckte den Kamm wieder ein. »Aber wenn du mit Johanna zusammen bist, brauchst du mich nicht, stimmt's?«
Andreas seufzte und sah seinem imaginären Freund tief in die Augen. »Es tut mir leid, Felix. Es ist wahrscheinlich wirklich so, wie du sagst. Ich gebe zu, ich habe die letzten Wochen kaum an dich gedacht, und jetzt ... jetzt, wo ich dieses Chaos hier sehe ... ich bin verzweifelt. Es tut mir leid. Ich hätte dich nicht rufen sollen.«
»Ach, und warum nicht?«
»Weil du mir ohnehin nicht helfen kannst bei ... dem da.« Er deutete auf die Rechnungen. »Außer du findest einen Job für mich, bei dem ich schnell zu Geld komme.«
»Dann schau mal genauer hin, Andi«, entgegnete Felix mit einem breiten Grinsen.
Andi betrachtete den Papierhaufen auf seinem Couchtisch. Er konnte auf den ersten Blick nicht erkennen, was sein Freund meinte.
»Der Brief da!«, half ihm Felix auf die Sprünge und zog eines der Kuverts von weiter unten heraus.
Dabei fielen die anderen Briefe auf den Boden, und Andi stöhnte auf, weil er sie jetzt noch mal sortieren musste.
»Den hast du wohl übersehen«, sagte Felix und legte ihm das Kuvert auf den Oberschenkel.
Andreas sah auf den Umschlag. Darauf prangte das Logo eines privaten Fernsehsenders, dessen Reportagen und Dokumentationen er früher gern geschaut hatte.
»Was können die von mir wollen?«, fragte er stirnrunzelnd.
»Keine Ahnung. Aber schau halt mal rein. Wird schon keine weitere Rechnung sein, oder?«
Andreas riss den Umschlag auf und zog ein einseitiges Schreiben heraus. Er überflog den Text und warf den Brief schließlich auf den Boden zu den anderen Kuverts.
»Und?«, fragte Felix. »Was steht drinnen?«
»Ach, nichts. Ich hätte es mir denken können.« Andreas kniete sich auf den Fußboden und sammelte die anderen Briefe ein.
»Was denken können? Jetzt sag schon.«
»Der Sender hat mir den Brief geschickt, weil sie mich weder auf meinem Handy noch per Mailadresse erreichen konnten.«
»Und? Jetzt sag schon und lass dir nicht die Würmer einzeln aus der Nase ziehen!«
»Ist eh wurscht! Die wollen ein Interview mit mir. Oder eine Reportage drehen, was weiß ich.«
Andreas hatte wieder alle Blätter aufgesammelt und sortierte sie auf Stapeln auf dem Tisch.
»Gibt es dafür Geld?«, fragte Felix, nachdem er Andi eine Weile beobachtet hatte.
»Keine Ahnung. Wahrscheinlich schon. Warum fragst du?«
Bevor Felix antworten konnte, läutete Andis Handy. Er hatte es erst in der S-Bahn wieder angeschaltet und die Menge an Nachrichten, die er daraufhin erhalten hatte, vorerst ignoriert. Er war schon allein mit seiner Papierpost überfordert. Seine Mails und WhatsApp-Nachrichten wollte er daher erst später abrufen. Wenn überhaupt.
Doch Johannas Foto erschien auf dem Display, während das Smartphone läutete, und Andreas hob ab.
»Bist du schon zu Hause, Andi?«, fragte seine Freundin. Sie klang aufgeregt.
»Ja. Schon eine Weile. Ich sortiere gerade die Post.«
»Du, Andi. Ich hab vielleicht eine Lösung.«
»Eine Lösung? Wie lautet denn eigentlich das Problem?«
»Das Problem heißt Jobverlust und Geldmangel, Andi. Und ich habe vielleicht gerade die Lösung dafür in der Hand.«
Andreas lehnte sich zurück und suchte nach Felix, der sich doch gerade noch neben ihm befunden hatte!
»Mein Mailaccount ist bummvoll, Andi. Ich hab ihn gerade geöffnet, und ich kann gar keine neuen Mails mehr empfangen, so voll ist er.«
»Und was ist jetzt die Lösung, von der du gerade gesprochen hast?« Andreas ahnte es schon.
»Andi, ich habe jede Menge Anfragen bekommen. Von Zeitungen, von Fernsehsendern. Sie wollen Interviews, Reportagen. Sie fragen, ob ...«
»Nein!«, rief Andreas dazwischen. »Johanna, wir ... wir haben doch schon vor Monaten darüber gesprochen. Ich will nicht ... ich meine ... ich gebe keine Interviews. Ich will einfach nur meine Ruhe haben. Ich hoffe, du verstehst das.«
Johanna blieb ein, zwei Sekunden still.
Dann hörte Andi, wie sie die Luft ausstieß. »Ich verstehe dich, Andi. Vollkommen sogar. Wirklich. Aber wir sollten ... du