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Ein Roman als psychotherapeutische Maßnahme – geht das? "Graugrün und Kastanienbraun" ist ein facettenreicher Roman über die Lebenssituation der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Er erzählt von einem souveränen Menschen, der trotz seiner Stärke der wuchernden Vielfalt seines Lebens ausgeliefert bleibt und letztendlich droht, daran zugrunde zu gehen. Ein packender Bericht über die Kehrseite von Karriere und Leistung. Hochaktuell!-
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Seitenzahl: 472
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Helmut Degner
SAGA Egmont
Graugrün und Kastanienbraun. Aufzeichnungen eines Neurotikers
Copyright © 1979, 2018 Helmut Degner und Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
All rights reserved
ISBN: 9788726032208
1. Ebook-Auflage, 2018
Format: EPUB 2.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach
Absprache mit Lindhardt og Ringhof gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com
Für Prabhuta. Für Trudi
Für Bhagwan Shree Rajneesh und alle seine Sannyasins
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In klaren Sommernächten stand er auf dem Balkon und hielt, eine Zigarette nach der andern rauchend, stumme Zwiesprache mit dem Mond, seinem alten Feind, der mit kaltem blauweißem Gesicht auf ihn niedergrinste. In den Häusern um ihn war nur noch hinter wenigen Fenstern Licht, und eins nach dem andern verlöschte; er kannte die Menschen dahinter und ihre Gewohnheiten aus diesen Nächten und wußte, wann jeder zu Bett ging. Manchmal trat jemand an ein Fenster und zog, weil er sich von ihm beobachtet fühlte, den Vorhang zu. Dann stieg Haß in ihm auf, weil er sich abgelehnt und ausgeschlossen fühlte. Die Namen der Sternbilder, die Woche für Woche ein Stück am Himmel weiterrückten, hatte er vergessen; als Kind hatte sie ihm sein Vater oft erklärt, vielleicht deshalb. Nur einen kannte er noch: Kassiopeia. Er wußte nicht mehr, zu welchem Sternbild er gehörte, aber der Name hatte einen schönen, tröstlichen Klang, den er mit hinüber nahm in seinen unruhigen, seichten Schlaf. Wenn er im Morgengrauen die Balkontür schloß, weil er das Gezwitscher der Vögel nicht ertrug, hing der Mond im Westen, nun gesichtlos, im Dunst über den Hausdächern, ein roter Inkamond, blutüberströmt und bedrohlich.
Die Menschen, die unten an seinem Haus vorbeigingen, hatten fast alle die Gesichter von Menschen, die ihm in seinem früheren Leben begegnet waren – meist Menschen, die kaum Bedeutung für ihn gehabt hatten und an die er in all den Jahren dazwischen nie gedacht hatte: der Schlosser einer Autowerkstatt, der seinen ersten Wagen repariert hatte, der Bademeister, der ihm als Jungen das Schwimmen beibrachte, die Verkäuferin eines Zigarettengeschäfts in der Kleinstadt, in der er vor vielen Jahren gelebt hatte, der Bruder der Frau, die ihn verlassen hatte. Er versuchte dem Grund dieser seltsamen Ähnlichkeiten auf die Spur zu kommen, doch es gelang ihm nicht. Manchmal sah er ein Gesicht, das ihm von früher bekannt war, doch ihm fiel nicht ein, wem es gehört hatte. Wenn er darüber nachgrübelte, schoben sich andere vertraute Gesichter aus der Vergangenheit davor, deren Träger ihm auch entfallen waren, vermischten sich, löschten einander aus, und er fand lange keine Ruhe.
Am frühen Morgen flatterten dicke blaugraue Tauben auf das Balkongeländer, ließen sich mit einem fetten, plumpsenden Geräusch, das ihr Gewicht verriet, darauf nieder und verfielen in ein dumpfes endloses Gurren: Ratten der Luft nannte er sie. Sie entleerten ihren Kot, und die widerliche weiße Schicht auf dem Balkonboden, die Regen nicht wegschwemmte, wurde immer dicker, doch er brachte es nicht über sich, sie abzukratzen. Einmal lag morgens auf dem Rasen vor seinem Fenster eine tote Taube mit in die Höhe gestreckten rotgeschuppten Beinen, und er mußte immer wieder ans Fenster treten und sie mit Entsetzen betrachten, bis er sich überwand, den Hausmeister zu bitten, sie zu entfernen. Das Trinkgeld, das er ihm gab, war viel zu hoch. Mit Bangen dachte er an den letzten Winter, in dem monatelang jeden Tag krächzend und kreischend riesige Schwärme von Krähen über den Himmel gezogen waren: frühmorgens der aufgehenden Sonne entgegen nach Osten, abends mit der untergehenden Sonne nach Westen. Er konnte sich nicht entsinnen, dieses Phänomen schon früher in seinem Leben einmal beobachtet zu haben; er fragte sich, woher die Krähen kamen und wohin sie flogen, wo sie die Nacht verbrachten und wo den Tag und warum man im Sommer keine Krähen sah, und es machte ihm große Angst, daß er keine Antwort darauf fand. An einem trüben Wintermorgen hörte das schon gewohnte Krächzen der Krähen nicht auf, und als er aufstand und ans Fenster trat, sah er, daß sich ein riesiger Schwarm über seinem Haus versammelt hatte: Hunderte schwarzer Vögel bedeckten den grauen Himmel, flatterten kreischend über ihm im Kreis, bildeten wirbelnde Strudel. Erst als sie endlich weiterzogen, ging er wieder zu Bett. Er konnte nicht mehr einschlafen und war sicher, an diesem Tag sterben zu müssen.
Er konnte seine Wohnung, außer zu den lebensnotwendigen Einkäufen in den umliegenden Geschäften, von denen er jedes Mal nicht zurückzukehren fürchtete, seit zwei Jahren nicht verlassen: aus Angst, auf der Straße tot umzufallen, und aus Angst vor dieser Angst. Die Stunden, in denen er allein in seiner Wohnung auf der Couch lag, summierten sich zu Tausenden und Tausenden, und in diesen Stunden bevölkerte er, weil das Alleinsein wie ein schwarzer Schlund war, in den er immer tiefer zu stürzen drohte, seinen Kopf mit Namen – zahllosen Namen: von Filmschauspielern, von Markenartikeln, Buchtitel, Firmennamen, Namen von Menschen, die er gekannt hatte. Er gruppierte die Namen in seinem Kopf zu dritt oder zu fünft oder zu sechst und sagte sie in den Stunden auf seiner Couch unausgesetzt hintereinander auf. Fiel ihm ein Name nicht ein, dann ergriff ihn Todesangst, und er lag Stunden schweißüberströmt in Panik und grübelte darüber nach, wobei Horden anderer Namen über ihn herfielen und völlig von ihm Besitz ergriffen. Jeder neue Name, der hinzukam, drohte ihn zu vernichten – ein weiterer Grund, die Straße zu meiden, denn von überall her stürzten sich dort Namen auf ihn: von vorüberfahrenden Lastwagen, von Firmentafeln, von Plakaten, Straßenschildern. Er aß seit langem nur gebratenes Fleisch und Obst, denn Konserven, Nahrungsmittel, Tiefkühlkost konnte er sich nicht kaufen, weil auf jeder Packung oder Dose ein Name stand, den er sich merken mußte, ein neuer Name, der zu Hunderten von Namen in seinem Kopf hinzukam, den er mit anderen neuen Namen in Gruppen von fünf oder sechs immer wieder memorieren mußte, der ihn, fiel er ihm nicht ein, in Todesqualen versinken ließ. Er konnte seit zwei Jahren nicht lesen, nicht fernsehen, nicht arbeiten, denn in jedem Fernsehspiel, in jedem Zeitungsartikel, in jedem Buch gab es Namen – neue Namen von Schauspielern, von Politikern, von Orten und Ländern. Irgendwo, aus Gesprächen von Leuten in Geschäften oder auf der Straße, denen er nicht ausweichen konnte, hatte er aufgeschnappt, daß es seit vorigem Jahr in Amerika einen neuen Präsidenten gab und daß