Wenn das Schlachten vorbei ist - T.C. Boyle - E-Book

Wenn das Schlachten vorbei ist E-Book

T. C. Boyle

4,5

Beschreibung

Zwei Fraktionen von Umweltschützern liefern sich einen erbitterten Kampf. Schauplatz sind die Channel Islands vor der Südküste von Kalifornien, wo die Umwelt vom Menschen empfindlich gestört wurde. Soll man das Gleichgewicht des Ökosystems mit viel Steuergeldern wiederherstellen - was zwangsläufig die Ausrottung mancher Tierarten bedeutet -, oder soll man um jeden Preis das Töten verhindern? T. C. Boyles furioser, apokalyptischer Roman handelt von der Ausbeutung der Natur durch den Menschen und den katastrophalen Folgen. Boyle hat eines seiner ältesten Themen weiterentwickelt, nie war er so bitter und böse, nie war es ihm so ernst.

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Hanser eBook
T. Coraghessan Boyle
Wenn das Schlachten vorbei ist
Roman
Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren
Carl Hanser Verlag
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2011
unter dem Titel When the Killing’s Done bei Viking in New York.
Die Übersetzung wurde durch ein Stipendium
des Deutschen Übersetzerfonds gefördert.
ISBN 978-3-446-23952-4
© T. Coraghessan Boyle 2011
Alle Rechte der deutschen Ausgabe
© Carl Hanser Verlag München 2012
2. E-Book-Auflage 2017
Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch
E-Book-Konvertierung: Beltz Bad Langensalza
Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen
finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de
http://www.tc-boyle.de

INHALT

Teil I ANACAPA
Der Schiffbruch der Beverly B.
Rattus rattus
Der Schiffbruch der Winfield Scott
Die Paladin
Boiga irregularis
Coches Prietos
Teil II SANTA CRUZ
Scorpion Ranch
Ovis aries
Sus scrofa
Prisoners’ Harbor
Die Black Gold
Willows Canyon
El Tigre
Crotalusviridis
Der Schiffbruch der Anubis
Die Trennzone
Scorpion Ranch
Danksagung
Für Kerrie, die über Berge gewandert ist und es mit Geistern aufgenommen hat.
Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alles Getier, das auf Erden kriecht.
Das erste Buch Mose 1,28

Teil I ANACAPA

DER SCHIFFBRUCH DER BEVERLY B.

Da war sie nun, in der beengten Kombüse, wo man kaum stehen konnte, ohne sich den Kopf anzuschlagen, die rechte Hand rot und schmerzend, weil sie sich mit dem Kaffee verbrüht hatte, den sie pflichtbewusst – und törichterweise – hatte kochen wollen, damit sie alle etwas Warmes im Bauch hätten, tapfer, immer tapfer, und dabei war sie vor nicht mal einer halben Stunde kotzend in ihrer Koje aufgewacht. Sie trug einen zu großen Pullover mit Zopfmuster, den sie aus dem Schrank ihres Mannes gezogen hatte, weil es in der Kajüte so kalt war, und jede Faser davon schien auf ihrer Haut zu scheuern, als wäre sie im Schlaf wundgepeitscht worden. Sie hatte ihr Haar nicht gebürstet. Die Zähne ebenfalls nicht. Es fiel ihr schwer, das Gleichgewicht zu bewahren, und sie fragte sich, ob die See hier draußen immer so rauh war, traute sich aber nicht, Till oder Warren zu fragen. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wie man ein Boot steuerte oder einen Sturm abwetterte oder auch nur eine Seekarte las, daran hatten die beiden sie ja bei jeder Gelegenheit erinnert, und Till hatte ihr gesagt, sie solle sich irgendwohin setzen und die Fahrt genießen. Ihr Platz war in der Küche. Oder vielmehr: in der Kombüse. Sie würde die Fische ausnehmen und braten, und wenn die Sonne herauskam – sofern sie herauskam –, würde sie ein Strandtuch auf dem Kajütendach ausbreiten, die Beine mit einer Mischung aus Babyöl und Jod einreiben, sich auf den Rücken legen, die Augen schließen und liegenbleiben, bis sie schön gleichmäßig gebräunt war.
Erst jetzt – das Boot bockte und rollte, und ihre Hand glühte vor Schmerz – merkte sie, dass ihre Füße nass waren, dass die Socken an der Haut klebten und die neuen weißen Tennisschuhe sich zu einem feuchten Dunkelgrau verfärbt hatten. Und warum waren ihre Füße nass? Weil auf dem Kombüsenboden Wasser war. Nicht Kaffee – sie hatte ihn so gut es ging mit einem Putzlumpen aufgewischt –, sondern Wasser. Salzwasser. Eine Lache floss auf sie zu und schwappte wieder zurück, als das Boot in ein weiteres Wellental tauchte. Sie ließ sich schwer auf die Bank fallen, die sich ihr entgegenhob, und klammerte sich mit beiden Händen an den Tisch, so hilflos, als wäre sie in einem dieser Achterbahnwagen im Vergnügungspark festgeschnallt, die Till so liebte, während sie ihr bloß das Gefühl gaben, als hätte ihr Magen sich selbst verschluckt – wie diese Cartoonschlange, die ihren eigenen Schwanz auffraß.
Die Säume ihrer Bluejeans waren mit einemmal ganz nass, das Boot tauchte aus dem Tal empor, und wieder schoss das Wasser auf sie zu, mehr diesmal, ein Kälteschock bis zu den Knöcheln. Sie wollte rufen, doch ihre Kehle war wie zugeschnürt. Das Wasser wich nach achtern zurück und kehrte dann wieder, tiefer und kälter. Tu was! rief sie sich zu. Steh auf. Beweg dich! Sie kämpfte gegen die Übelkeit an und hangelte sich mit beiden Händen am Tisch entlang, so dass sie zum drei Stufen höher gelegenen Deck hinaufsehen konnte, wo Till mit seinem stocksteifen versehrten Arm am Ruder saß, während Warren, sein Bruder Warren, der Exmarine, der rechthaberische Besserwisser, wild an ihm zerrte und das Steuer übernehmen wollte. Sie wollte die beiden warnen, wollte das Wasser in der Kombüse melden, damit sie etwas dagegen taten, damit sie machten, dass es wegging, damit sie irgendwas reparierten, so dass alles wieder in Ordnung war, aber Warren schrie, die Adern an seinem Hals standen hervor, und die Gischt, die hinter dem Heck aufstob, sah aus wie der peitschende Schweif eines Unterwasserkometen. »Verdammt, du Arschloch! Nicht quer zu den Wellen!« Das Boot schlingerte seitwärts und erbebte. »Willst du das verdammte Scheißding versenken?«
Ja. Das war die Geschichte. So war es gewesen. Und so oft sie auch ihre Version dessen erzählte, was ihrer Großmutter im kalten, wütenden, aufgewühlten Wasser des Santa-Barbara-Kanals widerfahren war, vor so langer Zeit, dass sie die Augen halb schließen musste, um ein Bild davon zu bekommen – ein schärferes, klareres Bild als ihre Mutter, die ebensowenig dabeigewesen war wie sie selbst, jedenfalls nicht bewusst –, senkte Alma ihre Stimme zu einem Flüstern, wenn sie zur Pointe, zum überraschenden, krönenden Schluss kam: »Als das Boot sank, war Nana im zweiten Monat schwanger.«
Sie versäumte es nie, innezuhalten und aufzusehen, ob sie die Geschichte nun am Esstisch ihrer College-Wohngemeinschaft einer Mitbewohnerin erzählte oder einem Wildfremden im Flugzeug. »Im zweiten Monat schwanger. Und sie wusste es nicht mal.« Dann hielt sie abermals bedeutungsvoll inne. Ihre eigene Mutter wäre ungeboren gestorben, wäre irgendwo angespült worden, Futter für die Krabben, und sie selbst würde nicht existieren, würde nicht hier sitzen können, das Haar noch nass von der Dusche oder zu einem Pferdeschwanz gebunden und durch das Loch an der Rückseite der Baseballmütze gesteckt, sie würde nicht alle Nuancen und existentiellen Implikationen aus dieser Geschichte, der Geschichte der Welt vor ihrer Geburt, herauskitzeln können, wenn ihre Großmutter, an die sie sich nur als hinfällige und gebrechliche Frau erinnerte, in Körper, Geist und Seele nicht so zäh gewesen wäre.
Und natürlich empfand sie auch die Kälte, die darin lag, sah das Würfeln des Schicksals, das die Unglücklichen und Untüchtigen ausmerzte, während die anderen sich vermehrten. Wenn tausend Generationen derselben Familie Schiffbruch erlitten, würden ihre Nachkommen dann irgendwann Schwimmhäute und Kiemen entwickeln, oder würden sie lernen, an Land zu bleiben und der Versuchung der Inseln, die am glitzernden Horizont zu schweben schienen, zu widerstehen? Sie lebte, war im Schnittpunkt der Schöpfung wie alles andere, das in dem Augenblick, da sie die Geschichte erzählte, den Funken des Lebens enthielt, und eines Tages würde sie ebenfalls Kinder haben, der Summe des Lebens etwas hinzufügen, die DNA voranbringen. Der Vater ihrer Mutter war tot. Sein Bruder ebenfalls. Und auch die Mutter ihrer Mutter hätte sterben sollen. Nur: Sie war nicht gestorben.
