Die Erste - Peter Scheerer - E-Book

Die Erste E-Book

Peter Scheerer

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Beschreibung

Bei einem Routinejob gerät Mordermittler Lino Schwarz in einen Hinterhalt bösartiger, mumienhafter Kreaturen. Nur dank der mysteriösen Naja kann er schwer verletzt der mörderischen Falle entkommen. Fünf Jahre später betreibt Lino ein beliebtes Café, als ihn die traumatische Vergangenheit wieder einholt. Groteske Leichenfunde weisen auf eine Verbindung zu der Schreckensnacht hin, in der er beinahe ums Leben gekommen wäre. Die Polizei nimmt erneut die Fahndung auf nach Linos Retterin Naja – der einzigen Zeugin jener blutigen Ereignisse, mit denen alles begann. Lino wird zu Najas Komplizen in ihrem Feldzug gegen ein Heer aus untoten Fanatikern – und unterstützt sie bei der Suche nach der „Ersten“, der verschollenen Anführerin eines uralten Frauenbundes, der sich die Vernichtung eines todbringenden Kults auf die Fahnen geschrieben hat.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Peter Scheerer

Die Erste

Inhaltsverzeichnis

Impressum

DIE ERSTE

Roman

© Peter Scheerer 2024

Titelgrafik: frey-d-sign

Covermotiv: Tithi Luadthong/123rf

- 1 -

Thor Sondermann und ich hatten bei einer Tankstelle an der A 47 Sandwiches besorgt und lehnten kauend an unserem Dienstwagen. Die Felder und dahinter liegenden Hügel zelebrierten die Blaue Stunde auf eine derart zärtliche Weise, als wollten sie uns zum Tagesausklang etwas besonders Schönes mit auf den Weg geben.

»Hey Lino…« Thor nickte in Richtung des hügeligen Horizonts. »Diese Gegend da drüben… schon mal dort gewesen?«

»Warum?«, fragte ich.

»Soll man gut angeln können dort. Karpfen, Hecht und so.«

Ich runzelte die Stirn. »Wie lange arbeiten wir jetzt zusammen?«

Er blickte mich schief von der Seite an. »Sieben Jahre, stimmt’s?«

»Sieben Jahre«, sagte ich. »Und ich mache mir genauso wenig aus Angeln wie du.«

»Seit wir an der Sache dran sind, reden wir fast nicht mehr miteinander. Da dachte ich…«

Das Funkgerät machte sich rauschend und kratzend bemerkbar. Thor schob den Rest seines Sandwichs in den Mund und kroch auf der Beifahrerseite in den Wagen.

Es war ein lauer Abend im Juni. Der wolkenlose Himmel nahm diese ganz bestimmte Kodachrome-Qualität an, als würde man auf ein gigantisches Farbdia starren. Die ersten Sterne der herabsinkenden Nacht wie Nadelstiche. Zeit, den Tag mit einem Single Malt vor dem Fernseher zu beschließen. Und gegen die Bilder anzukämpfen, die unweigerlich in mir aufsteigen würden. Bilder von verstümmelten Frauenkörpern, die den Freaks in der Gerichtsmedizin Tränen in die Augen trieben. Junge Frauen ohne Namen, ohne Identität, ohne Geschichte. Wer immer für diese Scheiße verantwortlich war, hatte nichts weniger als den Tod verdient. Darin waren wir uns einig, Thor und ich. Wenn wir den Mistkerl eines Tages schnappten, einer von uns würde abdrücken. Wer das sein würde, hatten wir noch nicht ausdiskutiert.

Thor stieg aus dem Wagen und richtete sich auf.

»Da hat jemand verdächtige Gestalten beobachtet. Irgendso’n Typ, der mit seinem Hund unterwegs ist.«

»Und?«

»Ich hab gesagt, wie kümmern uns darum. Ein Landgut mitten in der Prairie, nur ein paar Kilometer von hier.« Thor deutete auf die Hügelkette jenseits der 47, auf der sporadischer Verkehr vorbeirauschte. »Ich hab gesagt, wir sehen uns das an.«

»Du bist nicht ganz dicht, oder?«

»Sein Hund muss voll durchgedreht haben. Hat ihn beinahe vom Fahrrad gerissen.« Thor kniff die Augen zusammen und blickte an mir vorbei ins Leere. »Ich hab so ein ganz bestimmtes Gefühl, Lino. Du denkst doch auch, bei der Sache mit den toten Frauen geht’s nicht mit rechten Dingen zu.«