die SPD die letzten Wahlen wieder gewonnen hatte, doch er wußte nicht, wer der neue Präsident war oder wie er hieß und ob die Minister der SPD noch die gleichen waren wie vor zwei Jahren, als er noch Zeitung lesen konnte. Er hätte es brennend gern erfahren, wie alles andere, was inzwischen auf der Welt geschehen und nicht zu ihm gedrungen war, und zugleich fürchtete er maßlos, auf irgendeine Weise Kenntnis davon zu erlangen, denn es würde für ihn neue Namen bedeuten. Manchmal dachte er, daß das Aufsagen der Namen eine Ersatzreligion war, zur Abwehr der Angst, ähnlich dem Beten eines Rosenkranzes. Seine Ängste versammelten sich zu einer neuen Angst: daß die Namen seinen Verstand zerfressen würden, und er fand immer neue Anzeichen dafür, daß sie es bereits taten. Elektrischer Strom war ihm ein unlösbares Rätsel, ihm fiel nicht die Hauptstadt von Kolumbien ein, und er fragte sich, ob er auch früher schon nicht gewußt hatte, wie ein Telefon funktionierte, und ob auch andere Menschen mit durchschnittlicher Bildung so etwas nicht wußten. Daß die Entstehung von Äpfeln und Kirschen mit Blütenstaub und Bienen zu tun hatte, war ihm noch in Erinnerung, doch wie pflanzten sich Mohrrüben fort, bei denen es doch – wenn er sich richtig entsann – keine Blüten gab? Ein Mechaniker, dem die Reparatur eines Fernsehapparates gelingen konnte, erschien ihm als Genie, und wie merkte sich ein Kellner, oft ein Mensch ohne sonderliche Verstandesgaben, was jeder einzelne Gast bestellt und verzehrt hatte; woher nahm er immer wieder das passende Kleingeld zum Herausgeben? In ihm wuchs eine weitere Angst: er werde den Rest seines Lebens im riesigen Schlafsaal eines Irrenhauses, in grauer Anstaltskleidung, betäubt von Medikamenten, welche die Angst, aber auch jedes Gefühl und jede Phantasie zudeckten, dahindämmern müssen, zwischen Schizophrenen und Manikern. Sein Psychotherapeut, ein bärtiger kleiner Mann mit flinken Bewegungen und klugen, guten Augen, für ihn manchmal ein Pan und manchmal ein Sokrates, dem alles klar zu sein schien, was auf der Welt und zwischen den Menschen vor sich ging, und noch einiges mehr – er fuhr zweimal in der Woche mit dem Taxi zu ihm, mit gesenktem Kopf, damit sein Blick nicht auf Straßenschilder und Autoaufschriften und Reklametafeln fiel – hatte ihm gesagt, dies sei sein unbewußter Wunsch, denn was man fürchte, wolle man: eine ungeheure Selbstbestrafung – wofür, müsse man herausfinden. In der Nacht danach war ihm seine erste Kindheitserinnerung eingefallen: Er lag, mit zwei oder drei Jahren, in seinem Gitterbett – welch schreckliche Assoziation: Gitterbett – und sah an der Wand – er wußte nicht, ob es ein Tapetenmuster war oder Phantasie – einen weißbärtigen, seinem Großvater ähnelnden Petrus, der kleine nackte Engel übers Knie legte und verprügelte, und er hatte dabei ein angenehmes Gefühl empfunden.
In der Garage, deren Miete unnütz sein Budget belastete, stand seit zwei Jahren sein Wagen: auf dem Tachometer die Kilometerzahl seiner letzten Fahrt, die Reifen ohne Luft. Den Boden der Garage bedeckte eine glitschige Schicht ausgetropften Öls, das bei seinem ersten und einzigen Besuch vor mehreren Monaten an seinen Schuhsohlen haften geblieben war, was er erst bemerkt hatte, als er die Flecken auf dem Teppich seiner Wohnung sah. Er sperrte die Tür des Wagens auf, setzte sich hinter das Lenkrad und strich mit der Hand über den geflochtenen Bezug. Plötzlich packte ihn Angst, er könne ersticken in dem kleinen, engen Raum, doch er kurbelte das Fenster herunter und hielt der Angst stand, und im gleichen Moment hörte er, daß die elektrische Uhr im Armaturenbrett tickte. Er schaltete die Scheinwerfer ein, und ihr gleißendes Licht fiel auf die weißgetünchte Wand der Garage. Daß die Batterie des Wagens zwei Winter überstanden hatte, ließ eine, wie ihm schien, unsinnige Hoffnung in ihm aufsteigen, doch er hatte es in der Zeit seither nicht über sich gebracht nachzusehen, ob sie immer noch intakt war.
Als ihm das Mädchen ihre Geschichte erzählt hatte und gegangen war, trat er ans Fenster und schaute durch die trübe Scheibe hinaus in den Regen. Er begann im Zimmer auf und ab zu gehen, hier eine Vase zurecht rückend, dort mit dem Finger den Staub von einem Buch wischend, doch seine Unruhe wurde immer stärker. Er ging ins Vorzimmer, streifte seinen Mantel über, fuhr mit dem Lift hinunter und lief in den Park auf der andern Seite der Straße. Unter seinen Schuhen knirschte der nasse Kies. Er schlenderte eine Weile kreuz und quer über die schmalen Wege; dann setzte er sich auf eine zerschrammte Bank, deren grüne Farbe von Sitz und Lehne abgeblättert war. In den Büschen rauschte der Regen, hoch oben in einem der Bäume, deren dunkle Stämme über ihm mit der noch schwärzeren Finsternis verschmolzen, kreischte ein Nachtvogel. Hinter einigen Fenstern des Hauses gegenüber zuckte das blaue Licht von Fernsehapparaten, aus einem Radio plärrte Schlagermusik. Sein Blick fiel auf die Kirchturmuhr, die er auch von seiner Wohnung aus sehen konnte und deren Zeiger seit einigen Wochen zur Reparatur abmontiert waren. Er starrte auf das leere Zifferblatt und spürte mit seltsamer Distanziertheit, wie ihn Entsetzen packte. Mit der Zungenspitze fuhr er über die Zahnlücken in seinem Mund. Er war Ende vierzig, und seine Zähne faulten wie feuchtes Holz; alle paar Monate mußte einer gezogen werden. Manchmal stand er morgens im Bad vor dem Spiegel und starrte voll Haß das verkniffene Gesicht mit der Lücke im linken Mundwinkel an, das ihm hämisch entgegengrinste. Sein Friseur hatte ihn schon vor Jahren bei jedem Besuch darauf aufmerksam gemacht, wie seine grauen Haare sich vermehrten, und ihm irgendein Färbemittel empfohlen. Seit einigen Wochen ließ er nachts das Licht an und stellte seinen Wecker immer wieder so, daß er ihn alle zwei Stunden aus dem Schlaf riß, denn er fürchtete, sonst nie mehr aufzuwachen.
Der Vogel war verstummt, und das Plärren des Radios hatte aufgehört. Das einzige Geräusch war das Schnurren der Autoreifen auf dem nassen Asphalt der Straße hinter den Häusern. Die mondlose Dunkelheit umhüllte ihn wie ein nasser erstickender Mantel, und ihn überkam das Gefühl, allein zu sein auf einer Welt ohne Menschen, als einziger zurückgeblieben auf einem Planeten, auf dem alles Leben erstorben war. Sein Mund füllte sich mit schaumigem Speichel, doch er war nicht fähig, ihn hinunter zu schlucken, und er rann über sein stoppliges, seit zwei Tagen unrasiertes Kinn. Es kam sich vor wie ein sabbernder Idiot, doch es machte ihm nichts aus. Sein Magen war eine Grube voll Eis, und die Kälte breitete sich von ihm über seinen ganzen Körper aus, kroch den Rücken hinauf und ließ seine Glieder starr und steif werden. Mit einer Gleichgültigkeit, die ihm selbst unerklärlich war, ließ er zu, daß diese Starre ganz von ihm Besitz nahm, und als er aufhörte, sich gegen den Tod zu wehren – er war es, dessen war er sicher –, ergriff ihn plötzlich ein Gefühl schwebender Leichtigkeit, dem er sich ganz hinzugeben vermochte. Jeder Sinn für Zeit und Raum schwand, und als die Kirchturmuhr die volle Stunde schlug und ihr Dröhnen seinen Kopf füllte und ihn wieder zu sich kommen ließ, wußte er nicht, wie lange dieser Zustand völliger Leere gedauert hatte.
