Good Home - T.C. Boyle - E-Book

Good Home E-Book

T. C. Boyle

4,9

Beschreibung

Wenn bei T.C. Boyle von "Good Home" die Rede ist, muss man auf alles gefasst sein: Ein Witwer legt sich eine Schlange zu, aber die Ratten, mit denen er sie füttern will, wachsen ihm so sehr ans Herz, dass er Dreizehnhundert von ihnen beherbergt. Eine Zwölfjährige soll vor Gericht gegen ihren alkoholkranken Vater aussagen; und plötzlich gibt es viele Wahrheiten. Eine betörende Frau lässt sich auf den Hundemann ein – kurz zuvor hatte sie ihm ihre Kätzchen anvertraut, doch was er mit denen vorhat, kann sie nicht ahnen. Der Bestsellerautor erkundet in seinen neuen Erzählungen, die dieser Band versammelt, die dunkle Seite der amerikanischen Seele – witzig, exzentrisch, unheimlich.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 715

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,9 (12 Bewertungen)
11
1
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch

Wenn in T.C. Boyles Amerika von Good Home die Rede ist, muss man auf alles gefasst sein: Ein Mann legt sich eine Schlange zu, doch die Ratten, mit denen er sie füttern will, wachsen ihm so sehr ans Herz, dass er Dreizehnhundert von ihnen beherbergt. Eine betörende Frau lässt sich auf den Hundemann ein – was der mit ihren Kätzchen getan hat, kann sie nicht ahnen. Riesenhafte Menschen nehmen an einem wahnwitzigen Experiment teil; das Ziel: die Züchtung kriegerischer Kolosse. T.C. Boyle, der Meister der Kurzprosa, erkundet in zwanzig neuen Erzählungen die dunkle Seite der amerikanischen Seele. Urkomisch, exzentrisch, unheimlich.

Hanser E-Book

T. Coraghessan Boyle

Good Home

Stories

Aus dem Englischen von Anette Grube und Dirk van Gunsteren

Carl Hanser Verlag

Für Michael Krüger

und Anna Leube

Ich weiß nicht, was ist mir lieber:

Die schöne Modulation

oder die schöne Andeutung,

der Triller der Amsel

oder sein Verhauchen.

Wallace Stevens, »Dreizehn Arten eine Amsel zu betrachten«

Inhalt

Balto

La Conchita

Frage 62

Sin Dolor

Hieb- und stichfest

Hände

Die Lüge

Die unglückliche Mutter von Aquiles Maldonado

Admiral

Aschermontag

Dreizehnhundert Ratten

Anacapa

Drei Viertel des Wegs zur Hölle

Mein Schmerz ist größer als deiner

Das Schweigen

Tod in Kitchawank

Was uns von den Tieren unterscheidet

Good Home

In der Zone

Los Gigantes

Balto

Es gab zwei Arten von Wahrheiten: gute und schmerzhafte. Das war es, was der Anwalt ihres Vaters ihr sagte, und sie hörte ihm zu, sie tat ihr Bestes – auf ihrem Gesicht eine schmale, glänzende Sichel aus Sonnenlicht, reflektiert von der gelben Küchenwand –, aber es war schwer. Schwer, weil es ein Werktag war, weil die Schule vorbei und dies der freie Teil des Tages war, ihre Gelegenheit, im 7-Eleven herumzuschlendern oder mit ihren Freundinnen zu chatten, bevor Hausaufgaben und Abendessen den Tag beschlossen. Schwer auch, weil ihr Vater dabei war. Er saß auf einem Hocker an der Küchentheke und nippte an einem Becher, in dem kein Kaffee, eindeutig kein Kaffee war. Im sanften Widerschein des Sonnenlichts sah sein Gesicht weich aus, die Falten in den Augenwinkeln waren beinahe verschwunden, die Krähenfüße – wie sie dieses Wort liebte: als hätten die schuppigen Klauen des Vogels sich dort festgekrallt, wie etwas aus einer Horrorgeschichte von Edgar Allan Poe, der Rabe Nimmermehr. Aber war ein Rabe nicht etwas anderes als eine Krähe, und wieso hießen diese Falten dann nicht Rabenfüße? Oder Adlerfüße? Es gab ja Menschen, die eine Adlernase hatten – sie kamen andauernd in Geschichten vor –, und trotzdem sprach man von Krähenfüßen, das war doch irgendwie unsinnig.

»Angelle«, sagte der Anwalt – Mr Apodaca –, und der Klang ihres Namens holte sie in die Gegenwart zurück, »hörst du mir zu?«

Sie nickte. Und weil das nicht zu reichen schien, sagte sie auch etwas. »Ja«, sagte sie, doch ihre Stimme klang seltsam in ihren Ohren, als spräche jemand anders für sie.

»Gut«, sagte er, »gut«, und beugte sich über den Tisch, sodass der Blick seiner großen, feuchten Hundeaugen etwas Bedrohliches bekam. »Das hier ist nämlich sehr wichtig, das brauche ich ja wohl nicht zu betonen.«

Er wartete auf ihr Nicken, bevor er fortfuhr.

»Es gibt zwei Arten von Wahrheiten«, sagte er, »so wie es zwei Arten von Lügen gibt. Es gibt schlimme Lügen, die auf Täuschung und Betrug abzielen, das weiß jeder, und dann gibt es die Notlügen, kleine Schwindeleien, die keinem wirklich wehtun« – er stieß langsam die Luft aus, als stiege er gerade in eine warme Badewanne – »und vielleicht sogar etwas Gutes bewirken. Verstehst du, was ich meine?«

Sie saß ganz still. Natürlich verstand sie ihn. Er behandelte sie wie eine Neunjährige, wie ihre kleine Schwester, und dabei war sie zwölf, beinahe dreizehn, und dass sie sich nicht rührte, dass sie nicht antwortete, nicht nickte, ja nicht einmal blinzelte, war ein Akt der Rebellion.

»Wie zum Beispiel in diesem Fall«, fuhr er fort, »im Fall deines Vaters, meine ich. Du kennst das aus dem Fernsehen, aus Filmen. Der Richter will von dir die Wahrheit hören, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit, und du musst es schwören wie alle anderen – wie dein Vater, wie ich, wie jeder, der vor Gericht aussagt.« Auch er hatte einen Becher. Seiner stammte, wie sie sah, aus der Collegezeit ihrer Mutter – B.U. stand in großen roten Buchstaben darauf, Boston University –, aber es war Kaffee darin oder vielmehr bis eben darin gewesen. Jetzt schob er das Ding auf dem Tisch herum, als wäre es eine Schachfigur und er wüsste nicht, wohin damit. »Ich will nur, dass du daran denkst – und auch dein Vater will das, oder nein, es ist von sehr großer Bedeutung für ihn, dass du es nicht vergisst –, es gibt gute und schlechte Wahrheiten, das ist alles. Und das Gedächtnis ist nur bis zu einem gewissen Grad zuverlässig. Ich meine, wer kann schon sagen, was wirklich passiert ist – schließlich hat doch jeder seine eigene Version: die Joggerin, der Junge auf dem Fahrrad … Und es könnte sein, dass der Staatsanwalt dich fragen wird, was an jenem Tag passiert ist. Nur er und ich werden dir Fragen stellen, du kannst also ganz unbesorgt sein.«

Aber sie war besorgt, schon weil Mr Apodaca da war mit seinem perfekt sitzenden Anzug und der perfekt gebundenen Krawatte und dem Hundeblick, und außerdem, weil man ihrem Vater am Straßenrand Handschellen angelegt, ihn ins Gefängnis geworfen und den Wagen beschlagnahmt hatte, was bedeutete, dass ihn keiner benutzen konnte, weder ihr Vater noch ihre Mutter, wenn sie aus Frankreich zurückkehrte, weder Dolores, das Hausmädchen, noch Allie, das Au-pair-Mädchen. Das alles wusste sie, aber da war noch etwas anderes, etwas, das mit dem Gesichtsausdruck ihres Vaters und dem zuckersüßen Ton des Anwalts zu tun hatte und bewirkte, dass sie sich verhärtete: Sie sprachen von oben herab. Als wäre sie so dumm wie ihre kleine Schwester. Aber das war sie nicht. Das war sie nicht.