Es war im März des Jahres 1946. Almas Großvater Tilden Matthew Boyd war seit sechs Monaten aus dem Krieg im Pazifik zurück, von wo er einen verkrüppelten rechten Arm mitgebracht hatte: kein Fleisch oberhalb des Ellbogens, nur eine einzige lange Narbe, die sich wie ein verbranntes Omelette um den Knochen schmiegte. Ihre Großmutter, jung und optimistisch und mit Haar, so dunkel und voll wie ihr eigenes, zerschlug eine Flasche am Bug der Beverly B., während Till, der durch ein Wunder, konkreter und greifbarer als alle Kathedralen der Welt, aus dem Rachen des Krieges zu ihr zurückgekehrt war, am Ruder saß und Möwen über ihnen kreisten und Wolken von Nordwesten herbeizogen und die Sonne über das Wasser jagten. Beverly war glücklich, weil Till glücklich war, und sie aßen die Sandwiches und tranken den billigen Sekt aus Pappbechern in der Kajüte, denn der Wind war steif und die Wellen schaumgekrönt und winterlich. Auch Warren war an jenem ersten Tag, am Tag des Stapellaufs, dabeigewesen, ein wandelndes Diktiergerät, hatte unerbetene Ratschläge, abgedroschene Klischees und ausführliche Kritik von sich gegeben. Aber er trank den Sekt und kam an zwei Wochenenden hintereinander, um Till mit dem Motor zu helfen und die Teakschränke und Schlingerleisten zu montieren, die Till in der Garage ihres gemieteten Hauses gebaut hatte, eines Hauses, das einen Anstrich, Moskitogitter und Dachrinnen gebraucht hätte, damit der Winterregen sich nicht mehr einfach vom Dach ergoss und jeden durchnässte, der, den Schlüssel in der Hand und zwei große Einkaufstüten in den schmerzenden Armen, vor der Haustür stand. Aber Till hatte keine Lust, das Haus zu reparieren – es gehörte ja nicht ihnen. Die Beverly B. dagegen schon.
Sie war ein schlankes, achteinhalb Meter langes Kajütboot mit Holzrumpf, solide gebaut, mit Teakholzverzierungen und Schotten mit Knebelverschluss, eine echte Schönheit, aber sie hatte während des Krieges, aus dem ihr Besitzer, ein Marinesoldat, nicht zurückgekehrt war, vernachlässigt auf dem Trockenen gelegen. Till entdeckte das Boot am hinteren Ende der Werft, halb von Unkraut überwuchert, machte die still trauernden Eltern des Marinesoldaten ausfindig – ihr Junge war in einem Ölteppich verbrannt, nachdem ein Kamikazepilot während der Schlacht im Golf von Leyte die St. Lo gerammt hatte – und saß, den Hut auf ein Knie gelegt, in ihrem Wohnzimmer, während sie Fotos und Orden betrachteten, die letzten Erinnerungen an ihren toten Sohn. Volle zwei Stunden saß er da, trank lauwarmen Beuteltee, auf dessen Oberfläche sich ein Stück bittere Zitrone langsam um sich selbst drehte, und als er schließlich das Boot erwähnte, starrten sie ihn an, als wäre er gerade aus den Seiten des Familienalbums gekrochen, um in dem abgedunkelten und kaum erleuchteten Wohnzimmer, in dem sie seit undenklichen Zeiten wie Geister lebten, auf den Samtpolstern des Sofas aus Ahornholz Platz zu nehmen. Die Mutter – sie musste in den Fünfzigern sein, stämmig, aber mit den zarten Handgelenken und Knöcheln eines jungen Mädchens und einem von Kummer und Empörung gleichermaßen gezeichneten Gesicht – warf den Kopf in den Nacken und schrie geradezu: »Das alte Ding?« Dann sah sie zu ihrem Mann und senkte die Stimme. »Das wird Roger jetzt auch nicht mehr brauchen, oder?«
Im Verlauf des Herbstes und Winters widmete Till sich der Aufgabe, das Boot wieder flottzumachen. Er sah sich in der Werft und beim Schiffsausrüster um und schraubte an dem Motor herum, bis er so ölverschmiert war, dass Beverly jedem, der es hören wollte, erzählte, er sehe die meiste Zeit aus, als wollte er als Neger in einer dieser Minstrelshows auftreten. Das fand sie witzig: Till als Neger. Und sie erzählte Mrs. Viola im Lebensmittelladen davon und Warren und seiner Freundin Sandra mit dem Mund wie ein Reißverschluss und dem Pullover, der so eng war, dass man die Nähte, Träger und Körbchen ihres BHs deutlich sehen konnte. Gewissenhaft, das war Till. Gewissenhaft, genau und unfehlbar. Er sprach nie darüber, aber er hatte seinem Land den rechten Arm geopfert und war entschlossen, den linken für sich selbst zu behalten. Und für sie. Vor allem für sie.
Er musste lernen, mit dem linken Arm die Arbeit des rechten zu tun. Er stempelte die Fahrscheine auf der Linie zum Santa Monica Boulevard, unter den ungeduldigen Blicken der Passagiere, die sich mit einer Art mürrischer Anerkennung mühten, höflich zu sein. Die tote Hand hielt den Fahrschein, und die neuerdings dominante stempelte ihn ab, und er lernte, seinen Gehaltsscheck mit dieser Hand einmal zu falten und ihr zu überreichen, als wäre er ein Fahrschein, eine Eintrittskarte für ein Fest, zu dem sie, nur sie allein eingeladen war. Spät am Abend, nach dem Essen und dem Radio, ließ er die Linke über ihren nackten Körper gleiten, als wäre sie seit langem darin geübt, und das war in Ordnung, und besser würde es nicht werden, denn er war jetzt Linkshänder und würde es bis zu seinem Tod bleiben. Und als sie die Beverly B. zu Wasser gelassen hatten, war er mit dem Boot so sanft und rücksichtsvoll wie mit ihr im Ehebett, und der rechte Arm schwang steif herum, wenn er mit dem linken am Steuer drehte. Die ersten paar Male entfernte er sich nicht außer Sichtweite des Hafens. Till sagte, er wolle ein Gefühl für das Boot bekommen, es zureiten und hören, was der Chrysler-Doppelmotor zu sagen hatte, wenn er den Gashebel ganz nach vorn schob und zusah, wie die Nadel des Drehzahlmessers auf 2800 UpM kletterte.
Und dann kam jener Freitagnachmittag Ende März, als sie und Till und Warren aus dem Hafen fuhren und Kurs auf die nächstgelegenen der nördlichen Santa-Barbara-Inseln nahmen, auf Anacapa und Santa Cruz, die große Insel jenseits davon, denn dort waren die Fische: jede Menge Lingcod, so lang wie ein Arm, die Abalone konnte man einfach von den Felsen pflücken, und es gab viel mehr davon als Felsen, und die Hummer waren so entgegenkommend, dass sie an der Ankerkette emporkrabbelten und sich in den Kochtopf stürzten. Ein Kollege hatte Till davon erzählt. Nach Catalina konnte jeder fahren – verdammt, es fuhr ja auch jeder dorthin, Tagesausflügler und Wochenendkapitäne und der ganze Rest –, aber wenn man unberührte, freie Natur wollte, musste man von Oxnard oder Santa Barbara zu den nördlicher gelegenen Inseln fahren. Sie hatten die beiden größten Kühlboxen mitgenommen, die sie bei Sears & Roebuck hatte finden können, beide gut gefüllt mit schlanken dunklen Bierflaschen, die, wie Warren ihr versicherte, verschwunden sein würden, wenn sie auf dem Heimweg all die Fischfilets und gekochten Hummer für ein schönes langes Schläfchen zwischen all das Eis betten würde.
