Grauschwinge - Peter Scheerer - E-Book

Grauschwinge E-Book

Peter Scheerer

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Beschreibung

Die Metropole Panurbia ist das schillernde Zentrum einer Welt, in der Menschen mit anderen Völkern des Erdkreises seit Jahrtausenden in Frieden zusammenleben. Doch der rätselhafte Mord an einer Grauschwinge, einem mystischen Wesen aus dem fernen Nebelgebirge, ist nur der Anfang einer Kette von Ereignissen, die sich zu einem Machtkampf zwischen uralten rivalisierenden Kräften zuspitzen. Dem jungen Investigator Gordon Dunnhil bleibt nur wenig Zeit, den Fall zu lösen – denn die Gestirne ordnen sich bereits zu jener schicksalhaften Himmelskonstellation, welche die Stadt in ein mörderisches Chaos stürzen wird.

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Veröffentlichungsjahr: 2016

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Inhaltsverzeichnis

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Impressum

— 1 —

Die Grauschwinge lag reglos in einer der engen Gassen an der Rückseite des Stundenturms. Ihre Flügel waren fächerartig über die schmutzigen Pflastersteine ausgebreitet. Die Anordnung ihrer Gliedmaßen – ein Bein ausgestreckt, das andere angewinkelt und die Hände seitlich des Kopfes flach auf dem Boden ruhend, als wollte sie sich gerade aufstützen – erlaubte keine Rückschlüsse auf ihren Zustand. Einzig das Blut, das unter ihrem Körper hervorgesickert war und in den Fugen zwischen den Pflastersteinen ein Geflecht aus tiefroten Rinnsalen bildete, wies auf ihr gewaltsames Ende hin.

Gordon Dunnhil ging neben dem Leichnam in die Hocke und zog seinen Gehrock ein Stück hinauf, damit er nicht in das Blut eintauchte. Es kostete ihn Überwindung, die Grauschwinge zu berühren, denn dieses Wesen gehörte einer anderen Welt an – einer Welt jenseits der Mauern von Panurbia, am Ende des Horizonts. Seine Heimat war das zerklüftete Massiv des Wolkengebirges und die vier Winde mochten wissen, was es in die ferne Metropole gelockt hatte.

Zögernd strich Gordon mit den Fingern über die Hand der Toten. Ihre Haut fühlte sich kalt, trocken und dabei verführerisch weich an. Auf einmal reizte es ihn, das wilde, schwarze Haar zur Seite zu streichen, um ihr Gesicht zu sehen. Doch er ahnte, dass ihn ein erschütternder Anblick erwartete, und zog seine Hand wieder zurück.

Gordon wandte sich an die stumm dastehenden Gardisten, die den Fundort vor den Schaulustigen abschirmten. Obwohl mehrere dutzend Leute in der Gasse versammelt waren, herrschte bedrückende Stille. Mütter hielten ihren Kindern die Augen zu, um sie vor dem Anblick des nackten Körpers zu bewahren, während sie selbst vor Neugier ihre Hälse verrenkten.

»Wer hat sie gefunden?«

Der Gardehauptmann ließ ein armselig gekleidetes Weib vortreten. Verhärmt und ausgezehrt, einen Säugling vor die Brust gebunden, auf dem Rücken einen Packen schmutziger Wäsche.

»Ich war auf dem Weg zum Brunnen, Herr«, berichtete die Frau unaufgefordert. »Der Kleine schrie die ganze Nacht, deshalb brach ich früher auf als sonst. Es beruhigt ihn, wenn er umhergetragen wird…«

»Wann genau ist das gewesen?«

Die Frau öffnete den Mund, wobei sie zwei lückenhafte Reihen brauner Zähne entblößte, sagte aber nichts. Schließlich blinzelte sie zu dem Ziffernblatt hoch oben am Stundenturm empor, das in den ersten Sonnenstrahlen des Tages erglänzte.

»Ihr älterer Sohn hat die Patrouille kurz vor Anbruch der fünften Stunde gerufen«, erklärte der Hauptmann, ein hoch aufgeschossener Bursche mit struppigem blondem Haar, das dreist unter seiner Pickelhaube hervorspitzte.

»Haben sich Zeugen gemeldet?«, fragte Gordon. »Leute, die das Geschehen unmittelbar verfolgt haben?«

»Bis jetzt noch nicht.«

Gordon trat auf die Frau zu, die in einer Mischung aus Faszination und Schrecken auf den toten Körper starrte. Der Säugling, so gut wie unsichtbar in seinem Tragetuch, gab glucksende Geräusche von sich.

»Hat sie genau so da gelegen, als du sie entdeckt hast?«

Sie nickte, ohne den Blick von dem Leichnam abzuwenden.

Gordon seufzte resigniert und gab dem Gardisten einen Wink, die Frau hinter die Absperrung zu führen. Sie drehte sich widerstrebend um und Gordon trat einen Schritt zurück, um dem Wäschepaket auf ihrem Rücken auszuweichen.

»Es ist ein Zeichen!«, stieß sie in jammerndem Tonfall hervor und presste den Säugling fester an sich. »Wir werden untergehen, die Stadt wird untergehen, die ganze Welt…«

»Ein Zeichen«, raunte es dumpf aus den Reihen der Gaffer.

»So wie es im Buch der Wahrheit geschrieben steht!«, erhob jemand die Stimme.

Der blonde Gardist warf Gordon einen angespannten Blick zu. Gordon machte eine unauffällige Handbewegung. Den Schauplatz räumen, keine Eskalation zulassen.

Der Gardist formte mit den Händen einen Trichter vor seinem Mund. »Geht nach Hause, Leute! Wer nicht zur Aufklärung der Sache beitragen kann, hat hier nichts mehr zu suchen. Geht jetzt! Der Recherchedienst wird den Vorfall untersuchen, macht euch also keine Sorgen. Und nun fort mit euch, sonst lasse ich die Gasse mit Gewalt räumen!«

Gordon widmete sich wieder dem Anblick der Grauschwinge. Es existierten keine Vorschriften für einen Zwischenfall wie diesen. Grauschwingen gehörten nicht nach Panurbia. Sie waren weder Bürger noch Adlige, weder Priester noch Sklaven. Sie galten nicht einmal als Außenländler. Aber ein ungeklärter Todesfall war nun mal keine Lappalie, und deshalb musste er untersucht werden.

Er schreckte aus seinen Gedanken auf, als der zweirädrige Planwagen, der zum Abtransport der Leiche angefordert worden war, auf knirschenden Rädern die Gasse herunterzuckelte. Zu beiden Seiten des alten Gauls, der vor den Wagen gespannt war, entdeckte er die untersetzten Gestalten seiner Bürogenossen Nefasto und Pocclosz.

»Sie haben uns aus dem Bett geholt«, beklagte sich Nefasto. »Seht mal nach, was beim Stundenturm los ist, und geht dem jungen Dunnhil zur Hand. Könnte sein, dass ihn die Sache ein wenig überfordert… Himmel noch mal, was ist denn das?«

»Ihr könnt euch wieder schlafen legen«, sagte Gordon. »Ich habe die Situation unter Kontrolle.«

Nefasto schob ihn mit seinem kugeligen Wanst zur Seite und starrte den toten Körper an. »Das gibt’s doch nicht. Was hat dieses… dieses Monstrum hier zu suchen?«

»Sieht wie eine Grauschwinge aus«, meinte Pocclosz und raufte seinen rostroten Bart.