An jenem Tag, dem Tag des Vorfalls – oder Unfalls, er würde es von nun an als Unfall bezeichnen müssen –, hatte er sich mit Marcy zum Mittagessen in einem Restaurant am Yachthafen verabredet, wo man draußen sitzen und zusehen konnte, wie die Sonne die Masten der leise schaukelnden Boote beschien und das Licht gebrochen wurde, sich wieder bündelte und abermals gebrochen wurde. Es war einer seiner liebsten Orte in dieser Stadt – einer seiner liebsten Orte überhaupt. Ganz gleich, wie überarbeitet er sich fühlte, wie schwer das Leben war, wie überproportionale Dimensionen jede Aufgabe, jeder Termin annahm, sodass auch zwanzig Leute, ein Team, eine Armee nicht damit fertiggeworden wären – an diesem Tisch am Ende der Terrasse zu sitzen, mit Blick auf den Dschungel aus Masten, die ausgebleichten Holzstege, den funkelnden Halbkreis des Hafens und die Hügel, die ihn umrahmten, hatte immer eine beruhigende Wirkung auf ihn. Das und der gerade eben nicht zu kühle offene Chardonnay aus der Gegend. Er war beim zweiten Glas, als Marcy die Treppe herunterkam, wobei sie die Hüften schwenkte wie ein Model auf dem Laufsteg, und über die lange Terrasse auf ihn zuschritt. Sie schenkte ihm ihr unkompliziertes Lächeln, ein Lächeln, das auch ihre Augen funkeln ließ und alles einschloss – den Tag, das Lokal, die Sonne und die Brise und den blankgescheuerten Geruch des Ozeans und mittendrin ihn –, und dann beugte sie sich zu ihm und küsste ihn, bevor sie sich auf den Stuhl neben ihm sinken ließ. »Sieht gut aus«, sagte sie und meinte den Wein, der wie getriebenes Gold in dem Glas vor ihm stand. Er winkte dem Kellner.

Und worüber sprachen sie? Belanglosigkeiten. Ihre Arbeit, ein Paar Schuhe, das sie gekauft, zurückgebracht und dann doch wieder gekauft hatte, den Film, den sie zwei Abende zuvor gesehen hatten – das letzte Mal, dass sie zusammen gewesen waren –, und sie sagte, sie könne noch immer nicht glauben, dass ihm das Ende gefallen habe. »Und zwar nicht, weil es kitschig war«, sagte sie – und da wurde ihr Wein serviert, und sollten sie nicht vielleicht gleich eine Flasche nehmen, ja, klar, eine Flasche, warum nicht? –, »und es war ziemlich kitschig, sondern weil ich es total unglaubwürdig fand.«

»Was fandest du unglaubwürdig – dass ihr Mann sie zurückgenommen hat?«

»Nein«, sagte sie. »Oder ja. Es ist jedenfalls idiotisch. Aber was soll man von einem französischen Film schon erwarten? Da sieht man immer diese geschmeidigen Rasseweiber in den Dreißigern –«

»Oder Vierzigern.«

»– mit tollen Beinen und einem Make-up wie, ich weiß nicht, bei einem Kiss-Revival, und obwohl sie mit dem wunderbarsten Mann der Welt verheiratet sind, fühlen sie sich unerfüllt und lassen sich, angefangen beim Metzger, vom ganzen Dorf flachlegen.«

»Juliette Binoche«, sagte er. Er spürte den Wein. Er fühlte sich gut.

»Ja, genau. Sie war’s zwar nicht, aber sie hätte es sein können. Sein sollen. In den letzten, sagen wir, zwanzig Jahren hat sie in allen französischen Filmen außer dem hier mitgespielt.« Sie stellte ihr Glas ab und stieß ein kurzes, melodisches Lachen aus, das wie das Lied eines Vogels klang, ein Lachen, das ihn verzauberte, und er dachte jetzt nicht mehr an die Arbeit, weder an die Arbeit noch an irgendetwas anderes, und da wurden der Kühler und die Flasche gebracht, der Wein so kalt wie der Keller, aus dem er stammte. »Und am Ende kommt das ganze Dorf und jubelt ihr zu, weil sie ihren romantischen Idealen treu geblieben ist – auch ihr Mann, Herrgott.«

Nichts konnte ihn aufregen. Nichts konnte ihn aus der Ruhe bringen. Er war verliebt, die Pelikane glitten über den Bauch der Bucht, und Marcys Augen waren lüstern und schön und zufrieden mit sich selbst, aber trotzdem musste er hier mal kurz auf die Bremse treten. »Martine ist nicht so«, sagte er. »Und ich auch nicht.«

Sie sah über die Schulter, bevor sie eine Zigarette hervorkramte – immerhin waren sie in Kalifornien –, und als sie sich vorbeugte, um sie anzuzünden, fielen ihr die Haare ins Gesicht. Lächelnd richtete sie sich auf, der Rauch wurde von ihren Lippen gerissen und verweht, kaum dass sie ihn ausgeblasen hatte. Diskussion erledigt.

Marcy war achtundzwanzig und hatte in Berkeley studiert. Sie und ihre Schwester hatten in einer Nebenstraße der Innenstadt ein Geschäft für Künstlerbedarf eröffnet. Sie hatte ihren Abschluss in zwei Fächern gemacht: Kunst und Film. Sie fuhr mit dem Fahrrad zur Arbeit. Sie war Asiatin. Oder vielmehr Chinesin, wie sie ihn korrigierte. Jedenfalls chinesischer Abstammung. Ihre Familie, hatte sie ihm bei ihrem ersten Rendezvous mit so viel Ironie in der Stimme erzählt, dass das Thema gleich wieder erledigt gewesen war, ging auf den ehrenwerten Urgroßvater zurück, der als blinder Passagier im klischeehaften Mehlfass im Laderaum des klischeehaften Frachtschiffs über den Pazifik gekommen war. Sie war in einem aus dem Boden gestampften Vorort von Syracuse aufgewachsen, und ihr Akzent – die A sprach sie so flach, dass sein Name nicht wie »Alan«, sondern eher wie »Ellen« klang – haute ihn um, weil er so gar nicht zu einer Frau passte, die (die Worte entschlüpften seinem Mund, bevor er wusste, was er da sagte) so exotisch aussah wie sie. Und weil er ihren Gesichtsausdruck nicht zu deuten wusste – war er zu weit gegangen? –, sagte er ihr, er sei beeindruckt, denn seine eigene Familie gehe nur über drei Generationen zurück; sein Großvater sei von Cork nach Amerika gekommen, doch falls er sich in einem Fass versteckt habe, dann sei es bestimmt voll Whisky gewesen. »Und Martine stammt aus Paris«, hatte er hinzugefügt. »Aber das weißt du ja, oder?«

Die Flasche war halb leer, als sie bestellten – und es gab keine Eile, überhaupt keine Eile, denn sie nahmen sich diesen Nachmittag frei, keine weitere Diskussion –, und als das Essen kam, sahen sie einander für einen ganz kurzen, flüchtigen Augenblick an, bevor er eine zweite Flasche bestellte. Und dann aßen sie, und alles verlangsamte sich, bis die ganze Welt in einer neuen Perspektive erschien. Er nippte am Wein, kaute, blickte in ihre unvergleichlichen Augen und spürte, dass die Sonne ihm die Hand auf die Schultern legte, und in einem plötzlichen Aufblitzen von Erkenntnis sah er die Möwe, die sich auf dem Geländer hinter Marcy niederließ, sah, wie die Brise über ihre Federn strich und die Sonne ihre Brust aufleuchten ließ, bis es auf der ganzen Welt nichts Strahlenderes, nichts Vollkommeneres gab als dieses Wesen, dieses Mitwesen – und ihm war es vergönnt, es zu sehen. Er wollte Marcy davon erzählen, von dem Wunder dieses Augenblicks, vom Fallen der Schleier, von der Offenbarung, der Freude, doch stattdessen schenkte er ihr nach und sagte: »Also, wie war das mit den Schuhen?«

Später, als Mr Apodaca in seinem kleinen weißen Kabrio mit dem Mercedes-Emblem auf der Kühlerhaube rückwärts aus der Einfahrt gesetzt hatte und der Nachmittag zu einem Brei aus Anrufen und SMS zerschmolz – Chilty ist in Alex Turtieff verknallt, lol! –, machte Dolores ihnen chiles rellenos – gefüllte, frittierte Paprikaschoten – mit Rohkost und als Nachtisch Eiscreme. Danach sprach Allie mit ihr und Lisette die Hausaufgaben durch, und dann wurde es still im Haus, bis auf das leise Pulsieren der Musik, die ihr Vater im Wohnzimmer hörte. Sie war fertig mit Mathe und schrieb gerade einen Aufsatz über Aaron Burr für ihren Geschichtslehrer, Mr Compson, stand aber auf und ging in die Küche, um sich ein Glas Saft oder vielleicht eine heiße Schokolade aus der Mikrowelle zu holen – das würde sie erst entscheiden, wenn sie in der Küche mit der indirekten Beleuchtung über den steinernen Arbeitsflächen war und die Kühlschranktür weit offen stand. Sie dachte an nichts Bestimmtes – Aaron Burr war oben, auf ihrem Schreibtisch –, und als sie an dem bogenförmigen Durchgang zum Wohnzimmer vorbeikam, fiel ihr das Flackern des Fernsehers ins Auge, und sie blieb stehen. Ihr Vater war noch da, er lag mit einem Buch auf dem Sofa, der Fernseher war auf stumm geschaltet und zeigte irgendein Spiel, Football oder Baseball, und im Hintergrund knurrte leise die Musik. Sein Gesicht hatte den leeren, versunkenen Ausdruck, den er beim Lesen bekam oder manchmal, wenn er quer durch den Raum oder aus dem Fenster ins Leere starrte, und seine Hand hielt den Becher umfasst, den er neben dem Buch auf der Brust balancierte.