»Wir werden genug Fische für eine ganze Woche haben, mindestens für eine Woche«, sagte Till immer wieder. »Und wenn wir sie aufgegessen haben, fahren wir einfach wieder raus und holen uns neue.« Er sah sie an. Er stand am Ruder, das Wetter war schön, vor ihnen lag der irisierende Schimmer des Nachmittagsdunstes über dem Wasser, und hinter ihnen blieb der Hafen zurück. Das Bier in seiner Hand schien ihn kaum zu behindern, und er saß da wie ein Kapitän aus einer Geschichte von Jack London. »Und das«, sagte er, weil er wusste, welche Bedenken sie gehabt hatte, Geld in das Boot zu stecken, »wird unsere Lebensmittelausgaben um die Hälfte senken, mindestens.«
Sie hatte zu Hause Sandwiches gemacht – Leberwurst auf Weißbrot mit viel Senf und Mayonnaise, Schinken auf Roggenbrot und Thunfischsalat –, und als sie sich in die Kajüte setzten und sie mit großen hungrigen Bissen aßen und sich die Kehle mit Bier befeuchteten, so kalt, dass es runterging wie Quellwasser, da war es, als hätten sie die Welt hinter sich gelassen. Nach dem Essen saß sie lange auf dem Achterdeck. Die Luft war frisch und rein, und es war ganz still, bis auf das stete Brummen des Motors, das wie das beständige Arbeiten eines zuverlässigen Herzens klang, des Herzens im Bauch der Beverly B., beruhigend und unermüdlich. Sie sah Delphine, ganze Schwärme, die silbern und hellrosarot durchs Wasser glitten und am Rumpf entlangstrichen, um das elektrische Summen zu spüren. Sie schienen ihr zuzugrinsen, sie willkommen zu heißen, und fühlten sich in ihrem Element so wohl wie sie in dem ihren. Wie war das noch mal – hatte sie es in der Zeitung gelesen oder in Reader’s Digest? Ein Junge war auf seinem Surfboard von einer Strömung aufs Meer hinausgetrieben worden, und dann waren Haie gekommen, aber kurz darauf waren diese grinsenden Delphine aufgetaucht und hatten die Haie vertrieben, denn Delphine waren Säugetiere, Warmblüter im kalten Meer, und sie hassten die Haie, in denen sie kalte Todesboten sahen. Hatten sie das Surfboard des Jungen aus der Strömung und zur Küste geschoben und ihn wie Schutzengel begleitet? Vielleicht. Vielleicht hatten sie das getan.
Die untergehende Sonne versank im Dunst vor ihnen, im Westen – »Im Westen will sie schlafen gehn«, holperte ihr der Kinderreim durch den Kopf. Sie legte die Füße auf die gefirnisste Reling und musterte ihre Zehen. Der Nagellack war abgeblättert, und sie nahm sich vor, neuen aufzutragen, wenn sich die Gelegenheit ergab, morgen früh vielleicht, wenn die Jungs angelten und sie in der Sonne liegen konnte und sich über nichts Gedanken machen musste. Der Motor summte. Dunkel geflügelte Vögel flogen vom Wasser auf, stürzten sich, wie an Gummibändern befestigt, wieder hinab und machten dabei nicht das leiseste Geräusch. Der Wind spielte mit ihrem Haar, sie zündete sich eine Zigarette an und sah durch die frisch geputzten Fenster zu ihrem Mann, der mit leichter Hand das Steuer hielt, während sein Bruder auf der gepolsterten Bank neben ihm saß und redete, immerfort redete, allerdings für sie eher pantomimisch, denn die Tür war geschlossen, und sie verstand kein Wort.
Sie rauchte die Zigarette zu Ende und schnippte die funkensprühende Kippe in den Wind. Es wurde kühl, der Himmel verdunkelte sich und schloss sich über ihnen, als würde einem riesigen Topf ein Deckel aufgelegt. Noch eine Minute, und dann würde sie hineingehen und ihnen zuhören bei ihren Männergesprächen über Gott und die Welt, über die Fische im Meer, über die Vergaser und Spulen und Drehbänke und Lacke und Werkzeuge und Bürsten und Messfühler, die sie zu Männern machten, und sie würde zur Feier des Tages noch eine Flasche Bier trinken, auch wenn sie, ebenfalls zur Feier des Tages, bereits drei getrunken hatte – oder waren es vier gewesen? Genau in dem Augenblick, als sie aufstehen wollte, brach das Meer plötzlich auf wie ein speiender Mund und spuckte ihr etwas entgegen, ein dunkles Geschoss, das auf ihr Gesicht zielte. Sie riss den Kopf zur Seite, und es prallte mit einem vernehmlichen Klatschen an das Fenster der Kajütentür. Beide Männer fuhren herum.
Sie stieß einen Schrei aus. Sie konnte nicht anders. Das Ding lebte, es flutschte vor ihren Füßen herum wie eine Art Fledermaus aus dem Meer, so lang wie ihr Unterarm, und jetzt bebte es und schnellte hoch wie ein Schachtelteufel, fiel wieder zurück und kroch auf Flügeln und Schwanz über das Deck. Flügel? Aber es war doch … es war doch ein Fisch, oder nicht? Doch jetzt war Till da, gefolgt von Warren, und sein Gesicht fand den Mittelweg zwischen Besorgnis und Belustigung. Er trat und stampfte, und dann beugte er sich hinunter, hob das nass glänzende lange Ding auf und hielt es mit seiner gesunden Hand hoch, als wäre es eine Opfergabe. »Herrgott, Bev, hast du mich erschreckt! Du hast so geschrien, dass ich dachte, du wärst über Bord gegangen.«
Warren lachte, und seine Augen funkelten. Das Boot hörte auf zu schaukeln. »Darauf müssen wir anstoßen«, rief er und hob die Bierflasche, die sein ständiger Begleiter war. »Bev hat den ersten Fisch gefangen!«
Sie hatte ihre Angst überwunden. Oder nein, es war keine Angst – sie war keine von diesen hilflosen, ständig heulenden Frauen, die man in Filmen sah. Sie war nur erschrocken, das war alles. Und wer wäre nicht erschrocken angesichts dieses Dings, dessen Rücken bläulichschwarz war und dessen Bauch glänzte wie ein Haufen Silbermünzen und das ohne Vorwarnung wie ein Torpedo auf sie zugeschossen war? »Du lieber Himmel«, sagte sie, »was ist das?«
Till hielt es ihr hin, und sie lächelte jetzt, ja sie lachte beinahe, lachte mit den anderen, doch zugleich wich sie zurück an die Reling, während der Himmel immer dunkler wurde und das Kielwasser schäumte. »Hast du noch nie einen fliegenden Fisch gesehen?« fragte Till. Er schnalzte tadelnd mit der Zunge. »Was glaubst du, wo du bist, Frau?« sagte er und gab ihr einen Rippenstoß. »Du bist hier nicht in der Küche oder im warmen, gemütlichen Wohnzimmer. Du bist in der freien Natur.«
»Darauf trinken wir!« rief Warren. »Auf Bev, die beste Anglerin von allen!« Und er wollte gerade die Flasche zum Mund heben, als sie die Hand auf seinen Arm legte. Ihr Haar flatterte im Wind. »Wenn das so ist«, sagte sie, »wirst du mir wohl noch ein Bier holen müssen.«
Als sie erwachte, hatte sie einen trockenen Mund, und ihr war, als stiege irgendwo hinter ihren Augen eine Art Dunst auf, als wäre ihr Kopf im Schlaf voller Helium gepumpt worden. In der Koje gegenüber, weit vorn im Bug, der sich hob und senkte und dabei sanft auf das Kissen der Wellen schlug, schlief Till, das Gesicht zur Wand gekehrt, die gar keine Wand war, sondern die Beplankung des Schiffsrumpfs, der sie über einen schwarzen Abgrund aus Wasser trug. Unter ihr, tief unten, waren riesige und winzige Wesen: Wale, Ruderfußkrebse, Haie, Sardinen, unzählige Krabben – der Meeresboden wimmelte von den chitingepanzerten Legionen der Krabben, die allem, was ertrunken war, das Fleisch von den Knochen rissen und es in die Miniaturhäcksler ihrer Mäuler stopften. All dies wurde ihr im Augenblick des Erwachens bewusst, und sie war weder verwirrt noch desorientiert: Sie war nicht in dem Doppelbett, das sie noch abzahlten, und auch nicht auf der schmalen Matratze im Gästezimmer ihrer Eltern, wo sie tausend hohl widerhallende Nächte darauf gewartet hatte, dass Till zurückkehrte und sie heimführte. Sie war auf hoher See. Inzwischen war ihr das Schaukeln des Bootes so vertraut, als hätte sie nie etwas anderes gekannt, und sie spürte das gedämpfte Summen des Motors tief in sich, in ihrem Herzschlag und dem Pulsieren ihres Blutes. Auf See. Auf hoher See.
