Grand Hotel Abgrund - Stuart Jeffries - E-Book

Grand Hotel Abgrund E-Book

Stuart Jeffries

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Beschreibung

Sie überlebten zwei Weltkriege, erlebten den Rassismus, flohen vor dem Nationalsozialismus. Sie entgingen dem Holocaust und überlebten eine Odyssee. Adorno und Horkheimer hatten den Mut, nach dem Krieg aus dem amerikanischen Exil nach Deutschland zurückzukommen, um eine andere, humanere Gesellschaft aufzubauen. Sie waren großbürgerlich, gebildet und elitär – allen voran ihr Papst, Theodor W. Adorno, und ihr Finanz- und Außenminister, Max Horkheimer. Stuart Jeffries entwirft eine vielschichtige Biographie der Frankfurter Schule, die sich mitten im Zeitalter der Extreme des 20. Jahrhundert ereignet. Mitreißend schildert er, wie Mitte der 20er bis Ende der 60er Jahre ihre gesellschaftlichen Utopien entstehen. Kritisch beobachtet Jeffries, wie die 68er-Bewegung aus der Frankfurter Schule hervorgeht und sich etliche 68er zur Gewalt bekennen. Ironisch hält er fest, wie auch diese Rebellion scheitert und vermerkt bitter, dass die "Schule" geschlossen wird. Und dennoch stellte die Frankfurter Schule fast alles vom Kopf auf die Füße: Entschieden wehrten sie sich gegen die Seilschaften alter Nazis und äußerten sich über Jahrzehnte hinweg unmissverständlich gegen Populismus, rechte Ideologie, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Kapitalismus, Beherrschung von Natur und Mensch. Die deutsche Gesellschaft ist seither eine ganz andere: freier, offener, (selbst-)kritischer. "Eine fesselnde Geschichte des Lebens und der wichtigsten Ideen der führenden Denker der Frankfurter Schule." New York Review of Books "Eine leicht zugängliche, unterhaltsame Geschichte von einer der beeindruckenderen intellektuellen Bewegungen des 20. Jahrhunderts." Owen Hatherley, The Guardian

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Seitenzahl: 839

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Stuart Jeffries

Grand Hotel Abgrund

Die Frankfurter Schule und ihre Zeit

Aus dem Englischen übersetztvon Susanne Held

Klett-Cotta

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Grand Hotel Abyss. The Lives of the Frankfurt School« im Verlag Verso (Imprint »New Left Books)

© Stuart Jeffries 2016

Für die deutsche Ausgabe

© 2019 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

unter Verwendung mehrerer Fotos von © akg-images/picture-alliance/dpa (Jürgen Habermas, Herbert Marcuse), akg-images (Erich Fromm, Theodor Adorno, Max Horkheimer), shutterstock (Haus)

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96431-8

E-Book: ISBN 978-3-608-19172-1

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort Gegen den Strom

TEIL I

1900–1920

Verfassung: Kritisch

Väter und Söhne und andere Konflikte

TEIL II

Die 1920er Jahre

Die Welt steht Kopf

Ein Stück des Anderen

TEIL III

Die 1930er Jahre

Show Us the Way to the Next Whiskey Bar

Die Macht des negativen Denkens

Im Rachen des Krokodils

Modernismus und All that Jazz

Eine neue Welt

TEIL IV

Die 1940er Jahre

10 

Die Strasse nach Port Bou

11 

Im Bund mit dem Teufel

12 

Der Kampf gegen den Faschismus

TEIL V

Die 1950er Jahre

13 

Die Gespenstersonate

14 

Die Befreiung des Eros

TEIL VI

Die 1960er Jahre

15 

An die Wand, Motherfuckers

16 

Philosophieren mit Molotowcocktails

TEIL VII

Abschied vom Abgrund

17 

Die Frankfurter Spinne

18 

Verzehrende Leidenschaften

Anhang

Anmerkungen

Personen- und Ortsregister

Für Juliet und Kay

Vorwort Gegen den Strom

Kurz vor seinem Tod äußerte Theodor Adorno(1) gegenüber einem Journalisten: »Ich habe ein theoretisches Denkmodell aufgestellt. Wie konnte ich ahnen, dass Leute es mit Molotow-Cocktails verwirklichen wollen?«[1] Für viele bestand eben darin das Problem mit der Frankfurter Schule: Ihre Vertreter ließen sich nie auf revolutionäres Handeln ein. »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern«, schrieb Karl Marx(1).[2] Die Denker der Frankfurter Schule jedoch stellten diese elfte These über Feuerbach(1) von Karl Marx(2) auf den Kopf.

Seit seiner Gründung im Jahr 1923 hielt sich das marxistische(3) Forschungsinstitut, das später unter dem Namen »Frankfurter Schule« bekannt wurde, abseits von jeglicher Parteipolitik und kultivierte eine deutliche Skepsis gegenüber politischen Kämpfen. Seine führenden Köpfe – Theodor Adorno(2), Max Horkheimer(1), Herbert Marcuse(1), Erich Fromm(1), Friedrich Pollock(1), Franz Neumann(1) und Jürgen Habermas(1) – kritisierten virtuos die Schändlichkeit des Faschismus und den sozial vernichtenden, geistig erdrückenden Einfluss des Kapitalismus auf die Gesellschaften des Westens, doch ihre Bereitschaft, das zu verändern, was sie kritisierten, blieb weit hinter dieser theoretischen Virtuosität zurück.

Die eklatante Verkehrung von Marx’(4) Denken durch die Frankfurter Schule verärgerte andere Marxisten(5) zutiefst. Der Philosoph Georg Lukács(1) warf Adorno(3) und anderen Mitgliedern der Frankfurter Schule einmal vor, sie würden in einem Etablissement residieren, das er als »Grand Hotel Abgrund« bezeichnete. Dieses schöne Hotel sei, so schrieb er, »mit allem Komfort ausgestattet – am Rande des Abgrunds, des Nichts, der Absurdität(2)«. Zu den früheren Bewohnern gehörte aus Lukács’ Sicht unter anderem auch der pessimistische Frankfurter Philosoph Arthur Schopenhauer(1), in dessen Werk das Leiden an der Welt aus sicherem Abstand ein fester Bestandteil sei: »Der tägliche Anblick des Abgrunds, zwischen behaglich genossenen Mahlzeiten oder Kunstproduktionen, kann die Freude an diesem raffinierten Komfort nur erhöhen«(2), kommentierte Georg Lukács sarkastisch.[3]

Lukács(3) war der Meinung, die Denker der Frankfurter Schule seien keinen Deut besser. Wie vor ihnen schon Schopenhauer(3) so hätten auch die kürzlich eingetroffenen Gäste des Grand Hotels Abgrund ein perverses Vergnügen am Leiden – in ihrem Fall handelte es sich um das Leiden angesichts des Monopolkapitalismus, der, während sie sich über die Brüstung der Terrasse lehnten, tief unter ihnen den menschlichen Geist zerrüttete. Für Lukács(4) hatte die Frankfurter Schule die notwendige Verbindung von Theorie und Praxis aufgegeben, wobei letztere die Umsetzung ersterer in Handlung bedeutete. Beide waren nur zu rechtfertigen, wenn sie miteinander verbunden waren, wenn eines das andere in einer dialektischen Beziehung verstärkte. Sonst, so Lukács(5), verkomme die Theorie zu einer elitären Interpretationsübung – was bis zum Auftreten von Karl Marx(6) sämtliche Philosophien gewesen seien.

Als Adorno(4) seine Bemerkung über Molotowcocktails machte, bezog er sich auf den Rückzug der Frankfurter Schule auf die Theorie, der sich zu einer Zeit vollzog, da viele im Umfeld Adornos und seiner Kollegen zum Handeln aufriefen. Die Studentenbewegung und die Neue Linke hatten den Höhepunkt ihrer Wirkmacht erreicht, und viele waren – fälschlich, wie sich herausstellte – überzeugt, dass eben dank einer solchen Praxis ein radikaler politischer Wandel unmittelbar bevorstehe. Die damalige Zeit war politisch äußerst turbulent. Überall zwischen Berkeley(1) und Berlin(1) revoltierten die Studierenden; beim Parteitag der Demokraten in Chicago(1) waren gegen den Vietnamkrieg Protestierende von der Polizei attackiert worden; und erst kürzlich waren sowjetische Panzer nach Prag gerollt, um das tschechoslowakische Experiment eines »Sozialismus mit menschlichem Gesicht« zunichtezumachen.

Adorno(5) selbst, dieser – wie er selbst zugab – dickliche, 65-jährige Professor, die prominenteste Gestalt der Frankfurter Schule in Deutschland(1), wurde an der Universität Frankfurt(1) von Anführern des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes dafür angegriffen, dass er nicht radikal genug war. Seine Vorlesungen wurden von Demonstranten gestört; einer schrieb an die Tafel: »Wer nur den lieben Adorno(6) läßt walten, der wird den Kapitalismus ein Leben lang behalten.«[4]

Bezeichnenderweise wurde das Institut für Sozialforschung der Universität Frankfurt(2) für eine kurze Zeitspanne von Demonstranten übernommen und erhielt den neuen Namen »Abteilung Spartakus«, nach der politischen Bewegung, die unter der Führung von Rosa Luxemburg(1) und Karl Liebknecht(1) gestanden hatte, jener deutschen Revolutionäre, die fünfzig Jahre zuvor ermordet worden waren. Der Namenswechsel sollte zugleich Vorwurf und Erinnerung sein: Vorwurf, weil die Spartakisten im Jahr 1919 etwas getan hatten, was die Denker der Frankfurter Schule im Jahr 1969 ganz offensichtlich nicht zu tun gedachten; und Erinnerung, insofern als die Frankfurter Schule ihre Existenz zum Teil den Bemühungen marxistischer(7) Theoretiker verdankte, die nach einer Antwort auf die Frage suchten, warum die Spartakisten mit ihrem Versuch gescheitert waren, in Deutschland(2) das nachzuahmen, was die Bolschewiken in Russland(1) zwei Jahre davor geschafft hatten.