»Sie muss nachts gegen den Turm geflogen und dann abgestürzt sein«, sagte Gordon. »Eine fachgerechte Untersuchung der Leiche wird genauere Erkenntnisse erbringen.«

»Untersuchung?«, fuhr Nefasto auf. »Erkenntnisse? Nichts da, dieses Ding muss so schnell wie möglich verschwinden.«

»Fasto hat recht«, pflichtete Pocclosz bei. »Das gemeine Volk fürchtet die Grauschwingen. Es könnte als böses Omen ausgelegt werden, dass sich eine von ihnen nach Panurbia verirrt hat. Wir leben in unsteten Zeiten, wie du weißt.«

»Hier liegt eine ungeklärte Todesursache vor«, beharrte Gordon. »Damit ist es unsere Pflicht, diesen Fall wie jeden anderen zu behandeln.«

»Du redest Unsinn«, belehrte ihn Nefasto in einem selbstgefälligen Tonfall, für den ihm Gordon am liebsten einen Hieb auf die großporige Knollnase versetzt hätte. »Bestimmt war sie krank und hat die Orientierung verloren. Deshalb hat es sie zufällig nach Panurbia verschlagen, zufällig, hörst du, dann ist sie mit dem Turm zusammengestoßen und… ja, aus war es mit ihr!«

»So sehe ich das auch«, stimmte Pocclosz zu. »Vergiss die Formalitäten und lass die Leiche zum Brandhenker bringen, der beklagt sich ohnehin schon über die schlechte Auftragslage. Je eher sie verschwindet, desto besser.«

»Schaffst du das ohne unsere Hilfe?«, vergewisserte sich Nefasto. »Ich habe nämlich meiner Frau aufgetragen, mit dem Frühstück auf mich zu warten.«

»Geht nur«, erwiderte Gordon. »Ich weiß jetzt, was zu tun ist. Danke für eure Hilfe, meine lieben Kollegen.«

Pocclosz tätschelte ihm die Schulter. »Gern geschehen, Dunnhil. Wir mögen wie behäbige alte Bürohengste aussehen. Aber wenn es darauf ankommt, macht uns so schnell keiner was vor. Nicht wahr, Fasto?«

»So ist es«, bestätigte Nefasto. »Und sorge dafür, dass sich die Sache nicht herumspricht. Es ist ein ganz normaler, ereignisloser Morgen. Nichts ist passiert. Absolut nichts, verstehst du? Schließlich willst auch du irgendwann einmal befördert werden, nicht wahr?«

Gordon sah ihnen nach, bis sie sich an dem Planwagen vorbeigequetscht hatten und von der Gasse verschluckt worden waren. Er zitterte vor unterdrückter Wut. Was da zerschmettert auf den Pflastersteinen vor ihm lag, war noch vor kurzer Zeit eine lebendige Kreatur gewesen, mit Gefühlen und Gedanken und einem eigenen Willen. So etwas durfte man nicht wegwerfen wie einen Haufen Abfall.

Abgesehen davon fand er es töricht, die Sache nicht weiter zu verfolgen. Die Grauschwinge war nicht grundlos nach Panurbia gekommen. Wäre sie nur krank oder verwirrt gewesen, hätte sie den langen Flug erst gar nicht bewältigt. Doch wenn es ein Motiv für ihre Reise gab, existierte an anderer Stelle vielleicht ebenfalls ein Motiv – sie zu töten, beispielsweise.

Er wandte sich an die beiden Affenmenschen, die für den Abtransport der Toten zuständig waren.

»Bringt sie in den Leichenkeller der Präfektur. Deckt sie gut mit Eis zu, damit sie möglichst lange frisch bleibt. Um das Weitere werde ich mich kümmern. Und noch etwas: Besorgt euch bei einer großen Schlachterei einen Sack voller Abfälle. Fleisch, Knochen, Innereien. Achtet unbedingt darauf, dass auch Reste von Stolzvögeln dabei sind. Sollte euch jemand fragen, wofür ihr das braucht, sagt ihr, dass die Wiederbeschaffungsbrigade eine neue Hundestaffel angeschafft hat. Und denkt daran, den Sack mit dem behördlichen Siegel zu versehen! Dann fahrt ihr umgehend zum Brandhenker, übergebt ihm den Sack und vergesst die ganze Angelegenheit. Habt ihr alles verstanden?«

Die Affenmenschen nickten gleichmütig, schlüpften in ihre Handschuhe und zogen ihre ledernen Schürzen straff. Obwohl sie sein Gespräch mit Nefasto und Pocclosz mitverfolgt hatten, würden sie sich keine Gedanken über die abweichende Order machen. Affenmenschen ihres Standes stellten keine Fragen und blieben in jeder Situation, die sie nicht unmittelbar selbst betraf, diskret und innerlich unbeteiligt. Dazu war es nicht einmal nötig, sie zu bestechen.

Als das Fuhrwerk mit der zugedeckten Leiche die Gasse hinunterzuckelte, winkte Gordon die Gardisten heran.

»Ihr alle habt euch davon überzeugen können, wie sensibel das Volk auf den Vorfall reagiert hat. Er muss also unter allen Umständen geheim gehalten werden. Das bedeutet: Kein Eintrag ins Protokoll, kein Gerede, keine Prahlerei vor Freunden oder vor der Familie. Niemand wird je davon erfahren. Haben wir uns verstanden?«

Die Gardisten brummten zustimmend. Der Hauptmann salutierte und gab seinen Leuten den Befehl zum Abzug. Gordon blieb allein in der Gasse zurück und betrachtete noch lange den Blutfleck auf dem abgestoßenen Kopfsteinpflaster.

— 2 —

Professor Aylin bewohnte ein renovierungsbedürftiges Haus im Westdistrikt, einer ruhigen Gegend, in der sich, neben altgedienten Schiffskapitänen und Advokaten im Ruhestand, vorwiegend Künstler und andere Freidenker niedergelassen hatten. Die Nähe zur Flussmündung verlieh der Luft eine brackige Note, die von fernen Küsten und der Weite des Ozeans kündete.

Gordon bezahlte den Kutscher und stieg die drei Stufen zum Hauseingang hinauf. Er betätigte den Türklopfer und wartete. Eine kleine, alte Frau in einer dunkelvioletten Tracht öffnete ihm. Er sagte ihr, dass er mit dem Professor sprechen wollte, und reichte ihr seine Karte.

Die Frau winkte ab. »Ihre Karte brauche ich nicht, der Professor freut sich über jeden Besuch. Folgen Sie mir bitte, mein Herr.«

Sie führte ihn in eine düstere Eingangshalle, die mit fremdartigen Skulpturen vollgestellt war. Eine ganze Wand wurde von einem antiken Gobelin eingenommen, der die mythenumrankte Geschichte von Panurbia zeigte. Die kuppelförmige Decke zierte ein Mosaik, auf dem eine ebenfalls antike Weltkarte zu sehen war: Der Kontinent mit seinen zahllosen Buchten und Halbinseln, durchzogen vom schlängelnden Band des Magnus. Die schwimmenden Inseln des Fernen Südens, die Feuerberge hoch im Norden sowie die unregelmäßig verlaufende Kante des Mutterozeans, wo die Wasser in einen unerforschten Abgrund hinabstürzten. Auch das Wolkengebirge war eingezeichnet – dies allerdings sehr ungenau, wie Gordon fand.

Die alte Frau kehrte zurück und wies auf eine holzgetäfelte, mit filigranen Schnitzereien versehene Tür.

»Professor Aylin erwartet Sie.«

Gordon trat in einen weitläufigen Raum, der, ähnlich wie die Halle, auf Schritt und Tritt mit den Zeugnissen fremder Kulturen aufwartete: Skulpturen, Fetische und Reliquien aus allen Ecken der bekannten Welt.

»Was führt einen Investigator des Recherchedienstes ausgerechnet zu mir? Ich habe mir doch nicht etwas zuschulden kommen lassen?«

Professor Aylin war von schmächtiger Statur, hatte langes schwarzes Haar und trug ein blaues Cape mit exotischen Stickereien. Auf seiner Nase klemmte ein goldenes Brillengestell mit halbrunden Gläsern.