Er hob die Hand zum Mund und grub die Zähne mit aller Kraft in den Ballen seines Daumens. Verwundert blickte er auf das dunkle Rinnsal, das sich langsam über seine Hand ausbreitete. Er genoß den Schmerz und den salzigen Geschmack in seinem Mund. Dann stand er auf und ging über die Straße zurück in seine Wohnung, um sich zu rasieren und das Geschirr abzuspülen und die Geschichte aufzuschreiben, die ihm das Mädchen erzählt hatte.
Der Onkel war, als sie vor vielen Jahren, mit zehn oder elf, einmal die Ferien bei ihm und seiner Familie verbrachte, sehr nett zu ihr gewesen, und als sie am Sonntagmorgen den Vorhang aufzog und sah, daß es von einem grau verhangenen Himmel in Strömen regnete und sie das Gefühl überkam, sie würde diesen Tag nicht überstehen, wenn sie nicht jemanden sah, der sie mochte, fiel ihr dieser Onkel ein, und sie beschloß, ihn zu besuchen. Es war eine lange ermüdende Fahrt mit einem Personenzug, der an jeder Station hielt, und die Straße, die vom Bahnhof der kleinen Stadt eine Anhöhe hinauf zu der Siedlung führte, in der der Onkel wohnte, nahm kein Ende. Trotz des Regens war es an diesem Augusttag drückend schwül, und der Schweiß ließ ihre Bluse widerlich an der Haut kleben. Als sie auf die Klingel an der Gartentür drückte und der Onkel aus dem Haus kam, erklärte sie ihm stotternd, wer sie war. Er breitete die Arme aus, ließ sie aber gleich wieder erschrocken sinken, als überfalle ihn Angst davor, sie an sich zu drücken.
Der Onkel war ein kleiner, drahtiger Mann mit schütterem, weißem Haar. Seine mageren Wangen waren von feinen roten Äderchen durchzogen, und auf seiner Hakennase saß eine Nikkelbrille mit runden funkelnden Gläsern, die seine Augen auf seltsame Weise vergrößerten und ihnen einen ständig erstaunten Ausdruck verliehen. Er trug einen karierten Pullover und eine graue Kniehose, die in braunen Strümpfen steckte. Er führte sie in die Wohnküche, half ihr aus dem Perlonmantel, zog für sie einen Stuhl unter dem Tisch in der Sitzecke hervor, setzte sich ihr gegenüber und zündete sich eine Pfeife an. Nachdem er sich nach ihrer Mutter, seiner Schwester, und ihrer Familie erkundigt hatte, begann er von sich und seinem Leben zu erzählen, unentwegt paffend und in leisem hastigem Ton; wie jemand, der lange mit niemandem gesprochen hat. Der Onkel bewohnte allein das kleine Siedlungshaus, seit ihn seine Frau vor einigen Jahren, als er schon Mitte sechzig war, eines anderen Mannes wegen verlassen hatte, und seine Kinder lebten in der Schweiz und in Südamerika und schrieben nur selten. Nach einer Weile brach er plötzlich mitten im Erzählen ab, und nach einem Moment verlegenen Schweigens stand er auf und ging mit ihr hinaus, um ihr den großen Garten vor dem Haus zu zeigen. Sie gingen im Regen über die glitschigen Wege zwischen den Gemüsebeeten und Obstbäumen, und er pflückte ihr, als wolle er ihr damit seine Freude über ihren Besuch zeigen, ein paar große Erdbeeren, die sie, obwohl sie Erdbeeren nicht ausstehen konnte, in den Mund steckte und kaute, um ihn nicht zu verletzen. Danach war ihr Mund voll Sand, den sie verstohlen hinunterschluckte. Er führte sie in den kleinen Anbau, in dem er eine Ziege und ein paar Kaninchen hielt, für die er, wie er stolz berichtete, auf Ausstellungen eines Kleintierzuchtvereins schon öfter Preise gewonnen hatte. Er erzählte ihr, daß er Haus, Garten und Stall selbst in Ordnung hielt – um etwas zu tun zu haben, fügte er mit einem Lächeln hinzu, das ihr herzzerreißend traurig erschien.
Sie gingen in die Wohnküche zurück, und er band sich eine Schürze um und briet für sie zum Mittagessen auf dem Herd zwei kleine Schnitzel, wobei er pausenlos von sich und seinem Leben und den Schicksalen aller möglichen Verwandter sprach, die sie fast alle nicht kannte. Sie sah ihm zu, wie er einen Salat aus in Scheiben geschnittenen Tomaten und kleingehackten Paprikaschoten und Zwiebeln bereitete und Essig, Öl und Salz hinzutat, und dann setzten sie sich an den Tisch und aßen. Sie lobte seine Kochkunst, was ihn so freute, daß die roten Äderchen in seinem Gesicht noch roter anliefen. Als sie fertig waren, entschuldigte er sich, erklärte, er käme gleich wieder und kam aus einer Konditorei um die Ecke mit einer großen Platte, auf der sechs oder sieben Tortenstücke lagen, und einer riesigen Schüssel voll Schlagsahne zurück. Er kochte Kaffee, und während sie ihn tranken, zeigte er ihr umständlich Fotos der Verwandten, von denen er ihr erzählt hatte und die sie nicht kannte. Sie mochte Süßes nicht, sondern viel lieber Scharfes und Saures wie Würstchen mit viel Senf oder Essiggurken, aber obwohl das Ganze – Buttercremetorte mit Schlagsahne – schrecklich süß und fett war, stopfte sie die Torte ihm zu Gefallen in sich hinein. Sie brachte es aber fertig, ein zweites Stück abzulehnen. Er blickte durch seine Nickelbrille ratlos auf die liegengebliebenen Tortenstücke und den Berg Schlagsahne, überlegte eine Weile schweigend vor sich hinstarrend und stand dann auf und ging zu einem Schrank, aus dem er etwas merkwürdig Geformtes, metallisch Glänzendes nahm. Sie wußte zuerst nicht, was es war; dann erkannte sie darin eine Posaune. Er stellte einen Stuhl in die Mitte der Wohnküche, stieg darauf, räusperte sich und begann auf der Posaune zu spielen. Wenn ihm ein Ton mißriet, schüttelte er ärgerlich den Kopf und begann wieder mit dem Stück von vorn. Er spielte »Da ging der liebe Herrgott durch den Wald« und »Der fröhliche Landmann« und schließlich, nachdem er seinen Pullover ausgezogen hatte, »La Paloma«. Über die Fensterscheiben rannen Regentropfen wie große Tränen, und die nassen Geranien davor ließen die Köpfe hängen. Sie fühlte eine unsägliche Traurigkeit in sich aufsteigen, denn der Onkel war noch viel einsamer als sie, doch für ihn würde es nie mehr etwas anderes geben als seine Kaninchen und seine Posaune, und als er die Posaune sinken ließ, von dem Stuhl stieg, von einem Regal über der Sitzecke eine Balaleika nahm, sich zu ihr an den Tisch setzte und russische Volksweisen zu klimpern begann, wobei er ihr mit leiser, monotoner Stimme erklärte, er habe das Instrument vor vielen Jahren in sibirischer Gefangenschaft spielen gelernt, hielt sie es nicht länger aus.
Sie sprang auf, rannte ohne ein Wort aus dem Zimmer, ließ ihren Mantel hängen und lief durch den prasselnden Regen die steile Straße hinunter zum Bahnhof. Die Tränen, die aus ihren graugrünen Augen über ihr Gesicht liefen, vermischten sich mit den Tropfen auf ihren Wangen, ihr schulterlanges kastanienbraunes Haar war strähnig von dem Regen, und das Schluchzen, das aus ihr hervorbrach, schüttelte ihren ganzen Körper. Später im Zug – ihr war übel von der fetten Torte, und sie mußte während der ganzen Fahrt stehen – tat sie etwas, was sie nicht getan hatte, seit sie zehn oder elf Jahre alt war: Sie steckte einen Finger nach dem andern in den Mund und kaute ihre Nägel bis zu den Kuppen ab.