Er hatte sich beim Abendessen zu ihnen an den Tisch gesetzt, aber nichts gegessen – er werde später ausgehen, hatte er gesagt. Zum Abendessen. Einem späten Abendessen. Er sagte nicht, mit wem, aber sie wusste, dass er sich mit dieser Asiatin treffen würde. Marcy. Sie hatte sie nur zweimal gesehen, beide Male durch das Fenster ihres Wagens, und beide Male hatte Marcy ihr zugewinkt – ein Aufleuchten der Handfläche, ein kleines Wedeln der Finger. In ihrer Klasse war eine Asiatin. Sie war Chinesin und hieß Xuan. Das passte zu einem asiatischen Mädchen. Xuan – das war anders. Ein Name, der sagte, wer sie war und woher sie kam: von weit her, von der anderen Seite eines Ozeans. Aber Marcy? Wohl eher nicht.

»Ah«, sagte ihr Vater, hob den Kopf und spähte über die Armlehne des Sofas, und ihr wurde bewusst, dass sie ihn beobachtet hatte. »Na? Hausaufgaben erledigt? Brauchst du Hilfe? Was ist mit diesem Aufsatz – soll ich ihn gegenlesen? Um wen geht’s da noch mal? Madison? Ach, nein, Burr. Burr, stimmt’s?«

»Ist schon okay.«

»Ja?« Er sprach langsam und gepresst, als bestünde der Klang nicht aus Schwingungen der Luft, die durch die Luftröhre und über seine Stimmbänder strich, wie es in ihrem Biologiebuch erklärt war, sondern aus etwas Schwererem, Dichterem. Er würde ein Taxi kommen lassen, das war klar, und vielleicht würde sie – Marcy – ihn nach Hause bringen. »Das könnte ich tun, kein Problem. Ich habe noch« – sie sah ihn die Hand vors Gesicht heben und das Handgelenk drehen – »eine halbe, eine Dreiviertelstunde Zeit.«

»Ist schon okay«, wiederholte sie.

Sie trank ihre heiße Schokolade und las für Englisch eine Erzählung von William Faulkner – das Bild des Autors im Lesebuch war ein Schnappschuss und zeigte wilde Augen und gebändigtes Haar –, als sie die Stimme ihres Vaters hörte, die in einem Strom durch den Flur trieb, mal murmelnd, mal spitz und erregt, dann wieder dicht und schleppend. Es dauerte kurz, bis sie merkte, dass er Lisette ihre Gutenachtgeschichte vorlas. Es war ganz still im Haus, und sie hielt den Atem an und lauschte, bis sie mit einem Mal die Worte verstand. Er las Balto vor, eine Geschichte, die sie geliebt hatte, als sie noch kleiner gewesen war, in Lisettes Alter, und sie hörte seine Stimme durch den Flur und sah vor ihrem geistigen Auge die Illustrationen: Ein verirrter Sonnenstrahl ließ die Brust von Balto, dem Leithund des Schlittengespanns, aufleuchten, während sich der Schneesturm wie eine gewaltige Faust über ihm zusammenballte, sie kämpften sich durch Alaskas Eis und Sturm und Temperaturen von vierzig Grad minus, um den kranken Kindern in Nome das Serum zu bringen – und diese Kinder würden sterben, wenn Balto es nicht schaffte. Diphtherie. Dort wütete eine Diphtherie-Epidemie, und das einzige Flugzeug war kaputt – oder nein, es war für den Winter demontiert worden. Was ist Diphtherie?, hatte sie ihren Vater gefragt, und er war zum Bücherregal gegangen und hatte in der Enzyklopädie nachgesehen, um ihr die Frage zu beantworten, und auch das war ja auf seine Art eine Heldentat gewesen, denn als er sich wieder auf das Bett gesetzt hatte, wo Lisette an sie gekuschelt lag, der Regen an das Fenster trommelte und nur die Nachttischlampe zwischen ihnen und der schwärzesten Finsternis war, hatte er gesagt: Siehst du, es steht alles in Büchern, alles, was du wissen willst.

Baltos Pfoten bluteten. Er hatte Eisklumpen zwischen den Zehen. Die anderen Hunde zauderten immer wieder, doch er war der Leithund und wandte sich zu ihnen um, er knurrte und biss sie, damit sie an ihrem zugewiesenen Platz blieben und sich ins Zeug legten. Balto. Mit dem Geschirr um die Schultern, dem zottigen Kopf und dem unbeugsamen Willen, der ihn durch den Tag und die Nacht trieb, eine Nacht, so finster, dass sie nicht sehen konnten, ob sie noch auf dem richtigen Weg waren oder nicht.

Jetzt, als sie aufrecht auf der Bettkante saß und auf Lisettes Schweigen und die schleppende Stimme ihres Vaters lauschte, wartete sie darauf, dass ihre kleine Schwester mit ihrer Babystimme die unvermeidlichen Fragen stellte: Dad, Dad, wie kalt ist vierzig Grad minus? Und: Dad, was ist Diphtherie?

Die Sonne kroch unmerklich langsam über die Terrasse, betastete die Risse in den lackierten Bodenbrettern und ließ das niedrige Messinggeländer, an das Marcy sich lehnte, golden aufleuchten. Sie hatte den Stuhl zurückgekippt, die Ellbogen auf die Messingstangen gelegt und die Beine ausgestreckt, der Sonne entgegen – wohlgeformte, spektakuläre Beine, lang und fest und gebräunt, Beine, die ihn an den Rest ihres Körpers denken ließen und daran, wie sie im Bett war. Unter der linken Kniescheibe hatte sie eine Narbe in Form eines unregelmäßigen Ovals, wie von einer Verbrennung oder einem Schnitt, eine Narbe, die ihm noch nie aufgefallen war. Tja, er war an einem neuen Ort, die zweite Flasche war leer bis auf ein halbes Glas für jeden, und die Welt stand da in allen Einzelheiten, alles war deutlich und scharf konturiert, als hätte er schon immer eine Brille gebraucht, sie aber gerade erst aufgesetzt. Die Möwe war verschwunden, aber auch sie war besonders gewesen, eine sehr besondere Möwe, und an ihrer Stelle waren Spatzen da oder Zaunkönige, die über den Boden hüpften, irgendwelche Krümel aufpickten und wie von einem Katapult geschossen über das Geländer davonstoben. Er überlegte und kam zu dem Schluss, dass er keinen Wein mehr wollte – zwei Flaschen waren reichlich –, wohl aber irgendetwas, um den Nachmittag zu beschließen, einen Cognac vielleicht, nur einen.

Sie hatte von einer jungen Frau erzählt, die für sie arbeitete und die er ein- oder zweimal gesehen hatte: neunzehn, hübsch, mit einem weichen Gesicht. Sie hieß Bettina und war sehr lebenslustig, ging jeden Abend aus und hatte in letzter Zeit stark abgenommen.

»Kokain?«, fragte er. Marcy zuckte die Schultern. »Hat sie in der Arbeit nachgelassen?«

»Nein«, sagte sie. »Noch nicht.« Doch dann erzählte sie von morgendlichen Verspätungen, überdrehter Redelust nach der Mittagspause und Arztterminen, zu vielen Arztterminen. Er wartete einen Augenblick, beobachtete ihre Zunge und ihre Lippen, die wunderbare Art, wie die Worte ihrem Mund entströmten, bevor er sich vorbeugte und mit dem Finger über die helle Linie unter der Kniescheibe strich. »Du hast da eine Narbe«, sagte er.

Sie betrachtete ihr Knie, als wäre ihr gar nicht bewusst, dass es ihr gehörte, und zog das Bein an, um es kurz zu untersuchen, bevor sie es wieder der Sonne, der Terrasse und der Berührung durch seine wartende Hand entgegenreckte. »Ach, die?«, sagte sie. »Da war ich noch ein kleines Mädchen.«

»Eine Verbrennung oder was?«

»Fahrradunfall.« Sie dehnte die Silben, langsam und akzentuiert.

Seine Hand war auf ihrem Knie, die Wärme der Berührung, und er strich noch einmal über die Stelle, bevor er sich aufrichtete und sein Glas austrank. »Sieht aus wie eine Verbrennung«, sagte er.