»Sie gelten als der führende Experte auf dem Gebiet fremder Rassen und Kulturen«, sagte Gordon. »Aus diesem Grund möchte ich mit Ihnen sprechen.«

Der Professor wackelte mit dem erhobenen Zeigefinger. »Lassen Sie mich zuerst etwas klarstellen: Es existieren keine fremden Rassen! Geflügelte und Gehörnte, Affenmenschen und Drachenmenschen, Nordländer und Inselvölker, und was unsere Welt sonst noch an Ethnien hervorgebracht hat – wir alle sind vereint zwischen den Mauern dieser einzigartigen Stadt, haben zu ihrer Entstehung und Evolution gleichermaßen unseren Anteil beigetragen.«

»Dies ist mir sehr wohl bewusst. Doch trifft es nicht auf alle Völker zu. Zumindest nicht auf die Grauschwingen.«

Professor Aylin zog die buschigen Augenbrauen hoch. »Ich stimme Ihnen zu, Investigator. Die Grauschwingen stellen einen Sonderfall in unserer wunderbaren Welt dar. Darf ich fragen, woher Ihr Interesse für diese bemerkenswerte Spezies rührt?«

»Erzählen Sie mir von den Grauschwingen. Fangen Sie einfach irgendwo an. Dann werde ich Sie vielleicht mit meinem Anliegen vertraut machen.«

»Darauf gehe ich gerne ein. Doch sollte ich vorausschicken, dass mein diesbezügliches Wissen nicht sehr umfangreich ist.«

»Ganz bestimmt ist es umfangreicher als meines.«

Aylin kratzte sich am Kinn und unterzog den Besucher einer kritischen Musterung. Ein junger, dandyhafter Kerl, vermutlich durch Beziehungen in eine verantwortliche Position gerutscht. Nicht unbedingt vertrauenswürdig, aber ganz bestimmt kein strikter Anhänger des Ewigkeitskultes.

»Wie Ihnen wahrscheinlich bekannt ist«, begann der Professor, »bewohnen die Grauschwingen die schroffen Hänge des Wolkengebirges und meiden den Umgang mit anderen Völkern. Zahlreiche volkstümliche Legenden ranken sich um ihre Spezies, wobei die meisten sie in einem zweifelhaften Licht erscheinen lassen. So heißt es etwa, sie würden kleine Kinder rauben, um sie ihren heidnischen Gottheiten zu opfern. Oder dass sie die Kornkammern der Bauern plündern, welche am Fuß des Wolkengebirges ihr karges Dasein fristen. Ferner wird ihnen nachgesagt, dass ihre Frauen die Menschenmänner verzaubern und sie dazu verleiten, ihnen in die zerklüfteten Berghänge zu folgen, wo sie in ihrem Wahn zu Tode stürzen.«

»Diese Legenden kenne ich«, sagte Gordon. »Haben sie Ihrer Meinung nach etwas mit der Realität zu tun?«

Der Gelehrte schüttelte den Kopf. »Kein einziges derartiges Vorkommnis ist jemals dokumentiert worden. Doch ist mir ein Fall bekannt, in dem es zu einer Begegnung zwischen Mensch und Grauschwinge gekommen ist. Zu einer persönlichen, ja, geradezu intimen Begegnung, um genau zu sein. Dieser Quelle habe ich den größten Teil meines Wissens über die Grauschwingen zu verdanken.«

»Handelt es sich bei dieser Quelle um einen Bewohner von Panurbia?«

»Das darf ich Ihnen leider nicht verraten. Denn die Person, von der hier die Rede ist, war nur unter der Bedingung von absoluter Diskretion bereit, mir ihre Erfahrungen mitzuteilen.«

»Ich verstehe«, murmelte Gordon.

»Den Schilderungen dieser Person nach hegen die Grauschwingen keinerlei Aversionen oder Misstrauen gegen die anderen Völker. Doch fühlen sie sich nicht deren Welt zugehörig, sondern einer Sphäre, die sich jenseits der Wolkenmassen erstreckt, welche ihr heimatliches Gebirge seit ewigen Zeiten verschleiern. Sie ernähren sich von der Jagd, die sie in der Art von Greifvögeln aus der Luft betreiben, und von der kargen Vegetation ihrer unwirtlichen Heimat. Ferner scheint ihnen ein gewisses Geschick in der Zubereitung heilender Tinkturen zu eigen zu sein – sowie eine natürliche spirituelle Veranlagung, die ihren Ursprung wohl in der naturverbundenen Lebensweise der Grauschwingen zu finden ist. Über ihre Sprache ist leider so gut wie nichts bekannt, doch scheinen zumindest einige von ihnen in der Lage zu sein, sich differenziert in Panvox auszudrücken. Was mir aufgrund des Mangels an Berührungspunkten zwischen den Kulturen absolut unerklärlich ist. Andererseits besteht für mich an der Richtigkeit dieser Informationen nicht der geringste Zweifel.«

»Das hört sich in der Tat interessant an«, meinte Gordon. »Aber ich muss gestehen, dass mich ihre Ausführungen nicht wirklich zufrieden stellen.«.

Aylin legte den Zeigefinger ans Kinn und betrachtete das Bogengewölbe über ihm. »Sie möchten tiefer in die Materie eintauchen? Wenn Sie mir gezielte Fragen stellen, kann ich sicherlich mit spezifischeren Auskünften dienen.«

»Heute morgen gab es einen merkwürdigen Zwischenfall«, eröffnete ihm Gordon nach kurzem Zögern. »In der Stunde vor Sonnenaufgang prallte eine Grauschwinge im freien Flug gegen die Rückseite des Stundenturms.«

Aylin schnappte nach Luft und blickte Gordon aus weit aufgerissenen Augen an.

»Hier, in Panurbia? Sie erlauben sich einen Scherz, nicht wahr?«

»Ich ließ sie in den Leichenkeller der Präfektur bringen. Ein Verstoß gegen die Order meiner Kollegen vom Recherchedienst, doch habe ich keine Vorschriften missachtet. Zumal keine Vorschriften für einen Zwischenfall dieser Art existieren.«

»Wurde denn dafür gesorgt, dass der Körper ausreichend gekühlt ist?«

»Das habe ich veranlasst. Im Übrigen gehe ich davon aus, dass Sie über die Möglichkeit verfügen, eine gründliche Untersuchung des Leichnams durchzuführen.«

»Dann sind Sie wohl über die Blauschlund-Affäre auf mich aufmerksam geworden? Sie müssen zu jener Zeit noch sehr, sehr jung gewesen sein.«

»Ich war noch nicht geboren, doch wurde die Angelegenheit im Rahmen meiner Ausbildung behandelt. Ein faszinierenderes Kapitel in der Rechtsprechung unserer Stadt. Auch wenn der Ausgang des Prozesses meinen Gerechtigkeitssinn nicht zufriedenstellen kann.«

»Was mich betrifft, so kann ich mich nicht beklagen«, entgegnete Aylin. »Nicht nur, dass ich mit dem Leben davonkam – die Blauschlundseuche wurde durch die Ergebnisse meiner Forschungsarbeit vollkommen ausgemerzt. Nachdem sich das Volk der Drachenleute geschlossen hinter mich gestellt hatte, lief die Argumentation der Hohepriester ins Leere. Schließlich hatte ich niemandem Schaden zugefügt, sondern das Serum aus den Keimdrüsen von Drachenmenschen gewonnen, die eines natürlichen Todes gestorben waren. Anders als von den Klerikern erwartet, waren die Drachen stolz darauf, einen wichtigen Beitrag zur Bekämpfung der Seuche geleistet zu haben. Vielleicht durchschauten sie die Strategie der Priesterkaste, der Seuche die Bedeutung einer göttlichen Drohung anzuheften. Man darf die Intelligenz der Drachenleute nicht unterschätzen.«

»Nichtsdestoweniger wurden Sie dazu gezwungen, Ihren Lehrstuhl aufzugeben. Das erscheint mir angesichts Ihres Verdienstes geradezu paradox.«

»Wie ich schon sagte – ich bin zufrieden, denn es hätte ganz anders kommen können. Ihnen als Mitarbeiter der Präfektur muss ich nicht darlegen, was es mit verbotener Wissenschaft auf sich hat, nicht wahr? Doch lassen Sie uns nun zu Ihrem eigentlichen Anliegen zurückkehren, Investigator. Wünschen Sie von mir eine Expertise bezüglich der Todesursache?«

Gordon nickte bedächtig. »So ist es, Herr Professor. Es fällt mir schwer, anzunehmen, dass ein Lebewesen, welches sich mühelos in den unberechenbaren Luftströmungen zerklüfteter Hochgebirgsschluchten zu bewegen vermag, mit seinen Flugkünsten ausgerechnet an unserem guten alten Stundenturm scheitert.«