1969 hielten Anführer der Studentenbewegung wie Rudi Dutschke(1) und Daniel Cohn-Bendit(1) den Zeitpunkt für gekommen, Theorie und Praxis zu vereinen, die Universitäten zu revolutionieren und den Kapitalismus zu zerschlagen. Die deutsche Intelligentsia durfte ausgerechnet jetzt, in dieser Stunde der Abrechnung, nicht wieder scheitern. Adorno(7) aber zögerte. Seine Bedenken sind höchst aufschlussreich hinsichtlich der Frage, was die Frankfurter Schule war und ist und warum sie damals und teils auch heute noch von vielen Linken so skeptisch beurteilt wurde beziehungsweise wird. In seinem Aufsatz »Marginalien zu Theorie und Praxis« aus dem Jahr 1969 schrieb Adorno(8), dass einem Studenten sein Zimmer verwüstet worden sei, weil er lieber gearbeitet habe, als sich an den Studentenprotesten zu beteiligen. Irgendjemand hätte sogar an die Wand des Zimmers die Worte geschmiert: »Wer sich mit Theorie beschäftigt, ohne praktisch zu handeln, ist ein Verräter am Sozialismus(9).«

Adorno(10) empfand diesen Studenten offensichtlich als verwandten Geist – ein kritischer Theoretiker, kein Straßenkämpfer – und er wollte ihn verteidigen. Er tat das, indem er die Theorie gegen eine Art von Praxis in Stellung brachte, die er in der Studentenbewegung und der Neuen Linken diagnostizierte. »Praxis wurde nicht ihm [dem Studenten, dessen Zimmer verwüstet wurde] allein gegenüber zum ideologischen Vorwand von Gewissenszwang«, schrieb Adorno(11).[5]

Dieses Paradox – der gewaltsam-autoritäre Aufruf zu befreiender Aktion – bereitete Adorno(12) und vielen anderen Denkern der Frankfurter Schule Unbehagen. Jürgen Habermas(2) bezeichnete das Phänomen als »linken Faschismus«; und Adorno(13), sein früherer Lehrer, befürchtete das Aufkommen einer grauenerregenden neuen Mutation jener autoritären Persönlichkeiten, die in Deutschland(3) unter den Nationalsozialisten und in der Sowjetunion unter den Stalinisten gewütet hatten.

Adorno(14) und die anderen Mitglieder der Frankfurter Schule kannten sich mit autoritären Persönlichkeiten zur Genüge aus. Als jüdischer, marxistischer(8) Intellektueller, der gezwungen war, ins Exil zu fliehen, um nicht von den Nazis ermordet zu werden – was für die meisten Mitglieder der Frankfurter Schule galt –, war man quasi automatisch Fachmann für das Spezialgebiet »autoritäre Persönlichkeit«. Sämtliche führenden Denker der Frankfurter Schule arbeiteten intensiv an Theorien über den Nationalsozialismus; sie versuchten zu erklären, wie ausgerechnet das deutsche Volk darauf verfallen konnte, sich in solchem Ausmaß dominieren zu lassen, anstatt sich in einer sozialistischen Revolution gegen seine kapitalistischen Unterdrücker zu erheben.

Frappierend an Adornos(15) kritischem Denken im Jahr 1969 ist nun allerdings, dass er den autoritären Persönlichkeitstypus, der sich im Hitlerregime entfaltete, und den damit einhergehenden Geist des Konformismus als quicklebendigen Wiedergänger in der Neuen Linken und in der Studentenbewegung diagnostizierte. Beide gerierten sich als antiautoritäre Bewegungen, reproduzierten dabei jedoch gleichzeitig die repressiven Strukturen, die sie angeblich überwinden wollten. »Die am heftigsten protestieren«, so Adorno(16), »gleichen den autoritätsgebundenen Charakteren in der Abwehr von Introspektion.«[6]

Es gab in der Frankfurter Schule lediglich ein Mitglied, das den Bestrebungen der Radikalen in den ausgehenden 1960er Jahren keine Abneigung entgegenbrachte: Herbert Marcuse(2), damals tätig an der University of California in San Diego(1), versuchte sich an politisch militanten Aktionen, während sich seine Kollegen der Frankfurter Schule gleichzeitig darüber mokierten. Zwar verachtete er den ehrenwerten Vater der Neuen Linken, dennoch ließ Marcuse sich eine Zeitlang vom Enthusiasmus der Bewegung anstecken und erlaubte sich die Vorstellung, ein repressionsfreies Utopia stehe unmittelbar bevor. Studenten verehrten ihn dafür, allerdings sah er sich gezwungen, abzutauchen, nachdem er(3) mehrere Morddrohungen erhalten hatte. In Paris(1) hielten protestierende Studenten ein Transparent hoch, auf dem die Worte prangten: »Marx(9), Mao(1), Marcuse« – die triumphale Verkündigung einer neuen revolutionären Dreifaltigkeit.

Was allerdings die Frankfurter Schule betraf, so war Marcuse(4) sicherlich eine Ausnahmeerscheinung. Adorno(17) äußerte sich differenzierter und pointierter teils in Essays zu aktuellen Themen, teils in verärgertem Briefwechsel mit Marcuse(5): Das Gebot der Stunde sei nicht kopfloser Aktionismus, sondern vielmehr die mühevolle Anstrengung des Denkens. »Das von ihnen diffamierte Denken strengt offenbar die Praktischen ungebührlich an: Es bereitet zuviel Arbeit, ist zu praktisch«, so Adorno(18).[7] Vor dem Hintergrund einer deplatzierten Praxis war die Theorie keine reaktionäre Flucht in ein Grand Hotel Abgrund, sondern der von Prinzipien geprägte Rückzug in eine Festung des Denkens, in eine Zitadelle, aus der immer wieder radikale Jeremiaden drangen. Der eigentlich radikale Akt war für Adorno(19) das Denken und nicht Sit-ins und Barrikaden. »Wer denkt, setzt Widerstand; bequemer ist, mit dem Strom, erklärte er sich auch als gegen den Strom, mitzuschwimmen.«[8]

Und Adornos(20) Kritik reichte noch weiter: Er entdeckte in der Studentenbewegung genau jenes Phänomen, das der Frankfurter Schule zur Last gelegt wurde – nämlich Impotenz. »Gegen die, welche die Bombe verwalten«, so sein Argument, »sind Barrikaden lächerlich.«[9] Eine vernichtende Beobachtung: Die Neue Linke und die studentischen Revolutionäre hätten unpassenderweise die revolutionären Taktiken übernommen, die 1789, 1830 und 1845 noch funktioniert hätten, die allerdings im Jahr 1969 für jeden effektiven Kampf, der sich die Zerstörung des westlichen Kapitalismus zum Ziel gesetzt hatte, zur Bedeutungslosigkeit verurteilt waren(21). Oder wie Marx(10) es in einem anderen Kontext formulierte: Die Geschichte wiederhole sich als Farce. Womöglich wäre Adornos Analyse anders ausgefallen, wenn sich die Neue Linke mit Nuklearwaffen ausgerüstet hätte.

Allerdings hatte das, was Adorno(22) den Studierenden als lächerliche Attitüde vorwarf, ja durchaus Methode. Für diejenigen, die an der für die Frankfurter Schule spezifischen Kritischen Theorie interessiert sind, ist die Frage noch nicht erschöpfend beantwortet, was es damit auf sich hatte, dass sich radikale Studenten in den späten 1960er Jahren das revolutionäre Erbe, auf die Barrikaden zu gehen, aneigneten. Der Philosoph und Zeitkritiker Walter Benjamin(1), ein wichtiger Impulsgeber der Frankfurter Schule, thematisiert in seinem späten Aufsatz »Über den Begriff der Geschichte«,[10] wie sich Revolutionäre durchaus bewusst bei vergangenen Helden bedienten. Man greift damit auf die Vergangenheit zurück, um Solidarität mit früheren Rollenmodellen zum Ausdruck zu bringen: Man ehrt deren Kämpfe, indem man ihre Ikonographie in den Dienst einer neuen revolutionären Anstrengung stellt.

So eignete sich beispielsweise die Französische Revolution im Jahr 1789 die Bräuche und Einrichtungen des antiken Rom an. Benjamin(2) bezeichnete das als »Tigersprung ins Vergangene«. Durch diesen Sprung setze man sich über die vergangene Zeit hinweg und ziele auf einen Zeitpunkt, den man als Resonanz der aktuellen Situation empfinde. »So war für Robespierre(1) das antike Rom eine mit Jetztzeit geladene Vergangenheit, die er aus dem Kontinuum der Geschichte heraussprengte.« Dieses Kontinuum oder das, was Benjamin »homogene und leere Zeit« nannte, war die Zeitordnung der herrschenden Klassen und sie wurde negiert durch die besagten zeitübergreifenden Sprünge radikaler Solidarität.

Auf ähnliche Weise brachten möglicherweise jene enragés, die in den späten 1960er Jahren in Paris(2) auf die Straße gingen und Barrikaden errichteten, dadurch ihre Solidarität mit den Revolutionären jener fast zwei Jahrhunderte zurückliegenden Periode zum Ausdruck. Allerdings war der Tigersprung ein gefährlicher Akt, der durchaus auch danebengehen konnte. Benjamin(3) erklärte: »Nur findet er in einer Arena statt, in der die herrschende Klasse kommandiert.«[11] Und trotzdem, so fügte er hinzu, entspreche dieser Sprung dem marx(11)schen Verständnis von Revolution. Der Sprung war dialektisch, da durch ihn die Vergangenheit durch die Aktion in der Gegenwart erlöst wurde, ebenso wie die Gegenwart durch ihre Zuordnung zu ihrem Gegenstück in der Vergangenheit erlöst wurde.