»Nein, ich bin bloß hingefallen.« Sie stieß wieder dieses Lachen aus, und er sog es auf. »Du hättest meine Stützräder sehen sollen – oder jedenfalls das eine. Es war so platt, als wäre ein Lastwagen darübergefahren.«

Ihre Augen flackerten im Nachhall der Erinnerung, und sie beide sahen es für einen Augenblick vor sich: das kleine Mädchen mit dem umgeknickten Stützrad und der Schürfwunde – oder nein, es musste schlimmer gewesen sein, ein Schnitt oder Riss –, und er dachte nicht an Lisette und Angelle, noch nicht, denn er überließ sich dem Strom dieses Tages, ganz und gar; es gab nur diese Terrasse, die angenehme, langsam untergehende Sonne und die Möwe, die jetzt fort war. »Willst du noch etwas anderes?«, hörte er sich fragen. »Einen Rémy vielleicht, um den Nachmittag abzurunden? Ich meine, von Wein habe ich jetzt genug, aber ein Cognac, nur so für den Geschmack?«

»Klar«, sagte sie, »warum nicht?« Sie sah nicht auf ihre Uhr, ebenso wenig wie er.

Und dann kam der Kellner mit den beiden Schwenkern und einem dunkelbraunen Schokoladentäfelchen für jeden von ihnen, mit Empfehlung des Hauses. Schwenker, dachte er und ließ die Hand kreisen. Was für ein perfektes Wort für dieses Ding, ein Wort, das die Funktion des Benannten klar umriss, und dann sagte er es laut: »Ist es nicht wunderbar, dass es so etwas wie Cognacschwenker gibt, sodass man den Cognac schwenken und daran riechen kann? Und außerdem ist es ein Wort, das einem genau sagt, was man mit diesem Gegenstand macht, im Gegensatz zu ›Serviette‹ oder ›Messer‹. Man serviert keine Serviette, man misst kein Messer, nicht?«

»Ja«, sagte sie, und die Sonne beschien ihr Haar jetzt in einem flachen Winkel, sodass die hellen Strähnen und ein Ohrläppchen aufleuchteten, »stimmt wahrscheinlich. Aber ich wollte dir doch von Bettina erzählen. Der Typ, den sie neulich aufgerissen hat – nicht ihr Freund, sondern dieser One-Night-Stand –, hat sie geschwängert.«

Der Kellner, wohl ein Collegestudent, dem die Haare ins Gesicht hingen, kam vorbei und fragte, ob sie noch etwas wollten. Da erst dachte er daran, auf die Uhr zu sehen, und tief in der stillen Lagune seines Geistes machte sich die erste leise Beunruhigung bemerkbar. Angelle, sagte sie. Lisette. Er musste sie mittwochs nach dem Fußballtraining von der Schule abholen, denn mittwochs hatte Allie frei, und Martine war nicht da. Martine war in Paris und tat, was ihr Spaß machte. So viel war sicher. Und heute – heute war Mittwoch.

Angelle erinnerte sich, dass sie an diesem Tag länger als gewöhnlich auf ihn gewartet hatte. Es war nicht das erste Mal, dass er zu spät kam – eigentlich kam er fast immer zu spät, wegen der vielen Arbeit, weil er einen so vollgepackten Terminkalender hatte –, aber diesmal war sie schon halb mit den Hausaufgaben fertig, der blaue Rucksack lag zusammengesunken neben ihr, und sie saß, das aufgeschlagene Buch auf den Knien, am Bordstein und wartete noch immer. Die Sonne war hinter den Bäumen gegenüber verschwunden, und in den Shorts und dem T-Shirt, das sie beim Fußball durchgeschwitzt hatte, war ihr kühl. Lisette war früher als sie mit dem Training fertig gewesen. Eine Weile hatte sie neben Angelle gesessen und in zwei verschiedenen Farben große X und O auf ein Blatt Papier gemalt, aber dann war ihr langweilig geworden, und sie war zu den Schaukeln gerannt, wo zwei andere Kinder spielten, deren Eltern sich ebenfalls verspäteten.

Alle paar Minuten bog ein Wagen um die Ecke, und dann sah sie rasch auf, aber nie war es der ihres Vaters. Sie sah einen schwarzen Geländewagen vor der Schule halten, und dann stürmten Dani Mead und Sarah Schuster lachend aus dem Gebäude, ließen die Rucksäcke von den Schultern gleiten, stiegen mit schwingenden Haaren auf den Rücksitz in dem höhlenartigen Innenraum und schlugen die Tür zu. Die Bremslichter des Wagens leuchteten kurz auf, bevor er langsam vom Parkplatz und auf die Straße rollte, und sie sah ihm nach, bis er um die Ecke verschwand. Er musste immer arbeiten, das wusste sie, er versuchte immer, sich durch den Haufen Arbeit zu graben, den er aufgetürmt hatte – so drückte er es aus: Ich muss mich durch den Haufen Arbeit graben, und dann stellte sie sich ihn in seinem Büro vor, umgeben von Papierbergen, von Stapeln, die aufragten wie der Schiefe Turm von Pisa, in der Hand eine Schaufel wie einer von diesen Männern in den orangeroten Jacken, der sich über ein Loch in der Straße beugte –, aber dennoch wurde sie ungeduldig. Ihr war kalt. Sie war hungrig. Wo blieb er nur?

Als die letzten beiden Kinder von ihren Müttern abgeholt worden waren und die Sonne nur noch einen schmalen Streifen Licht auf das Ziegeldach der Schule und die Palmen dahinter warf, als Lisette sich wieder zu ihr auf den Bordstein gesetzt hatte, um zu quengeln und zu jammern wie das kleine Baby, das sie war (Er ist bestimmt betrunken, ganz bestimmt, wie Mom gesagt hat), und Angelle ihr sagen musste, sie habe ja keine Ahnung, was sie da sage, kam er endlich. Lisette sah den Wagen als Erste. Er erschien wie eine Fata Morgana am Ende der Straße und bog so langsam um die Ecke, als rollte er ohne Motorkraft und mit niemandem am Steuer dahin, und Angelle fiel ein, dass ihr Vater ihr gesagt hatte, man müsse immer, ausnahmslos immer die Handbremse anziehen. Sie hatte eigentlich keine Fahrstunde haben wollen – dafür hätte sie sechzehn sein müssen –, aber sie waren zur Sommerhütte in die Berge gefahren, kurz nachdem ihre Mutter nach Frankreich abgereist war, und es war weit und breit niemand sonst da. »Du bist doch ein großes Mädchen«, hatte er gesagt, und das stimmte, sie war groß für ihr Alter – die Leute dachten immer, sie sei schon in der achten Klasse oder sogar auf der Highschool. »Probier’s mal, es ist ganz leicht«, hatte er gesagt. »Wie beim Autoscooter, nur dass man möglichst nichts anrempelt.« Sie hatte gelacht, und er hatte gelacht, und dann hatte sie sich ans Steuer gesetzt, und er hatte ihr gesagt, was sie tun sollte, und ihr Herz hatte so heftig geklopft, dass sie gedacht hatte, gleich würde sie über dem Sitz schweben. Durch die Windschutzscheibe sah alles ganz anders aus, sie war schmutzig und hatte ein paar gelbliche Flecken, und die Welt lag hinter Glas. Die Sonne schien ihr in die Augen. Die Straße war ein schwarzer Fluss, der zwischen vertrocknetem Unkraut dahinströmte, Bäume kamen näher und blieben wieder hinter ihnen zurück, als würden sie von einer Welle zwischen ihnen hindurchgetragen. Und der Wagen kroch die Straße entlang, genau wie jetzt. Zu langsam. Viel zu langsam.

Als ihr Vater am Bordstein hielt, merkte sie sofort, dass irgendetwas nicht stimmte. Er lächelte ihnen zu oder versuchte es jedenfalls, aber sein Gesicht war zu schwer, es wog tausend Tonnen, es war aus Stein wie die Gesichter der Präsidenten am Mount Rushmore, und das Gewicht verzerrte das Lächeln, bis es mehr eine Grimasse war. Wut wallte in ihr auf – Lisette hatte recht gehabt –, fiel aber gleich darauf in sich zusammen, und Angelle hatte Angst. Einfach nur Angst.

»Tut mir leid«, murmelte er, »tut mir leid, dass ich so spät dran bin, ich …«, und er sprach den Satz oder die Entschuldigung oder was immer es sein sollte nicht zu Ende, sondern öffnete stattdessen die Tür, die Fahrertür, und stieg mühsam aus. Er nahm die Sonnenbrille ab und polierte die Gläser mit dem Hemdzipfel, bevor er sich schwer gegen den Wagen lehnte. Mit einem schwachen Lächeln – einem halben Lächeln, nicht mal einem halben Lächeln – sah er Angelle an und setzte die Brille sorgfältig wieder auf, dabei konnte jeder sehen, dass es zu dunkel für eine Sonnenbrille war. Außerdem war es seine alte Brille – zwei blau schimmernde Gläser, hinter denen seine Augen verschwanden –, was bedeutete, dass er die gute Brille, die für zweihundertfünfzig Dollar beim Ausverkauf in der Sunglass Hut, verloren hatte. »Also«, sagte er, während Lisette die hintere Tür aufriss und ihren Rucksack auf den Rücksitz warf, »ich hab … ich hab einfach die Zeit vergessen. Tut mir leid. Tut mir wirklich leid.«

Sie warf ihm einen Blick zu, der ihn zu Asche verbrennen sollte, damit er merkte, wie sie sich fühlte, aber sie wusste nicht, ob er sie ansah oder nicht. »Seit vier warten wir auf dich«, sagte sie und hörte die Gekränktheit und den Vorwurf in ihrer Stimme. Sie öffnete die andere hintere Tür direkt neben ihm, denn sie würde sich zum Zeichen ihrer Missbilligung auf den Rücksitz setzen – sie beide, Lisette und sie, würden hinten sitzen, damit der Beifahrersitz leer blieb –, doch er stoppte sie, indem er plötzlich die Hand ausstreckte und ihr das Haar aus dem Gesicht strich.