Seit seine Frau ihn verlassen hatte, konnte er Frauen nur in kleinen Portionen vertragen. Sie war klein, und all das Kleine an ihr erfüllte ihn mit schmerzendem Entzücken: die orangenkleinen Brüste, die ihr immer makellos weißes T-Shirt ausbuchteten, ihre mit den Händen zu umspannende Taille, ihre zarten und doch prallen Schenkel in den enganliegenden Jeans, die sie stets trug, ihr sicher sehr fester Po, den er am liebsten in seine Hand genommen hätte, ihre graugrünen Augen, ihr schulterlanges kastanienbraunes Haar, der zu all dem Kleinen erregend kontrastierende große Mund mit den wiederum sehr kleinen perlweißen Zähnen. Er war Ende vierzig und sie fünfundzwanzig, und sie hatte eine Tochter von acht oder neun Jahren, die natürlich noch viel kleiner und entzückender war, und wenn er in seiner Phantasie mit den beiden sonntags im Park spazieren ging, hielten die ehrbaren Bürger, denen sie begegneten, die drei für Vater, Tochter und Enkelin. Sie drehten sich oft nach ihnen um und bedachten sie mit wohlwollenden Blicken, denn sie ahnten nichts von der frivolen Maßlosigkeit seiner Gedanken und Absichten, die so alles andere waren als väterlich oder gar großväterlich.
Zu ihrem letzten Geburtstag hatte er ihr einen Blumenstrauß geschickt, fast so groß wie sie selbst; keine roten Rosen – davor hatte er sich gehütet –, sondern ein buntes Wirrwarr von Astern, Nelken, Lilien, Hyazinthen und Feldblumen, das dem Durcheinander seiner Gefühle entsprach. Daß Liebe dabei war, hoffte und fürchtete er mit gleicher Inbrunst: Er empfand ihr gegenüber neben oder verwoben mit seinen überaus männlichen Wünschen einen qualvollen Drang, zärtlich mit ihr zu sein, ein fast körperlich schmerzendes Verlangen, sie in seinen Händen zu bergen wie einen kleinen Vogel, sie zu streicheln und nichts als das. Daß er es bis jetzt nicht getan hatte, lag teils daran, daß ihm dieses Gefühl so wertvoll war und er es deshalb hütete wie einen Schatz, den zu heben zugleich bedeuten konnte, ihn zu zerstören; zum anderen erfüllte ihn eine erklärliche Scheu, sich vor ihr und aller Welt grauenhaft lächerlich zu machen, die er vor allem vor dem Spiegel empfand, wenn er darin einen älteren Herrn mit Bauch und kleiner Glatze sah: Sie mochte eine Cleopatra sein, aber er war kein Cäsar.
Was diesen schwebend unentschiedenen Zustand noch unerträglicher machte, war, daß er die Gefährdetheit seiner Position ständig auf entsetzliche Weise vor Augen hatte: Er hegte mörderischen Haß gegenüber jungen Männern mit braungebrannten Armen und Beinen in weißen Tennisdresses oder hinter den Lenkrädern von Sportcoupés, denn er bemerkte sehr wohl, wie sie sie begehrlich anschauten und wie sie ihren Blicken, um ihm nicht wehzutun, mit rührender Rücksicht auswich.
Solche Empfindungen und Gedanken erfüllten ihn unaufhörlich – auch als er jetzt, in seiner Phantasie, wie an jedem Sonntag, mit ihr und der noch Kleineren das Gartenlokal betrat, um die beiden mit Kaffee und Torte und Eis und Schlagsahne zu bewirten. Sie fanden einen Tisch für sich allein, und nachdem er bei dem Kellner seine umfängliche Bestellung aufgegeben hatte, war der Tisch bald voller Teller, Tassen und Schüsseln. Fürsorglich schenkte er beiden Damen Kaffee ein. Während diese sich über die aufgetragenen Süßigkeiten hermachten, hielt er sich wie immer wegen seines Bauchs zurück und sah sich in dem Lokal um. Da waren wie an jedem Sonntagnachmittag die älteren Damen, die flüsternd die Köpfe zusammensteckten und freundlich zu ihnen herüberschauten, da waren die stumm aneinander vorbeisehenden Ehepaare, bei denen die Männer hin und wieder einen Blick auf das neben ihm sitzende Märchenmädchen riskierten – und da war auch schon er: der junge Mann, braun und blond, der sie unentwegt anstarrte, ja der die unerhörte Kühnheit besaß, in völliger Ignoranz seiner Anwesenheit den Stuhl so zu rücken, daß er sie noch besser ins Auge fassen konnte, ein Laffe, ein Fatzke, ein unglaublicher Widerling, den er …
Er war nahe daran, aufzuspringen, hinüberzustürzen, den frech glotzenden Jüngling hochzureißen, ihn ins Gesicht zu schlagen – da spürte er, wie sich in den kleinen Finger seiner auf dem Tisch liegenden Hand ein noch kleinerer kleiner Finger hakte, darum schlang, und dann schob sich eine kleine Hand über die seine und drückte sie zärtlich, und als er sich zu ihr wandte und sie ungläubig anschaute, sah er, daß sie hinüberblickte zu dem Laffen, dem jungen, dem Fatzke, dem Widerling, und dann streckte sie aus dem geliebten großen Mund die umwerfend entzückende kleine Zunge hervor und zeigte sie dem jungen Kerl da drüben, der erbleichte und sich hinter seinen Tisch duckte, als wolle er sich verstecken.
Eine rote Woge schoß in ihm hoch, durchflutete ihn bis in die Zehenspitzen und Haarwurzeln, und ihm wurde einen Moment schwindlig. Taumelnd sprang er auf, warf einen Fünfzigmarkschein auf den Tisch, packte zuerst die eine und dann die andere Kleine, klemmte die eine unter den rechten und die andere unter den linken Arm und rannte unter den fassungslosen Blicken der älteren Damen und der Ehepaare und des herbeieilenden Kellners aus dem Gartenlokal und die Parkallee hinunter.
Er war Schriftsteller, ein Mann mittleren Alters, der vom Schreiben lebte, dem das Schreiben ein auskömmliches Einkommen sicherte, denn seine Geschichten erschienen in den Feuilletons der großen Tageszeitungen, und die Belegexemplare seiner Romane und Erzählungsbände füllten fast schon ein ganzes Regal seines Bücherschranks. Was er schrieb, hatte einen von den Rezensenten vielgerühmten human touch, und so wurde es nicht nur von Lehrerinnen und Buchhändlern gern gelesen, sondern auch von Abteilungsleitern großer Kaufhäuser, von Psychotherapeuten und Zahnärztinnen, ja sogar von andern Schriftstellern.
Seit vielen Jahren schrieb er sich so durchs Leben, seine eigene Existenz und die seiner Mitmenschen in Romane und Erzählungen und Aphorismen umsetzend und dabei stets gelassen über den Dingen stehend, doch seit einiger Zeit nahm er an sich etwas wahr, was ihn zunehmend zugleich beunruhigte und faszinierte. Wenn er etwas tat oder dachte, trat er aus sich heraus neben sich und beschrieb, sich selbst wie durch eine sehr scharfe Brille zusehend und beobachtend, in seinem Kopf, was er tat oder dachte. Er ging morgens frisch rasiert und pfeifend die Treppe hinunter, um sich im Zigarettengeschäft nebenan die Tageszeitung zu holen, und dachte: Er ging morgens frisch rasiert und pfeifend die Treppe hinunter, um sich im Zigarettengeschäft nebenan die Tageszeitung zu holen. Strich er dem Mädchen, das er liebte, über das schulterlange kastanienbraune Haar und sah in ihren graugrünen Katzenaugen ein leises Glimmen, dann dachte er: Er liebte sie, und wenn er über ihr schulterlanges kastanienbraunes Haar strich, sah er in ihren graugrünen Katzenaugen ein leises Glimmen.