Das lässt allerdings die Vermutung zu, dass Walter Benjamin(4) – wäre er nicht 1940 gestorben, sondern hätte vielmehr überlebt und wäre noch Zeuge der Studentenrevolten der ausgehenden 1960er Jahre geworden – die Studenten, die auf die Barrikaden gingen, in ihrer ganzen Lächerlichkeit, die ihnen von anderer Seite vorgeworfen wurde, womöglich verteidigt hätte. Vielleicht wäre er für die Vorstellung, Theorie mithilfe von Bomben durchzusetzen, aufgeschlossener gewesen als sein Freund Theodor Adorno(23). Letztlich ist es wohl eine zu starke Vereinfachung zu sagen, Benjamin(5) habe die Praxis romantisiert, Adorno(24) hingegen die Theorie, aber ein Körnchen Wahrheit steckt schon darin. Die Frankfurter Schule mit ihrem führenden Kopf Adorno(25) maß der Theorie mit Sicherheit größeres Gewicht bei, da nur sie einen Raum eröffnete, in dem die herrschende Ordnung angeklagt, wenn nicht gar gestürzt werden konnte. Die Theorie behielt – im Unterschied zu allem, was durch das der realen, gefallenen Welt Ausgesetztsein befleckt wurde – ihren Nimbus und ihren unbezwingbaren Geist bei. »Das nicht Bornierte wird von Theorie vertreten«, schrieb Adorno(26). »Trotz all ihrer Unfreiheit ist sie im Unfreien Statthalter der Freiheit(27).«[12]

In dieser Sphäre fühlten sich die Denker der Frankfurter Schule am wohlsten – anstatt sich von wahnhafter Revolutionseuphorie anstecken zu lassen, zog man es vor, sich in einen nichtrepressiven intellektuellen Raum zurückzuziehen, wo man frei seinen Gedanken nachgehen konnte. Diese Art von Freiheit ist natürlich eine Freiheit melancholischer Art, da sie aus dem Verlust an Hoffnung auf echte Veränderung entsteht. Wenn man sich allerdings mit der Geschichte der Frankfurter Schule und der Kritischen Theorie auseinandersetzt, dann entdeckt man gleichzeitig, wie sich diese Denker, sieht man einmal von Marcuse(6) ab, zunehmend ohnmächtig angesichts von Mächten fühlten, die sie zwar verachteten, aber auch für unüberwindlich hielten.

Es gibt jedoch eine konkurrierende Geschichte der Frankfurter Schule, ein Gegenstück zu diesem Narrativ einer programmatischen Ohnmacht. Ich spreche von einer Verschwörungstheorie, die besagt, eine kleine Gruppe deutscher marxistischer(12) Philosophen, die sogenannte Frankfurter Schule, habe ein System entwickelt, den sogenannten kulturellen Marxismus(13), der überkommene Werte untergrub, indem sich seine Urheber einerseits für Multikulturalismus, Political Correctness, Homosexualität und kollektivistische Wirtschaftsvorstellungen aussprachen.[13] Die führenden Denker des Instituts für Sozialforschung wären überrascht gewesen zu erfahren, dass sie auf den Sturz der westlichen Kultur hinarbeiteten; noch mehr allerdings darüber, wie erfolgreich sie damit angeblich waren. Andererseits handelte es sich bei diesen Männern ja überwiegend um Überlebende des Holocaust, und als solchen war ihnen in gewissem Ausmaß bewusst, welche verheerenden Konsequenzen Verschwörungstheorien, die im Dienst psychischer Bedürfnisse stehen, in der Realität haben können.

Einer von jenen, die sich diese Theorie zu eigen machten, war der rechtsradikale Terrorist Anders Breivik(1). Als er im Juli 2011 zu seinem mörderischen Amoklauf aufbrach, im Zuge dessen 77 Norweger und Norwegerinnen getötet wurden, hinterließ er ein 1513 Seiten umfassendes Manifest mit dem Titel: »2083: Eine europäische Unabhängigkeitserklärung«. Darin schreibt er dem Kulturmarxismus die Schuld an der angeblichen Islamisierung Europas zu. Mit seinen »Ideen« (wenn man denn diesen Terminus überhaupt verwenden will) bediente sich Breivik(2) einer Verschwörungstheorie, die ihren Ursprung in einem Essay mit dem Titel »The Frankfurt(3) School and Political Correctness« hatte, verfasst von Michael Minnicino(1) und veröffentlicht in Fidelio, einer Zeitschrift des Schiller-Instituts.[14] An einem argumentativen Kniff ließ es Minnicino jedoch in seiner Darstellung der Zerstörung des Westens durch die Frankfurter Schule fehlen. Angesichts der Tatsache, dass Mitglieder der Frankfurter Schule während des Zweiten Weltkriegs in den Geheimdiensten tätig waren, entwickelten sich diese Männer ja vielleicht nicht nur zu Virtuosen der Kritischen Theorie, sondern in diesem Umfeld auch zu Virtuosen in der Kunst, ihre teuflischen Absichten perfekt zu verschleiern. Aber auch das ist höchst unwahrscheinlich.

Die Wahrheit über die Frankfurter Schule ist weniger spektakulär als jene, mit welcher Verschwörungstheoretiker hausieren gehen. Die Einrichtung entstand zum Teil aus dem Versuch, Misserfolge zu verstehen, vor allem das Scheitern der Revolution in Deutschland(4) im Jahr 1919. In den 1930er Jahren verband man neomarxistische(14) Gesellschaftsanalyse mit freud(1)schen psychoanalytischen Theorien, um zu begreifen, warum deutsche Arbeiter sich nicht mithilfe einer sozialistischen Revolution vom Kapitalismus befreiten, sondern sich von der modernen Konsumgesellschaft und fatalerweise vom Nationalsozialismus verführen ließen.

Adorno(28) half während seines Exils in Los Angeles(1) in den 1940er Jahren, die kalifornische F-Skala zu entwickeln, einen Persönlichkeitstest zur Bestimmung von Personen, die Gefahr laufen, faschistischen oder autoritären Wahnvorstellungen zum Opfer zu fallen. Breivik(3) hätte das perfekte Beispiel des autoritären Charakters abgeben können, den Adorno(29) wie folgt beschrieb: eine Person, die »besessen ist vom scheinbar offensichtlichen Abstieg traditioneller Werte; unfähig, sich mit Veränderungen abzufinden; eingeschlossen in einem Hass auf all jene, die nicht als Teil der In-Group empfunden werden; und bereit, aktiv zu werden, um die Tradition gegen Entartung zu ›verteidigen‹«.[15] In seiner Einleitung zur Autoritären Persönlichkeit warnt Adorno(30):

Persönlichkeitsstrukturen, die als »pathologisch« eingestuft wurden, weil sie nicht mit den verbreitetsten offensichtlichen Trends oder den dominantesten Idealen innerhalb einer Gesellschaft übereinstimmten, haben sich bei näherem Hinsehen lediglich als Übertreibungen von Strömungen herausgestellt, die sich unter der Oberfläche einer Gesellschaft bereits weit ausgebreitet hatten. Was heute »pathologisch« ist, könnte unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen morgen zum dominanten Trend werden(31).[16]

Seine Erfahrungen während der Zeit des Nationalsozialismus machten Adorno(32) für dergleichen tragische Entwicklungen besonders sensibel.

Man muss aber gar nicht Anders Breivik(4) sein, um die Frankfurter Schule falsch zu verstehen. »Der kulturelle Marxismus(15) richtet immensen Schaden an, weil er zwar in analytischer Hinsicht großartig ist, für die menschliche Natur jedoch nicht viel Verständnis aufbringt und es ihm daher nicht gelingt, die Folgen abzuschätzen (wenn Einrichtungen, sei es der Staat, die Kirche, Familien oder das Gesetz, zerbrechen, leiden in der Regel die Schwächsten am meisten)«,[17] so Ed West(1) in der rechtskonservativen englischen Tageszeitung Daily Telegraph. In Wahrheit haben die Frankfurter Denker praktisch sämtliche Institutionen verteidigt, die der Analyse Wests zufolge vom kulturellen Marxismus(16) untergraben wurden. Adorno(33) und Horkheimer(2) verteidigten die Institution Familie als einen Bereich des Widerstands gegen totalitäre Kräfte; Habermas(3) erkor sich die katholische Kirche zum Verbündeten für seine Arbeit an der Errichtung einer funktionierenden modernen multikulturellen Gesellschaft; Axel Honneth(1), nun mehr ehemaliger Leiter der Frankfurter Schule, betont Gleichheit vor dem Gesetz als grundlegende Bedingung einer gedeihlichen menschlichen Entwicklung und individueller Autonomie. Habermas hofft zwar, der deutsche Staat werde sich zugunsten eines europaweiten Gemeinwesens auflösen, doch das ist hauptsächlich darauf zurückzuführen, dass er als ehemaliger Hitlerjunge Angst vor einer Rückkehr des schädlichen Nationalismus hat, der seine Heimat zwischen 1933 und 1945 beherrschte.

Kurz: Die Frankfurter Schule verdient es, dass man sie vor ihren Verleumdern in Schutz nimmt, vor denen, die wissentlich oder unwissentlich die Leistungen jener für eigene Ziele eingespannt haben. Außerdem muss man sich von der Vorstellung befreien, dass sie uns heutzutage, in einem neuen Jahrtausend, nichts mehr zu sagen hat.

In diesem Buch möchte ich mich unter anderem mit folgenden Punkten beschäftigen. Zwar gibt es viele exzellente historische Darstellungen über die Frankfurter Schule und die Kritische Theorie sowie viele gute Biographien zu ihren führenden Denkern, doch ich hoffe, dass mein Buch einen anderen fruchtbaren Ansatz bietet, einen neuen, vielleicht sogar überzeugenden Zugang zu der für die Frankfurter Schule charakteristischen Perspektive auf die Welt.