Sie setzte sich auf. Ein Mondstrahl fiel in die Kajüte hinter ihr und zerschnitt den Tisch in zwei Teile. Dahinter war ein Teich voll Schatten, und hinter dem Schatten waren die drei Stufen zum Cockpit und zum grünlichen Schimmer der Instrumente, wo Warren mit seinen Muskelpaketen und dem eingravierten Mund am Ruder saß und sie durch die Nacht steuerte. Sie musste zur Toilette – dringend. Und sie brauchte Wasser, ein Glas Wasser aus dem Wasserhahn in der Toilette, der an den 150-Liter-Tank angeschlossen war. Till hatte so viel Aufhebens darum gemacht, denn auf See durfte man kein Wasser verschwenden – schließlich wusste man ja nie, wann man wieder neues Trinkwasser aufnehmen konnte. Es war soweit gekommen, dass sie sich beinahe scheute, den Hahn zu öffnen, aus Sorge, sie könnte einen einzigen kostbaren Tropfen verschwenden. Wie ging noch mal dieses Gedicht, das sie in der High School gelernt hatte? »Wasser, Wasser überall/ Und nirgends ein Tropfen zu trinken.«
Die Ballade vom Seemann, das war es. Die Ballade vom alten Seemann. Er hatte unbedingt diesen Vogel töten müssen, nicht? Den Albatros. Wie sah ein Albatros eigentlich aus? Groß und weiß, nach der Illustration in dem Buch zu urteilen, das sie in der Bibliothek ausgeliehen hatte. Wie ein Dinosaurier vielleicht, nur nicht so groß. Inzwischen wahrscheinlich ausgestorben. Aber wenn Albatrosse nicht ausgestorben waren und es einem davon einfallen würde, herbeizufliegen und sich auf den Bug des Bootes zu setzen, würde sie nicht im Traum daran denken, ihn zu erschießen. Nein, sie nicht. Erstens hatte sie keine Waffe, und zweitens hätte sie auch gar nicht gewusst, was sie damit machen sollte, aber darum ging es ja gar nicht, oder? Wenn sie aus diesem Gedicht irgend etwas gelernt hatte – und sie konnte die schrille, strenge Stimme von Mr. Parminter, ihrem Englischlehrer in der zwölften Klasse, hören, die aus den Tiefen ihres Unbewussten aufstieg –, dann etwas über die Natur, über ihre Kraft und Größe. Setz dein Glück nicht aufs Spiel. Störe nicht das Gleichgewicht. Lass den Albatros am Leben. Lass überhaupt alle Lebewesen am Leben … außer vielleicht Hummer. Bei dem Gedanken an Mr. Parminter und ihre Schulzeit, die schon ein Jahrhundert zurückzuliegen schien und in der ihr ganzes Leben aus Gedichten und Romanen und Lehrsätzen und Gleichungen bestanden hatte, lächelte sie im Dunkeln. Sie konnte kaum glauben, dass seit ihrem Schulabschluss nur vier Jahre vergangen waren.
Sie schwang die nackten Füße aus der Koje. Der Boden fühlte sich fest an, kühl und ein wenig feucht. Sie trug ein Flanellnachthemd, das bis zu ihren Füßen reichte, auch wenn sie wünschte, sie könnte für Till etwas Durchsichtigeres anziehen – doch das würde warten müssen, bis sie wieder zu Hause in ihrem Schlafzimmer waren. Sie war anständig und sittsam, nicht wie die Frauen, die ihre in Übersee kämpfenden Männer bei der ersten Gelegenheit betrogen hatten, und sie hatte sich einfach nicht wohl dabei gefühlt, Warren auf so beengtem Raum etwas von sich zu zeigen, auch wenn er Tills Bruder war. Sie hatte gesehen, mit welchen Blicken Warren sie manchmal musterte: Sie waren im Grunde kaum anders als die Pfiffe und Rufe und anzüglichen Bemerkungen, die sie hatte erdulden müssen, seit sie in der achten Klasse einen Busen bekommen hatte. Sie machte ihm keine Vorwürfe. Er war eben ein Mann. Er konnte nicht anders. Und sie war zwar stolz auf ihre Figur – die war das Beste an ihr, denn sie würde nie das sein, was man als hübsch bezeichnete, jedenfalls nicht im landläufigen Sinne –, aber sie wollte weder ihn noch irgend jemand sonst auf irgendwelche Gedanken bringen. Sie war eine Frau, die nur einem einzigen Mann gehören wollte, und damit war alles gesagt. Im Gegensatz zu Sandra, die aussah, als hätte sie jede Menge Erfahrung, und vor einer Woche, als sie mit dem Boot nach San Pedro gefahren waren, in einem zweiteiligen Badeanzug herumstolziert war – und dabei war der Wind so kühl gewesen, dass sie am ganzen Körper eine Gänsehaut bekommen hatte und sich bei der Rückkehr in den Hafen in Warrens Jacke hatte wickeln müssen. Immerhin: Sandra hatte diesmal nicht mitkommen können. Sie hatte einen »Auftritt« in Nord-Hollywood, was immer das hieß, aber das war schließlich nicht Beverlys, sondern Warrens Sorge.
Sie schlüpfte in die Toilette, trank ein Glas Wasser und dann noch eins. Ihr war flau. Das letzte Bier war wohl eines zuviel gewesen. Sie fuhr sich mit den Fingern durch das Haar, das schlaff und kraftlos war, obwohl sie es am Morgen gewaschen und gelegt hatte. Genaugenommen gestern morgen. Aber sie war jetzt auf hoher See und würde sich damit abfinden müssen – wie auch Till, der immer erwartete, dass sie adrett und zurechtgemacht war und sich präsentierte wie eine dieser Schauspielerinnen in den Illustrierten. Sie bediente die Handpumpe der Spülung, wusch sich die Hände – wertvolles, kostbares Wasser –, öffnete leise die Tür und schloss sie wieder. Als sie sich in die Koje legte, nahm sie sich vor, ein Kopftuch umzubinden, wenigstens bis sie angekommen waren und sie ein wenig schwimmen konnte – sofern das Wasser warm genug war, natürlich. Dann dachte sie wieder an den alten Seemann und Mr. Parminter, der immer eine Fliege getragen und »Ode an eine griechische Urne« auswendig hatte rezitieren können. Und dann schlief sie ein.
Als sie zum zweitenmal erwachte, war es hell, und Tills Koje war leer. Sie versuchte, sich auf den Boden zu konzentrieren, aber der wollte nicht stillstehen. Eine wütende Faust schien den Rumpf des Bootes mit donnernden Schlägen zu bearbeiten, die die dünne Matratze und die Planken darunter erzittern ließen, und dieses Erbeben setzte sich in ihr fort, bis sie es in der Brust, im Kopf, in den Zähnen spüren konnte. Und obendrein stöhnte und ächzte jede Schraube, jede Mutter, jedes Stück Metall an Bord, und das alles zusammen erzeugte ein beständiges erregtes Summen, als wäre ein Hornissenschwarm in dem Boot gefangen. Und was war das für ein Geruch? Schimmel, versteckte Fäule, die säuerliche Ausdünstung ihres ungewaschenen Körpers. Ohne nachzudenken beugte sie sich über den Eimer, den sie für den Notfall neben die Koje gestellt hatte, und gab alles, was in ihrem Magen war, von sich – der letzte Rest, beißend scharf wie Essig, kam zusammen mit einem langen, zähflüssigen Strom von Speichel. Sie schüttelte den Kopf, um klarer denken zu können, und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Dann stand sie auf und zog ihre Bluejeans und einen Pullover an, Tills Pullover, rauh wie Sackleinen, aber das Wärmste, was sie finden konnte. Wie war es nur so kalt geworden?
Es dauerte eine Weile: Sie saß da und stellte sich trockenes Land vor, einen Strand auf der Insel, einen aus dem Meer ragenden Felsen, irgend etwas, das sich nicht bewegte – erst dann war sie imstande, aufzustehen und zur Kombüse zu gehen. Sie füllte Wasser in den Kaffeebereiter, schüttete Kaffeepulver direkt aus der Dose in den Filter, ohne sich die Mühe zu machen, es abzumessen – sie konnte kaum stehen, geschweige denn irgendwelche kleinlichen Regeln einhalten, und die Männer würden ihren Kaffee ohnehin stark trinken wollen –, und stellte dann alles auf den Gasbrenner. Doch das Ding schwankte und rutschte hin und her, bis sie auf den Gedanken kam, es mit dem großen Gusseisentopf einzukeilen, in dem sie, wenn sie angekommen waren, Fischsuppe kochen wollte. Wenn sie je ankamen. Was war eigentlich passiert? Spielte das Wetter auf einmal verrückt? War es ein Taifun? Oder ein Hurrikan?
Sie sah entsetzlich aus, das wusste sie, und sie musste irgendwas mit ihren Haaren machen, doch sie kämpfte sich die schwankenden Stufen zum Cockpit hinauf und ließ sich dort auf die Couch fallen – oder vielmehr die Bank, die sie in eine Couch umgewandelt hatte, indem sie Schnüre an ein paar alte, karierte Polster aus der Garage ihrer Eltern genäht hatte. Die Fenster waren beschlagen, es war stickig und roch nach Männerschweiß und Schlamm vom Meeresgrund. Till war da und saß ihr gegenüber auf seiner Bank am Steuer, so nah, dass sie ihn mit ausgestrecktem Arm hätte berühren können. Das Steuerrad bockte immer wieder, und er hielt es mit der Linken fest, während er mit der unbeholfenen, steifen Rechten den Gashebel vor- und zurückschob. Warren beugte sich mit grimmigem Gesicht über ihn. Keiner von beiden schien sie bemerkt zu haben.
Erst da wurde ihr bewusst, wie hoch die Wellen waren, die auf sie zurollten – aufragende schwarze, flüssige Vulkane, die das Boot ins Leere fallen ließen, um es gleich darauf wieder hochzureißen, während Wassermassen gegen die Fenster prallten, als wären dort draußen hundert aus allen Schläuchen spritzende Feuerwehrwagen aufgefahren. Es gab auch einen Rhythmus: auf, ab, auf, und jedesmal klatschte Wasser gegen die Scheiben. »Wo sind wir?« hörte sie sich fragen.