Mehrere Wochen fühlte er sich diesem Zustand, für den er einen Namen – literarische Schizophrenie – fand und der ihn teils amüsierte und teils quälte, hilflos ausgeliefert; dann durchblitzte ihn, als er eines Morgens beim Frühstück sein weichgekochtes Ei aufklopfte – er dachte dabei: Er klopfte sein weichgekochtes Ei auf – eine Idee. Er war ein Mensch, der schrieb, und deshalb mußte er, um von dieser seltsamen Doppelexistenz Befreiung zu finden, aus der Not eine Tugend machen und sich zu ihr bekennen. Er würde alles, was er tat und dachte, vom morgendlichen Sockenanziehen bis zum abendlichen Ausknipsen der Nachttischlampe, aufschreiben, um sich, so schreibend und sich dazu bekennend, davon zu distanzieren; er mußte den gordischen Knoten mit dem Damoklesschwert zerschlagen – ein Bonmot, das er sich sogleich notierte. Während er das Ei auslöffelte, wuchs in ihm ein grandioser Plan, der die Bemühungen seines Kollegen James Joyce als harmlose Kinderei erscheinen ließ. Er würde, mit akribischer Genauigkeit, ein unbestechlicher Chronist seiner selbst, schreiben, wie er sich rasierte und rauchte, wie er las und dachte und schrieb, wie und was er aß und trank, wie er das Gegessene und Getrunkene wieder von sich gab, von Minute zu Minute, von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag bis an sein Lebensende: Er würde schreibend leben und lebend schreiben. Als er sich Orangenmarmelade aufs Brot strich, nahm sein Plan phantastische Dimensionen an. Er würde einen Verlag finden, der das von ihm täglich Gelebte und Geschriebene jeden Tag druckte, laufende Bulletins seines menschlichen und schriftstellerischen Seins, und so würde er einem Heer von Menschen viele Jahre Arbeit und Brot geben – Lektoren und Setzern und Druckern, Papierfabrikanten, Stenotypistinnen, Verlagsdirektoren, Lastwagenfahrern und Kantinenpächtern –, und Millionen würden es Tag für Tag lesen, würden lesend leben und lebend lesen. Literaturkritiker würden über das, was er schrieb, schreiben, würden es ein tief unter die Haut gehendes document humaine nennen und eine monumentale erschütternde Epopöe menschlicher Entfremdung; sie würden hingerissen sein, denn es würde ihr eigenes tiefstes inneres Bedürfnis stillen: jeden Tag derartige Wendungen zu erfinden und sich damit Milionen Menschen zu präsentieren. Als er mit einem Schluck Kaffee den letzten Bissen Marmeladebrot hinunterspülte, überlief ihn ein Schauder: Er würde, so schreibend, den eigenen Tod bewältigen, würde, den Kugelschreiber in der Hand, schreibend hinüber schreiten ins dunkle Nebelreich und dort weiterschreiben, vielleicht auf einer Wolkenbank, hinein in eine Ewigkeit, die nun nichts Bedrohliches mehr hatte. Ganz erfüllt von diesem überwältigenden Ausblick stand er auf, ging ins Badezimmer und trat ans Waschbecken. Er nahm die Zahnbürste, drückte ein Stück Zahncreme darauf und begann, die Zähne zu putzen, wobei er dachte: Er nahm die Zahnbürste, drückte ein Stück Zahncreme darauf und begann, die Zähne zu putzen. Er blickte in den Spiegel über dem Waschbecken und dachte: Als er in den Spiegel blickte, sah er darin einen Mann mittleren Alters, der vom Schreiben lebte, dem das Schreiben ein auskömmliches Einkommen sicherte …
Nachdem er die Zähne geputzt und sich rasiert und gewaschen und angezogen hatte, setzte er sich an seinen Schreibtisch. Er holte tief Luft, und als er einen Moment innerlich Anlauf genommen hatte, beugte er sich über ein blütenweißes Blatt Papier und begann zu schreiben. Ein Blatt füllte sich nach dem andern; er schrieb bis zur Mittagszeit und, ohne etwas zu essen, weiter den ganzen Nachmittag; er erwiderte nicht einmal den Gruß der Putzfrau, die kam und putzte und ging. Er aß nichts zu Abend und schrieb, ohne zu Bett zu gehen, die ganze Nacht und den nächsten Vormittag. Am Nachmittag kam die Putzfrau wieder und sah, daß er nichts gegessen hatte und nicht zu Bett gegangen war, und als er auf ihre besorgten Fragen hin nicht einmal den Kopf wandte, verständigte sie seinen Arzt. Als der Rettungswagen kam und zwei Männer in weißen Kitteln ihn unter den Armen packten, raffte er Schreibblock und Kugelschreiber an sich und schrieb während der ganzen Fahrt im Rettungswagen weiter, den Block auf den Knien.
Er saß in der Männerabteilung der städtischen Nervenklinik auf seinem Eisenbett und schrieb von morgens bis in die Nacht hinein, eine Seite nach der andern, und wenn der Pfleger alle paar Stunden zu ihm trat und ein Blatt von seinem Schoß nahm und einen Blick darauf warf, sah er, daß darauf, Zeile für Zeile, immer wieder nur der eine Satz stand: Er schrieb, daß er schrieb, daß er schrieb, daß er schrieb, daß er schrieb, daß er schrieb.
Er hatte sich verliebt; als Mann von Ende vierzig in ein Mädchen, das Mitte zwanzig war, ein zierliches, kleines Mädchen mit graugrünen Augen und schulterlangem kastanienbraunem Haar und sehr weißer Haut, das so aussah wie die Mädchen, die in seiner Phantasie, warum wußte er nicht, in Irland Flachs spinnend an tintenblauen, seerosenübersäten Teichen saßen, die Maureen oder Sheila hießen und in Sturmnächten auf halbgezähmten Ponies über endlos weite Ebenen jagten, unter einem schwarzen Himmel, an dem zwischen zerfetzten Wolken ein gelber Vollmond hing. Er war verliebt auf eine rauschhafte, atemraubende Weise, so daß er sich fühlte wie ein Primaner, oder noch schlimmer: wie eine Primanerin; ein Zustand, der ihn zugleich erschreckte und tief beglückte, der ihn quälte und den er genoß und – welch ein Stachel – seinem Alter als überaus unangemessen und lächerlich machend empfand: Entsetzt sah er sich, in gar nicht mehr so vielen Jahren, als läppischen, zahnlosen Greis, einen Priem kauend auf einer Parkbank sitzen und immer noch zierlichen, kleinen Mädchen mit graugrünen Augen und schulterlangem kastanienbraunem Haar und sehr weißer Haut nachglotzen.
Je länger er sie kannte, um so mehr wuchs in ihm ein wildes Verlangen, zärtlich mit ihr zu sein, und allmählich wurde es noch stärker als der sehr starke Wunsch, mit ihr zu schlafen, eine Erkenntnis, die ihn erschrocken in seinen Vorstellungen innehalten und sie bremsen ließ, denn in ihm stieg der Verdacht auf, was er für sie empfand, könnte mehr väterlich als männlich sein, was ihm durchaus nicht paßte. Er konnte seine Gefühle ihr gegenüber nur überaus vorsichtig andeuten, denn er wie sie hatten sehr große andere Probleme, sie vielleicht noch größere als er, und sie lebten beide unter komplizierten Umständen, die im Moment nicht mehr zuließen als eine schwebend unentschiedene Beziehung. Was ihre Gefühle für ihn betraf, so war er auf chiffrierte, schwer entzifferbare Botschaften von ihr angewiesen, doch schon das wenige, das er ihr über sich und seine Empfindungen zu sagen wagte, schien sie mit großer Angst zu erfüllen und in tiefe Ratlosigkeit zu stürzen, was er gut verstand, denn er wußte einiges über die Erfahrungen ihres bisherigen Lebens mit menschlichen Beziehungen, die nicht anders als gräßlich genannt werden konnten. Aber Verständnis machte das Ganze nicht leichter, und der schwebend unentschiedene Zustand, der sie zugleich verband und trennte, wurde immer quälender: er nagte seelisch ständig an einem Hungertuch.