Grand Hotel Abgrund ist zum Teil eine Gruppenbiographie, die zu beschreiben versucht, wie die führenden Gestalten der Schule sich gegenseitig beeinflussten und miteinander intellektuelle Kämpfe austrugen; und wie ihre frühen Erfahrungen, in vornehmlich wohlhabenden jüdischen Elternhäusern aufgewachsen zu sein, zu ihrer Absage an den Mammon und die Hinwendung zum Marxismus(17) beitrugen. Ich strebe außerdem mit diesem Buch an, eine Geschichte zu erzählen, die sich von 1900 bis heute erstreckt, also von der Ära der Pferdekutschen bis in unser Zeitalter, in dem unbemannte Drohnen als Mittel der Kriegsführung eingesetzt werden. In meinem Buch befasse ich mich mit der behüteten deutschen Kindheit dieser Denker und damit, wie sie von ihren Vätern erzogen wurden und sich gegen sie auflehnten; mit ihren Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, ihrer Begegnung mit dem Marxismus(18) im Zusammenhang mit der gescheiterten deutschen Revolution und mit der neomarxistischen(19) Theorie, die sie entwickelten, um eine Erklärung für dieses Scheitern zu finden; mit der Zunahme industrieller Massenproduktion und der Massenkultur während der 1920er Jahre, mit dem Aufstieg Hitlers(1) und in der Folge mit ihrer Auswanderung nach Amerika(1), einem Land, das sie zugleich anwiderte und verführte; mit ihrer jeweils unerquicklichen Rückkehr in ein Nachkriegseuropa(1), das für alle Zeiten vom Holocaust versehrt war; dann mit ihrer heiklen Beziehung zur revolutionären Euphorie der Jugend in den 1960er Jahren und schließlich mit der Bemühung der Frankfurter Schule im neuen Jahrtausend zu ergründen, was den Zusammenbruch der multikulturellen Gesellschaften im Westen verhindern könnte.

Es ist eine Geschichte, die einige auffallende Kontraste und Widersprüchlichkeiten bietet – etwa den jungen Herbert Marcuse(7), der im Berlin(2) des Jahres 1919 als Mitglied eines kommunistischen Verteidigungskommandos auf rechtsgerichtete Heckenschützen schießt; oder Jürgen Habermas(4), der in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends einen spirituellen Verbündeten im ebenfalls vormals der Hitlerjugend angehörenden Joseph Ratzinger(1)(1) findet, besser bekannt als Papst Benedikt XVI. Marxistische Denker arbeiteten während des Zweiten Weltkriegs für den Vorläufer der CIA; Adorno(34) spielte bei Partys in Hollywood(1) Klavier für Charlie Chaplin(1), während er gleichzeitig das Werk des Komödianten in seinen Büchern gnadenlos verriss; die Mitglieder der Frankfurter Schule tilgten das M-Wort »Marxismus« aus ihren wissenschaftlichen Aufsätzen, um ihren amerikanischen Gastgebern und potentiellen Sponsoren keinen Stein des Anstoßes zu liefern.

Mich faszinierte an der Frankfurter Schule vor allem, wie deren Vertreter einen überzeugenden kritischen Apparat entwickelten, um die Zeitläufte zu verstehen, in denen sie lebten. Sie fassten den Marxismus(20) neu, indem sie Ideen aus der freud(2)schen Psychoanalyse einbrachten, um zu begreifen, wie die dialektische Bewegung der Geschichte hin zu einer sozialistischen Utopie offensichtlich aufgehalten werden konnte. Sie befassten sich mit dem Aufkommen jenes Phänomens, das sie als Kulturindustrie bezeichneten, und erkundeten in diesem Zusammenhang eine neue Beziehung zwischen Kultur und Politik, in welcher erstere als Lakai des Kapitalismus fungierte, wobei ihr gleichzeitig das – überwiegend nicht realisierte – Potential innewohnte, dessen Totengräber zu sein. Vor allem beschäftigten sie sich mit der Frage, wie das Alltagsleben zum Schauplatz einer Revolution werden könnte, das faktisch jedoch überwiegend das Gegenteil war, nämlich von einem Konformismus durchsetzt, der jeden Wunsch, ein repressives System zu überwinden, zunichtemachte.

Man kann wohl sagen, dass wir noch immer in einer Welt leben, die derjenigen ähnelt, die von den Frankfurter Theoretikern so harsch kritisiert wurde – auch wenn wir mehr Wahlfreiheiten haben als je zuvor. Adorno(35) und Horkheimer(3) waren der Meinung, dass es sich bei der Wahlfreiheit, auf die fortgeschrittene kapitalistische Gesellschaften so stolz waren, lediglich um eine Schimäre handele. In der Dialektik der Aufklärung heißt es: »Aber die Freiheit in der Wahl … erweist sich in allen Sparten als die Freiheit zum Immergleichen.«[18] Dort argumentieren sie auch, die menschliche Persönlichkeit sei durch das falsche Bewusstsein so korrumpiert, dass es kaum mehr etwas gebe, das diesen Namen überhaupt verdiene: »personality bedeutet kaum mehr etwas anderes als blendend weiße Zähne und Freiheit von Achselschweiß und Emotionen.«[19] Menschen waren in wünschenswerte, einfach auszutauschende Handelsgüter verwandelt worden, und die einzige Wahl, die man noch treffen konnte, betraf die Option zu wissen, dass man manipuliert wurde. »Das ist der Triumph der Reklame in der Kulturindustrie, die zwangshafte Mimesis der Konsumenten an die zugleich durchschauten Kulturwaren.«[20] Die Frankfurter Schule ist für unsere Zeit relevant, weil diese Art von Gesellschaftskritik heute noch angebrachter ist als zu jener Zeit, da diese Worte geschrieben wurden.

Warum? Weil(1) die Herrschaft der Kulturindustrie und der Konsumzwänge über den Menschen heute offensichtlich stärker ist als je zuvor. Und schlimmer noch: Was einst ein Herrschaftssystem innerhalb europäischer und nordamerikanischer Gesellschaften war, hat seinen Wirkungsbereich ausgeweitet. Wir leben nicht mehr in einer Welt, in der Nationen und Nationalismen eine Schlüsselrolle spielen, sondern in einem globalisierten Markt, auf dem wir vordergründig frei sind zu wählen – wenn allerdings die Diagnose der Frankfurter Schule zutrifft, dann können wir nur das wählen, was immer dasselbe ist, nur das, was uns geistig abstumpfen lässt und in uns die Bereitschaft wachhält, uns widerspruchslos einem repressiven System zu unterwerfen.

1940 schrieb Max Horkheimer(4) an einen Freund: »Angesichts dessen, was jetzt über Europa(2) und vielleicht über die ganze Welt hereinbricht, ist … unsere gegenwärtige Arbeit wesentlich zur Überlieferung durch die Nacht hindurch bestimmt, die kommen wird: eine Art Flaschenpost.(5)«[21] Das Dunkel, von dem er sprach, waren natürlich der Zweite Weltkrieg und der Holocaust.

Doch sind die Texte aus dem Kreis der Frankfurter Schule nutzbringend auch für uns, die wir gegenwärtig – in einer anderen Art von Dunkel leben. Wir leben nicht in einer Hölle, die von den Denkern der Frankfurter Schule geschaffen wurde – vielmehr in einer Hölle, die sie uns helfen kann zu verstehen. Es ist also ein guter Zeitpunkt, ihre Flaschenpost zu öffnen.

TEIL I

1900–1920

1

Verfassung: Kritisch

Draußen: ein kalter Wintermorgen im Berlin(3) des Jahres 1900. Drinnen, im Zimmer, hat die Magd einen Apfel in den kleinen Ofen gelegt, der neben dem Bett des acht Jahre alten Walter(6) steht. Vielleicht können Sie sich den Geruch ja vorstellen, aber selbst, wenn Ihnen das gelingt, werden Sie nicht die mannigfachen Assoziationen erspüren, die in Benjamin(7) aufstiegen, als er sich 32 Jahre später an diese Szene erinnerte. Dieser aus der Ofenhitze genommene Bratapfel, so Benjamin in seinen Erinnerungen »Berliner(4) Kindheit um Neunzehnhundert«, habe aus der Ofenhitze mit sich gebracht

die Arome von allen Dingen …, welche der Tag mir in Bereitschaft hielt. Und darum war es auch nicht sonderbar, daß immer, wenn ich an seinen blanken Wangen meine Hände wärmte, ein Zögern mich beschlich, ihn anzubeißen. Ich spürte, daß die flüchtige Kunde, die er in seinem Dufte brachte, allzu leicht mir auf dem Wege über meine Zunge entkommen könne. Jene Kunde, die mich manchmal so beherzte, daß sie mich noch auf dem Marsch zur Schule tröstete.[1]

Doch mit der Tröstung war es schnell vorbei: In der Schule kam ihm »… die ganze Müdigkeit, die erst verflogen schien, verzehnfacht wieder. Und mit ihr jener Wunsch: ausschlafen zu können. Ich habe ihn wohl tausendmal getan und später ging er wirklich in Erfüllung. Doch lange dauerte es, bis ich sie darin erkannte, daß noch jedesmal die Hoffnung, die ich auf Stellung und ein sicheres Brot gehegt hatte, umsonst gewesen war.«[2]

Diese Vignette enthält vieles, was für Walter Benjamin(8) charakteristisch ist: angefangen bei dem verzauberten glänzenden Apfel, dessen Aromen schon auf Benjamins(9) Vertreibung aus dem Paradies seiner Kindheit vorverweisen, die ihrerseits auf das bevorstehende Exil des Erwachsenen hindeutet, das ihn aus Deutschland(5) auf eine pikareske Vagabondage schicken und schließlich auf der Flucht vor den Nationalsozialisten im Jahr 1940 in den Tod führen sollte. Man hat die verletzliche Gestalt vor Augen, die darum kämpft, Einfluss auf die schwierige Welt jenseits ihres verzauberten, wohlriechenden Schlafzimmers auszuüben. Da ist der Melancholiker(10), der das, wonach er sich sehnt (Schlaf), erst dann bekommt, wenn es hoffnungslos mit dem Scheitern anderer Wünsche verknüpft ist. Da ist die sprunghafte Schnitttechnik (vom Bett zur Schule zur entzauberten Zeit des Erwachsenen), die an die modernen Schreibtechniken erinnert, mit denen er in seinem 1928 entstandenen Buch Einbahnstraße arbeitete und die eines seiner Hauptwerke ankündigt, den 1936 entstandenen Essay »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« über filmische Montage und ihr revolutionäres Potential. Vor allem aber stößt man in Benjamins(11) Erinnerung an seine Kindheit zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf diese befremdliche, kontraintuitive kritische Bewegung, die er in seinen Texten immer wieder vollführt: Er reißt die Ereignisse aus dem von ihm sogenannten historischen Kontinuum heraus, um in einem gnadenlosen Rückblick die Illusionen aufzudecken, die zuvor noch für Wahrheiten gehalten wurden; er jagt retrospektiv Dinge in die Luft, die in ihrer Zeit ganz natürlich, unproblematisch, gesund gewirkt hatten. Man hätte auf den ersten Blick annehmen können, er(12) gebe sich dem nostalgischen Abglanz einer idyllischen Kindheit hin, ermöglicht durch Papas Geld und der Arbeit von Dienstboten, doch in Wahrheit steckte er gewissermaßen Dynamitstangen in die Grundfesten seiner Kindheit und überhaupt des Berlins(5) seiner frühen Jahre. In dieser Erinnerung einer verlorenen Kindheit ist außerdem vieles von dem enthalten, was diesen bedeutenden Kritiker und Philosophen(13) für die überwiegend jüngeren Landsleute und jüdischen Intellektuellen, die für das Institut für Sozialforschung tätig waren, so eindrucksvoll und einflussreich machte – jener Einrichtung, die später als Frankfurter Schule bekannt wurde. Benjamin war der wichtigste intellektuelle Impulsgeber der Gruppe, obwohl er(14) nie zur Belegschaft des Instituts gehört hatte.