»Du musst mir helfen«, sagte er, und seine Stimme hatte etwas Flehendes. »Ich …« Die Worte wollten nicht heraus, sie verdickten sich, sie gerannen in seiner Kehle. »Ich … Ach, warum soll ich dich anlügen? Ich würde dich nie anlügen.«

Die Sonne verschwand. Ein Wagen fuhr vorbei. Dann ein Junge auf seinem Fahrrad, ein Junge, den sie kannte, und er warf ihr im Vorbeifahren einen Blick zu, die Räder ein verschwimmendes Blitzen.

»Ich war … ich habe mit Marcy zu Mittag gegessen, um einfach mal … du weißt ja, wie schwer ich gearbeitet habe … ich brauchte einfach mal ein bisschen Entspannung. Die braucht jeder. Das ist ja keine Sünde.« Eine Pause, und seine Hand wanderte zu seiner Tasche und dann wieder zu ihrem Haar. »Und wir haben etwas Wein getrunken. Zum Essen.« Er sah die Straße hinunter, als suchte er nach den schlanken grünen Flaschen, in denen der Wein gewesen war, als wollte er sie als Beweisstücke vorlegen.

Sie stand da und starrte ihn mit gerecktem Kinn an, ließ aber zu, dass seine Hand zu ihrer Schulter glitt und sie drückte, wie er es tat, wenn er stolz auf sie war, wenn sie eine sehr gute Note bekommen oder ohne besondere Aufforderung ganz allein den Tisch abgeräumt hatte.

»Ich weiß, das ist schrecklich«, sagte er, »ich meine, ich tue es nur sehr ungern, aber … Angelle, ich habe nur diese eine Bitte, denn die Sache ist die« – und er zog die Brille mit den kleinen blauen Gläsern ein Stück herunter, sodass Angelle den matten Glanz der Augen sah, die auf sie gerichtet waren –, »ich glaube, ich kann nicht mehr fahren.«

Als der Parkwächter den Wagen brachte, geschah etwas sehr Seltsames. Ein kleiner Aussetzer, der ihm nur unterlief, weil er nicht achtgab. Er war abgelenkt von Marcy in ihrem flachen, offenen MX-5, von der leuchtenden Röte des Wagens – es war ein schlankes, geschmeidiges Ding: Ohren anlegen und abheben –, und sie küsste zwei Finger, streckte sie ihm entgegen und fuhr winkend und mit wehendem Haar vom Parkplatz. Und da war der Parkwächter, vermutlich ebenfalls ein Collegestudent, kleiner und dunkler als der andere, der oben stirnrunzelnd das Trinkgeld zählte, aber mit demselben Haarschnitt, als wären sie beim selben Friseur oder so gewesen, und er sagte irgendetwas zu ihm – Ihr Wagen, Sir, hier ist Ihr Wagen, Sir –, und das Seltsame war, dass er ihn für einen Augenblick nicht erkannte. Er dachte, der Junge wolle ihn verarschen. Das war sein Wagen? Das war etwas, das ihm gehörte? Dieser schlammbespritzte, anthrazitfarbene Geländewagen mit zu wenig Luft in den Reifen? Mit der Beule im vorderen Kotflügel und dem sich über die ganze Flanke ziehenden Kratzer in Kniehöhe, der aussah, als hätte irgendeine metallische Kralle zugeschlagen? War das ein Trick?

»Sir?«

»Ja«, sagte er und starrte in den Himmel. Wo war seine Sonnenbrille? »Ja, was ist? Was wollen Sie?«

Eine ganz kleine Pause. »Ihr Wagen. Sir.«

Und dann, wie es manchmal eben geschieht, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, und er klappte seine Brieftasche auf und entnahm ihr zwei Dollar – von vielen Fingern weich gemachte Scheine, so weich und schlaff wie Filz –, und der Parkwächter steckte sie ein. Und dann saß er im Wagen und wollte den Stecker des Sicherheitsgurts in das Schloss stecken – wo war das verdammte Ding? Noch immer war tief über dem Meer ein schmaler Streifen Sonne zu sehen, und er kramte im Handschuhfach nach seiner alten Sonnenbrille, der Reservebrille, denn seine neue war irgendwo anders, jedenfalls steckte sie nicht in seiner Tasche oder hing an der Schnur um seinen Hals, und als er sie aufgesetzt hatte und das Radio irgendeine Musik mit einem guten Drive spielte, fuhr er die Einfahrt hinunter, um sich in den Verkehr auf dem Boulevard einzureihen.

In diesem Augenblick bekam alles harte, scharfe Kanten, und er wusste, dass er betrunken war. Er wartete zu lange – er war zu zögerlich, zu vorsichtig –, und der Fahrer hinter ihm drückte auf die Hupe, sodass ihm praktisch nichts anderes übrigblieb, als ihm den Finger zu zeigen, und vielleicht lehnte er sich auch aus dem Fenster und brüllte etwas nach hinten, aber der Wagen unter ihm setzte sich in Bewegung, irgendjemand wich ihm in weitem Bogen aus, und dann fuhr er den Boulevard entlang. Wenn er überhaupt an etwas dachte, dann vermutlich an sein letztes Verfahren wegen Trunkenheit am Steuer – das hatte ihn aus dem Nichts erwischt, als er nicht mal wirklich betrunken gewesen war, vielleicht auch gar nicht betrunken. Er hatte Überstunden gemacht und sich anschließend bei Johnny’s Rib Shack ein paar Spareribs und eine Dose Bier geholt, die geöffnet zwischen seinen Oberschenkeln stand, und als er den Hügel hinunter- und unter der Unterführung hindurchfuhr, wo man nach links auf die Schnellstraße abbiegt, hatte er nur auf die Ampel geachtet und den senffarbenen Volvo, der dort stand, zu spät gesehen. Und er war so wütend gewesen – nicht nur auf sich selbst, sondern auch auf die Welt insgesamt und auf die Art, wie sie ihn immer wieder mit Problemen und Hindernissen, mit dem Unerwarteten und Unvorhergesehenen konfrontierte, als hätte sie sich gegen ihn verschworen –, dass er, den Schoß nass von verschüttetem Bier, aus dem Wagen mit dem zerknautschten, zischenden Kühler gestiegen war und die benommene Frau am Steuer des anderen Wagens angeschrien hatte: »Na los, bitte, zeigen Sie mich an!« Aber das würde jetzt nicht geschehen. Nichts würde jetzt geschehen.

Die Bäume zogen vorbei, an Fußgängerübergängen gingen Leute über die Straße, Ampeln schalteten auf Gelb, und er hatte alles im Griff, er glitt dahin, doch gerade als er den Plan fasste, die Mädchen auf dem Heimweg zu Burritos oder Burgern einzuladen, kam ihm ein Streifenwagen entgegen, und sein Herz erstarrte zu einem Eisblock, um sich im nächsten Augenblick zu verflüssigen, wobei es klopfte, als wollte es ihm aus der Brust springen. Blinker, Blinker, ermahnte er sich, den Blick auf den Rückspiegel geheftet, und dann blinkte er rechts und bog in die erstbeste Straße ab, eine Straße, die er nicht kannte, und dann bog er abermals ab und noch einmal, und als er sich umsah, hatte er keine Ahnung, wo er war.

Was ein weiterer Grund für seine Verspätung war, und da stand Angelle und musterte ihn mit diesem harten, kalten, abschätzigen Blick – es war genau der Blick ihrer Mutter –, denn sie war perfekt, sie war pflichtbewusst, sie wurde ausgenutzt, sie war die beste Tochter der Welt, in der Geschichte der Menschheit, und er war schlicht und einfach ein Arschloch. Es war falsch, sie darum zu bitten, und doch geschah es, und er sagte ihr genau, was sie zu tun hatte, es war ein Kinderspiel, gerade mal vier Kilometer bis nach Hause, und das mit dem Stopp unterwegs würden sie lassen – sie würden nach Hause fahren und sich Pizza bestellen. Er wusste noch, dass er darüber geredet hatte: »Na, Mädels, wie wär’s mit Pizza heute Abend? Hm, Lisette? Mit Zwiebeln und Peperoni? Und diesen kleinen gerösteten Artischockenherzen? Oder vielleicht lieber mit Würmern, zermatschten Würmern?«, wobei er sich über die Lehne nach hinten gebeugt hatte, um sie aufzumuntern, damit alles wieder in Ordnung war und die Angespanntheit aus ihrem Gesicht verschwand, und er hatte den Jungen auf dem Fahrrad nicht gesehen, hatte nicht mal gewusst, dass es ihn gab, bis Angelle einen leisen, erstickten Schrei ausgestoßen hatte und etwas mit einem entsetzlichen dumpfen Schlag gegen den Kotflügel geprallt war.