»Wir sind Mordermittler und keine Scheiß-Hundeflüsterer.« Ich knüllte die Verpackung meines Sandwiches zusammen und steckte sie in den Abfallkorb neben unserem Wagen. »Na gut, verdächtige Gestalten also. Das hört sich nach einer großen Sache an, Thor. Nach einer total großen Sache.«

Als ich den Wagen zur 47 hinübersteuerte, empfand ich fast so etwas wie Dankbarkeit dafür, die nächste Nacht voller verstörender Bilder noch ein wenig vor mir herschieben zu können.

- 2 -

Die Scheinwerfer tasteten sich über die schmale Straße voran, glitten über die Fronten der Getreide- und Rapsfelder zu beiden Seiten hinweg. Ich stoppte kurz an einer Kreuzung, um das unscheinbare Holzschild am Straßenrand zu entziffern: Gut Kleinfeldt 1,5 km.

Thor hatte Mendelsohns Dritte aufgelegt. Er stand zwar mehr auf Rock, ich auf Jazz – aber Klassik war ein guter Kompromiss. Auch wenn uns die Romantiker emotional meistens ein Stück weit runterzogen, aber da war auch immer ein versöhnliches Licht am Ende des Tunnels.

Das Getreide auf der linken Seite ging in üppig wucherndes Schilf über. Rechts der Straße begann eine verwilderte Wiese, die an eine von Kletterpflanzen überrankte Ziegelmauer grenzte.

Ich ließ den Wagen auf die Wiese rollen und schaltete den Motor aus. Von verdächtigen Gestalten keine Spur.

»Der Anrufer hat gesagt, er würde hier auf uns warten.« Thor fischte eine Taschenlampe aus dem Handschuhfach und langte nach dem Türgriff. »Ich geh mich kurz umsehen. Kommst du mit?«

Mit einem trägen Seufzen zog ich Taschenlampe Nummer zwei unter dem Sitz hervor und stieg aus. Es hatte abgekühlt, die Luft roch nach Wasser – vermutlich lag ein Gewässer hinter der Schilfbalustrade. Thor ging voraus, näherte sich leicht nach vorn gebeugt dem Einfahrtstor in der bröckeligen Mauer. Ließ den Lichtkegel seiner Lampe über ein oxidiertes, kaum entzifferbares Schild wandern: Willkommen auf Gut Kleinfeldt.

»Reingehen?«, fragte er.

Ich zuckte mit den Schultern. »Wenn wir schon mal da sind.«

Die Flügel des schmiedeeisernen Einfahrtstors hingen schief in den Angeln. Das Gebäude, das sich in der Dunkelheit vor uns zwischen die Konturen alter Obstbäume duckte, war nur zu erahnen. Nahe der Gartenmauer wartete ein alter Mercedes, Radkappen und Kennzeichen entfernt, auf seinen endgültigen Verfall.

»Scheiße…!«

Thor hielt seine Taschenlampe auf etwas Ockerfarbiges, Pelziges gerichtet. Etwas, das einmal ein Schäferhund gewesen sein konnte.

Ich öffnete mein Gürtelholster und zog die PPK heraus. Nicht, dass mich ein toter Hund in Panik versetzt hätte – doch mein Instinkt verriet mir, dass hier nichts, aber auch gar nichts in Ordnung war.

»Regelrecht zerfetzt«, flüsterte Thor. Und zog ebenfalls seine Dienstwaffe.

Wir teilten uns auf. Ich hielt mich links, Thor driftete in Richtung der Gartenmauer ab. Ich leuchtete die Hauswand mit ihren toten Fenstern an – offenbar ein Seitenflügel, ein Stockwerk hoch und das moosbewachsene Dach eingedrückt, bizarre Risse im alten Verputz. Ein Stück von mir entfernt entdeckte ich ein zittriges rotes Blinken im Gras. Das Rücklicht eines Herrenfahrrads, das jemand da hingeworfen hatte.

Thor hatte sich bis an die Steintreppe vorgetastet, die zu der massiven Holztür des Hauseingangs hinaufführte. Ich schlich an der Wand entlang zu ihm hinüber, die Lampe in der einen und die PPK in der anderen Hand. Thor machte mit dem Kopf einen Wink zur Tür hin. Ich nickte, er griff nach dem Türknauf.