Wie so viele der Kindheitsdomizile der führenden Mitglieder der Frankfurter Schule verdankten sich auch die komfortablen, bürgerlichen Wohnungen und Villen in Westberlin(6), in denen Emil(1), ein erfolgreicher Kunsthändler und Antiquar, und Pauline Benjamin(1) lebten, dem geschäftlichen Erfolg des Vaters. Wie die Horkheimers(6), die Marcuses(8), die Pollocks(2), die Wiesengrund(1)-Adornos(36) und andere Familien assimilierter Juden, aus denen die Denker der Frankfurter Schule stammten, lebten die Benjamins(15)(2)(2) in unerhörtem Luxus, im wilhelminischen Pomp des machtstrebenden deutschen Staates zu Beginn des 20. Jahrhunderts, einer Zeit, in der sich eine rapide Industrialisierung vollzog.

Und das war einer der Gründe, warum Benjamins(16) Schriften auf viele der führenden Mitglieder der Frankfurter Schule einen so tiefen Eindruck machten: Diese Männer hatten denselben privilegierten, säkularen jüdischen Hintergrund des neuen Deutschland(6) und lehnten sich ebenso wie er gegen den Krämergeist ihrer Väter auf. Max Horkheimer(7) (1895–1973), Philosoph, Kritiker und mehr als dreißig Jahre lang der Leiter des Instituts für Sozialforschung, war der Sohn eines Textilfabrikanten in Stuttgart(1). Herbert Marcuse(9) (1898–1979), politischer Philosoph und Liebling der radikalen Studierenden in den 1960er Jahren, war der Sohn eines wohlhabenden Berliner(7) Geschäftsmanns und gehörte in seiner Jugend als Angehöriger einer jüdischen Familie, die in die deutsche Gesellschaft integriert war, zur oberen Mittelschicht. Der Vater des Sozialwissenschaftlers und Philosophen Friedrich Pollock(3) (1894–1970) wandte sich vom Judentum ab und war als Besitzer einer Lederfabrik in Freiburg(1) im Breisgau geschäftlich erfolgreich. Als Knabe lebte der Philosoph, Komponist, Musiktheoretiker und Soziologe Theodor Wiesengrund Adorno(37) (1903–1969) in unbeschwerten Umständen, die mit denen des jungen Walter Benjamin vergleichbar waren. Seine Mutter Maria Calvelli-Adorno(1) hatte als Opernsängerin reüssiert und sein Vater Oscar Wiesengrund(2) war ein erfolgreich assimilierter jüdischer Weinhändler in Frankfurt(4), der, wie der Historiker der Frankfurter Schule Martin Jay(1) es formulierte, dem Sohn(38) »den Sinn für die feineren Dinge des Lebens [vermittelte]; Interesse am Kaufmannsberuf vermochte er bei Adorno(39) jedoch nicht zu wecken(40)«[3] – diese Bemerkung trifft auch auf andere Mitglieder der Frankfurter Schule zu, die zwar vom Ertrag der beruflichen Tätigkeit ihrer Väter abhängig waren, allerdings Angst hatten, von deren Geist angesteckt zu werden.

Der führende psychoanalytische Denker der Frankfurter Schule Erich Fromm(2) (1900–1980) unterschied sich in gewisser Hinsicht von seinen Kollegen – nicht, weil sein Vater lediglich einen nur mäßig erfolgreichen Mosthandel in Frankfurt(5) betrieb, sondern weil er ein orthodoxer Jude war, der sich als Kantor in der lokalen Synagoge betätigte und peinlich genau alle jüdischen Feiertage und Gebräuche beachtete. Allerdings teilte Fromm(3) mit seinen Kollegen sicherlich einen tief verwurzelten Widerwillen gegen den Mammon und eine Ablehnung der Geschäftswelt.

Henryk Grossmann(1) (1881–1950), eine Zeitlang der führende Ökonom der Frankfurter Schule, verbrachte seine Kindheit in Krakau(1), im damaligen vom österreichischen(1) Habsburgerreich kolonisierten Galizien. Er stammte aus einem schwerreichen Elternhaus: Sein Vater, ursprünglich Barbesitzer, hatte sich zu einem erfolgreichen Kleinindustriellen und Minenbesitzer hochgearbeitet. Rick Kuhn(1), Henryks(2) Biograph, schrieb: »Der Wohlstand der Familie Grossmann(3) schirmte sie ab gegen die Folgen der gesellschaftlichen Vorurteile, politischen Strömungen und Gesetze, die die Juden benachteiligten.«[4] Viele der führenden Denker der Frankfurter Schule waren in ihrer Kindheit ähnlich behütet, auch wenn natürlich keiner gänzlich von Diskriminierungen verschont blieb, vor allem, als dann die Nazis an die Macht kamen. Allerdings trugen Grossmanns(4) Eltern, obwohl sie in die Gesellschaft von Krakau(2) integriert waren, Sorge dafür, dass ihre Söhne beschnitten und als Mitglieder der jüdischen Gemeinde registriert wurden: Die Assimilation hatte durchaus Grenzen.

Alle diese Männer waren intelligent, sie waren sich also der Ironie ihrer historischen Situation durchaus bewusst: dass es ihnen nämlich dank der Geschäftstüchtigkeit ihrer Väter möglich war, sich für ein Leben der Kritik, des Schreibens und der Reflexion zu entscheiden, auch wenn diese Texte und Gedanken ödipalerweise darauf fixiert waren, das politische System zu zerstören, dem sie ihr Leben verdankten. Die komfortablen Welten, in denen diese Männer geboren und aufgewachsen waren, mögen in den Augen von Kindern vielleicht ewig und sicher gewirkt haben. Doch während Benjamins(17) Erinnerung einerseits eine Elegie auf eine dieser Welten – die materiell üppige Welt seiner Kindheit – ist, enthüllt sie doch auch andererseits die unerträgliche Wahrheit, dass sie weder ewig noch sicher ist, sondern faktisch erst seit kurzem existierte und bereits dem Untergang geweiht ist.

Das Berlin von Benjamins(18) Kindheit(8) war in seinem damaligen Erscheinungsbild ein recht junges Phänomen. Bis noch vor einem halben Jahrhundert war die Stadt ein preußisches Provinznest gewesen; zur Jahrhundertwende aber hatte sie Paris(3) als modernste Stadt auf dem europäischen Festland überflügelt. Der Furor, mit dem sie sich selbst neu erfand und mit dem ans Bombastische grenzende neue architektonische Denkmäler geschaffen wurden (beispielsweise das im Jahr 1894 eröffnete Reichstagsgebäude), war auf das übersteigerte Selbstvertrauen zurückzuführen, das den Bewohnern der Stadt eignete, seit sie im gerade vereinigten Deutschland(7) 1871 zur Hauptstadt erklärt wurde. Zwischen jenem Zeitpunkt und der Jahrhundertwende stieg die Bevölkerung Berlins(9) von 800 000 auf zwei Millionen Einwohner an. Während die neue Hauptstadt wuchs, wurde sie nach dem Vorbild jener Stadt geformt, die sie an Großartigkeit übertreffen sollte. Die Kaisergalerie, die die Friedrichstraße und die Behrenstraße miteinander verband, war nach dem Vorbild der Passagen in Paris(4) erbaut worden. Berlins(10) pompöser Boulevard im Pariser(5) Stil, der Kurfürstendamm, entstand, als Benjamin ein Junge war; das erste Kaufhaus am Leipziger Platz eröffnete 1896 und war offensichtlich den stattlichen Einkaufstempeln »Au Bon Marché« und »La Samaritaine« nachempfunden, die in Paris(6) über ein halbes Jahrhundert zuvor ihre Tore geöffnet hatten.

Bei der Abfassung des Erinnerungstexts über seine Kindheit versuchte Benjamin(19) etwas, das oberflächlich gesehen lediglich wie eine nostalgische Flucht aus einer schwierigen Situation eines Erwachsenen aussieht, sich bei näherem Hinsehen jedoch als revolutionärer Schreibakt entpuppt. Für Benjamin(20) war die Geschichte nicht, wie Alan Bennett(1) es formulierte, »eine dröge Angelegenheit nach der anderen«, lediglich eine Abfolge von Geschehnissen ohne Sinn. Vielmehr wurde diesen Geschehnissen narrativer Sinn auferlegt – das erst machte sie zu Geschichte. Doch war dieses narrative Auferlegen von Sinn durchaus kein unschuldiger Akt. Geschichte wurde von den Siegern geschrieben, in deren triumphalistischem Narrativ es für Verlierer keinen Platz gab. Ereignisse aus dieser Geschichte herauszureißen, wie Benjamin(21) es tat, und sie in andere temporale Kontexte – er sprach von Konstellationen – zu versetzen, war ein gleichzeitig marxistischer(21) und jüdischer Akt: ersteres, weil es darum ging, die verborgenen Selbsttäuschungen und die ausbeuterische Natur des Kapitalismus bloßzustellen; letzteres, weil dieses Vorgehen von jüdischen Ritualen der Trauer und der Erlösung geprägt war.