Der Gerichtssaal roch nach Bohnerwachs, demselben Wachs, mit dem auch die Böden in der Schule behandelt wurden, süß und stechend zugleich, ein Geruch, der in seiner Vertrautheit beinahe tröstlich war. Doch sie war nicht in der Schule – sie war für den Vormittag vom Unterricht befreit –, und sie war auch nicht hier, um getröstet zu werden, ja nicht einmal, damit sie sich wohlfühlte. Sie war hier, um Mr Apodaca und dem Richter und dem Staatsanwalt und den Geschworenen zuzuhören, die über den Fall ihres Vaters zu befinden hatten, und um für ihn auszusagen, um zu sagen, was sie wusste, um eine Art von Wahrheit zu sagen, die vielleicht nicht ganz und rein, aber notwendig war, eine notwendige Wahrheit. So nannte Mr Apodaca diese Wahrheit jetzt: notwendig. Sie saß mit ihm und ihrem Vater in einem der unbenutzten Säle am Hauptkorridor – einem anderen Gerichtssaal –, und er ging die ganze Sache noch ein letztes Mal mit ihr durch, um sicher zu sein, dass sie alles verstanden hatte.

Ihr Vater hielt ihre Hand, als sie hineingingen, und er setzte sich neben sie auf eine der Bänke, während sein Anwalt noch einmal Schritt für Schritt schilderte, was sich an jenem Tag nach der Schule zugetragen hatte, um sicherzugehen, dass sie alle auf demselben Stand waren. Das waren seine Worte – »Ich möchte, dass wir alle auf demselben Stand sind« –, als er sich vor ihr und ihrem Vater aufbaute und sich mit den Händen auf die Barriere aus poliertem Holz stützte. Der Glanz seiner Schuhe wetteiferte mit dem des Bodens, und unwillkürlich sah sie irgendeinen mexikanischen Jungen vor sich, irgendeinen Schulabbrecher, der nun als Schuhputzer sein Geld verdiente und sich mit diesen Schuhen abmühte, während Mr Apodaca hoch über ihm auf dem mit Leder bezogenen Stuhl thronte und die Füße auf die Stützen aus rostfreiem Stahl gestellt hatte. Sie stellte sich ihn vor, wie er mit strengem Blick die Zeitung las oder noch einmal die Einzelheiten eines Falls, dieses Falls, studierte. Als er fertig war, als er alles mit ihr durchgegangen war, Minute für Minute, Geste für Geste, als er ihr hier auf die Sprünge geholfen und dort ein Loch in den Bauch gefragt hatte – »Und was hat er dann gesagt? Und was hast du geantwortet?« –, bat er ihren Vater, kurz allein mit ihr sprechen zu dürfen.

Ihr Vater drückte ihre Hand, ließ sie los und erhob sich von der Bank. Er trug einen neuen blauen Anzug, dunkel und streng, der seine Haut hell wie Teig aussehen ließ, und sein Haar war rings um die Ohren so kurz geschnitten, dass es aussah, als wäre dort eine Maschine am Werk gewesen, ein Heckenschneider oder ein Rasenmäher wie der, auf dem der Schulhausmeister saß, wenn er den Fußballplatz mähte, nur viel kleiner, und für einen Augenblick stellte sie sich vor, dass Menschen, so winzig wie in Gullivers Reisen, sich mit Mähern, Balkenschneidern und Scheren am Kopf ihres Vaters zu schaffen gemacht hatten. Seine Krawatte war die langweiligste, die er hatte, in einem Blau, das in Schwarz überging, ohne Muster, ja sogar ohne Streifen. Sein Gesicht wirkte schwer, die Krähenfüße waren deutlich zu sehen – Klüfte, Risse, Schlitze, als hätte ein Metzger die Haut zerschnitten und zugerichtet –, und sie bemerkte zum ersten Mal die kleine graue Hautfalte unter seinem Kinn. Das alles ließ ihn alt und verbraucht aussehen, als hätte er seine besten Jahre hinter sich, als wäre er nicht mehr der Held, sondern der beste Freund des Helden – derjenige, der nie die Frau und nie den Job kriegt. Und welche Rolle spielte sie? Sie war der Star. Sie war hier der Star, und je länger der Anwalt auf sie einredete und je schwerer das Gesicht ihres Vaters wurde, desto mehr wurde ihr das bewusst.

Mr Apodaca sagte nichts und ließ das Schweigen im Raum hängen, bis auch die Erinnerung an die Schritte ihres Vaters verblasst war. Über dem Richtertisch auf dem Podium hinter ihm hing das gerahmte Wappen des Staates Kalifornien. Er beugte sich über die Lehne der Bank vor ihr und kniff für eine Sekunde die Augen fest zu, sodass Tränen darin standen, als er sie dann aufriss und Angelle ansah. Oder jedenfalls hatte es den Anschein. Die Wimpern waren feucht, und das ließ jede einzelne hervortreten, und Angelle musste an die Halme der Zuckerrohrpflanzen denken, die am Zaun ganz hinten im Garten wuchsen. »Ich möchte, dass du mir sehr gut zuhörst, Angelle«, flüsterte er, und seine Stimme war so leise und gepresst, dass sie klang, als würde man Luft aus einem Reifen lassen. »Denn das, was jetzt kommt, betrifft dich und deine Schwester. Es könnte dein ganzes Leben verändern.«

Wieder Schweigen. Sie fühlte sich flau und wollte nichts sagen, doch er schwieg so lange, dass sie schließlich den Kopf senkte und sagte: »Ja. Ja, ich weiß.«

Und plötzlich, ohne jede Vorwarnung, ertönte seine Stimme wie ein Peitschenknall: »Nein. Nein, das weißt du nicht. Hast du eine Ahnung, was auf dem Spiel steht? Hast du auch nur den Hauch einer Ahnung?«

»Nein«, sagte sie. Es war nur ein Flüstern.

»Dein Vater wird sich im Anklagepunkt Trunkenheit am Steuer schuldig bekennen. Er hat einen Fehler gemacht und wird ihn zugeben. Sie werden ihm den Führerschein abnehmen, und er wird eine Therapie machen und jemand anderen finden müssen, der dich und deine Schwester zur Schule bringt. Ich will es nicht beschönigen – das ist eine sehr ernste Sache, aber es gibt noch etwas, das du wahrscheinlich nicht weißt.« Sie wollte den Kopf abwenden, doch sein Blick hielt sie fest. »Der zweite Anklagepunkt lautet Gefährdung von Minderjährigen, und damit ist nicht dieser Junge gemeint, der sich – zum Glück, zum Glück – nur das Knie aufgeschrammt hat und dessen Eltern sich bereits mit einer Schmerzensgeldzahlung einverstanden erklärt haben. Nein, damit bist du gemeint, weil er dich ans Steuer gelassen hat. Und weißt du, was passieren wird, wenn die Geschworenen ihn in diesem Punkt für schuldig befinden?«

Sie wusste nicht, was nun kommen würde, nicht genau jedenfalls, aber sein Ton – dunkel, unheilschwanger, erfüllt von Zorn und der Drohung, die er mit dem nächsten Atemzug ausstoßen würde – gab ihr das Gefühl, klein zu sein. Und verängstigt. Eindeutig verängstigt. Sie schüttelte den Kopf.