Die komplizierten Umstände, unter denen sie und er lebten, brachten es mit sich, daß sie sich in einer sehr langen Zeit nur einmal gesehen hatten, und bei diesem einen Mal hatte er peinlich darauf geachtet, ihr nicht zu nahe zu kommen oder sie gar zu berühren, obwohl sein Verlangen, gerade das zu tun und ihr schulterlanges kastanienbraunes Haar zu streicheln, so überwältigend war, daß es ihn manchmal körperlich schmerzte. Sie führten, und auch das nicht sehr oft, ausgedehnte Telefonate, meist spät abends, doch schließlich komplizierten sich ihre Umstände so sehr, daß er sie auch nicht mehr anrufen konnte. Er mußte sich darauf beschränken, ihr dann und wann Blumen zu schicken und dazu ein paar Zeilen zu schreiben, was sehr schwierig war, denn er durfte damit nicht zu viel und nicht zu wenig sagen. Er hoffte, sie verstand, was zwischen den Zeilen stand, aber er fürchtete auch, sie verstand zu viel und das würde ihr noch mehr Angst machen. In einem seiner Briefe hatte er ihr geschrieben, daß er von ihr keine briefliche Antwort erwarte, denn das war etwas, wovor er Angst hatte: er könnte in seinem Postkasten morgens einen Brief von ihr finden, ihn öffnen und darin lesen, daß alles aus sei, daß sie keine Briefe und keine Blumen mehr von ihm wolle und er solle sich zum Teufel scheren mit seinen umständlichen Empfindungen und verwikkelten Gefühlen und zarten Andeutungen. Dann würde er sie nicht anrufen können, sondern er müßte ihr wieder einen vorsichtigen Brief und einen noch größeren Blumenstrauß schikken, um sie umzustimmen, was er flehentlich wünschen, ihr aber nicht so deutlich sagen dürfte, denn sonst würde sie noch mehr Angst vor ihm bekommen; und er würde dann Tag für Tag auf einen weiteren Brief von ihr warten, den er wieder erwidern müßte, weil sicher etwas darin stand, was ihn quälte und verzweifeln ließ, und er würde jeden Tag auf einen neuen Brief von ihr warten, der ihn beruhigte, und so würde das endlos weitergehen. Telefongespräche waren etwas anderes: da konnte er auf das, was sie sagte, gleich das Richtige antworten, konnte die verzweifelten Schläge, mit denen sie sich in ihrer Angst wehrte, abwehren, konnte allen Charme, den er hoffentlich besaß, und all seine Überzeugungskraft aufbieten, um wenigstens den schwebend unentschiedenen Zustand aufrechtzuerhalten.
Doch es kam kein Anruf von ihr. Er wartete Tag und Nacht darauf und legte, wenn er fortging, um eine Besorgung zu machen, den Telefonhörer ab, damit sie, wenn sie anrief, annehmen mußte, er telefoniere mit jemand anderem, und nach kurzer Zeit noch einmal anrief. Manchmal überfiel ihn die schreckliche Vermutung, es gebe eine ganz einfache Erklärung für ihr Verhalten: Sie empfand überhaupt nichts für ihn, außer Gereiztheit darüber, daß er sie nicht in Ruhe ließ und ihr immer wieder Briefe und Blumen schickte, und sie wäre froh und zutiefst erleichtert, wenn er wieder aus ihrem Leben verschwände; doch das war so unvorstellbar, daß er es sofort verwarf, und ihm fiel zum Glück auch ein, daß sie ihm doch immer wieder gesagt hatte, ihr läge sehr viel an ihrer Beziehung, sie sei sich nur noch nicht klar darüber, und er müsse ihr Zeit lassen; und einmal hatte sie sogar gesagt, wenn ihre anderen Probleme, die sie so völlig in Anspruch nahmen, einigermaßen gelöst seien, käme er mit an erster Stelle – eine Erinnerung, die ihn beseligt aufatmen ließ, denn sie hatte niemanden außer einer Freundin und ihm, und er wagte gar nicht, so weit zu gehen und sich vorzustellen, was dieses »mit an erster Stelle« also bedeuten mußte.
Als er eines Abends auf ihren Anruf wartete, kam ihm der Gedanke, Faszination, also auch Liebe auf den ersten Blick, müsse etwas mit dem zu tun haben, was die Tiefenpsychologen Projektion nannten: mit der Übertragung von Gefühlen, die man früher einmal für einen Menschen empfunden hat und die nicht ausgetragen wurden, auf einen andern Menschen, dem man in seinem späteren Leben begegnet. Er spann diesen Gedanken weiter, und als er nachts im Bett lag und nicht schlafen konnte, weil er immer noch auf ihren Anruf wartete, fiel ihm etwas ein, woran er all die Jahre, die dazwischen lagen, nicht gedacht hatte:
Er war, mit neunzehn Jahren, von der Schulbank weg, mit einer offenen Tuberkulose in das Krankenhaus einer Stadt unweit der kleinen Stadt an der österreichisch-deutschen Grenze eingeliefert worden, in der er damals lebte, und lag, zusammen mit sieben oder acht anderen Patienten, in einer offenen, loggiaartigen Liegehalle Tag und Nacht im Freien. Die Vormittage und Nachmittage waren endlos lang, und man vertrieb sich die Zeit mit Lesen, Kartenspielen und Radiohören, aber dennoch herrschte eine fast nicht zu ertragende Langeweile. So war es eine willkommene Abwechslung, daß an einem Fenster der Augenabteilung im gegenüberliegenden Krankenhaustrakt immer wieder ein Mädchen mit einem Baby auf dem Arm erschien und, offenbar ebenfalls gelangweilt, herüberschaute. Das Mädchen trug immer einen roten Morgenrock, und es war klein und hatte graugrüne Augen und schulterlanges kastanienbraunes Haar und sehr weiße Haut. Schon damals stets bereit, solchen Verlockungen widerstandslos zu erliegen, winkte er ihr, und nachdem sie die ersten Male nicht reagiert hatte, winkte sie schließlich zurück, was für ihn damals, mit neunzehn Jahren, schon ein großes Abenteuer war. So ging das tagelang; alle paar Stunden trat das Mädchen mit dem Baby auf dem Arm ans Fenster, und sie winkten einander zu; er mit stockendem Atem und einem mulmigen Gefühl im Bauch und unter den spöttischen Bemerkungen der andern Patienten, die in den Betten neben ihm lagen. Am Sonntag wurde in der Krankenhauskirche vormittags immer ein katholischer Gottesdienst abgehalten, und obwohl er evangelisch war, ging er am nächsten Sonntag hin, denn er hatte gehört, daß das Mädchen in dem roten Morgenrock oft daran teilnahm. Die Kirche war so voll, daß er im Mittelgang zwischen den Gebetbänken stehen mußte, und einige Meter links von ihm, auf einer Empore neben dem Altar, stand zwischen andern Patienten das Mädchen. Ihre Blicke gingen hin und her, unter dröhnenden Orgelklängen und der leiernden Stimme des Geistlichen und Glöckchengebimmel, und jedes Mal, wenn der Blick ihrer graugrünen Augen ihn traf, spürte er einen beängstigenden und doch unendlich wohligen Stich im Herzen. Als der Gottesdienst zu Ende war, verließen sie die Kirche, er durch die hintere Tür und sie durch die vordere, doch als er sich draußen auf dem Gang in dem Gewühl nach ihr umsah, war sie schon verschwunden. Eine Stunde später tauchte sie mit dem Baby an ihrem Fenster auf und winkte ihm, diesmal als erste, was seinen Atem stocken ließ wie nie zuvor. Mehrere Tage vergingen wieder so mit gegenseitigem Zuwinken; dann mußte er Mitte der Woche an einem Vormittag ins Krankenhausbüro, um etwas zu erledigen, und als er im gegenüberliegenden Trakt die Treppe hinaufstieg, sah er plötzlich über sich einen roten Morgenrock: Die Treppe herunter kam ihm das Mädchen entgegen. Eine Stufe über ihm, so daß ihr Kopf in gleicher Höhe mit dem seinen war, blieb sie stehen, und er blieb auch stehen, sie in ihrem roten Morgenrock und er in seinem blaugestreiften Pyjama, und er blickte in ihre Augen, die ganz nah vor ihm waren, und ihm war, als versinke er in einem graugrünen Meer. Sie sagte nichts, und er konnte nichts sagen, denn sein Atem stockte so sehr, daß er zu ersticken glaubte, und dann legte das Mädchen ihre Arme um seinen Hals und drückte ihre Lippen auf seinen Mund und schob ihre Zunge zwischen seine Zähne und ließ sie dazwischen spielen und grub ihre Zähne in seine Lippen, so fest und wild, daß er fast aufschrie vor Schmerz und fast weinte, weil der Schmerz so süß und so brennend war, daß er außer ihm nichts mehr spürte und sich ganz fallen ließ in dieses Brennen und diese Süße, und dann ließ ihn das Mädchen los und rannte die mit grünmarmoriertem Linoleum belegte Treppe hinauf und verschwand oben um die Ecke. Schwindlig und benommen blieb er eine Weile auf der Treppe stehen und ging dann, ohne das Krankenhausbüro aufzusuchen, zurück in seine Abteilung. Er hatte damals schon eine Beziehung zu einer mehrere Jahre älteren Frau hinter sich und oft mit ihr geschlafen, doch es schien ihm, als sei dies der erste Kuß seines Lebens gewesen, und obwohl er ihn nicht einmal erwidert hatte, war und blieb es der süßeste und aufwühlendste und schönste Kuß, den er je in seinem Leben bekommen hatte.