Abgestandener Mief schlug uns entgegen, versetzt mit dem metallischen Beigeschmack von Blut und Ausweglosigkeit.

Die Eingangshalle mit wuchtiger Balkendecke, auf dem Boden ein abgeschrammtes Biedermeiersofa, davor ein umgestürzter Tisch – sowie ein Paar Laufschuhe, die zu einem blassblauen Trainingsanzug gehörten.

Der tote Mann war an die Wand neben der Eingangstür gelehnt, den Kopf unnatürlich zur Seite geneigt, dabei die Augen auf eine Weise verdreht, als gäbe es schräg über ihm etwas Erstaunliches zu betrachten.

Thor schnüffelte, verzog angewidert das Gesicht und deutete mit der Pistole auf eine Flügeltür, die anscheinend tiefer in das Gebäude führte. Na klar, dieser Geruch – der kam keineswegs von dem Rad fahrenden Hundefreund mit dem gebrochenen Genick. Der roch nach nichts, den hatte es gerade erst erwischt.

»Ruf Verstärkung«, flüsterte ich.

»Er kann nicht weit sein«, murmelte Thor. »Du weißt, was wir vereinbart haben.«

Verdächtige Gestalten, erinnerte ich mich für einen Moment. Doch wir hatten uns so tief in die Idee eines einzelnen Serientäters hineingesteigert, dass der Jagdtrieb in mir die Kontrolle übernahm.

»Schnappen wir uns den Wichser«, sagte ich.

Wir durchquerten die Eingangshalle, verharrten vor der Tür und wechselten einen Blick. Thor machte auf, gab der Tür einen Schubs. Ich huschte in den dahinter liegenden Raum, sondierte ihn mit der Taschenlampe. Der Lichtkegel glitt über eine roh gefügte Holzkonstruktion, die bis unter die Decke reichte, und über bleiche, schmale Hände, die mit Vierkantnägeln an einen massiven Querbalken fixiert waren.

»Oh Mann, sieh dir das an…«

Thor war neben mich getreten und wir blickten verstört auf die vier blutverkrusteten, schlaffen Frauenkörper, die nebeneinander an dem Gerüst aufgehängt waren. Ich leuchtete in eines der Gesichter – die Augen schwarze Höhlen, der Unterkiefer offensichtlich ausgerenkt, eine gut genährte Hausspinne turnte auf der Unterlippe herum.

Am Hals der Toten hing an einer dünnen, geflochtenen Kordel ein dreieckiges Amulett aus einem undefinierbaren Material, die Spitze nach unten und ein schlangenlinienförmiges Symbol eingraviert. Das Amulett war von einem Wulst aus verschmorter Haut umgeben, als hätte es sich regelrecht eingebrannt.

Meine rechte Hand krampfte sich um den Pistolengriff. Ich war kurz davor, ein Gebet zu sprechen. Herr im Himmel, lass den Scheißkerl irgendwo hier sein, damit ich ihn…

»Sie ist im Keller«, hauchte eine Stimme dicht neben mir.

Ich wandte mich der Toten zu und sah, wie die Spinne sich von ihrem Mund löste und runterfallen ließ.

»Wer?«, fragte ich.

Aber der Mund blieb stumm.

»Du hältst hier die Stellung«, sagte ich zu Thor.

Ich setzte mich in Bewegung, auf jede vorstellbare Überraschung gefasst. Öffnete ein paar Türen, fuchtelte mit der Taschenlampe herum, trat Stühle und anderes morsches Mobiliar zur Seite und wirbelte dabei eine Menge Staub auf. Eine der Türen klemmte und ich warf mich mit der Schulter dagegen. Eine steile Treppe tat sich als dunkler Schacht vor mir auf und ich wäre in meinem Eifer kopfüber da hinunter gestürzt, hätte ich nicht einen Handlauf zu fassen bekommen, der sich unter meinem Griff knirschend aus der Wand zu lösen begann.

Die Taschenlampe war die Stufen hinunter geklappert, funktionierte aber noch. Ich tastete mich weiter über die Treppe nach unten, hob die Lampe auf und sah blickte um mich.

Da lag ein merkwürdiger Gegenstand auf den uralten Steinfliesen. Eine Mischung aus Armbrust und Vorderlader, so etwas hatte ich noch nie gesehen. Jedenfalls sah es nach einer Waffe aus. Ich hob das Ding auf und klemmte es unter meinen Arm, ehe ich mich tiefer in das niedrige Gewölbe vorwagte.