»Sie betrachten die Sache mit bewundernswerter Nüchternheit«, pflichtete ihm Aylin bei. »Die Bewohner der Lüfte sind von Natur aus perfekt für die Beherrschung ihres Elements gerüstet. So gab es in den vergangenen fünfzig Jahren nur einen einzigen Absturz eines einheimischen Geflügelten zu verzeichnen. Und dieser war, vorsichtig ausgedrückt, so betrunken wie eine Meute Leichtmatrosen.«

»Pflegen Sie Beziehungen zum Volk der Geflügelten? Es wäre interessant zu erfahren, ob sie die Grauschwinge bei ihrem Flug über die Stadt beobachtet haben.«

»Leider kann ich auf keinerlei Kontakte zu diesen unnahbaren Zeitgenossen verweisen. Doch will ich nicht ausschießen, dass die Geflügelten aufgrund ihrer empathischen Eigenschaften über den ungewöhnlichen Besuch informiert waren.«

»Eine reine Spekulation, nehme ich an.«

Aylin schüttelte vorsichtig den Kopf. »Unterschätzen Sie nicht die enge Verwandtschaft unserer geflügelten Mitbürger mit dem Volk der Grauschwingen. Es ist ein Jammer, dass sie sich aus dem Alltagsleben zurückgezogen haben. Wem wir diesen Verlust zu verdanken haben, will ich der Konvention halber unerwähnt lassen. Aber nachdem Sie mit meiner Biografie so gut vertraut sind, wissen Sie natürlich, wovon ich spreche. «

Gordon zog ein zusammengefaltetes Blankoformular mit dem Siegel der Aufklärungsbehörde aus der Innentasche seines Gehrocks, ließ sich von Aylin eine Schreibfeder geben und versah das Formular mit einer knappen Anweisung und seiner Unterschrift.

»Lassen Sie den Leichnam baldmöglichst abholen. Je eher er aus der Präfektur verschwindet, desto besser.«

»Ich werde umgehend die nötigen Vorbereitungen treffen«, versicherte der Gelehrte. »Auf welchem Wege kann ich Sie über den Fortschritt meiner Untersuchung unterrichten?«

»Meine Familie verfügt über ein Kundenkonto beim Lizard-Express. Adressieren Sie alle Nachrichten an die Villa Dunnhil, zu meinen Händen. Keinesfalls an die Präfektur.«

»Natürlich nicht. Und gehen Sie bitte davon aus, dass meine Arbeit einen gewissen Zeitraum in Anspruch nehmen wird. Die eine oder andere chemische Reaktion muss unter Umständen mehrmals wiederholt werden, ehe ein aussagekräftiges Ergebnis zustande kommt.«

Die kleine, alte Frau brachte Gordon zur Tür. Als er vor dem Haus nach einer Droschke oder einer Rikscha Ausschau hielt, ließ der Stundenturm das Mittagsläuten erklingen. Nuno, der große Stern, stand als gleißender Feuerball im Zenith, während seine kleinere Schwester Jama ihre rötliche Glut im Osten entfachte. Gordon wurde bewusst, dass er seit achtzehn Stunden auf den Beinen war. Er sehnte sich nach seinem Bett.

— 3 —

Pünktlich zum Abendessen betrat Gordon die Dachterrasse der Dunnhil-Villa. Debra war gerade dabei, die Gläser einzuschenken – Wasser für sie und ihren Bruder, Wein für die Mutter. Die Luft war mild und warm, aus den Baumkronen drang munteres Vogelgezwitscher. Hinter den Dächern und Türmen der Stadt erhoben sich majestätisch die Gründerhügel. Eine Gondel glitt an den sanft geschwungenen Hängen aufwärts, funkelnd wie ein Juwel im goldenen Abendlicht.

»Wo steckt Mutter?«, fragte Gordon und ließ sich auf seinem angestammten Platz nieder.

»Müsste jeden Moment zu uns stoßen«, antwortete Debra, ohne von ihrer Tätigkeit aufzusehen. »Sie klagt übrigens schon den ganzen Tag über Kopfschmerzen. Mache dich also auf die eine oder andere spitze Bemerkung gefasst.«

»Das sind wir ja von ihr gewohnt.« Gordon brach ein Stück Brot ab und knabberte daran herum. »Hast du etwas dagegen, wenn ich schon anfange? Ich könnte einen Bären verschlingen, so hungrig bin ich.«

Lucretia Dunnhil trat durch die Flügeltür, den üppigen Körper in schimmernde Seide gehüllt und das strohblonde Haar zu einem dicken Zopf geflochten, der sich wie eine Schlange um ihre runden Schultern wand.

»Gordon, du siehst blass aus! Du arbeitest eindeutig zu viel. Ich werde ein ernstes Wort mit deinem Vorgesetzten, diesem Gehörnten… wie ist doch gleich sein Name…?«

»Mutter«, erwiderte Gordon gefasst, »ich bin dir überaus dankbar, dass du deine Beziehungen eingesetzt hast, um mir eine Laufbahn beim Recherchedienst zu ermöglichen. Nun bitte ich dich darum, diese Laufbahn durch deinen fürsorglichen Eifer nicht zu zerstören, bevor sie richtig angefangen hat.«

Lucretia Dunnhil ließ sich mit einem indignierten Schnauben am Kopfende des Tischs nieder. »Du bist alt genug, Gordon. Du wirst wissen, was du tust.«

»Danke, Mutter.«

Debra sah ihn aus ihren braunen Rehaugen an und wischte eine dunkle Locke aus der Stirn. »Ich will nicht ins gleiche Horn stoßen, Gordon. Aber du machst tatsächlich einen erschöpften Eindruck.«

»Sage ich doch«, ließ sich Lucretia vernehmen und trank mit spitzen Lippen von ihrem Wein.

»Ich hatte eine anstrengende Nacht«, erklärte Gordon. »Kurz vor Ende meiner Schicht musste ich mich dann noch um eine dringende Angelegenheit kümmern, die sich bis Mittag hingezogen hat.«

»Du hättest diese Angelegenheit delegieren können«, warf ihm seine Mutter vor. »Die Kunst des Delegierens ist es, was eine Führungspersönlichkeit auszeichnet.«

»Aber ich bin keine Führungspersönlichkeit. Nur weil ich während der Nachtschicht ein paar Affenmenschen und Nordländer herumkommandieren darf, stehe ich im Recherchedienst immer noch am unteren Ende der Leiter.«

»Mit dieser Mentalität wirst du kein Stückchen weiter nach oben kommen. Der Geist der Dunnhils wird in den stickigen Bereitschaftszimmern der Straßenpatrouille verdampfen. Dein ehrwürdiger Vorfahr Regulus würde sich im Grab umdrehen vor Scham.«

Debra beugte sich kampfeslustig vor. »Wenn wir wüssten, wo er begraben liegt, könnten wir ihn ja exhumieren lassen und ihm einen Beruhigungstrank einflößen.«

Gordon, der im Begriff war, von seinem Glas zu trinken, stellte es wieder zurück und unterdrückte ein Auflachen. Seine Schwester neigte zwar eher zu Melancholie und Introvertiertheit. Doch wenn ihr der Kragen platzte, legte sie eine erfrischende Schlagfertigkeit an den Tag.

»Regulus war ein großer Mann!«, schnappte Lucretia. »Die Stadt hat ihm vieles zu verdanken. Ohne ihn hätte die Geschichte einen anderen, weitaus unerfreulicheren Verlauf genommen.«

»Vielleicht hätte er sich mehr aufs Delegieren verlegen sollen«, entgegnete Debra. »Dann hätten ihn die Gesalbten nicht bei Nacht und Nebel verschwinden lassen.«

»Du vergehst dich am Andenken deines Vorfahren!«

»Ich weiß. Und ich fühle mich kein bisschen schlecht dabei.«

»Was haltet ihr davon, wenn wir den Großen Regulus in Frieden ruhen lassen?«, schlug Gordon vor. »Immerhin sind die Dunnhils damals mit einem blauen Auge davon gekommen.«

»Ich bezweifle, dass er in Frieden ruht«, knurrte Debra und stocherte mit verkniffener Miene in ihrem Salat. »Wahrscheinlich geistert er immer noch da draußen herum auf der Suche nach jungen, rothaarigen Gespielinnen…«

»Debra!«, fuhr Lucretia Dunnhil auf.