Entscheidend an Benjamins(22) Methode war also eine neue Auffassung von Geschichte, welche sich vom Vertrauen in jene Art von Fortschritt verabschiedete, die für den Kapitalismus eine Glaubenswahrheit darstellte. Damit folgte er Nietzsches(1) Kritik am Historismus, an jenem beschwichtigenden, triumphalistischen, positivistischen Gefühl, die Vergangenheit könne wissenschaftlich genauso begriffen werden, wie sie wirklich war. In der deutschen Philosophie des Idealismus wurde dieser Glaube an den Fortschritt durch die dialektische Entfaltung des Geistes in der Geschichte unterfüttert und gestützt. Allerdings tilgte diese historistische Phantasie Elemente der Vergangenheit, die nicht in ihr Narrativ passten. Benjamin(23) sah seine subversive Aufgabe also darin, das wiederzufinden, was von den Siegern dem Vergessen anheimgegeben worden war. Er wollte diese weitverbreitete Amnesie durchbrechen, die illusionäre Vorstellung von historischer Zeit zerstören und alle, die im Kapitalismus lebten, aus ihren Illusionen aufrütteln. Ein solcher Durchbruch würde sich, so seine Hoffnung, aus dem ergeben, was er als »eine neue, dialektische Methode der Historik« bezeichnete.[5] Dabei ging Benjamin davon aus, dass die Gegenwart von den Ruinen der Vergangenheit heimgesucht werde, von dem Müll, den der Kapitalismus aus seiner Geschichte heraus zu retuschieren suche(24).

Benjamin(25) bediente sich kaum einmal des freud(3)schen Begriffs einer Rückkehr des Verdrängten, aber genau das wurde durch sein Projekt in Bewegung gesetzt. Deshalb erinnert er sich beispielsweise in »Berliner(11) Kindheit um Neunzehnhundert«, wie er als kleiner Junge das Kaiserpanorama in einer Berliner(12) Einkaufspassage aufzusuchen pflegte. Das Panorama war eine gewölbeförmige Vorrichtung, die stereoskopische Bilder historischer Ereignisse, militärischer Siege, von Fjorden und Stadtlandschaften vorführte; die Bilder waren auf eine runde Wand gemalt, die langsam vor den Zuschauern vorbeizog. Moderne Theoretiker haben eine Parallele zwischen diesen Panoramen und den heutigen Multiplexkinos gezogen, ein Vergleich, den Benjamin(26) mit Sicherheit zu schätzen gewusst hätte: Die Art, wie eine veraltete, von einer bestimmten Technik geprägte Unterhaltungsform in den Blick genommen wird, die früher einmal der letzte Schrei war, regt uns dazu an, über eine jüngere Technik nachzudenken, die auf vergleichbare Bedürfnisse zielt.

Das Kaiserpanorama war zwischen 1869 und 1873 erbaut worden und nun dazu bestimmt, der Vergessenheit anheimzufallen, allerdings nicht bevor seine letzten Besucher, vor allem Kinder, es besucht hatten – vorzugsweise, wenn es draußen regnete. Benjamin(27) schrieb dazu: »Es war ein großer Reiz der Reisebilder, die man im Kaiserpanorama fand, daß gleichviel galt, bei welchem man die Runde anfing. Denn weil die Schauwand mit den Sitzgelegenheiten davor im Kreis verlief, passierte jedes sämtliche Stationen … [B]esonders gegen das Ende meiner Kindheit, als die Mode den Kaiserpanoramen schon den Rücken kehrte, gewöhnte man sich, im halbleeren Zimmer rundzureisen.«[6] Für Benjamin(28) waren es genau solche ausgemusterten Dinge – neben abgebrochenen Versuchen und kläglichen Misserfolgen, die aus den Narrativen des Fortschritts getilgt worden waren –, die seine kritische Aufmerksamkeit erregten. Er schrieb eine Geschichte der Verlierer, die nicht nur besiegte Personen betraf, sondern auch überflüssige Dinge, die früher einmal topaktuell gewesen waren. Wenn er sich also an das Kaiserpanorama erinnerte, dann schwelgte er nicht nur in der bittersüßen Erinnerung an das, was er an einem Regennachmittag in seiner Kindheit unternommen hatte, sondern er tat etwas, was sich in seinen Schriften immer wieder findet: Er studierte das Übersehene, das Wertlose, das Billig-Kitschige, eben jene Dinge, die in der offiziellen Version der Geschichte keinen Sinn ergaben, in die jedoch, so seine feste Überzeugung, die Träume und Wünsche des kollektiven Bewusstseins eingeschrieben waren. Indem er das Erbärmliche, Obsolete aus dem historischen Vergessen barg, wollte Benjamin(29) uns aus dem kollektiven Traum wecken, mit dem sich der Kapitalismus die Menschheit unterworfen hat.

Früher einmal war das Kaiserpanorama die angesagteste Sache in der Szene, zugleich eine Projektion utopischer Phantasien und deren Projektor. Als dann später der kleine Walter(30) das Panorama aufsuchte, war es bereits im Begriff, auf dem Schrotthaufen der Geschichte zu landen. Insofern war es, wie der erwachsene Benjamin(31) später erkannte, als er seine Erinnerungen niederschrieb, eine Allegorie auf die Täuschungen einer fortschrittsorientierten Geschichtsschreibung: Das Panorama dreht sich endlos im Kreis, seine Geschichte ist eine ewige Wiederholung, die echten Wandel ausschließt. So wie die Vorstellung historischen Fortschritts selbst war auch das Panorama ein phantasmagorisches Werkzeug, mit dem die Betrachter in einem Zustand der Unterwerfung, der Passivität und des törichten Träumens festgehalten wurden. Sie warteten (wie es ja auch Walter(32) bei seinen Besuchen tat) auf neue Erfahrungen, entfernte Welten und kurzweilige Reisen; auf ein Leben endloser Zerstreuung anstelle einer Konfrontation mit der Wirklichkeit des Kapitalismus mit sozialer Ungleichheit und Ausbeutung. Das Kaiserpanorama wurde durch neuere, bessere Technologien ersetzt, aber das geschieht im Kapitalismus immer: Wir werden immer mit etwas Neuem konfrontiert, nie lenken wir unseren Blick auf das Weggefallene, das Überholte, das Ausgemusterte. Wir sind mit dem Folteropfer in A Clockwork Orange vergleichbar oder mit den Bewohnern eines dantesken Infernos: dazu verdammt, bis in alle Ewigkeit die neuesten Waren zu konsumieren.

Für Benjamin war also die Abfassung seiner Kindheitserinnerungen Teil eines umfassenderen literarischen Projekts, das zugleich auch einen politischen Akt darstellte. Dieser politische Akt bildete die Grundlage für die marxistisch(22) getönte interdisziplinäre Arbeit, die später als Kritische Theorie bezeichnet wurde, und er wurde dann im Lauf des 20. Jahrhunderts von Benjamins(33) jüdischen Landsmännern vollzogen. Das geschah vor dem Hintergrund jener (aus deren Sicht) drei großen finsteren triumphalistischen Narrative der Geschichte, vertreten von gläubigen Jüngern des Kapitalismus, des stalinistischen(1) Kommunismus und des Nationalsozialismus.

Wenn kritische Theorie überhaupt irgendetwas bedeutet, dann ist damit jene Art radikalen Neu-Denkens gemeint, die als Herausforderung der offiziellen Versionen der Geschichte und des intellektuellen Strebens zu verstehen ist. Möglicherweise geht die Kritische Theorie auf Benjamin(34) zurück, doch war es dann Max Horkheimer(8), der sie, als er im Jahr 1930 zum Leiter der Frankfurter Schule ernannt wurde, als solche bezeichnete: Kritische Theorie stand in Opposition gegen all jene feigen intellektuellen Tendenzen, die sich im 20. Jahrhundert durchsetzen konnten und die als Instrumente benutzt wurden, um eine veraltete soziale Ordnung aufrechtzuerhalten – beispielsweise der logische Positivismus, die Vorstellung einer wertfreien Wissenschaft oder eine positivistische Soziologie. Die Kritische Theorie verstand sich auch als Opposition zu der Angewohnheit des Kapitalismus, diejenigen, die er ausbeutet, mit Konsumgütern abzuspeisen, und uns so vergessen zu lassen, dass andere Lebensentwürfe möglich sind. Das hat zur Folge, dass wir nicht mehr erkennen, dass wir aufgrund unserer fetischistischen Aufmerksamkeit für Konsumgüter, die man angeblich unbedingt haben muss, und unserer zunehmenden Abhängigkeit von ihnen Gefangene dieses Systems sind.

Als Benjamin(35) sich an den Wintermorgen seiner Kindheit im Jahr 1900 erinnerte, mochte es auf den ersten Blick so wirken, als sei er in eine Träumerei über seine privilegierte Kindheit versunken. Faktisch jedoch schrieb er wie ein Marxist – wenn auch ein reichlich sonderbarer Marxist. Der neue Morgen und das neue Jahrhundert, die die Aufmerksamkeit des kleinen Walter(36) durch jene süßen Düfte verlockten, welche 1900 durch weibliche Arbeit zustande kamen, schienen herrliche Möglichkeiten und materielle Sicherheit zu verheißen, doch wurde das alles von Benjamin(37) als Illusion enttarnt. Er schrieb einmal, der Kapitalismus sei »eine Naturerscheinung« gewesen, »mit der ein neuer Traumschlaf über Europa(3) kam und in ihm eine Reaktivierung der mythischen Kräfte«.[7] Das Ziel seines Schreibens bestand darin, uns aus diesem dogmatischen Schlaf wachzurütteln. Die Welt, die seine Eltern sich in ihrer Villa in Westberlin(13) geschaffen hatten, musste entlarvt werden: dieses Leben, das so sicher, beständig und natürlich schien, in Wahrheit aber auf Selbstgefälligkeit in Verbindung mit dem skrupellosen Ausschluss all derjenigen aufgebaut war, die nicht in dieses triumphalistische Narrativ passten, also vor allem die Armen.