Vor mir öffnete sich ein verwinkelter Raum, und dort stieß ich auf einen Käfig aus Eisenstreben, würfelförmig und etwa eineinhalb Meter hoch. In diesem Käfig kauerte eine Frau mit langem, dunklem Haar, den Kopf nach vorn gebeugt und die Beine in einer Weise an den Körper gezogen, als hätte sie es sich in ihrem Gefängnis so bequem wie möglich gemacht. Sie wirkte unversehrt in ihrer schwarzen, irgendwie sportlich anmutenden Aufmachung, und in meiner Brust leuchtete eine kleine Flamme der Hoffnung auf. Sollten wir tatsächlich eine von ihnen gerettet haben?

Ich lehnte die obskure Waffe an die Wand, ging vor dem Käfig in die Hocke und rüttelte sanft an den Gitterstäben.

»Hey – alles in Ordnung?«

Zuerst reagierte sie nicht und meine Hoffnung schwand mit jedem Atemzug.

»Du bist mir also doch gefolgt«, hörte ich sie dann flüstern.

Anscheinend verwechselte sie mich mit jemandem, oder sie halluzinierte. Doch ihr Lebenszeichen gab mir neuen Mut und ich packte die Gitterstäbe fester an.

»Du musst raus hier«, sagte ich. »Wie lässt sich dieser verdammte Käfig öffnen?«

»Das Amulett«, sagte sie leise. »An meinem Hals. Mach dieses Scheiß-Amulett weg.«

Ich legte die Pistole zur Seite, fasste zwischen die Gitterstäbe und blieb daran hängen, zog den Arm zurück und krempelte den Ärmel rauf. Diesmal klappte es, ich schob eine Strähne schimmernden Haares beiseite und schloss meine Finger um das Amulett. Zerrte zuerst vorsichtig, dann etwas fester daran, aber die Kordel wollte nicht nachgeben.

»Nicht so zaghaft«, flüsterte die Gefangene.

Ich riss mit einem Ruck den dreieckigen Klunker von ihrem Hals, verspürte ein Brennen in meiner Faust und warf das Ding weg.

Sie hob den Kopf und blickte mir in die Augen. Ich tauchte für einen viel zu langen Moment in ihren Blick ein. Wer bist du?, fragte ich in Gedanken. Und – woher kennen wir uns?

Oben im Haus rumpelte es dumpf. Ich hörte Thor aufschreien, dann knallte es zwei-, dreimal.

Und ich hockte da wie gelähmt.

»Geh«, sagte die Frau im Käfig. »Ich komme hier schon raus.«

Ich sprang auf, griff nach der PPK und hastete zurück zur Treppe. Thor schrie jetzt wieder, anscheinend schoss er wild um sich. Als ich den Raum mit den toten Frauen erreichte, geriet ich in ein unüberschauberes Getümmel. Thors Lampe musste irgendwo am Boden liegen, schälte die nervös zuckenden Konturen von mönchsartig vermummten Gestalten aus dem Dunkel.

»Thor! Ich bin’s! Und hör mit dem planlosen Geballere auf!«

Etwas Hartes traf mich seitlich am Kopf und ich landete vor dem Gestell mit den festgenagelten Frauen. Ich verspürte einen stechenden Schmerz im Bauch, oberhalb der linken Hüfte, und die alarmierende Wärme von austretendem Blut.

Ein Schatten beugte sich über mich, holte mit einem länglichen Gegenstand aus. Ich wälzte mich zur Seite, die Bauchwunde protestierte mit alles durchdringendem Schmerz, und feuerte mein Magazin leer. Ich musste den Mistkerl mehrere Male getroffen haben, aber er wollte einfach nicht umfallen.

Ein Fauchen wie von einer startenden Feuerwerksrakete. Bläulicher Schein taucht den Raum in unwirkliches, elektrisch anmutendes Licht. Mein Angreifer taumelt wie eine durchgeknallte Marionette herum, jetzt kann ich die magere, ausgedörrte Visage deutlich erkennen… und aus einem Loch in der Stirn strömt blaues Feuer.