»Ich will dich nicht provozieren, Mutter. Aber ich finde, diese pauschale Verehrung für den alten Schwerenöter könnte allmählich ein Ende nehmen. Er hat sich mit den Priestern angelegt, weil er sich wie unter Zwang mit allem und jedem anlegen musste. Dass seine Kritik da und dort berechtigt war, ändert nichts an seinem wichtigtuerischen Gehabe. Er hätte mit seiner Querköpfigkeit unseren ganzen Clan dem Brandhenker ausgeliefert, wären nicht einflussreiche Fürsprecher dazwischengegangen. Du weißt, dass ich mir das nicht ausgedacht habe. Es steht alles in unserer Familienchronik.«

»Ich hätte die Bücher vor dir verstecken sollen«, schmollte Lucretia. »Du warst viel zu jung, als du anfingst, dich mit unserer Historie zu beschäftigen. Und du bist es anscheinend immer noch.«

Gordon blickte zu einem Trio Geflügelter auf, die in der Höhe ihre eleganten Kreise zogen. Seine Gedanken kehrten zu der toten Grauschwinge zurück und in seinem Magen bildete sich ein Knoten. Die Summe von Eigenmächtigkeiten, die er sich in den Stunden seit dem ersten Sonnenaufgang herausgenommen hatten, reichte aus, um seine fristlose Entlassung aus dem Dienst der Behörde zu rechtfertigen.

Aber was hatte er zu verlieren? Er war nicht darauf angewiesen, seinen Lebensunterhalt mit der Ausübung eines Berufs zu sichern. Die Dunnhils galten zwar als verarmt, weil der Klerus nach dem Aufruhr um Regulus den größten Teil ihres Besitzes an sich gerissen hatte. Doch hatten sie es verstanden, durch legale Geschäfte und Spekulationen einen soliden Wohlstand zu erlangen, der ihnen ein weitgehend sorgenfreies Dasein ermöglichte.

Seine Mutter beobachtete nun ebenfalls die Geflügelten. Ein versonnener Ausdruck ließ sich auf ihrem runden Gesicht nieder.

»Wie schön sie sind! Was muss das für ein Leben sein! Diese unvergleichliche Freiheit! Sie sind ständig nackt, nicht wahr?«

»Nicht, wenn sie sich unters Fußvolk mischen«, erwiderte Debra. »Dann ziehen sie sich eine schäbige Kutte über, die sie wie armselige Bettler aussehen lässt. Zumindest war das so, als sie sich noch zu uns herabgelassen haben.«

»Einst gab es sogar Ehen zwischen Geflügelten und Menschen«, fuhr Lucretia fort. »Warum sie sich wohl vor uns zurückgezogen haben?«

»Vielleicht deshalb, weil der Große Regulus in seiner unersättlichen Gier nach fleischlicher Zerstreuung angefangen hat, auch ihnen nachzustellen…«

Lucretias Hand knallte auf den Tisch. »Fängst du nun schon wieder an?«

»Könnte es nicht damit zu tun haben, dass man ihnen das Fliegen verbieten wollte?«, meinte Gordon. »Die Priesterkaste wollte sie dazu zwingen, sich zu einem erdgebundenen Dasein zu bekennen und den Himmel allein den göttlichen Mächten zu überlassen.«

»Dann wundert es mich, dass sie nicht komplett ausgewandert sind«, sagte seine Schwester.

»Der Rat hat sich schützend vor sie gestellt. Wohl auch aus dem Grund, um den Tempel in seine Grenzen zu weisen.«

»Der Rat ist zu weich mit dem Priestergesindel«, behauptete Lucretia. »Sonst käme es erst gar nicht zu diesem erbärmlichen Theater um den bevorstehenden Weltuntergang. Alle vierhundert Jahre dasselbe Spiel! Und niemand steht auf, um die Machenschaften dieser Brut zu entlarven.«

Gordon machte eine beschwichtigende Handbewegung. »Und wenn schon. Sie werden auch dieses Mal keinen Erfolg haben.«

»Sei dir da nicht so sicher, mein Sohn. Die Gründerfamilien sind sich ihrer Verantwortung nicht mehr bewusst. Der Hohe Rat ist eine Versammlung von selbstverliebten Tattergreisen und dekadenten Emporkömmlingen. Und die Stände wollen bei ihren Geschäften nicht gestört werden.«

»Die ominöse Horus-Union unseres Urahnen Regulus ist anscheinend auch nicht mehr das, was sie einmal gewesen ist«, sagte Debra.

Lucretia Dunnhil schnaubte indigniert. »Mein liebes Kind, dein ironischer Tonfall ist absolut nicht angebracht. Hättest du die Chroniken aufmerksam durchgesehen, wären dir die eindeutigen Hinweise auf die Existenz der Gemeinschaft nicht entgangen.«

»Ich streite nicht ab, dass es die Gemeinschaft wirklich gegeben hat. Aber was hat sie bewirkt? Bestimmt waren es nur ein paar Idealisten, die sich einmal im Monat bei Wein und Zigarrenrauch eine bessere Welt ausgemalt haben.«

»Und ich sage dir: Es fehlt uns heute an Idealisten! Es fehlen Männer wie Regulus vom Donnerhügel, die sich unerschrocken gegen die Obrigkeit stellen!«

Debra warf ihr Besteck auf den Tisch. »Warum stehst du nicht auf und legst dich mit den Pfaffen an? Nachdem du anscheinend die einzige Person bist, der das Vermächtnis des Großen Regulus in Fleisch und Blut übergegangen ist?«

Lucretia zerknüllte eine Serviette zwischen den goldberingten Fingern. Gordon bereitete sich auf eine Zuspitzung des Schlagabtauschs vor, doch zu seiner Überraschung füllten sich die Augen seiner Mutter mit Tränen.

»Ich wünschte, ich hätte die Kraft dazu«, sagte sie leise. »Aber ich bin nur eine dicke, alte Frau, die es sich am liebsten auf dem Lorbeer vergangener Zeiten gemütlich machen würde. Bitte verzeiht mir, Kinder.«

Sie legte die Serviette auf den Tisch, erhob sich schwerfällig und verschwand hängenden Hauptes im Haus.

»Du warst zu hart mit ihr«, sagte Gordon.

»Ich weiß«, erwiderte Debra leise. »Aber wenn ich den Namen Regulus nur höre…«

»Mir ergeht es genauso. Nur, dass mir das hundertmal lieber ist, als würde sie über unsere Heiratspläne sprechen wollen.«

Debra lächelte bitter. »Ich habe den Eindruck, dass das kein Thema mehr ist. Zumindest, was mich betrifft. Sie muss eingesehen haben, dass es kein Kinderspiel ist, ein kränkelndes Mädchen mit einem steifen Bein unter die Haube zu bekommen.«

Er fasste sie am Kinn und zwang sie, ihm ins Gesicht zu sehen.

»Was für dummes Zeug du redest! Du bist hübsch, du bist klug, und du hast Charakter. Wenn du öfter vor die Tür gehen würdest, anstatt im Keller den Staub der alten Chroniken zu inhalieren, würde bestimmt der eine oder andere Prachtkerl auf dich aufmerksam werden.«

»Ich brauche aber keinen Prachtkerl! Ich habe eine gute Freundin gefunden. Die beste, die es gibt. Das ist mehr, als ich jemals für mich erhofft habe. Mehr brauche ich nicht, und mehr will ich auch nicht.«

»Noko ist eine Sklavin. Sie gehört dem Edlen Nolday, und daran wird sich vielleicht nie etwas ändern. Eure Freundschaft, so innig sie auch sein mag, hat keine Zukunft.«

»Das ist mir egal. Man kann sich seine Seelenverwandten nicht aussuchen.«

»Du sprichst über Dinge, mit denen ich mich nicht auskenne«, räumte er ein. »Aber ich kann mir vorstellen, dass es manchmal sehr weh tut.«

Debra ergriff über den Tisch hinweg seine Hand und richtete den Blick auf ihren verwüsteten Salat. »Das tut es, mein lieber Bruder. Und ich weiß nicht, wie lange ich es noch aushalten kann.«