»Sie werden ihm dich und Lisette wegnehmen.« Er ballte die Fäuste, stieß sich von der Barriere ab und drehte sich um, als wollte er vor dem Richtertisch auf und ab gehen, als wäre er der ganzen Sache überdrüssig und hätte nichts mehr zu sagen. Aber dann fuhr er unvermittelt und mit einer heftigen Schulterdrehung zu ihr herum, und seine Faust mit dem anklagend ausgestreckten Zeigefinger stieß auf sie herab. »Und nein«, sagte er und konnte sich kaum beherrschen, konnte seine Stimme kaum im Zaum halten, »die Antwort auf deine unausgesprochene Frage oder Entgegnung oder wie immer du es nennen willst, ist: Deine Mutter wird nicht kommen und dich holen – jetzt nicht und vielleicht niemals.«

Schämte er sich? Fühlte er sich gedemütigt? Würde er das Trinken aufgeben und sein Leben in Ordnung bringen müssen? Ja, ja und abermals ja. Doch als er um halb zwölf neben Jerry Apodaca im Gerichtssaal saß, durch dessen hohe Bogenfenster das Licht hereinströmte, und seine Tochter, Marcy, Dolores und das ernst dreinblickende Au-pair-Mädchen sich auf die schimmernde Bank hinter ihm setzten, war in seiner Tasche ein Flachmann, und das schwache Brennen eines Single Malt Scotch pulsierte in seinen Adern. Er hatte vor nicht einmal zehn Minuten auf der Herrentoilette einen kräftigen Schluck genommen, nur zur Beruhigung, und anschließend hatte er sich den Mund mit Wasser ausgespült und ein halbes Dutzend Pfefferminzpastillen zerkaut, um jede Spur von Alkohol aus seinem Atem zu tilgen. Jerry wäre fuchsteufelswild, wenn er es geahnt hätte … und es war schwach und feige, es war unentschuldbar, absolut unentschuldbar, aber er fühlte sich preisgegeben und ängstlich und brauchte irgendeinen Halt. Nur für jetzt. Nur heute. Nachher würde er das Ding wegwerfen, denn wofür war ein Flachmann schon da, wenn nicht dafür, einen Säufer, der einen Anzug trug und sich regelmäßig die Zähne putzte, vierundzwanzig Stunden am Tag auf seinem Pegel zu halten?

Er wippte unter dem Tisch mit dem Fuß und schlug rhythmisch die Knie zusammen, ein nervöses Zucken, das auch noch so viel Scotch nicht unterdrücken konnte. Der Richter ließ sich Zeit, die Assistentin des Staatsanwalts saß weiter rechts an ihrem eigenen Tisch, studierte Akten und grinste schief. Ihr Gesicht wirkte permanent selbstzufrieden, als wäre sie die Königin des Gerichtssaals und des Countys, und sie hatte ihm vor der Pause schwer zugesetzt, und das war gemein, einfach gemein. Sie galt als der Kampfhund der Staatsanwaltschaft – jedenfalls hatte Jerry sie so bezeichnet –, und in ihrer Stimme schwangen stets Sarkasmus, Skepsis und Gereiztheit mit, doch er war bei seiner Version geblieben und hatte sich nicht irritieren lassen. Er war nur froh, dass Angelle es nicht hatte hören müssen.

Jetzt aber war sie hier und saß direkt hinter ihm. Sie war vom Unterricht befreit, wegen ihm. Und das war vermutlich ein weiterer Punkt auf seinem Schuldkonto, denn was für ein Vater würde …? Aber dieser Gedanke war so deprimierend, dass er ihn nicht weiterverfolgte. Er widerstand dem Impuls, sich zu ihr umzudrehen und sie anzusehen, mit einem Lächeln, einem Augenzwinkern, einer kleinen Geste, irgendwas. Es war zu schmerzlich, sie hier zu sehen, vor Gericht zitiert, aus der Schule gezerrt, und außerdem wollte er nicht den Eindruck erwecken, als würde er sie zu irgendetwas drängen oder zwingen. Jerry hatte solche Skrupel allerdings nicht. Er hatte es immer wieder mit ihr geübt und war sogar so weit gegangen, sie zu bitten – nein, anzuweisen –, etwas anzuziehen, das ungefähr der Vorstellung des Richters vom Erscheinungsbild eines braven, aufrichtigen, freimütigen Mädchens entsprach, etwas, das sie jünger aussehen ließ, als sie war, zu jung, um die Unwahrheit zu sagen, und viel zu jung, um auch nur mit dem Gedanken zu spielen, sie könnte sich ans Steuer eines Wagens setzen.

Dreimal hatte Jerry sie wieder hinaufgeschickt, damit sie sich umzog, bis sie schließlich, sanft überredet vom Au-pair-Mädchen (Allie, und er durfte nicht vergessen, ihr einen Zwanziger zu geben, mindestens einen Zwanziger, denn sie war Gold wert, pures Gold), ein weißes, mit Spitzen besetztes Kleid mit hohem Kragen angezogen hatte, das sie bei irgendeiner Schulaufführung getragen hatte, dazu eine weiße Strumpfhose und schwarze Lackschuhe. Irgendetwas hatte nicht gestimmt vorhin, im Wohnzimmer, das hatte er an der Art gemerkt, wie sie die Schultern gehalten hatte und hinauf in ihr Zimmer gestampft war, mit hartem Gesicht und einem Blick, der ihn hatte versengen sollen, und er hätte es erkennen und ihr ein bisschen mehr Aufmerksamkeit widmen müssen, aber Marcy war da gewesen und hatte ihre Meinung geäußert, und Jerry hatte alles Mögliche einfach verfügt, und er selbst hatte genug mit sich zu tun gehabt – er hatte nichts essen oder denken oder tun können, hatte es gerade mal geschafft, in die Vorratskammer zu schleichen und den Flachmann zu füllen. Als es ihm schließlich eingefallen war, hatten sie schon im Wagen gesessen, und er hatte es versucht, wirklich, er hatte sich zu ihr umgedreht und kleine Witze darüber gemacht, dass sie nun einen Tag frei hatte, und was würden ihre Lehrer denken, und was hätte Aaron Burr getan – bestimmt hätte er jemanden über den Haufen geschossen, oder? –, aber Jerry war noch ein letztes Mal ihre Aussage mit ihr durchgegangen, und sie hatte mit ganz und gar verschlossenem Gesicht neben Marcy gesessen.

Der Gerichtssaal sah genauso aus wie der, in dem der Anwalt ihres Vaters sie vor eineinhalb Stunden bearbeitet hatte, nur dass dieser voller Menschen war. Sie waren allesamt alt oder jedenfalls älter, bis auf eine Frau in einer engen karierten Jacke, wie sie Angelle im Schaufenster von Nordstrom gesehen hatte. Sie war in den Zwanzigern, saß auf der Geschworenenbank und machte ein gelangweiltes Gesicht. Die anderen Geschworenen waren hauptsächlich Männer, Geschäftsleute, wie sie annahm, mit schütterem Haar, kleinen Augen und großen, fleischigen Händen, die sie im Schoß gefaltet oder auf die Balustrade gelegt hatten. Einer von ihnen hatte Ähnlichkeit mit Dr. Damon, dem Direktor ihrer Schule, doch er war es nicht.

Der Richter thronte hinter dem Richtertisch auf dem Podium. Zu seiner Rechten war die amerikanische Fahne, zu seiner Linken die des Staates Kalifornien. Sie selbst saß in der ersten Zuschauerreihe zwischen Allie und Dolores, ihr Vater und Mr Apodaca saßen vor ihr an einem Tisch. Die Schultern ihrer Anzüge waren kantig, als trügen sie Schulterpolster wie Footballspieler. Der ihres Vaters war so dunkel, dass sie die Schuppen sehen konnte, Körnchen, fein wie Staub, auf dem Kragen seines Jacketts, und das war ihr peinlich. Und er tat ihr leid, das auch – und sie selbst tat sich ebenfalls leid. Und Lisette. Angelle sah zum Richter und dann zum Staatsanwalt mit seinem grimmigen, grauen, scharf rasierten Gesicht und zu der finster blickenden Frau neben ihm, und unwillkürlich dachte sie an das, was Mr Apodaca zu ihr gesagt hatte. Sie machte sich ganz klein, als Mr Apodaca sie aufrief, und der Richter, der ihren Gesichtsausdruck sah, lächelte ihr aufmunternd zu.

Sie merkte kaum, dass sie vortrat, dass sich eine Stille über den Saal legte und der Gerichtsdiener sie aufforderte, die rechte Hand zu heben und zu schwören, nichts als die Wahrheit zu sagen – all das würde erst später zu ihr durchdringen wie die Erinnerung an Bruchstücke aus einem Traum. Doch dann saß sie im Zeugenstand, und alles war mit einem Mal hell und laut, als hätte sie im Fernseher auf ein anderes Programm umgeschaltet. Mr Apodaca stand vor ihr, seine Stimme klang weich und angenehm, beinahe als würde er singen, und er lotste sie durch ihre Aussage, wie sie es geübt hatten. Ja, sagte sie, ihr Vater habe sich verspätet. Ja, es sei schon dunkel geworden. Nein, ihr sei nichts Ungewöhnliches an ihm aufgefallen. Jeden Mittwoch hole er sie und ihre Schwester von der Schule ab, denn mittwochs hätten sowohl Allie als auch Dolores frei, und sonst sei niemand da, denn ihre Mutter sei gerade in Frankreich.