Die Schattengestalt stürzt zu Boden und bleibt liegen. Und da steht die schwarz gewandete Frau aus dem Käfig, den Armbrust-Vorderlader-Hybriden im Anschlag, und aus dem merkwürdigen Ding schießen kleine, aquamarinblaue Kugelblitze hervor, drehen ein paar geschmeidige Runden unter der Zimmerdecke… und durchschlagen mit einem schmatzenden Laut bleiche, pergamentartige Stirnen.

Der Tumult ebbt ab. Um mich herum hat sich eine Blutlache gebildet, ich bin von Leichen in grauen Kutten umgeben. Aber ich lebe. Noch.

»Auf die Beine mit dir! Los!«

Die junge Frau packt mich, setzt mich auf schiebt von hinten ihren Arm unter meine Achseln. Ich gebe mir die größte Mühe, aufzustehen, aber ohne ihre Hilfe würde ich es nicht schaffen.

Sie ist fast einen Kopf kleiner als ich, aber mit der Kraft, die ich in ihren Armen spüre, könnte sie mich wahrscheinlich auch tragen. Mein Blick fällt auf den reglos daliegenden Thor.

Wie kann ein Mensch so stark bluten?

»Den hole ich als nächstes«, sagt sie. »Und dann kommt das Feuer.«

Wir gelangten durch den Hauseingang ins Freie. Die Treppe vor dem Haus machte mir Probleme und meine Knie gaben nach. Meine Helferin schleppte mich ein Stück weit in den Garten und legte mich im Gras ab, dann sprang sie ins Haus zurück.

Das Feuer, verhallten ihre Worte in meinem Kopf.

- 3 -

Ich musste kurz weggedöst sein, denn als ich nun die Augen aufschlug, blakten grellorange Flammen aus den Fenstern des Gutshauses.

»Lino? Bist du das?«

Ich stützte mich auf meine Hände und setzte mich mit einem Ächzen auf. Die Stelle an meinem Bauch fühlte sich an, als wäre ich dort entzwei gerissen worden. Und meine Klamotten – blutgetränkt, als wäre ich in eine Häckselmaschine geraten. Aber Thor, der einen halben Meter neben mir im Gras lag, sah kein bisschen besser aus. Eher noch schlimmer.

»Du schaffst das«, sagte ich.

»Die Lady, die mich da rausgeholt hat…« Dramatisches Röcheln. »Hast du ’ne Ahnung, wer die ist?«

»Sei jetzt still und konzentriere dich auf dein Überleben.«

Aber Thor hatte seine eigenen Überlebensstrategien.

»Meinst du, die würde mit mir vögeln?«

Ein Mordsgetöse am Hauseingang. Ein Stück Mauer explodierte in den Garten hinein, Flammen leckten gierig nach der aufgewühlten Nacht. Und inmitten des entfesselten Feuers eine massige, mindestens zwei Meter hohe Erscheinung, dunkel und halslos, mit einem flachen Schädel ohne erkennbare Augen und einem breiten, sabbernden Maul.

Das Monstrum überwand die Eingangstreppe mit einem Schritt und wandte sich Thor und mir zu.

»Fuck!«, keuchte Thor.

Ich dachte an meine PPK, die nutzlos irgendwo in den Flammen herumlag. Dann war plötzlich unsere Retterin bei uns, ihre Zauberwaffe im Anschlag.

»Eigentlich sollte ich euch hier liegen lassen«, sagte sie. »Aber ich bin euch was schuldig.«

»Ich liebe dich«, stieß Thor kraftlos hervor.

Mach dich nicht toter, als du bist, dachte ich.

Das Monstrum kam auf uns zu, die von knotigen Muskeln starrenden Arme angewinkelt und die ellenlangen, gekrümmten Klauen glänzend im Feuerschein. Die unbekannte Schöne feuerte ihre Waffe ab, die blauen Kugelblitze schwirrten um unseren gemeinsamen Feind herum – und erloschen.

Sie beugte sich über mich, strich mir ruppig übers Haar.

»Ich lasse euch nicht gern hier zurück. Aber ich bin wichtiger als ihr.«

Dann schob sie etwas in meine Jackentasche und flüsterte: »Hier, für dich.«

»Wie… wie heißt du?«, keuchte ich, von einer Welle aus Schmerzen durchflutet.

Mit einem Seufzen, den Blick auf das heranwalzende Ungeheuer gerichtet, sagte sie: »Nenne mich Naja.«

Dann drückte sie mir einen schnellen Kuss auf die Stirn und richtete sich auf, verschwand mit grazilen Sprüngen zwischen den alten Obstbäumen.