So berichtete er(38) beispielsweise über den Ort seiner Geburt in einer großen Appartementwohnung in einem damals eleganten Bezirk südlich des Berliner(14) Tiergartens. Er schrieb in der dritten Person; vielleicht sollte diese Distanzierungstechnik die Entfremdung des kommunistischen Schriftstellers von seinem früheren Selbst zum Ausdruck bringen: »… die Klasse, die ihn zu ihrem Angehörigen bestimmt hatte, [lebte] in jener aus Selbstgefühl und Ressentiment gebildeten Haltung, die [aus ihrem Wohnviertel] etwas wie ein ihr zum Lehen verliehenes Ghetto machte. Jedenfalls war er in dieses Viertel der Wohlhabenden eingeschlossen, ohne von einem anderen zu wissen. Die Armen – für reiche Kinder seiner Generation lebten sie auf dem Dorfe(39).«[8]

In einem Abschnitt der »Berliner(15) Kindheit um Neunzehnhundert« beschreibt er unter der Überschrift »Bettler und Huren« die Begegnung mit einem Armen. Bis zu diesem Augenblick hatten für den jungen Walter(40) Arme lediglich als Bettler existiert. Dann jedoch, als wolle er beweisen, dass ihm erst durch das Schreiben eine echte Erfahrung möglich war, erinnerte er sich daran, wie er eine kleine Niederschrift anlegte(41),

… vielleicht der ersten, die ich ganz für mich selbst verfaßte. Sie hatte es mit einem Mann zu tun, der Zettel austeilt und mit den Erniedrigungen, die er durch ein Publikum erfährt, das für die Zettel kein Interesse hat. So kommt es, daß der Arme – damit schloß ich – sich heimlich seines ganzen Packs entledigt. Gewiß die unfruchtbarste Bereinigung der Lage. Aber keine andere Form der Revolte ging mir damals ein als die der Sabotage; diese freilich aus eigenster Erfahrung. Auf sie griff ich zurück, wenn ich der Mutter mich zu entziehen suchte(42).[9]

Die Projektion der Protestmethoden gegen seine überbehütende Mutter auf einen um seine Existenz kämpfenden Arbeiter ist vielleicht nicht die ausgefeilteste Form der Revolte für einen Mann, der sich selbst als einen Kommunisten verstand, doch Benjamins(43) jugendliche, wenn auch begrenzte Empathie war immerhin ein Anfang. Wiederholt wurde er in Reflexionen über die Frage hineingezogen, in welcher Weise seine privilegierte Kindheit von einer skrupellosen Vertuschung der Existenz von Abstoßenden und Unglücklichen abhing und inwiefern die bürgerliche Sicherheit seiner Kindheit einen monströsen, mehr oder weniger absichtlichen Akt des Vergessens mit sich brachte: Das, was jenseits der heruntergelassenen Jalousien der Familienwohnungen lag, wurde ausgeblendet. So erinnert sich Benjamin beispielsweise in der »Berliner(16) Chronik«, einer Reihe von Zeitungsartikeln aus den 1920er Jahren, die der Abfassung der »Berliner(17) Kindheit« vorangingen, an das Gefühl bürgerlicher Sicherheit, das die Atmosphäre in der Wohnung seiner Familie bestimmte(44):

Hier herrschte eine Art von Dingen, welche, bei aller Gefügigkeit, mit denen sie den Impulsen der Moden sich im Kleinen unterwarf, im Ganzen so von sich und ihrer Dauer überzeugt war, daß sie mit keiner Abnutzung, keinem Erbgang, keinem Umzug rechnete und immer gleich nahe und gleich weit von ihrem Ende, das das Ende aller Dinge schien, verharrte. Das Elend konnte in diesen Räumen keine Stelle haben, in welchen ja nicht einmal der Tod sie hatte(45).[10]

In seinem letzten Essay schreibt Benjamin(46): »Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein.«[11] Diese Wahrnehmung, das Nichtakzeptierbare, das Peinliche, das Widerstrebige, das ideologische Verschwinden dessen zu unterdrücken, was nicht in das herrschende Narrativ passt, findet sich bei Benjamin schon früh, und sie blieb ihm ein Leben lang erhalten: Die Barbarei begann für Walter Benjamin(47) in seinem Elternhaus. Und auch die Denker der Frankfurter Schule verschrieben sich der Aufdeckung der Barbarei, die ihrer Meinung nach die angebliche Kultur des Kapitalismus stützte, auch wenn sie diese Barbarei nicht mit derselben Akribie wie Benjamin(48) innerhalb ihrer je eigenen Familien aufspürten.

Man gewinnt bei Benjamin(49) den Eindruck, dass es in seiner Kindheit von gediegenen Gebrauchsgegenständen nur so wimmelte, als seien seine Eltern unwissentlich Opfer dessen gewesen, was Marx(23) als Warenfetischismus bezeichnete: Und sie lebten ihre Zugehörigkeit zur profanen Religion des Kapitalismus durch ausschweifende Einkaufstouren aus und häuften so jene Artikel an, die ihr Sohn sowohl als Kind als auch dann später als erwachsener Marxist in seiner Phantasie umfunktionierte. »Um ihn(50) herum«, so seine Biographen, »erstreckte sich eine vielgestaltige Dingwelt, die seine ausgeprägte Einbildungskraft und seine unersättlichen Nachahmungsfähigkeiten ansprach: feines Geschirr, Kristall und Besteck, das an Festtagen aufgelegt wurde; und antike Möbel – ausladende, verzierte Schränke und Esstische mit geschnitzten Tischbeinen boten sich bereitwillig zu Maskenspielen an.«[12] Aus einem Abstand von 32 Jahren schilderte Benjamin, wie der kleine Walter(51) durch diese üppige Oberfläche hindurchdrang, indem er etwa einen Tisch beschrieb, der für ein Festessen gedeckt war: »… wenn ich diese langen, langen Reihen von Mokkalöffeln oder Messerbänkchen, Obstmessern oder Austerngabeln sah, stritt mit der Lust an dieser Fülle Angst, als sähen die, die nun erwartet wurden, einander gleich wie unsere Tischbestecke.«[13] Ein kluger Gedanke: Als die Denker der Frankfurter Schule und andere führende Marxisten(24) wie Georg Lukács(6) über das Phänomen der Wiederholung im Kapitalismus nachdachten, war genau das ihre Sorge: dass Personen ebenso wie Besteckteile zu Waren wurden, gezwungen, sich dem alles aufzehrenden Tauschprinzip anzupassen, entmenschlicht und grenzenlos ersetzbar durch Artikel desselben Wertes.

Doch welches Bedürfnis bewegte Walter Benjamin(52) im Jahr 1932, über seine Kindheit in Berlin(18) zu Beginn des Jahrhunderts zu schreiben? Denn wieder und wieder kehrte er in seinen Texten aus den 1920er und 1930er Jahren zu diesen seine Phantasie anregenden Kindheitsszenen zurück. Und vor allem im Sommer des Jahres 1932 erinnerte er sich – im ersten Entwurf zu dem Werk, aus dem dann später »Berliner(19) Kindheit um Neunzehnhundert« hervorging – an seine Kindheit, um auf eine ganz eigentümliche Weise ein ganz bestimmtes psychisches Bedürfnis zu befriedigen. Er(53) wanderte in jenem Sommer in Europa(4) umher, Berlin mied er, und letztlich landete er in der Toskana im Seebad Poveromo(1).[14] Das Berlin seiner Kindheit war dazu verurteilt zu entschwinden, die Juden und Kommunisten der Stadt wurden von den Nationalsozialisten ermordet oder gezwungen, ins Exil zu gehen. Unglückseligerweise war Benjamin sowohl Jude als auch Kommunist. Die »Berliner(20) Kindheit« sei also zu einer Zeit entstanden, so Benjamin in seiner Einleitung, als »mir klar zu werden [begann], daß ich in Bälde einen längeren, vielleicht einen dauernden Abschied von der Stadt, in der ich geboren bin, würde nehmen müssen(54)«.[15]

Nostalgie, die sehnsuchtsvolle Hinwendung zur Vergangenheit, ist normalerweise dekadent, trügerisch und konservativ, vor allem wenn ein Erwachsener auf seine Kindheit zurückblickt. Benjamins(55) nostalgische Haltung zum Berlin(21) seiner Kindheit zur Zeit der Jahrhundertwende hingegen war die Nostalgie eines revolutionären Marxisten(25) und außerdem, was noch wichtiger ist, die Nostalgie eines Juden, dem es darauf ankam, den traditionellen jüdischen Trauer- und Erinnerungsritualen einen neuen Akzent abzugewinnen. Darauf verwies der marxistische(26) Kritiker und Benjamin-Forscher Terry Eagleton(1):

Heutzutage ist Nostalgie beinahe so verpönt wie Rassismus. Unsere Politiker empfehlen uns, einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen und uns von alten Zwistigkeiten abzuwenden. Dann können wir in eine gesäuberte, blanke, amnesische Zukunft springen. Benjamin(56) wandte sich gegen diese Art von Philistertum, denn ihm wurde bewusst, dass die Vergangenheit vitale Ressourcen für die Erneuerung der Gegenwart bereithält. Wer die Vergangenheit auslöscht, begibt sich in die Gefahr, auch die Zukunft zu beseitigen. Keiner hatte größeres Interesse daran, die Vergangenheit auszumerzen, als die Nazis, die – genau wie die Stalinisten – einfach alles aus dem historischen Befund strichen, was sie als unpassend empfanden(2).[16]

So galt es, Arbeit an der Vergangenheit zu leisten: Für die Nazis bestand diese Arbeit im Bereinigen und Beschönigen; für Benjamin(57) bedeutete sie die sensible Pionierarbeit des Archäologen. Das Gedächtnis ist kein »Instrument zur Erkundung der Vergangenheit, sondern deren Schauplatz«, schreibt er in der »Berliner(22) Kindheit«. »Es ist das Medium des Erlebten wie das Erdreich das Medium ist, in dem die toten Städte verschüttet liegen. Wer sich der eigenen verschütteten Vergangenheit zu nähern trachtet, muß sich verhalten wie ein Mann, der gräbt. Das bestimmt den Ton, die Haltung echter Erinnerung. Sie dürfen sich nicht scheuen, immer wieder auf einen und denselben Sachverhalt zurückzukommen; ihn auszustreuen wie man Erde ausstreut, ihn umzuwühlen wie man Erdreich umwühlt.«[17] Genau das tat Benjamin(58): Er kehrte wieder und wieder zur selben Szene zurück, grub sich so lange durch Schichten der Verdrängung hindurch, bis er zum Schatz gelangte.