Till sah nicht auf. Er war wie erstarrt, nur seine Arme und Schultern bewegten sich. »Keine Ahnung«, sagte Warren und sah über seine Schulter. »Irgendwo zwischen Anacapa und Santa Cruz, aber wer weiß das schon genau bei diesem Sturm?«
»Was wir brauchen«, sagte Till zögernd und mit gepresster Stimme, als wollte er seine Gedanken eigentlich gar nicht laut äußern, »ist ein windgeschützter Ankerplatz.«
»Laut Karte wäre der nächste die Scorpion Bay, aber das –« Es krachte, als wäre das Boot frontal mit einem Lastwagen zusammengestoßen, und Warren mit seinen marinegestählten achtzig Kilo wurde wie ein leerer Sack gegen das Fenster geschleudert. Er rappelte sich auf, drückte den Rücken gegen das Glas und versuchte zu lächeln, was ihm misslang. »Das ist irgendwo vor uns, genau da, wo der Sturm herkommt.«
»Wie weit?«
Warren schüttelte den Kopf und hielt sich an der Stange fest, die an den Wänden des Steuerhauses montiert war. »Vielleicht zwei Meilen, vielleicht auch fünf. Ich kann nichts erkennen – du etwa?«
»Nein. Aber jedenfalls brauchen wir uns keine Sorgen um Untiefen zu machen. Wir haben eine Menge Wasser unter uns. Eine ganze Menge.«
Sie sah nach vorn, wo der Bug sich stampfend senkte, aber dort waren nur Wellen, eine auf dem Rücken der anderen, und sie kamen und kamen und kamen, unendlich und ungeduldig. Wieder wurde ihr übel. Sie dachte, sie müsste sich abermals übergeben, aber es gab nichts mehr, das sie von sich hätte geben können. »Was ist mit dem Wetter los?« fragte sie und musste die Stimme erheben, um den Wind zu übertönen, aber es war eigentlich keine Frage, sondern mehr eine Bitte um Beruhigung. Sie wollte, dass die Männer ihr sagten, dies sei nichts, mit dem sie nicht fertig würden, nur ein kleiner Sturm, der sich bald legen werde, und danach werde die Sonne wieder herauskommen und die Welt bescheinen, und alles werde wieder so schön und friedlich sein wie gestern abend, als die Wellen leise an den Rumpf geschlagen hatten und die Sandwiches und das Bier im reinen Genuss des Augenblicks in ihren Mägen gelandet und dort geblieben waren. Aber keiner antwortete ihr. Sie hatte keine Angst, noch nicht, denn für sie war das alles neu, und sie vertraute Till. Till wusste, was er tat. Er wusste es immer. »Ich hab Kaffee aufgesetzt«, sagte sie, obwohl ihr schon übel wurde, wenn sie nur an den Geruch und Geschmack von Kaffee dachte und an den zähen Film, der an der Innenseite des Bechers haftete. »Was ist, Jungs« – sie musste sich zwingen, die Worte zu sagen –, »wollt ihr auch einen?«
Dann war sie wieder in der Kombüse, schlug sich Ellbogen und Knie an und wurde hin und her geworfen, und als sie die Hand nach der Kaffeekanne ausstreckte, sprang diese wie von selbst vom Herd und verbrühte ihre rechte Hand. Bevor sie so richtig registrierte, was passiert war, lag die Kanne auf dem Boden, der Deckel klappte auf, und dampfendes Kaffeepulver und sechs Tassen schwarzer Kaffee ergossen sich über den Kombüsenboden. Ihr erster Gedanke galt den Planken – der Kaffee würde Flecken machen und sich wie Säure durch den Lack fressen –, und ohne sich um ihre Verbrühung zu kümmern, bückte sie sich, rannte wie eine silberne Flipperkugel von einer Ecke der Kombüse zur anderen und wischte alles mit einem Lappen auf, der im Nu so unerbittlich heiß wurde, dass sie sich die Hand ein zweites Mal verbrühte. Als sie den Boden schließlich so gut es ging saubergewischt hatte, ließ sie sich auf die Bank am Esstisch fallen. Sie war jetzt wütend, wütend auf das Boot und das Meer und die Männer, die sie in diese kleine, beschissene, klappernde, nach Meer stinkende Gefängniszelle geschleppt hatten, und sie schwor, nie mehr mit hinauszufahren, ganz gleich, was sie ihr versprachen. »Es tut mir wirklich leid, aber es gibt keinen Kaffee«, sagte sie laut. »Habt ihr gehört?« rief sie in Richtung der Stufen am Ende der Kombüse. »Keinen Kaffee, kein Frühstück, kein gar nichts. Ich hab die Nase voll!«
Mit einemmal machte sich der glühende Schmerz der Verbrühung bemerkbar und sprang sie unvermittelt und mit bösartigem Stechen und Pochen an. Schon bildeten sich Blasen, die bald platzen würden, und sie wollte aufstehen und Butter auf die gerötete Haut auf dem Handrücken und zwischen den Fingern auftragen, doch sie konnte sich nicht rühren. Sie fühlte sich plötzlich so schwer, schwerer als das Boot, schwerer als das Meer, so schwer, dass sie völlig unbeweglich war. Sie würde hier sitzen, ja, das würde sie tun. Sie würde es aussitzen.
Das war der Augenblick, in dem das Wasser aus dem Bugstauraum drang. Es war der Augenblick, in dem ihre Füße nass wurden und sie Angst bekam. Es war der Augenblick, in dem sie zum erstenmal an die Schwimmwesten unter den Sitzen auf dem von schäumenden Wellen überspülten Achterdeck dachte – und es war der Augenblick, in dem sie, sich am Tisch abstützend, zur Treppe ging und zum Cockpit hinaufblickte und sah, wie ihr Mann und ihr Schwager um das Ruder kämpften, und hörte, wie der Motor stotterte, sich noch einmal fing und dann erstarb. Ihr stockte der Atem. Etwas Wesentliches war mit einemmal abwesend, auf eine Art, die falsch war, ganz und gar falsch, eine Negation all dessen, was sie gewusst und geglaubt hatte, als sie den Hafen hinter sich gelassen hatten. Der Geist war aus der Maschine entflohen.
Dann war sie oben und versuchte, Till und Warren von dem Wasser in der Kajüte zu erzählen, von dem Wasser, das nicht dorthin gehörte und durch den Bugstauraum drang, dessen Luk ebenfalls immer wieder überspült wurde, bevor das Boot das Gewicht der Wellen abschüttelte und abermals eintauchte. Doch Till hörte nicht zu. Till, ihr Fels in der Brandung, der Mann, der die Zerfleischung seines Arms und die feurige Explosion der Granate überlebt hatte, deren Splitter noch immer in seinen Beinen und unter den Narbenkonstellationen auf dem breiten Firmament seines Rückens verborgen waren, saß zusammengesunken, erschöpft und verwirrt am Steuer und drückte verzweifelt immer wieder auf den Knopf des Anlassers. Und Warren kämpfte sich, in eine gelbe Öljacke gehüllt und ununterbrochen fluchend, durch die Tür zum Achterdeck, während der Sturm in die Kajüte fuhr und die ganze sichtbare Welt ihre Festigkeit verlor.
Ungläubig und wütend drehte Till am Steuer, doch das Boot reagierte nicht. Es rollte und taumelte, aus dem Nichts tauchte eine Welle auf und traf es wie eine volle Breitseite, so dass es sich neigte, bis sie dachte, es würde kentern. Vielleicht schrie sie. Vielleicht schrie sie vergeblich, ihr Atem jedenfalls ging schnell und heftig. Sie konnte sich jetzt nur noch festhalten, mit zusammengebissenen Zähnen, während die Gischt über die Kajüte hinwegfegte und Warren, der irgendein Werkzeug in der Hand hatte, das Luk zum Motorraum öffnete – Warren, der aufs Achterdeck gegangen war, um alles zum Guten zu wenden. Aber was sollte er schon tun? Wie konnte irgend jemand in diesem Chaos irgend etwas reparieren?
Er war ein gelber Fleck in einer Welt, die aller Farben beraubt war, eben noch am Luk und im nächsten Augenblick nicht mehr, denn eine große, von achtern überkommende Welle warf ihn gegen die Kajütentür und goss einen halben Ozean in den Motorraum. Till warf ihr einen Blick zu, sein Gesicht war erschöpft und ohne Hoffnung. Warren wurde mit fuchtelnden Armen und keuchend aufgerissenem Mund gegen das Fenster geworfen und tauchte, geradezu unglaublich, aus dem schäumenden Tosen wieder auf – die Öljacke war ihm halb von den Schultern gerissen, untauglich, lächerlich, eine Kinderjacke, ein Puppenjäckchen –, und dann wurde er abermals umgerissen und verschwand. Im nächsten Augenblick sprang Till auf und wandte sich vom Steuer ab, das sich wild hin und her drehte. Alle Lichter im Armaturenbrett leuchteten, die Speigatten wurden überspült, die Bilgepumpe hustete schwächlich. Er packte sie am Handgelenk und zerrte sie hoch, und plötzlich waren sie draußen im Wüten des Sturms, der ihr den Atem nahm, und die nächste Woge türmte sich auf und zwang sie mit einem gewaltigen, eisigen Schlag auf die Knie, und sie war jetzt nicht mehr seekrank, sie war nicht mehr müde und erschöpft und wie betäubt. Alles in ihr, alles, was sie war, schrie in den höchsten Tönen. Sie würden untergehen, alle drei, das war offensichtlich. Sie würden untergehen und sterben und Futter für die Krabben sein.