Das unappetitliche, viel zu große Scheusal beugte sich vor und streckte einen Arm nach Thor aus. Ich sammelte alle meine verbliebenen Kräfte, um dem Mistvieh einen Strich durch die Rechnung zu machen. Auch wenn es nichts helfen würde. Aber es gibt Dinge, die muss man einfach tun.

Sieben Jahre, mein Freund. Sieben Jahre gemeinsames Wühlen in schmutzigen Geheimnissen und miefigen Kleiderschränken, sieben Jahre zähe Verhöre führen und Handschellen einrasten lassen, plus belanglose Plaudereien im Dienstwagen bei einem Kaffee aus Starbucks-Pappbechern. Es ist mir eine Ehre, mit dir zusammen draufzugehen.

Ich hatte vor, mich schützend auf Thor zu werfen, von dem ich nicht wusste, ob er noch lebte oder bereits tot war. Doch genau genommen kroch ich auf ihn – gerade rechtzeitig, um einen Hieb mit der Klaue des Monstrums abzubekommen. Das Ding ritzte mich links an den Rippen auf, aber ich verspürte keinen Schmerz. Eher ein erlösendes Gefühl wie: Das war’s dann also.

Ein letztes Aufblicken, um meinem Verderben zu begegnen. Vier Todesengel, nackt wie die Sünde und flatternde Mähnen wie Kometenschweife, stürzen sich auf meinen Antagonisten und reißen ihn sprichwörtlich in Stücke, versinken mit ihm in einem funkensprühenden Schlund.

Ob das wirklich so gewesen ist oder ob ich im Angesicht des Todes frei halluziniert habe, würde sich erst Jahre später aufklären.

Die nächste konkrete Erinnerung beinhaltet mehrere Feuerwehren, heftig gestikulierende und laut brüllende Männer in Schutzkleidung, eine Menge Wasser, ein professionell agierendes Team aus Sanitätern und Notärzten – und, fast hätte ich’s vergessen: Wir haben’s geschafft, Thor und ich, jeder schwer angeschlagen und mit einem gewaltigen Trauma, was unser Ausscheiden aus dem Polizeidienst zur Folge hatte.

Dabei hatte der Terror mit den selbst ernannten Befreiern gerade erst begonnen.

- 4 -

Thor wanderte von der Klinik direkt in die Reha und weiter in ein diskretes Privatleben, das er mit seiner Krankenschwester namens Helga teilte – die beiden hatten sich auf der Intensivstation kennen gelernt und die Liebe musste wie ein Blitz eingeschlagen haben. Ich blieb noch für kurze Zeit im Dienst und ließ die üblichen psychologischen Aufmunterungsversuche über mich ergehen. Was ziemlich absurd ist, wenn du das, was wirklich auf Gut Kleinfeldt geschehen ist, für dich behalten musst. Denn über die ereignisreiche Juninacht war der Mantel des Schweigens gebreitet worden. Ein Hundebesitzer, der mit einem Unbekannten in tödlichen Streit geraten war – das ließ sich gerade noch hinbiegen. Doch wie das halbe Dutzend Leichen erklären, jede mit einem sternförmigen Loch in der Stirn und auf eine Weise verbrannt, dass der Gerichtsmediziner inoffiziell verlauten ließ: »Die müssen gelodert haben wie Zunder. Wenn’s nicht so bescheuert klingen würde – das waren Mumien, die waren längst vorher tot.«

Die Brandexperten taten sich ebenfalls schwer. Wie zum Kuckuck war das Feuer gelegt worden? Und wie hatte es sich ohne Brandbeschleuniger so rasch ausbreiten können, dass das Gebäude beim Eintreffen der Feuerwehr bis auf die Grundmauern niedergebrannt war? Auch das Abschiedsgeschenk der mysteriösen jungen Frau, die sich Naja genannt hatte, gab Rätsel auf: Das dreieckige Amulett, bestehend aus einer altertümlichen Legierung, das nun in der Asservatenkammer aufbewahrt wurde.

Die Kollegen schickten einen Zeichner zu mir ins Krankenhaus, der ein Phantombild der mysteriösen Naja anfertigte. Die anschließende Fahndung nach ihr lief unter dem Motto Zeugin gesucht. Muss ich erwähnen, dass nichts dabei herauskam?