»Erinnerung war nicht lediglich eine Bestandsaufnahme der Vergangenheit«, merkte seine Biographin Esther Leslie an(1). »Die Bedeutung der Erinnerung hing von den Schichten ab, die sie überdeckten und die bis hinauf zur Gegenwart reichten, bis hin zum Zeitpunkt und dem Ort ihrer Wiederentdeckung. Erinnerung aktualisiert das Gegenwärtige.«[18] Mit anderen Worten: Es existierte ein Phänomen, das Benjamin(59) in seinem Passagen-Werk als ein »›Jetzt‹ seiner ›Erkennbarkeit‹« bezeichnet[19] – so als könne die Bedeutung längst begrabener Dinge erst viel später erkannt werden. Wir blicken zum Teil aus dem Grund in die Vergangenheit, weil wir das Jetzt verstehen wollen. So kehrte beispielsweise Benjamin(60), als er sich in den 1920er und 1930er Jahren an sein Knabenalter erinnerte, wieder und wieder zu einer ganz bestimmten Kindheitsszene zurück, in welcher sein Vater Emil(3) in das Schlafzimmer des fünfjährigen Walter trat:

Wahrscheinlich um mir gute Nacht zu sagen. Es war halb gegen seinen Willen, denke ich, daß er die Nachricht vom Tode eines Vetters mir erzählte. Das war ein älterer Mann, der mich nichts anging. Mein Vater aber gab die Nachricht mit allen Einzelheiten … Von der Erzählung nahm ich nicht viel auf. Wohl aber habe ich an diesem Abend mein Zimmer und mein Bett mir eingeprägt, wie man sich einen Ort genauer merkt, von dem man ahnt, man werde eines Tages etwas Vergessenes von dort holen müssen. Nach vielen Jahren erst erfuhr ich, was. In diesem Zimmer hatte mir mein Vater ein Stück der Neuigkeit verschwiegen. Nämlich der Vetter war an Syphilis gestorben.[20]

Benjamin(61) grub diese Szene wiederholt aus: In verschiedenen Entwürfen zur »Berliner(23) Kindheit um Neunzehnhundert« und deren Vorläufer, der »Berliner(24) Chronik«, schreibt er sie ungefähr viermal um, wobei er sich jedes Mal auf andere Aspekte konzentriert. Hier und andernorts bringen die Vorahnungen des Kindes und das Wissen des Erwachsenen, der sich schreibend an seine Vergangenheit erinnert, Vergangenheit und Gegenwart in eine dialektische Beziehung zueinander. Erst als er seine Erinnerungen niederschrieb, konnte er(62) in vollem Ausmaß die Gründe nachvollziehen, die seinen Vater(4) dazu bewogen hatten, ihn in seinem Schlafzimmer aufzusuchen; erst dem Erwachsenen erschloss sich das Ereignis in seinem Jetzt der Erkennbarkeit.

Diese obsessive Erinnerung an die Kindheit erinnert an Marcel Proust(1), einen der Lieblingsautoren Benjamins(63), vor allem an eine andere Schlafzimmerszene zu Beginn von À la recherche du temps perdu, in der ein anderer privilegierter kleiner Junge – der neurotische, jüdische, viktorianische, zwanghafte Marcel(2) – in seinem Zimmer sitzt und darauf wartet, dass seine geliebte Mutter kommt und ihm einen Gutenachtkuss gibt. »Man weiß, daß Proust(3) nicht ein Leben wie es gewesen ist in seinem Werke beschrieben hat«, so Benjamin(64) in seinem Essay »Zum Bilde Prousts(4)«, »sondern ein Leben, so wie der, der’s erlebt hat, dieses Leben erinnert. Und doch ist auch das noch unscharf und bei weitem zu grob gesagt. Denn hier spielt für den erinnernden Autor die Hauptrolle gar nicht, was er erlebt hat, sondern das Weben seiner Erinnerung, die Penelopearbeit des Eingedenkens.«[21] Benjamin(65) machte also Gebrauch von Prousts(5) Begriff der mémoire involontaire, der Wirksamkeit spontanen Erinnerns, die er vom vorsätzlichen Eingedenken der mémoire volontaire unterscheidet. Nach Benjamin(66) waren Träume der Schlüssel für solches Erinnern. »An jedem Morgen halten wir, erwacht, meist schwach und lose, nur an ein paar Fransen den Teppich des gelebten Daseins, wie Vergessen ihn in uns gewoben hat, in Händen«, so schreibt er im selben Essay. »Aber jeder Tag löst mit dem zweckgebundenen Handeln und, noch mehr, mit zweckverhaftetem Erinnern das Geflecht, die Ornamente des Vergessens auf. Darum hat Proust(6) am Ende seine Tage zur Nacht gemacht, um im verdunkelten Zimmer bei künstlichem Lichte all seine Stunden ungestört dem Werk zu widmen, von den verschlungenen Arabesken sich keine entgehen zu lassen(67).«[22]

Als Proust(7) den Geschmack des in Tee getauchten Madeleine-Gebäcks auf der Zunge verspürte, eröffnete sich ihm seine Kindheit in bislang unerhörtem Detailreichtum. Solche Momente ließen das entstehen, was Benjamin(68) als »Prousts(8) blinde[s], unsinnige[s] und besessene[s] Glücksverlangen« bezeichnete.[23] Auf den ersten Blick mag es den Anschein haben, als sei Benjamin(69), als er sich an den Duft des Bratapfels erinnerte, von einem ähnlichen Verlangen angetrieben, seine Kindheit vor den Verwüstungen durch die Zeit zu retten, in Wahrheit aber ging es ihm um etwas Anderes, Eigentümlicheres. Prousts(9) Suche nach der »verlorenen Zeit« wurde unternommen, um gänzlich vor der Zeit zu fliehen; Benjamin(70) hingegen zielte darauf, seine Kindheit in eine neue zeitliche Beziehung zur Vergangenheit zu bringen. Der Literaturwissenschaftler Peter Szondi(1) bemerkte dazu: »Prousts(10) eigentliches Ziel ist die Flucht vor einer Zukunft, die voller Gefahren und Drohungen ist, und die schlimmste von allen ist der Tod.« Benjamin(71) verfolgt hingegen ein anderes und meines Erachtens weniger trügerisches Projekt: Es gibt keine Immunisierung gegen den Tod, man entkommt ihm nicht. »Die Zukunft ist genau das, was Benjamin – im Unterschied zu Proust(11) – in der Vergangenheit sucht. Fast jeder Ort, den seine Erinnerung wiederzuentdecken sucht, trägt Spuren dessen, was noch bevorstand«, so Szondis(2) Formulierung. »Im Unterschied zu Proust(12) will Benjamin sich nicht von der Zeitlichkeit befreien; er möchte die Dinge nicht in ihrer ahistorischen Essenz sehen.«[24]

Wenn er in die Vergangenheit blickte und dort das Vergessene, das Obsolete, das angeblich Irrelevante entdeckte, kam es Benjamin(72) vielmehr darauf an, nicht nur die Vergangenheit durch die Art revolutionärer Nostalgiearbeit zu erlösen, die den Kritiker Terry Eagleton(3) so ansprach, sondern auch die Zukunft. »Die Vergangenheit«, so Benjamin in dem Text »Über den Begriff der Geschichte«, »führt einen heimlichen Index mit, durch den sie auf die Erlösung verwiesen wird.«[25] Benjamins(73) Aufgabe als kritischer Archäologe bestand darin, diesen Index wiederzuentdecken und zu entziffern.

Insofern war das, was er tat, sehr jüdisch. Proust(13), auch er ein bedeutender jüdischer Schriftsteller, strebte an, seine Kindheit vor den Verwüstungen durch die Zeit zu bewahren, indem er sie durch das Phantasiegebilde des Romans aus dem Kontinuum der Geschichte herausnahm. Benjamin(74) ließ sich von diesem Vorhaben inspirieren, doch verfolgte er mit seiner Erinnerungsarbeit einen anderen Zweck. Indem er über seine privilegierte Kindheit nachsann, ging es ihm darum, sich selbst und seine historische Verfasstheit als Funktion des kapitalistischen Klassensystems zu verstehen. Für Proust(14) war die Erinnerung ein Mittel zur Wiedererweckung eines Zustands der Glückseligkeit: Die Zeit sollte angehalten werden. Für Benjamin hatte der Akt des Erinnerns im Schreiben den dialektischen Charakter eines Palimpsests, er bewegt sich in der Zeit vor und zurück und verwebt zeitlich auseinanderliegende Ereignisse zu jenem Gebilde, das er als die Penelopearbeit des Erinnerns bezeichnete.

Doch sollte die »Berliner(25) Kindheit« nach Benjamins(75) Einschätzung noch mehr leisten – sie bildete eine Art geistiger Vorbeugungsmaßnahme gegen das, was bevorstand: die Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland(8) und das Exil, das für ihn damit sehr wahrscheinlich verbunden sein würde. »Ich hatte«, so schreibt er(76) in der Einleitung zu seinem Werk,

das Verfahren der Impfung als heilsam erfahren; ich hielt mich auch in dieser Lage daran und rief die Bilder, die im Exil das Heimweh am stärksten zu wecken pflegen – die der Kindheit – mit Absicht in mir hervor. Das Gefühl der Sehnsucht durfte dabei über den Geist ebensowenig Herr werden wie der Impfstoff über einen gesunden Körper. Ich suchte es durch die Einsicht, nicht in die zufällige biographische, sondern in die notwendige gesellschaftliche Unwiederbringlichkeit des Vergangenen in Schranken zu halten(77).[26]