»Wir könnten sie dem Edlen Nolday abkaufen.«

»Mutter würde nie eine Sklavin in ihrem Haus akzeptieren. Schließlich hat der Große Regulus vehement gegen die Sklavenhaltung gekämpft.«

»Wir würden sie kaufen, um sie in die Freiheit zu entlassen. Ich könnte für sie bürgen. Bestimmt würde meine Funktion bei der Präfektur die Prüfungskommission positiv beeinflussen.«

»Nolday wird Noko aus Prinzip nicht verkaufen. Außerdem heißt es, er liebt ihr Harfenspiel über alles.«

»Ist sie seine Mätresse?«

Debra zuckte mit den Schultern. »Sie spricht nicht darüber. Aber er behandelt sie mit Respekt und Würde. Das behauptet sie jedenfalls.«

»Ich werde mir seine Akte ansehen. Vielleicht finde ich etwas, womit er sich unter Druck setzen lässt.«

Sie blickte ihn erschreckt an. »Gordon… er ist ein Ratsmitglied! Und er repräsentiert eine Gründerfamilie!«

»Soviel ich weiß, ist er auch ein Geschäftsmann mit Verbindungen in die entlegensten Winkel der Welt. Leute wie er handeln immer nach ihren eigenen Regeln, und die befinden sich nicht unbedingt im Einklang mit den Gesetzen. Irgendetwas werde ich finden, und dann wird es zu einer diskreten Absprache kommen. Er wird Noko mit Freuden an uns verkaufen, wenn er dadurch einen dunklen Fleck aus seiner Akte tilgen kann.«

Debra tätschelte seine Hand. »Ich werde dich wohl kaum umstimmen können? Dann tu das, was du für richtig hältst. Aber bitte sei vorsichtig, mein Bruder. Gehe kein Risiko ein. Ich liebe dich mindestens so sehr wie Noko.«

»Ich weiß«, erwiderte er. »Genau deshalb werde ich es tun.«

— 4 —

Kurz nach Mitternacht führten zwei Affenmenschen von der Straßenpatrouille einen kleinen, dicken Mann in den Bereitschaftsraum. Sein anthrazitgraues Cape war aus hochwertigem Filz gewirkt, sah jedoch aus, als hätte er sich damit im Rinnstein gewälzt. Auch seine Kniebundhosen und seine spitzen, schwarzen Lederschuhe wiesen Schmutzspuren auf. Sein rundes Gesicht, das normalerweise wahrscheinlich einen eher gemütlichen Eindruck verbreitete, war vor Aufregung gerötet, seine Augen weit aufgerissen. Das graue Haar stand wirr von seinem Kopf ab. Mit der rechten Hand drückte er ein blutgetränktes Taschentuch an seine Schläfe.

Gordon bereitete sich innerlich auf eine arbeitsreiche Nacht vor. Dies war bereits der fünfte Überfall, seit er seine Schicht angetreten hatte. Was bedeutete, dass in den Stunden bis zum Morgengrauen, wenn die Verbrechensrate ihren alltäglichen Höhepunkt erlebte, die gesamte Bereitschaft auf den Beinen sein würde.

Er beugte sich wieder über das aufgeschlagene Buch mit den Einsatzprotokollen, um sich mit dem diensthabenden Gardisten die Ermittlungen in dem einen oder anderen Fall abzustimmen. Nicht alle Verbrechen wurden vom Recherchedienst untersucht; das hing von der Schwere der Tat und dem Rang der betroffenen Personen ab. Der Diensthabende, ein schweigsamer Nordländer mit einem breiten, pockennarbigen Gesicht, machte es Gordon nicht leicht. Er spielte den gehorsamen Befehlsempfänger, überließ die Entscheidungen allein ihm.

»Verzeihen Sie, Investigator – haben Sie einen Moment Zeit?«

Gordon blickte unwillig zu dem Affenmann auf, der sich in strammer Haltung neben ihm postiert hatte.

»Sehen Sie nicht, dass ich zu tun habe? Worum geht es denn?«

»Ein Raubüberfall, Investigator. Die Sache betrifft eine Gründerfamilie.«

»Ich verstehe.«

Gordon klopfte dem Diensthabenden auf die Schulter. »In einer Stunde will ich Ihre Empfehlungen auf meinem Tisch haben, verstanden?«

Er durchquerte den Raum und trat vor den dicken Mann hin, der unter einem der Bogenfenster auf einer Sitzbank Platz genommen hatte.

»Voratius Rothmund«, stellte ihn der Gardist vor. »Nach seinen Angaben Hausverwalter der Villa Quellenstein.«

»Was soll diese Formulierung?«, brauste der Mann auf. »Glaubt ihr mir etwa nicht?«

»Bis wir Ihre Angaben überprüft haben, werden sie als vorbehaltlich betrachtet«, erklärte Gordon. »Eine behördliche Routine, sonst nichts.«

Rothmund sah ihn misstrauisch an. Das Taschentuch an seiner Schläfe hatte sich vollgesaugt, Blut sickerte darunter hervor und bildete kleine Rinnsale auf seiner fleischigen Wange.

»Sie erscheinen mir ein wenig jung, mein Freund. Ich ziehe es vor, mit einem erfahrenen Ermittler zu sprechen.«

Gordon wandte sich an den zweiten Gardisten. »Bringen Sie Herrn Rothmund ein frisches Taschentuch und ein Glas Wasser. Und holen Sie eine Schreibkraft, damit wir ein Protokoll aufnehmen können.«

Er zog einen Stuhl heran und setzte sich Rothmund gegenüber. »Ich fürchte, Sie werden mit meiner Wenigkeit Vorlieb nehmen müssen. Unser erfahreneres Personal ergeht sich um diese Tageszeit in privaten Tätigkeiten. Die Nächte gehören grundsätzlich dem Nachwuchs.«

»Ich entschuldige mich für mein ungebührliches Betragen«, murmelte Rothmund und blickte verlegen zu Boden. »Meine Verfassung ist nicht die allerbeste. So etwas passiert einem schließlich nicht alle Tage.«

Gordon wandte sich an den verbliebenen Gardisten. »Wurde für Herrn Rothmund ein Arzt bestellt?«

»Herr Rothmund wollte das nicht…«

»Ich brauche keinen Arzt!«, mischte sich Rothmund ein. »Schließlich ist dies nicht das erste Mal in meinem Leben, dass ich mir den Kopf angeschlagen habe.«

Gordon nickte verständnisvoll. »Ganz wie Sie wünschen. Fühlen Sie sich in der Lage, Angaben zur Tat und deren Vorgeschichte zu machen?«

»Ich denke schon, Investigator…?«

»Dunnhil. Gordon Dunnhil.«

Rothmund schien aufzuhorchen. Er musterte Gordon mit neuem Interesse und meinte schließlich: »Doch nicht etwa einer von den Dunnhils?«

»Ihre Vermutung trifft zu. Allerdings ziehe ich es vor, meine Herkunft nicht zu thematisieren.«

»Sie brauchen sich Ihrer Abstammung nicht zu schämen. Die Dunnhils mögen einst als Umstürzler gegolten haben. Aber ihr Gedankengut ist zu einem großen Teil in die Stadtpolitik eingeflossen. Ich fände es an der Zeit, Ihre Familie in den Adelsstand zurückzuversetzen.«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen. Aber wir haben uns gut eingelebt in unsere neue Existenzform.«

Die Schreibkraft betrat den Bereitschaftsraum. Eine junge Geflügelte, die Gordon noch nicht in der Präfektur gesehen hatte. Ihr glockenförmiges graues Kleid umwehte den zarten Körper wie ein Schleier und wurde am Hals von einer dunkelblauen Schleife zusammengehalten. Pechschwarzes Haar rahmte ein schmales, wächsernes Gesicht, das vor allem aus Augen und Lippen zu bestehen schien. Die üppig gefiederten Schwingen hatte sie am Rücken sorgsam zusammengefaltet.

Seltsam, dachte Gordon. Gerade erst hatte er im Kreise seiner Familie über die Geflügelten gesprochen. Professor Aylin hatte sie ebenfalls erwähnt, im Zusammenhang mit der Grauschwinge. Und nun trat eines dieser mysteriösen Geschöpfe, die er nur als graziöse Schattenrisse am Himmel kannte, ganz selbstverständlich vor ihn hin.