»Was soll das?« Warren, dem das Haar wie aufgemalt ins Gesicht hing, stand schwankend da und packte Till, als wollte er mit ihm tanzen, doch der schüttelte ihn ab und beugte sich zum Beiboot, um es loszubinden.
»Das ist unsere einzige Chance!« brüllte er, taumelnd und wankend wie ein Betrunkener, in den Sturm. Er riss an den Leinen und zerrte heftig an der Persenning, mit der das Beiboot abgedeckt war.
»Du bist verrückt!« schrie Warren. »Du hast deinen verdammten Verstand verloren!« Auch er taumelte und versuchte, das Gleichgewicht zu bewahren, und ihr ging es nicht anders. Sie war hilflos, und die Wellen drangen von allen Seiten auf sie ein. Das Boot hob und senkte sich leblos unter ihren Füßen. »Bei diesem Sturm überstehen wir keine fünf Minuten in dem Ding!«
Aber da war das Beiboot, losgebunden und im Wasser, und sie saßen darin. Warren nahm die Ruder, und keiner dachte an die Schwimmwesten, denn diese waren zwar ganz neu und praktisch und versprachen, Männer, Frauen und Kinder beliebig lange an der Oberfläche des stürmischsten Meeres zu halten, doch sie waren ordentlich unter der Bank auf dem Achterdeck der Beverly B. verstaut, und die Beverly B. lief voll. Sie machte keine Fahrt. Sie ging unter.
Schwerfällig wie ein mit Wasser vollgesogener Baumstamm in einem angeschwollenen Fluss trieb das Boot davon. Sie hatten den Rumpf weiß lackiert, als Kontrast zum braunen Holz des Decks und der Aufbauten – es war ein kaltes, reines, makelloses Weiß, das Weiß von Bettlaken und Nelken, das gespenstische Weiß eines Negativs, von dem es nie einen Abzug geben würde. Ungehindert donnerten die Wellen gegen die Fenster, und dann war das Glas verschwunden, die Beverly B. schaukelte müde, tauchte ein und kam noch einmal hoch. Die Decks waren jetzt unter Wasser, nur das Dach der Kajüte schimmerte bleich im trüben Licht der Morgendämmerung, und die Gischt wehte im Sturm wie ein Leichentuch.
Beverly sah es, sie saß durchnässt, zitternd, zusammengesunken im Bug des Beiboots. Till war neben ihr, aber sie klammerte sich nicht an ihn, ganz und gar nicht, denn sie war zu sehr erfüllt von dem Bedürfnis, all dies hinter sich zu lassen, von hier fortzukommen, an Land. Sie empfand kein Bedauern. Sollte das Meer doch das Boot haben und all die Zeit und das Geld, die sie hineingesteckt hatten, solange es sie nur verschonte, solange es dort draußen, im Zwielicht, diese Insel gab und sie ihnen mit aufschäumender Gischt und schwarzblutenden Felsen entgegenkam. Sie ritten über zwei Wellen, drei, in die Höhe, und jetzt war es eine wilde Fahrt, viel wilder als alles, was ein Vergnügungspark wagen würde anzubieten, und mit einemmal waren sie in einer tiefen Grube mit Wänden aus aquamarinblauem Glas, und alles schien für einen einzigen schimmernden Moment innezuhalten, bevor die Wände über ihnen zusammenstürzten. Sie spürte das Gewicht, die Gewalt des Wassers, und plötzlich schwamm sie, die Kälte hatte sie im Griff, und instinktiv kehrte sie dem Dingi den Rücken und schwamm zurück zur Beverly B., in der Hoffnung, dort etwas zu finden, an dem sie sich festklammern konnte – und dort war das Boot, es hob und senkte sich und sie mit ihm. Der Wind blies ihr in die Augen. Das Salzwasser brannte in ihrer Kehle.
Sie sah Warren nicht, konnte ihn nirgends entdecken, aber dann wirbelte eine Welle sie herum, und er hätte überall sein können. Und Till – sie hatte ihn auf sich zuschwimmen sehen, sein unversehrter Arm hatte im schwarzen Wasser gerudert, bis er aufgehört hatte zu schwimmen. Wo war er? Die Wellen türmten sich zu Barrikaden auf, und sie konnte nichts sehen. Er rief nach ihr, dessen war sie sicher, sie hörte den ganz leisen Widerhall einer dünnen, brüchigen Stimme, Tills Stimme, vom Sturm verweht, bis sie schließlich verstummte. »Wo bist du?« rief sie. »Till? Till?«
Die Wellen nahmen ihr den Atem. Ihre Glieder schmerzten, ihre Zähne klapperten. Zeit verging – sie wusste nicht, wieviel –, doch alles blieb, wie es war. Sie klammerte sich an das stampfende Wrack der Beverly B., weil es das einzige war, was es gab. Irgendwann tauchte sie unter, um die Tennisschuhe, die sie behinderten, abzustreifen und der Tiefe zu übergeben. Dann zog sie die Bluejeans aus, deren Beine schwer wie Blei waren.
Als die Beverly B. schließlich von einer Woge, so groß wie ein Kontinent, emporgeschleudert wurde und versank, befreite sie sich mit aller Kraft aus dem Strudel und trat Wasser. Die Wellen hoben sie auf und ab, auf und ab. Sie war allein. Verlassen. Das Boot war verschwunden. Till war verschwunden und Warren ebenfalls. Sie spürte in sich etwas flattern, als hätte es Flügel: Es war die Panik, die sie unvermittelt zu einigen wilden Schwimmzügen antrieb und sich ebenso unvermittelt legte, und dann trat sie wieder Wasser und fuhr für eine Ewigkeit fort, Wasser zu treten, bis die Kräfte sie verließen. Tills Pullover zerrte an ihr. Er war zu groß, zu schwer, und er gab ihr nichts, keine Wärme, keinen Trost, keinen Till, nicht seine Stärke, nicht seinen Geruch. Sie schlüpfte heraus, holte tief Luft und ließ ihn versinken wie das Exoskelett eines ganz neuen Wesens, erschaffen aus Wasser und Salz und der alles durchdringenden Kälte.
Sie versuchte, sich auf dem Rücken treiben zu lassen, doch der Wind blies ihr Wasser in Nase und Mund, so dass sie sich keuchend und spuckend umdrehen musste. War sie abgetrieben worden? Ertrank sie? Gab sie auf? Sie kämpfte mit erschöpften Armen und Beinen gegen die Angst an. Nach einer Weile verlor sie alles Gefühl in den Gliedern und ging unter, doch die Luft in ihrer Lunge brachte sie an die Oberfläche zurück, einmal, zweimal, noch einmal. Sie suchte nach etwas, an dem sie sich festhalten konnte, nach irgend etwas, irgend etwas Festem, doch es gab nichts Festes in diesem flüssigen Medium, in dem Delphine grinsten und fliegende Fische zum Flug ansetzten und Haie herumschwammen, wie es ihnen beliebte.
Und Till? Wo war Till? Er hätte neben ihr sein können, drei Meter entfernt – sie hätte es nicht gemerkt. Sie schloss die Augen, holte Luft, ließ sich sinken und stieg wieder auf. Noch einmal. Schaffte sie es noch einmal? Sie hatte nie Verzweiflung kennengelernt, doch jetzt spürte sie sie, kälter als das Wasser: Sie kroch stumpf von den Füßen empor, in die Knöchel, die Beine, den Rumpf, sie überwältigte sie und ergriff Stück für Stück Besitz von ihr. Wasser, Wasser überall. Gerade als sie aufgeben wollte, als sie sich öffnen, weit öffnen und sich der beharrlichen, unnachgiebigen, gnadenlosen Kraft überlassen wollte, damit diese sie hinabzog, wo die Wellen sie nie mehr erreichen würden, gab das Meer ihr etwas zurück: eine Kiste, eine schwere Kühlbox, die tief im Wasser lag. Ein silbriges Ding, so silbrig wie der Bauch eines Fisches. Sears & Roebuck. Lebenslange Garantie. Sie packte es, und auch wenn sie nicht darauf klettern konnte, war es doch da und gab ihr Halt, während der Sturm peitschte und aus dem Zwielicht am Horizont die Sonne erschien, um ihre Lippen auszutrocknen und die straff sitzende Maske ihres zum Himmel gewandten Gesichts zu verbrennen.