Er sah das Mädchen nicht wieder; es wurde, wie er hörte, am gleichen Tag aus dem Krankenhaus entlassen, und er wußte nicht ihren Namen und ihre Adresse und konnte ihr nicht schreiben, und irgendwie wollte er das auch gar nicht.
Durch einen unwahrscheinlichen Zufall erfuhr er später, daß das Baby des Mädchens von einem amerikanischen Besatzungssoldaten war und daß sie mit ihm in der Augenabteilung gelegen hatte, weil sie von dem Soldaten nicht nur das Baby bekommen hatte, sondern auch einen Tripper, den sie bei der Geburt auf die Augen des Kindes übertrug.
Kupferrot tropfte von einem giftgelben Himmel und mischte sich mit ihm und Graugrün und Kobaltblau und Kastanienbraun zu einem regenbogenfarbenen Meer, dessen Wogen, von weißer schaumiger Gischt gesäumt, aus einem Nichts in ein uferloses Nichts brandeten, eine um die andere, lautlos und monoton. Er blickte auf seine Armbanduhr. Zwei Stunden mußten vergangen sein, doch er sah, es war nur drei Minuten her, seit er das letzte Mal auf die Uhr geschaut hatte; die Zeit dehnte und dehnte sich, die Dosis war viel zu hoch gewesen. Dann begannen die Zeiger auf dem Zifferblatt zu springen, auf neun, auf halb vier, auf viertel sieben, und er schob rasch den Ärmel seines Pullovers darüber. Die Farben erkalteten: Ein eisblauer Blitz zuckte über eine weiße Ebene, auf der sich riesige Steinklötze zu einem Schachbrettmuster zusammenschoben und ordneten, das sich in grauer Endlosigkeit verlor, über welche die Weltesche Yggdrasill weit ausladend ihre Zweige breitete. Er schloß die Augen, und das Schachbrett blieb unter seinen Lidern haften; die schwarzen und weißen Felder ragten eine Weile schmerzend in ihn hinein und verblaßten dann langsam. Als er die Augen öffnete, sah er sich wieder in seinem Zimmer, vor sich den Tisch, rechts den Bücherschrank, über sich die Lampe. Er wandte den Kopf nach links und sah: Aus dem Intarsienornament der Schreibtischtür löste sich, braun und gelb gestreift, ein ungeheurer Käfer, kroch mit grausiger Langsamkeit, ein schwarzbehaartes Bein nach dem andern streckend und wieder einziehend, ein schuppengepanzertes Vorzeittier, über den Teppich quer durchs Zimmer und verschwand, die Fühlerspiralen tastend vorgereckt, auf der gegenüberliegenden Seite in der Tapetenwand: der Käfer aus Kafkas »Verwandlung«, dachte er fröstelnd. Eine eisige Klammer bohrte sich von oben her in seinen Rücken, begann aufzuglühen, und feurige Schauer breiteten sich von ihr über seine Haut aus, über die Arme, die Schenkel, die Beine, die Kopfhaut, die kribbelnd zusammenschrumpfte. Die Zunge brannte in seinem Mund, schaumiger Speichel füllte ihn; er schluckte und schluckte, doch der Speichel sprudelte in solchen Mengen und so schnell unter seiner Zunge hervor, daß ihn Angst überkam, er werde daran erstikken, und er begann Luft aufzustoßen, literweise Luft, so daß sein ganzer Oberkörper erbebte. Er beugte sich vor und richtete einen Monolog senkrecht in den Raum vor sich: Palimpsest, Porphyr, Pschyrembel, Portugal, Polyanna; alles Worte, die mit P begannen und seine Wangen blähten und aus seinen Lippen platzten wie Blasen. Die Blasen wurden kleiner und kleiner, bis er verstummte. Es war wieder still im Zimmer; eine schwarze eisige Stille breitete sich um ihn in dem Raum aus, der plötzlich zu erkalten schien, eine unerträgliche Stille, die ihn einschloß wie ein Betonbunker, und er dachte: allein, allein, allein; das Wort hallte, zugleich sein eigenes Echo, in seinem Kopf wider wie in einer Eishöhle, die sich immer weiter ausdehnte. Vom Dach der Höhle herab schwebte ein Gesicht auf ihn zu, und als es näherkam, erkannte er das Gesicht seiner Mutter: das glatte weiße Haar, die Hornbrille mit den runden Gläsern, die eingesunkenen Wangen, von Hunderten kleiner Falten durchzogen, der schmallippige blasse Mund. Das Gesicht schaute ihn durch die glitzernde Brille hindurch ausdruckslos an und schwebte an ihm vorbei. Er wandte den Kopf, doch es war schon verschwunden. Verwundert spürte er, daß über sein Gesicht Tränen rannen, die Wangen hinunter, über den Hals in den Hemdkragen hinein; sein Gesicht war naß von Tränen, doch er empfand nichts dabei, keinen Schmerz, keine Trauer, auch keine Einsamkeit mehr: Ihm war nur kalt, und ihm wurde bewußt, daß er am ganzen Körper vor Kälte bebte. Mit zitternden Händen zündete er sich eine Zigarette an. Er blickte sich im Zimmer um und sah vor sich den Tisch, rechts den Bücherschrank und über sich die Lampe wie durch eine gläserne Wand, und die Gegenstände um ihn hatten irisierende Ränder, als ob kleine weißrote Flammen auf ihnen flackerten wie winzige Elmsfeuer. Als er die Zigarette zu Ende geraucht hatte, legte er den Kopf auf den Tisch und schlief ein, und als er aufwachte, schien die Sonne zum Fenster herein.
Die Patienten der Klinik machten, wenn das Wetter schön war, sonntags immer einen Ausflug in die Umgebung der Großstadt, begleitet von einem Arzt und einer Schwester. Es war eine kleine Klinik mit nur zwanzig Betten, und die Behandlung bestand darin, daß man miteinander redete, die Patienten und Ärzte und Therapeuten in Gruppen und die Patienten untereinander, und daß einer dem andern offen Zuneigung und Haß zeigte. Für diesen Sonntag hatte Peterka vorgeschlagen, an einen Fischteich im Gebirgsvorland zu fahren, der ihm gehörte; einen Teich mit herrlich klarem Wasser, in dem man baden könne, umgeben von einer großen, an einen Tannenwald grenzenden Wiese: Sie könnten auf der Wiese in der Sonne liegen und Fußball spielen, und der Teich wimmele nur so von Karpfen und Hechten und Renken, die sie, wenn sie Angelgerät mitnahmen, fangen und zum Mittagessen auf Holzkohlerosten grillen könnten. Peterka war ein chronischer Alkoholiker, der einige Selbstmordversuche hinter sich hatte, ein Hüne mit finsterem Gesicht, der rechts ein Glasauge trug, weil er sein richtiges Auge bei einer Messerstecherei verloren hatte, und der sich in den Monaten, seit er in der Klinik war, einen martialischen Bart hatte wachsen lassen. Jeden Morgen lief er zehnmal um das Rasenrondell im Garten, mit tänzelnden Schritten, wobei er, die Arme angewinkelt, die Muskeln seiner Oberarme spielen ließ und befriedigt betrachtete. Er war Besitzer einer Fremdenpension in der Nähe des Hauptbahnhofs, von der das Gerücht umging, sie sei in Wirklichkeit ein getarntes Bordell und die Mädchen, die darin arbeiteten, müßten täglich einen beträchtlichen Obolus an Peterka abliefern. Daneben trieb er Dutzende von undurchsichtigen, komplizierten Geschäften, die ihn ständig in Trab hielten, denn er mußte viel Geld verdienen, um seine acht Kinder in den verschiedensten Teilen des Landes zu versorgen. Mehrere Wochen lang hatte er jeden Tag zum Frühstück außer vier oder fünf Wurst-und Marmeladesemmeln eine Dose Ölsardinen, portugiesische Sardinen ohne Gräten, verzehrt und das Öl getrunken, in dem sie schwammen, denn er hatte in einer Wochenzeitschrift gelesen, Ölsardinen steigerten die männliche Potenz und verlängerten das Leben, doch er mußte seine Kur abbrechen, bevor sich ein spürbarer Erfolg zeigte, denn die Sardinen und das Öl erzeugten ein unerträgliches Sodbrennen, dessen er auch durch die Einnahme riesiger Mengen säurebindender Medikamente nicht Herr wurde.