Rothmund beäugte die Geflügelte voller Neugier, als sie sich ihm gegenüber auf einen Tisch setzte und den Schreibblock auf ihre Knie legte. Dann wandte er sich wieder Gordon zu und befeuchtete die Lippen mit der Zunge.

»Kann ich jetzt sprechen, Investigator? Oder ziehen Sie es vor, mir Fragen zu stellen, die ich nach bestem Wissen und Gewissen beantworten werde?«

»Schildern Sie den Tathergang. Wann und wo genau ihnen was zugestoßen ist. Bei Unklarheiten werde ich mich mit Zwischenfragen zu Wort melden.«

»Als Verwalter der Villa Quellenstein bin ich eigentlich nicht für die Küche zuständig«, begann Rothmund. »Doch ist die Kochkunst meine größte Leidenschaft und ich werde nicht müde, Rezepte aus allen Teilen der bekannten Welt zu sammeln. Dazu gehört natürlich auch, dass ich den Köchen in unserer Stadt hin und wieder über die Schulter blicke. Aus diesem Grunde fand ich mich heute Abend im Silbermond ein, einem Lokal, das von zwei Schwestern aus der südlichen Küstenregion geführt wird. Man gewährte mir Zutritt zur Küche, und nachdem ich der Zubereitung diverser Gerichte beigewohnt und mir ausgiebigst Notizen gemacht hatte, begab ich mich in die Gaststätte, um mich von der Güte der Speisen zu überzeugen. Gesättigt und mit neuen Anregungen versehen, machte ich mich um die elfte Stunde auf den Heimweg. Doch bereits am Ende der Leinfärbergasse, in welcher der Silbermond angesiedelt ist, wurde ich von einem Rohling hinterrücks angefallen und zu Boden geworfen, was mir diese unansehnliche Schramme eingebracht hat…«

»Es handelte sich also nur um einen Täter? Konnten Sie ihn erkennen?«

»Leider nicht – wenn Sie die Leinfärbergasse kennen, wissen Sie, was für ein dunkler Ort das ist um diese Zeit. Vor allem das obere Ende, wo sie sich unter der Hohen Löwengasse hindurchwindet. Und genau dort hat er mir aufgelauert… nein, das ist nicht korrekt, ich muss mich verbessern. Er hat mir nicht aufgelauert, er ist mir gefolgt. Kurz bevor er mich zu Boden riss, habe ich seine Schritte hinter mir gehört. Nichtsdestoweniger war ich vollkommen überrascht von der Attacke.«

Der Gardist brachte ein Glas Wasser und ein frisches Tuch. Rothmund wischte seine Verletzung ab, betrachtete die Blutspuren auf dem Tuch und hielt es wieder an die Stirn. Dann trank er das Glas mit einem Zug zur Hälfte leer.

»Flink wie eine Katze durchsuchte der Unhold meine Taschen«, fuhr er fort. »Obwohl benommen von dem Sturz, war ich mir der Situation in vollem Maße bewusst. So verzichtete ich auf jegliche Gegenwehr, um keine weiteren Tätlichkeiten gegen meine Person zu provozieren. Sollte er doch mein Geld bekommen, der Verlust würde sich verkraften lassen! Dann verspürte ich einen heftigen Ruck an meinem Gürtel und der Schurke suchte mit Windeseile das Weite. Ohne mein Geld, wohl gemerkt!«

»Ohne das Geld?«

Rothmund nickte. »Er muss sich gestört gefühlt haben, doch schien er sich nicht ohne ein Andenken von mir verabschieden zu wollen. Also ergriff er kurzerhand den Schlüsselbund an meinem Gürtel, riss ihn mit roher Gewalt ab und machte sich damit aus dem Staub.«

»Doch nicht etwa die Schlüssel zur Villa Quellenstein?«

»Lassen Sie mich das genauer erklären. Es handelt sich um die so genannten Gründerschlüssel, sie erfüllen eine symbolische Funktion. Die Familientradition derer vom Quellenstein verlangt, dass der jeweilige Hausvorstand diese Schlüssel stets bei sich trägt. Nun ist mein Herr, der Edle Nadés, weder ein Verfechter überkommener Traditionen, noch möchte er sich bei seinen täglichen Geschäften mit einem alten Schlüsselbund belasten. Seiner Ansicht nach genügt es vollkommen, wenn ein leitendes Mitglied des Hauspersonals diese Pflicht übernimmt. Sein Gardevorstand, seine Haushälterin, sein Hausgelehrter und ich wechseln uns darin ab…«

»Symbolische Schlüssel?«, unterbrach Gordon den Redeschwall seines Gegenübers. »Was kann der Dieb damit anfangen?«

»Nichts«, antwortete Rothmund.

»Absolut nichts?«

Der dicke Mann schüttelte entschieden den Kopf. »Rein gar nichts. Man kann damit nicht ins Haus gelangen, und der materielle Wert ist unbedeutend.«

»Aber was ist mit dem symbolischen Wert? Quellenstein gilt als einer der ältesten Clans von Panurbia…«

»Der älteste, um genau zu sein. Doch entbehren die Gründerschlüssel außerhalb der Mauern von Quellenstein jeglicher Symbolkraft. Und innerhalb dieser Mauern verhält es sich nicht anders. Mein Herr, der Edle Nadés, wird den Diebstahl mit einem erleichterten Stoßseufzer abtun. Wie ich bereits anmerkte, ist er kein Freund verstaubter Familienbräuche.«

Gordon rieb sich die Hände, um seine Ratlosigkeit zu überspielen. Im Grunde war dieser Fall alles andere als eine Angelegenheit für den Recherchedienst. Doch die Tatsache, dass eine Gründerfamilie darin verwickelt war, verpflichtete zu seiner Aufklärung.

Er warf der Geflügelten einen beiläufigen Blick zu – scheinbar, um sich zu vergewissern, dass sie das Gespräch vollständig protokolliert hatte. Doch wollte er noch einige Sekunden herausschinden, um sich mit der absurden Entscheidung anzufreunden, die er nun fällen musste. Die Präfektur hatte wichtigere Aufgaben, als sich um ein Verbrechen zu kümmern, das keines war.

Die Geflügelte sah von ihrem Block auf und musterte ihn aus ihren schräg stehenden, wässrig-grünen Augen.

Zögere nicht. Die Sache wird dich ein gutes Stück weiterbringen.

Er blinzelte unwillkürlich, sein Puls beschleunigte. War da gerade wirklich eine Stimme in seinem Kopf gewesen?

Die Geflügelte blickte wieder auf ihr Protokoll, die Schreibfeder über dem Tintenfässchen zum Eintauchen bereit.

Gordon erhob sich von seinem Stuhl und erteilte den beiden Affenmenschen, die der Vernehmung mit unbewegten Mienen gefolgt waren, seine Anweisungen.

»Zehn Leute sollen sich in der Leinfärbergasse auf die Suche nach möglichen Zeugen machen. Der Täter könnte über die Hohe Löwengasse geflohen sein. Es sind also auch dort Nachforschungen anzustellen.«

Er wandte sich wieder an Rothmund. »Sind Sie sicher, dass Sie keine Angaben zu der Person machen können, die Sie überfallen hat?«

»Jetzt fällt mir ein, dass er einen harzigen Geruch ausgeströmt hat«, erwiderte der Angesprochene und sprang auf. »Mit einer Note von Ingwer und… es könnte Meerrettich im Spiel gewesen sein, aber ich bin mir nicht sicher. Doch warten Sie – auf der Speisekarte des Silbermond befindet sich tatsächlich ein Gericht, das mit beiden Zutaten aufwarten kann! Dann hat mich der Bursche also bereits in der Gaststätte beobachtet…«

»Der harzige Geruch könnte auf den Genuss von Glücksmandelpulver hinweisen«, meinte der diensthöhere der beiden Affenmenschen.

»Um die Pulveresser kümmern wir uns später«, sagte Gordon. »Nehmt euch als erstes den Silbermond vor. Dort bekommt ihr am ehesten eine Beschreibung des Gesuchten.«

Die Affenmenschen salutierten und setzten ihre Pickelhauben auf. Gordon drehte sich zu der Geflügelten um.