RATTUS RATTUS

Sie war in ihrem ganzen Leben noch nie so durstig gewesen. Sie hatte Durst nie gekannt, hatte nie gewusst, was es wirklich bedeutete, durstig zu sein, wenn sie in einer Zeitschrift von Beduinen gelesen hatte, die von ihren Kamelen gefallen waren, von Kamelen, die unter ihren Reitern zusammengebrochen waren, von amerikanischen Soldaten, die in den Dünen Nordafrikas, wo Wasser nichts weiter war als eine Luftspiegelung, den Gerüchten über Rommels Panzer nachgegangen waren, denn sie war in einem Haus mit fließendem Wasser aufgewachsen, wo das Gras morgens nass vom Tau gewesen war und man in einem Schnellimbiss oder am Automaten in der Tankstelle nebenan jederzeit eine Cola kriegen konnte. Wenn sie durstig war, trank sie etwas. So einfach war das.
Jetzt wusste sie es. Jetzt wusste sie, wie es war, wenn man nichts zu trinken hatte, wenn Klauen sich in die Kehle bohrten, wenn die Zunge pelzig und geschwollen im Grab des Mundes lag und man kaum noch schlucken oder atmen konnte. In der Kühlbox war Eis – und Bier, kaltes Bier, die Flaschen klirrten im Rhythmus der Wellen –, doch sie wagte es nicht, den Deckel zu öffnen, nicht einmal für einen Augenblick. Die Luft darin hielt sie über Wasser, und wenn sie den Deckel öffnete, würde die Luft entweichen, und was würde dann aus ihr werden? Die Flaschen klirrten. Ihre Kehle war geschwollen. Die Sonne brannte auf ihr Gesicht. Doch dies war eine besondere Folter, für sie allein erdacht, schlimmer als alles, was der sadistischste japanische Kommandant hätte anordnen können, und sie fragte sich immer wieder, was sie getan hatte, um dies zu verdienen: Das Eis, das Bier, die herrliche, kalte, schäumende blassgoldene Flüssigkeit in der von Kondenswasser glänzenden Flasche war nur Zentimeter entfernt, und sie war dabei zu verdursten.
Bei dem Gedanken daran schluckte sie unwillkürlich, dabei war ihre Kehle so wund wie damals, als sie als kleines Mädchen eine Mandelentzündung gehabt hatte: Sie hatte sich vor Schmerzen im Bett hin und her gewälzt, die Jalousien waren zugezogen gewesen, der steif gestärkte Bettbezug hatte gescheuert, und dann war ihre Mutter gekommen wie ein barmherziger Engel und hatte ihr Ginger Ale in einem großen, kalten Glas gebracht und Scherbet und Weingummi und Eiswürfel aus gefrorenem Traubensaft, die sie zwischen den Zähnen halten und auf der Zunge zergehen lassen konnte, bis sie sich aufgelöst hatten. Die Hand ihrer Mutter kam näher, sie sah sie vor sich, vor dem Hintergrund der Wellen, sie sah das Gesicht ihrer Mutter und das beschlagene Glas in ihrer Hand. Es war unerträglich. Sie gab nach und benetzte die Lippen mit Meerwasser, obwohl sie wusste, dass sie das nicht tun sollte, dass es falsch war und alles nur noch schlimmer machen würde, doch sie konnte nichts dagegen tun, und ihre Zunge streckte sich und leckte das Wasser, als gehörte sie nicht ihr. Die Erleichterung war sofort spürbar und durchpulste sie wie eine Droge: Wasser floss in ihren Körper. Aber dann, fast gleich darauf, schwoll ihr die Kehle zu, und ihre aufgesprungenen Lippen begannen zu bluten.
Blut. Das war das zweite Problem. Beide Ellbogen waren aufgeschürft, und auf dem Rücken der linken Hand, die nicht vom Kaffee verbrüht worden war, klaffte ein unregelmäßiger Riss. Woher er stammte, wusste sie nicht, und die Kälte machte sie so gefühllos, dass sie den Schmerz nicht spürte. Es war klar, dass die Wunde würde genäht werden müssen und eine Narbe zurückbleiben würde, und sie hatte den Riss schon seit einer Weile immer wieder betrachtet und daran gedacht, dass sie nach ihrer Rückkehr zu einem Arzt gehen würde, ja sie hatte sich bereits überlegt, was sie zu ihm sagen würde, nämlich dass sie einen erstklassigen Arzt wolle, denn sie wolle unter keinen Umständen eine entstellende Narbe, nicht in ihrem Alter. Doch hier und jetzt blutete sie, und jede Welle wusch die Wunde aufs neue aus und schwemmte etwas rosarote Flüssigkeit heraus, die sich sofort im Wasser verteilte. Diese Flüssigkeit war Blut. Und Blut lockte Haie an.
Wieder ein Anfall von Panik. Ihre Beine hingen im Wasser wie Köder, wie eine Provokation, und sie konnte sie nicht sehen und kaum spüren. Wenn Haie kamen – sofern sie kamen –, würde sie sich nicht verteidigen können. Sie war in einem kindlichen Alptraum gefangen, einem uralten Traum aus der Zeit, als es noch kein Land gegeben hatte, als alle Wesen, die es gab, im Wasser geschwommen waren, mitten unter den Tieren mit den scharfen Zähnen, die sie auffraßen. Sie versuchte, ihre verletzte Hand über Wasser zu halten, versuchte, nicht an das zu denken, was sich unter ihr, hinter ihr befand, was vielleicht gerade jetzt langsam, träge aus den Tiefen emporschwebte wie ein Ballon, der langsam über den Abendhimmel trieb. Doch sie musste denken. Sie musste sich angst machen, um am Leben zu bleiben.
Seit sie auf die Kühlbox gestoßen war, hatte sie sich auf verschiedene Weisen daran festgehalten: Sie hatte sich wie ein Reiter darauf gesetzt und sie zwischen die Beine geklemmt, hatte sie tief unter Wasser gedrückt, sich mit den Füßen darauf gestellt und auf dieser schwankenden Unterlage gehockt, hatte sich, den Rücken gekrümmt und die Beine weit gespreizt, um das Gleichgewicht zu bewahren, auf den Deckel gelegt, so dass dieser zwischen ihren Brüsten und dem Unterleib eingeklemmt war. Jetzt versuchte sie, sich mit dem ganzen Gewicht darauf zu knien, als würde sie beten – und sie betete, o ja, sie betete –, und sie mühte sich, die verletzte Hand über Wasser zu halten und wie ein Artist auf dem Hochseil zu balancieren, doch die Wellen ließen es nicht zu. Immer wieder rutschte sie herunter, so dass die Box sich von ihr entfernte und sie einige Schwimmzüge machen musste, um sich mit weißglühender Angst daran festzuhalten, und dabei konnte sie an nichts anderes denken als an die lautlos dahingleitende Gestalt, die aus der Tiefe heranschoss, um sie mit einem Korb aus Zähnen zu packen.
Sie hatte nur einmal einen Hai gesehen. Es war auf der Pier von Santa Monica gewesen, kurz nachdem Till aus dem Krieg zurückgekehrt war. Sie waren untergehakt stundenlang am Strand entlang und dann bis zum äußersten Ende der Pier gegangen; die nackten, hellen Bohlen hatten unter ihren Schritten leicht gefedert, und die Meeresbrise war herrlich kühl gewesen. Sie hatte sich so lebendig gefühlt, so in Anspruch genommen von Till und seiner Verwandlung aus etwas Erinnertem in etwas tatsächlich Vorhandenes aus Fleisch und Blut, in die Hand, die er um ihre Taille gelegt hatte, in die Stimme, die ihr etwas ins Ohr flüsterte, dass winzige Kleinigkeiten ihr erregend neu erschienen, als wären sie noch nie zuvor von jemandem bemerkt worden. Ein Pappbecher voller Zuckerwatte, so leuchtend rosarot, dass sie nicht von dieser Welt zu sein schien, kam ihr so seltsam vor, als hätten Marsmenschen ihn überbracht. Ebenso der tätowierte Mann, der sich in der Hoffnung auf ein paar Münzen nur mit einer Badehose bekleidet präsentierte, und die achtzigjährige Schönheitskönigin in ihrem zweiteiligen Badeanzug und sogar der Burger mit Zwiebelringen und reichlich Ketchup, den sie im Stehen unter der sonnenbeschienenen Markise des Standes am Fuß der Pier verzehrten, schmeckte besser als jeder, den sie je gegessen hatte. Ihre Füße schienen den Boden gar nicht zu berühren. Sie beide waren da, sie und Till, und sie schlenderten dahin wie irgendein ganz normales Paar. Sie konnten nach Hause und ins Bett gehen, wann immer sie die Lust dazu überkam, sie konnten sich in irgendeiner dunklen Kneipe Highballs bestellen, sich in eine Ecke setzen und der Jukebox zuhören, sie konnten langsam und gemütlich den Ocean Boulevard entlangfahren, mit heruntergekurbelten Fenstern, so dass der Wind mit ihren Haaren spielen konnte. Ihr Traum war wahr geworden. Doch dann, mitten in diesem Traum, war da der Hai.