Die andern Patienten stimmten seinem Vorschlag, nachdem sie in ihren Gruppen darüber diskutiert hatten, begeistert zu, und ein Personenzug brachte sie am Sonntagmorgen in zweistündiger Fahrt zu der Kleinstadt, von der es, wie Peterka versichert hatte, nicht weit zu dem herrlichen Fischteich war. Der Weg führte vom Bahnhof durch die lang hingezogene, offenbar nur aus einer Hauptstraße bestehende Stadt, und als sie diese hinter sich hatten, wanderten sie zwischen Wiesen und Weidezäunen über eine staubige, holprige Straße, unter einem wolkenlos blauen Himmel, von dem gelb und glühendheiß die Sonne strahlte. Peterka und Simon marschierten voraus, ihnen folgten die Ärztin und die Schwester, danach kamen in Gruppen von zweien oder dreien die übrigen Patienten, und Elvira und Hedwig, zwei schizophrene Mädchen, trotteten hinterdrein, in blauen Jeans und weißen T-Shirts, auf denen in großen Lettern University of Maryland und Millcreek Ohio 69 stand, was immer das bedeuten mochte. Dazwischen stelzte in dem schwarzen Anzug, den er stets trug, Spielvogel, ein Angstneurotiker, der nie mit jemandem sprach; nach vorn und hinten weiten Abstand haltend und immer wieder den Kopf wendend und furchtsam hinter sich blickend. Simon, der sich an Peterkas Seite hielt wie ein folgsamer Hund, war auf einem Einödhof im Gebirge zu Hause. Er war manisch-depressiv und lebte seit Jahren in Anstalten und Krankenhäusern; ein Bauernbursche mit wulstigen Lippen, buschigen, zusammengewachsenen Brauen und hellblauen traurigen Augen. Alle paar Wochen betrank er sich sinnlos mit Bier und Steinhäger, und vor einigen Tagen war er von einem dieser Ausflüge um drei Uhr morgens, von einem Taxifahrer abgeliefert, taumelnd und lallend in die Klinik zurückgekehrt und hatte laut randalierend seinem Zimmerkollegen, dem Angstneurotiker Spielvogel, der ihn, aus dem Schlaf aufgeschreckt, mit aufgerissenen Augen entsetzt anstarrte, aufs Bett gepißt, bevor ihn andere Patienten überwältigen und in sein eigenes Bett bringen konnten. Simons Idol war Cassius Clay, und er hatte mit Reißnägeln an die Wand über seinem Bett und an die Tür seines Kleiderschranks Dutzende bunter Fotos geheftet, die den Boxer mit drohender Miene und angespanntem Bizeps zeigten, neben Illustriertenfotos üppiger nackter Mädchen. Peterka, der ihn zu seinem Schützling gemacht hatte, trieb ein seltsames Spiel mit ihm: Er redete Simon ein, er sei der Champion und er selbst sein Trainer, und die beiden umkreisten einander ständig hin und her hüpfend mit fingierten Schwingern und Uppercuts, wobei Simon vor Begeisterung immer wieder in ein meckerndes Lachen ausbrach; auch jetzt, als sie die staubige Straße entlangmarschierten. Der Weg zog sich endlos hin, und einige Patienten begannen bereits zu murren, doch Peterka versicherte alle paar hundert Meter, es sei nur noch ein kurzes Stück, und so fügten sie sich und schlurften unter der glühenden Sonne schwitzend und mit bleiernen Beinen weiter, denn es lockte ja der Teich mit dem wundervoll klaren Badewasser. Hin und wieder rasteten sie am Wegrand, lehnten sich an einen Weidezaun und zündeten sich Zigaretten an, und die Schwester verteilte aus Thermosflaschen kalten Tee. Nachdem sie zweieinhalb Stunden gewandert waren und an die zehn Kilometer zurückgelegt haben mußten, drohte das Murren in offene Rebellion umzuschlagen, doch Peterka gelang es, die Lage zu meistern: Er deutete auf ein kleines Gehölz vor ihnen und erklärte, dahinter liege der Teich. In der Tat schimmerte, als sie näherkamen, zwischen den Sträuchern und dürren Bäumen Wasser. Als sie sich im Gänsemarsch durch das Gehölz geschlängelt hatten, standen sie vor einem Stacheldrahtzaun mit einem Holztor. Peterka kramte umständlich in seinen Taschen nach dem Schlüssel, der zu dem am Holztor hängenden Schloß gehörte, doch er hatte ihn vergessen, und so mußten sie, einer nach dem andern, über den rostigen Stacheldrahtzaun klettern, wobei sich Elvira, das schizophrene Mädchen, ein dreieckiges Loch in ihre Jeans riß.
Sie liefen über die Wiese zu dem Teich, aber es war kein Teich, sondern ein Tümpel, ja nicht einmal das: In braunem Erdreich standen einige Pfützen dreckigen, brackigen Wassers, aus dem da und dort kleine schlammige Hügel ragten, und in dem trüben, von weißem Schaum bedeckten Wasser, aus dem Blasen aufstiegen und an der Oberfläche zerplatzten, zuckten, verzweifelt nach Luft schnappend, ein paar kümmerliche graugeschuppte Fische. Die den Teich umgebende Wiese war voller Maulwurfshügel und wild wuchernder Brennesseln und übersät mit Pferdemist, denn Peterka, der auch einen etwa hundert Kilometer entfernten Reitstall besaß, verfrachtete im Sommer immer seine Pferde per Bahn zu der Wiese, um sie grasen zu lassen; und der an die Wiese grenzende Tannenwald erwies sich als eine Ansammlung ausgetrockneter stachliger Kiefern auf einem sandigen Berg mit verstaubten Disteln und Brombeersträuchern. Die Patienten gingen schimpfend auf Peterka los, der kleinlaut erklärte, böswillige Feinde, von denen er zahlreiche besitze, müßten nachts das Wasser aus dem Teich abgelassen haben; dann verschwand er, langsam zurückweichend, gefolgt von Simon, zwischen den Kiefern.
Die Patienten breiteten Decken zwischen den Maulwurfshügeln aus, lagerten sich auf dem Pferdemist und den Brennesseln in der Sonne und blickten düster auf die Wasserpfützen, aus denen ein fauliger Gestank aufstieg und über die Wiese strich. Nach einer Weile kehrten Peterka und Simon zurück, und Peterka packte eine Angel aus, streifte seine Schuhe ab, krempelte die Hosenbeine hoch und stellte sich in eine der Lachen, die Schnur, an deren Haken er eine Fliege aufgespießt hatte, in das stinkende Wasser hängen lassend. So stand er zwei Stunden, drei Stunden regungslos und unerschütterlich, als könne er, was er sah, nicht glauben, die behaarten, blassen Beine bis zur Hälfte der Waden in der Pfütze, während die andern Patienten, die den Gestank und die Hitze nicht lange ertrugen, zu Streifzügen durch den Kiefernwald und das Gehölz aufbrachen, von ihnen zurückkehrten und sich, mangels anderer Möglichkeiten, mit knurrenden Mägen wieder auf die Decken in die Sonne legten. Als man nach drei Stunden schließlich aufzubrechen beschloß, nachdem die Ärztin Marion, ein depressives Mädchen mit graugrünen Augen und schulterlangem kastanienbraunem Haar, das jeden Tag mehrmals in Ohnmacht fiel und in der stechenden Sonne einen Kreislaufkollaps bekam, versorgt hatte, schallte von den Pfützen herüber ein triumphierender Schrei. Alle drehten sich zu Peterka um, der mit hochgehaltener Angel, an der ein widerlicher Fisch, ein spannenlanger Weißling, zappelte, aus dem Wasser watete. Man rollte die Decken zusammen, packte die Thermosflaschen ein und wanderte in dreistündigem Marsch auf der staubigen Straße zwischen den Wiesen und Weidezäunen zurück zum Bahnhof. Während der Fahrt mit dem Personenzug hielt Peterka einen mit Wasser gefüllten Plastikbeutel auf den Knien, in dem, dann und wann zuckend, der Fisch auf dem Rücken lag, und als sie in der Stadt ankamen, rührte er sich nicht mehr und war verendet.