»Traust du es dir zu, nach der Beschreibung von Herrn Rothmund eine Zeichnung der Schlüssel anzufertigen?«

Sie nickte schweigend, blätterte ihren Block um und tauchte die Schreibfeder in das Tintenfass.

Rothmund erhob sich und bückte sich über das Blatt, auf dem die Geflügelte mit sicherem Strich die Abbildung des gestohlenen Schlüsselbunds entstehen ließ. Seine Anmerkungen waren eher nebensächlich, beschränkten sich auf ein gelegentliches »hier noch ein bisschen länger« oder »diese Krümmung nicht ganz so ausgeprägt«. Die Geflügelte schien genau zu wissen, was sie zu Papier brachte.

»Genau so sehen sie aus!«, rief Rothmund schließlich. »Man könnte Duplikate anfertigen lassen nach dieser Zeichnung!«

Gordon gab der Geflügelten mit einem Wink zu verstehen, dass er sie nicht mehr brauchte. Sie schraubte das Tintenfass zu, schob die Schreibfeder ins Etui und klemmte den Block unter ihren Arm. Er hoffte auf einen weiteren Blick aus ihren geheimnisvollen Augen, doch sie verließ den Bereitschaftsraum, ohne ihn noch einmal anzusehen.

»Wir werden Sie über den Verlauf der Ermittlungen in Kenntnis setzen«, richtete er das Wort an Rothmund. »Nun brauche ich nur noch zwei Leute, die Sie nach Hause bringen…«

Rothmund winkte ab. »Das ist absolut nicht nötig! Ich nehme eine Rikscha bis zur Seilbahn. Von der Endstation aus ist es nur ein kurzer Fußmarsch, der mir sicherlich gut tun wird.«

Gordon sah Rothmund grüblerisch nach, als dieser mit strammen Schritten die Eingangshalle durchquerte. Er hoffte, den Fall bald zu den Akten legen zu können. Dass die Quellensteins keinen Wert auf eine bevorzugte Behandlung zu legen schienen, würde die Sache beschleunigen.

Der Nordländer wedelte mit einem Bündel frisch ausgefüllter Formulare. »Ihre Empfehlungen, Investigator!«

Gordon nahm die Formulare an sich und trat den Weg zu seinem Amtszimmer an. Er spähte beim Vorübergehen in die Schreibstube, aber die Geflügelte war nicht zu sehen.

Die Sache wird dich ein gutes Stück weiterbringen.

Den Geflügelten wurden diverse übersinnliche Fähigkeiten nachgesagt, doch da sie nicht mehr am gesellschaftlichen Leben Panurbias teilnahmen, blieb es diesbezüglich bei vagen Gerüchten. Und es war nicht ungefährlich, derlei Fähigkeiten offen anzuwenden. Zwar lagen die Zeiten der spirituellen Säuberungen, denen zahllose Stadtbewohner zum Opfer gefallen waren, viele Jahrhunderte zurück. Doch die Priester des Ewigkeitstempels beharrten auf dem Dogma, dass nur die Götter der vier Winde und ihre himmlischen Sendboten Übersinnliches vollbringen konnten. Und dem Orden der Gesalbten, ihrem immer noch gut geölten Geheimdienstapparat, war es zuzutrauen, dass er kurzen Prozess mit denjenigen machte, die nicht in die Anschauungswelt der Priesterschaft passten.

Gordon betrat das Amtszimmer, das er während seiner Tagschichten mit Nefasto und Pocclosz teilte. Nicht, dass er Probleme mit den beiden gehabt hätte – meist ignorierten sie ihn, und das war ihm lieber, als würden sie sich ständig in seine Arbeit einmischen und ihn mit gut gemeinten Ratschlägen aus dem Konzept bringen. Doch hatte er das Zimmer gerne für sich allein, wie es während seiner Nachtdienste der Fall war. Dann konnte er die Fenster öffnen, ohne dass Pocclosz sich über die Zugluft beschwerte. Und er musste auch nicht die schwefeligen Gerüche von Nefastos obskuren Kräutertees ertragen.

Er legte die Formulare auf den Tisch, setzte sich auf seinen Stuhl und lauschte auf die Geräuschkulisse, die durchs Fenster hereindrang. Panurbia war ein gigantischer Bienenstock, in den niemals Ruhe einkehrte. Gordon liebte diesen Moloch auf eine distanzierte, unsentimentale Weise. Er hatte noch nie einen Schritt vor die Stadtmauern gesetzt und empfand auch nicht den Drang, dies irgendwann einmal zu tun. Während der achtundzwanzig Jahre, die er in Panurbia lebte, hatte ihn noch kein einziges Mal das Gefühl verlassen, von einem großen Geheimnis umgeben zu sein.

— 5 —

Das Büro von Marschall Borydin, dem Leiter des Recherchedienstes, befand sich im Stockwerk über Gordons Amtszimmer. Als Gordon vor drei Monaten zum ersten Mal die Treppe zu dem stillen, mit historischen Stichen geschmückten Korridor hinaufgestiegen war, um seine Dienstplakette im Empfang zu nehmen, hatte er gestaunt über diese kultivierte Umgebung, die so gar nichts mit dem vulgären Trubel im Erdgeschoß gemeinsam hatte. Jetzt beschlich ihn auf den roten Marmorstufen ein vages Schuldbewusstsein. Warum hatte der Marschall ihn zu sich bestellt? Hatte er von seinem eigenmächtigen Vorgehen im Zusammenhang mit der Grauschwinge erfahren?

Die Tür zum Zimmer seines Vorgesetzten stand weit offen, doch Gordon wartete draußen, bis er eine Aufforderung zum Eintreten erhielt. Der Raum war ganz nach dem Geschmack eines Gehörnten eingerichtet: karg und übersichtlich, die wenigen Möbel perfekt aufeinander abgestimmt. Borydin saß hinter seinem wuchtigen Schreibtisch und tat, was man von einem Mann in seiner Position erwartete: Er sah Akten durch. Auf seiner ausgeprägten Hakennase klemmte eine randlose Brille mit asymmetrisch geformten Gläsern. Er trug ein bauschiges weißes Hemd, Kragen und Ärmel waren aufgeknöpft. Seine dunkelrote Amtsrobe hatte er achtlos über eine Stuhllehne geworfen.

»Komm herein, Gordon«, sagte Borydin, ohne von seinen Akten aufzublicken. Sein Tonfall war harsch, mit einer freundlichen Note. »Reserviere deine vornehme Zurückhaltung für Anlässe, bei denen sie wirklich angebracht ist.«

Gordon trat zögernd durch die Tür. Borydin erhob sich und stellte sich vor das hohe Sprossenfenster, was die Umrisse der Hornauswüchse über seiner fliehenden Stirn und am Kinn dramatisch hervortreten ließ.

»Gefällt es dir noch bei der Präfektur, Gordon?«

»Natürlich gefällt es mir. Ich könnte mir keinen schöneren Beruf vorstellen.«

»Nicht doch, lass uns bei der Wahrheit bleiben.«

»Es ist so, wie ich es sage«, beharrte Gordon. »Ich arbeite gerne hier. Man hat mit den verschiedensten gesellschaftlichen Schichten und interessanten Persönlichkeiten zu tun. Es wird nie langweilig.«

»Du meldest dich überdurchschnittlich oft für den Nachtdienst. Könnte es sein, dass du es vorziehst, Nefasto und Pocclosz aus dem Weg zu gehen?«

»Ich schätze die beiden als rechtschaffene und zuverlässige Kollegen. Den Nachtdienst bevorzuge ich, weil er ein breites Spektrum an Erfahrungen bietet. Man trägt mehr Verantwortung, trifft eigene Entscheidungen. Das ist es, was mich daran reizt.«

»Das kann ich gut nachvollziehen. Auch ich fand die Nachtschicht immer sehr interessant. Wann immer es möglich war, bin ich mit den Garden hinausgegangen. Es war eine lehrreiche und aufregende Zeit.«

Borydin kam langsam auf ihn zu, wobei er, scheinbar geistesabwesend, an seinem fleischigen, mit goldenen Ringen geschmückten Ohrläppchen zupfte.

---ENDE DER LESEPROBE---