Am Ende der Pier stand eine Menschenmenge, und aus Neugier schlenderten sie hin. Erwachsene reckten die Hälse, Kinder drängten sich durch die Menge, um besser sehen zu können, und da war er, eine weitere Neuigkeit, der erste echte Hai, den sie je zu Gesicht bekommen hatte. Er war, noch tropfend, mit einem dicken Strick am Schwanz aufgehängt, die Schnauze hing nur Zentimeter über den ausgebleichten Bohlen der Pier. Der Angler, der ihn gefangen hatte – ein Neger, und auch dies war etwas Neues: ein Neger, der auf der Pier von Santa Monica angelte –, stand links daneben, während sein Freund, ebenfalls ein Neger, mit einer Boxkamera ein Foto machte. »Nicht bewegen jetzt«, sagte er. »Und lächeln. Na los, lächel doch mal.«
Eine Frau neben Beverly machte ein kehliges Geräusch, aus dem eine Mischung aus Abscheu und Faszination sprach. »Was ist das?« fragte sie. »Ein Schwertfisch?«
Der Angler lächelte breit, und die Kamera klickte. »Sehen Sie vielleicht irgendwo ein Schwert?« fragte er rhetorisch. »Ich nicht.«
»Das ist ein Delphin«, sagte jemand.
»Das ist kein Delphin«, entgegnete der Angler, der sich köstlich amüsierte. »Und auch kein Thunfisch.« Er beugte sich zum Kopf des Tiers, zu den Kiemenschlitzen und dem starrenden Auge, packte die leblose Schnauze und zog sie hoch. »Sehen Sie die Zähne?«
Und da waren sie, plötzlich enthüllt, eine ganze Landschaft aus hintereinander angeordneten, gezackten Zähnen, die sich in der Terra incognita des dunklen Schlundes verlor, und ihr wurde bewusst, dass dies ein Hai war, die Geißel der sieben Meere, das einzige Tier, das alle anderen fraß, das in einer Explosion von Schaum an die Oberfläche kam, um einen Seelöwen zu packen oder einen Surfer zu verstümmeln und am Strand von La Jolla oder Redondo für Schlagzeilen zu sorgen, die schon eine Woche später wieder vergessen waren.
»Wissen Sie, was das ist, was Sie hier sehen? Ein weißer Hai, zwei Meter fünfunddreißig lang, ein richtig übles Vieh. Und der hier ist kaum mehr als ein Baby. Verdammt, die sind bei der Geburt ja schon eins fünfzig lang.«
Die Menge drängte näher. Tills Augen leuchteten. Das war etwas, das ihm gefiel, etwas für Männer – ein richtig übles Vieh. Es gab nur noch eine Frage, und sie hörte ihre Stimme zittern, als sie sie stellte: »Wo haben Sie den gefangen?«
Eine Pause. Ein Lächeln. Ein weiteres Klicken der Kamera. »Na, hier, am Ende der Pier.«
Der Anblick verfolgte sie noch lange. Sie fragte Till, wie das sein könne – der Mann hatte gesagt, er habe den Hai am Ende der Pier gefangen, genau dort, wo sie schon als kleines Mädchen immer geschwommen war –, und er versuchte sie zu beruhigen. »Ich schätze, die können überall auftauchen«, sagte er, »aber hier sind sie selten. Richtig selten.« Er drückte sie an sich. »Eigentlich sind sie dort draußen« – er zeigte auf die Nebelbank, die sich über den Horizont senkte – »bei den Inseln.«
Man konnte von Haien gefressen werden. Man konnte verdursten. Man konnte an Unterkühlung sterben. Sie trug nur noch den Slip und den BH, sie war praktisch nackt, und das Wasser saugte ununterbrochen die Wärme aus ihrem Körper. Sie klammerte sich zitternd an die Kühlbox und spürte, wie der Lebenswille sie verließ. Sollen die Haie doch kommen, dachte sie, träumte sie, denn die Kälte lullte sie ein, bis sie wie der Mann in dieser anderen Geschichte von Jack London war, der Mann, der sich hinlegte und starb, weil er es nicht schaffte, ein Feuer zu entzünden. Auch sie konnte kein Feuer entzünden, denn Wasser brannte nicht, und sie befand sich in einer Welt, in der es nichts gab außer Wasser.
Sie erwachte spuckend und würgend – in ihrer Kehle steckte eine kalte Faust. Sie hustete, keuchte, schnaufte, und die Heftigkeit, mit der sie das tat, holte sie wieder zurück. Sonne, Meer, Wind, Wellen. Sonne. Meer. Wind. Wellen. Die Kühlbox schaukelte, und sie schaukelte mit. Dann war unvermittelt noch etwas anderes da, etwas Neues, Lebendiges, das die Wasseroberfläche mit einer wilden, kochenden, vernichtenden Plötzlichkeit durchbrach: der Hai, der gekommen war, um ein Ende zu machen. Sie schloss die Augen und wandte das Gesicht ab. Sie zog die Beine nicht an, denn was für einen Sinn hätte das gehabt? Der Augenblick rückte näher, der erste reißende Schock der Zähne. Trauer breitete sich in ihr aus wie eine Schliere im Wasser, Trauer um Till, um ihre Eltern, um alles, was hätte sein können … doch der Augenblick ging vorüber und auch der Augenblick danach, und sie war noch immer da, sie war noch immer unversehrt und schaukelte mit der Kühlbox.
Das nächste Platschen war näher. Sie zwang sich, die Augen zu öffnen, und versuchte, trotz der geschwollenen Lider etwas zu erkennen. Ihre Pupillen brannten. In ihren Ohren rauschte das Blut. Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, dass dies kein Hai, ja nicht einmal ein Fisch war – Fische hatten keine Hundegesichter oder Schnurrhaare oder Augen, so rund und dunkel glänzend wie die eines Menschen. Sie starrte verblüfft in diese Augen, bis sie im Wasser versanken, und dann sah sie jenseits des wirbelnden Schaums die sonnenbeschienene Felswand, die im Dunst über ihr aufragte.
Anacapa ist die kleinste der vier Inseln, aus denen der Archipel der nördlichen Santa-Barbara-Inseln besteht. Sie ist dem Festland am nächsten – von ihrem östlichen Ende bis zum Hafen von Oxnard sind es kaum zwanzig Kilometer – und erstreckt sich, von Arch Rock im Osten bis Rat Point im Westen, parallel zur Küste. Geologisch ist sie ein Ausläufer der Santa-Monica-Berge. Genaugenommen handelt es sich nicht um eine, sondern um drei Inseln, die nur bei extremer Ebbe miteinander verbunden sind. Anacapa ist vulkanischen Ursprungs und besteht hauptsächlich aus Basalt aus dem Miozän. Alle drei Inseln sind vom Meer aus weitgehend unzugänglich: Steil aufragende Klippen wechseln sich ab mit Stränden, auf denen die von den Wellen aus den Felsen gebrochenen Steine dunkel schimmern. Aus der Luft sieht das schmale, gewundene Band der Inseln aus wie der Rücken einer Seeschlange: Auf dem Kamm zeichnen sich ihre Wirbel ab, sie hat die Klauen ausgefahren und das Maul aufgerissen, und ihr Schwanz peitscht das Meer. Seevögel nisten auf den Klippen und der dahinter liegenden Hochfläche – unter anderem Lummenalke, Kalifornische Braunpelikane und Pinselscharben –, und in den Buchten lärmen Seelöwen. Die jährliche Niederschlagsmenge beträgt weniger als dreißig Zentimeter. Es gibt keine Süßwasserquellen.
Das alles wusste Beverly nicht. Sie wusste nicht, dass es sich bei dem aufragenden Felsen um Anacapa handelte und sie beinahe zehn Kilometer weit getrieben war. Sie wusste nur, dass Felsen, im Gegensatz zu Wasser, Halt boten, und schwamm mit letzter Kraft darauf zu. Zweimal ging sie unter und kam keuchend wieder hoch, und in den Wellen, die ringsumher donnerten, konnte sie sich nur an die Kühlbox klammern. Mit einemmal war sie in der Brandung, die Box wurde ihr entrissen und war plötzlich verschwunden, und ihr blieb nichts anderes übrig, als die Augen zusammenzukneifen, die Arme auszustrecken und sich von den Wellen tragen zu lassen, bis diese sie wie ein Wrack gegen den Fuß der Klippe warfen. Steine rollten unter ihren Knien und den verzweifelt tastenden Händen, sie wurde so heftig zur Seite geworfen, dass ihr die Luft wegblieb, doch dann berührten ihre Finger etwas anderes: Sand, ein kleines, aus den Felsen gewaschenes Stück Strand. Es war kaum mehr als ein halbkreisförmiges Fleckchen, über dem das anbrandende Wasser schäumte wie in einer Waschmaschine, aber es war greifbar und gab ihr Halt, und als die Welle zurückwich, stand sie auf festem Boden. Sie hätte vielleicht Erleichterung empfunden, doch dazu war keine Gelegenheit. Sie zitterte. Sie war tropfnass. Sie taumelte. Und die nächste Welle kam bereits auf sie zu.