Aller Augen waren auf sie gerichtet, und es war ganz still, so still, dass man hätte meinen können, die Zuschauer seien auf Zehenspitzen hinausgeschlichen, dabei waren alle noch da und hingen an ihren Lippen. Sie wollte noch mehr über ihre Mutter sagen: Sie werde bald zurückkommen – das habe sie versprochen, als sie das letzte Mal aus ihrer Wohnung in Saint-Germain-des-Prés angerufen habe –, aber Mr Apodaca ließ es nicht zu. Er führte sie mit seinen Fragen, er sprach jetzt wieder zuckersüß, als wäre sie ein kleines Mädchen, und sie wollte die Stimme erheben und ihm sagen, er solle sie nicht so behandeln, sie wollte ihm von ihrer Mutter erzählen, von Lisette, von der Schule, dem Rasen, den Bäumen, von dem Geruch im Inneren des Wagens und dem heißen Alkoholdunst im Atem ihres Vaters – alles, um das Unvermeidliche abzuwenden, die Frage, die auf die eben gestellte folgen würde und der Dreh- und Angelpunkt des Ganzen war, doch jetzt hörte Angelle sie, leise und freundlich und zuckersüß aus dem Mund des Anwalts ihres Vaters: »Wer saß am Steuer?«

»Ich wollte noch etwas sagen.« Sie hob den Blick und sah nur Mr Apodaca an, seine Hundeaugen und sein weiches, bittendes Gesicht, das in dieser Kindersprache mit ihr redete. »Ich wollte nämlich … ich wollte nämlich sagen, dass das nicht stimmt, was Sie über meine Mutter gesagt haben. Sie kommt zurück, das hat sie mir versprochen, am Telefon.« Sie konnte nichts dagegen tun, dass ihre Stimme brach.

»Ja«, sagte er eine Spur zu schnell, »ja, das verstehe ich, Angelle, aber wir müssen jetzt klären … Du musst die Frage beantworten.«

Oh, und jetzt wurde die Stille im Saal noch tiefer – es war die Stille der Tiefsee, die Stille des Weltraums, die Stille der arktischen Nacht, in der man die Kufen des Schlittens und die Schritte der blutenden Hundepfoten nicht hören kann, und ihr Blick ging zu ihrem Vater und seinem Gesicht, das Hoffnungslosigkeit und Angst und Verwirrung verriet, und in dieser Sekunde liebte sie ihn mehr als je zuvor.

»Angelle«, sagte Mr Apodaca leise. »Angelle?«

Sie wandte sich wieder zu ihm, blendete den Richter, den Staatsanwalt und die Frau in der karierten Jacke aus, die vermutlich eine Studentin und vermutlich cool war, und wartete auf die Frage.

»Wer«, wiederholte Mr Apodaca und sprach jetzt langsamer, »saß« – langsamer, noch langsamer – »am Steuer?«

Sie hob das Kinn, sah den Richter an und hörte die Worte aus ihrem Mund kommen, als wären sie dort hineingelegt worden. Sie sprach die Wahrheit, die schmerzliche Wahrheit, auf die niemand gekommen wäre, denn sie war beinahe dreizehn, beinahe ein Teenager, und alle sollten es wissen. »Ich saß am Steuer«, sagte sie, und der Gerichtssaal erwachte zum Leben, weil so viele Leute auf einmal durcheinanderredeten, dass sie zunächst glaubte, sie hätten sie nicht gehört. Also sagte sie es noch einmal, lauter, viel lauter, so laut, als wollte sie es dem Mann mit der Kamera am anderen Ende des langen, kirchenartigen Saals mit den mit Schweiß polierten Bänken, den Fahnen und Emblemen und dem ganzen Rest zurufen. Und dann wandte sie den Blick von dem Richter ab, von dem Mann mit der Kamera, dem Gerichtsschreiber und den Fenstern, durch die das Licht so blendend hell hereinströmte, als wäre draußen eine Bombe gezündet worden, und sah ihren Vater an.

La Conchita

In meiner Branche fährt man fünfundsechzig-, siebzigtausend Kilometer im Jahr, das sanfte Brummen des Motors bei dreieinhalbtausend Touren klingt einem in den Ohren wie eine Art von gleichmäßigem Schnurren, und Ablenkungen kann man sich nicht leisten. Man kann es sich nicht leisten, müde oder nachlässig zu werden oder den Blick von der Straße zu wenden, um sich anzusehen, wie der Nebel die Palmen an der Ocean Avenue verfremdet, oder zu bewundern, wie das Licht auf dem spektakulären Abschnitt der Schnellstraße zwischen Malibu und Oxnard auf den Bergflanken liegt. Wer sich ablenken lässt, könnte sehr schnell sehr tot sein. Ich weiß das. Die Lastwagenfahrer wissen das. Aber so ziemlich alle anderen – und vor allem Honda-Fahrer, so leid es mir tut – scheinen nicht mal zu merken, dass sie am Steuer sitzen und nur halb bei der Sache sind. Ich habe versucht, das zu analysieren, wirklich. Sie wollen was kriegen für ihr Geld, diese Honda-Fahrer, sie wollen Wertbeständigkeit und Zuverlässigkeit, aber für das einzig Wahre – und damit meine ich deutsche Ingenieurskunst – ist ihr Geld ihnen zu schade. Und trotzdem scheinen sie zu glauben, dass sie einer Geheimgesellschaft angehören und andere nach Belieben abdrängen oder schneiden können, weil sie es einfach draufhaben. Weil sie so hip sind. So Honda eben. Und ja, ich habe eine Pistole, eine Glock 9 mm. Sie ist in einem speziellen Fach, das ich in die Lederverkleidung der Fahrertür habe einbauen lassen, aber das heißt nicht, dass ich sie auch benutzen will. Oder noch einmal benutzen würde. Es sei denn im äußersten Notfall.

Das einzige Mal, dass ich geschossen habe, war während der Serie von Freeway-Ballereien vor ein paar Monaten – die Polizei sprach damals von einer »statistischen Blase« –, als im Großraum Los Angeles im Schnitt zwei Leute pro Woche auf irgendwelchen Schnellstraßen umgelegt wurden. Ich hab das nie kapiert. Man sieht irgendeinen Volltrottel zentimeterdicht auffahren und wild die Spuren wechseln, und vielleicht zeigt man ihm dann den Finger, und vielleicht fängt er dann erst richtig an zu nerven, aber man ist doch schließlich wach, oder? Man hat ein Gas- und ein Bremspedal, oder? Doch die meisten Leute, glaube ich, merken nicht mal, dass sie am Leben sind oder dass sie den Typen, der neben ihnen fährt, gerade fuchsteufelswild gemacht haben oder dass ihr Motor brennt oder dass die Straße da vorn in einen Krater führt, so groß wie das Meer der Stille, denn sie haben ihr Handy zwischen Schulter und Ohr geklemmt und feilen sich die Nägel oder lesen Zeitung. Lachen Sie nicht. Ich hab’s gesehen: Sie sehen fern, sie essen Kung Pao aus der Schachtel, sie lösen Kreuzworträtsel und telefonieren mit zwei Handys gleichzeitig – und das alles bei Tempo hundertzwanzig. Jedenfalls, ich hab bloß zweimal gefeuert: peng, peng. Hab kaum gemerkt, dass ich abgedrückt hab. Außerdem hab ich natürlich tief gehalten – ich wollte ihm Löcher in seine Türschweller schießen oder die idiotischen, scheißgroßkotzigen Super-Avenger-Geländereifen erwischen, auf denen er ungefähr vier Meter über der Straße thronte. Ich bin nicht stolz drauf. Wahrscheinlich hätte ich nicht so weit gehen sollen. Aber er hat mich zweimal abgedrängt, und wenn er mir den Finger gezeigt hätte, wäre das ja noch okay gewesen, aber er hat’s nicht mal gemerkt, er hat nicht mal gemerkt, dass er mich innerhalb einer Minute zweimal um ein Haar in die Leitplanke gedrückt hatte.

An diesem bestimmten Tag aber schienen alle schön Abstand zu halten. Es war kurz nach Mittag, und es regnete. Das Meer lag wie ein riesiger brodelnder Kessel zu meiner Linken, die Straße war nass und ein bisschen rutschig – so nass und schwammig, dass ich stellenweise auf hundert runtergehen musste, um Aquaplaning zu vermeiden. Aber das war nicht einfach nur Regen. Es war einer von einer ganzen Reihe von Wolkenbrüchen in der vergangenen Woche: Die Luft saugte sich weit draußen auf dem Meer mit einer Ladung nach der anderen voll und lud das Wasser dann über den Hügeln ab, auf denen es nach den Buschfeuern im letzten Winter keinen Baum und keinen Strauch mehr gab. Ich war bereits spät dran, weil es im Topanga Canyon einen Erdrutsch gegeben hatte und Felsen, so groß wie Geländewagen, auf der Straße herumlagen und Polizisten in Regenmänteln ihre Lampen schwenkten und die Straße auf zwei Spuren verengten, dann auf eine, und sie schließlich ganz sperrten – das hörte ich dann im Radio, als ich die Engstelle hinter mir hatte und zwar in Zeitnot war, aber anscheinend noch Glück gehabt hatte. Straße gesperrt. Tja, das wär’s dann gewesen.