Vielleicht hatten wir es Naja zu verdanken, dass diese verdammte Mordserie aufhörte. Doch wie gesagt – der Terror hatte noch nicht wirklich angefangen.

- 5 -

Die Bauchwunde war nach der Operation relativ schnell verheilt, aber der Kratzer an den Rippen machte mir immer wieder Probleme. Mal entzündete er sich und lief feuerrot an, mal sonderte er ein farbloses Sekret ab, das meine Hemden versaute. Mein Hausarzt Doktor Heller schickte einen Abstrich davon an ein Labor, aber es kam nichts dabei heraus.

Aber die Symptome kehrten zurück, immer um den Juni herum, und das seit vier Jahren. Zusammen mit den Symptomen stiegen die Bilder aus dem verlassenen Gutsgebäude auf und zogen einen Schweif aus abgründigen Gefühlen hinter sich her. Etwa eine dunkle, jedoch völlig asexuelle Befriedigung bei dem Gedanken an die gefolterten, leblosen Frauenkörper, welche ich mir nicht erklären konnte. Als wäre das alles richtig so gewesen und ein großes Werk vollbracht worden.

»Wäre es eine richtige Narbe«, erklärte mir Doktor Heller nicht zum ersten Mal, »würden wir das Gewebe herausschneiden lassen und sehen, was dann passiert. Doch nachdem sich die Symptome immer wieder rasch zurückbilden, sehe ich dazu keine Veranlassung.«

Doktor Hellers Praxis lag schräg gegenüber von Lino’s Lounge & Bar, einer ehemaligen Absturzkneipe, die ich nach dem alkoholseligen Ableben ihres Vorbesitzers übernommen und zusammen mit befreundeten Handwerkern zu einem halbwegs stylischen Etablissement ausgebaut hatte. Als ich nach meinem Arzttermin die Straße überquerte, fielen mir zwei junge Mädchen auf. Blonde Teenager in bauchfreien Tops und gerade wieder modisch gewordenen Schlaghosen, aufreizend mit den kleinen Hintern wackelnd und ausgelassen über irgendwas Lustiges gackernd. In meinem Kopf meldete sich die Stimme zurück, die ich während der letzten Jahre zu ignorieren gelernt hatte, doch dieses Mal war sie eindringlicher und bestimmender als vorher.

Unrein, verkündete sie in einem schnarrenden Bariton. Du musst es zerstören.

»Halt dein blödes Maul«, erwiderte ich durch die Zähne.

Sie stören die Harmonie, fuhr die Stimme beharrlich fort. Ihr Anblick vergiftet deine Seele.

»Und du vergiftest mein Gehirn.«

Das Unreine muss von der Erde getilgt werden.

Ich verkniff mir eine weitere sinnlose Retourkutsche und betrat meine Bar. Zitternd, als hätte mich der Widerstand gegen meinen Inkubus mehr angestrengt, als mir bewusst war. Ich nickte Anton zu, der hinter der Theke mit der Kaffeemaschine zugange war, und zählte aus dem Augenwinkel ein gutes Dutzend Gäste, was nicht schlecht war für diese Zeit. Geschäftsleute mit dem Mobiltelefon in Griffweite. Junge Mütter, die sich vor dem mittäglichen Gang zum Kindergarten eine Auszeit gönnten. Rentner mit stilvollen Halstüchern und teuer aussehenden Lesebrillen. Sowie ein paar jüngere Leute, die sich bei einem Softdrink oder einem Milchkaffee von einem anstrengenden Schultag erholten.

»Hi Boss, da will dich jemand sprechen«, sagte Anton, ein schlaksiger Mittzwanziger, den ich beim rückwärts Einparken beinahe mal vom Fahrrad geholt hatte. Bei dem darauf folgenden kurzen Plausch hatte ich in ihm sofort die Idealbesetzung für die Bar erkannt, so waren wir ins Geschäft gekommen.

Ich blickte mich um und entdeckte Serge Berkov an einem Tisch ganz hinten am Fenster. Sein Gesicht war voller geworden, sein Haar lichter, aber seinem Stil war er treu geblieben: dezenter grauer Dreiteiler, keimfreies weißes Hemd und eine schmale Krawatte. Irgendwann hatten ihm die Jungs zum Geburtstag Gamaschen geschenkt, aber das hatte ihm nicht einmal ein müdes Lächeln abgerungen.

Ich setzte mich zu ihm, registrierte die halb ausgetrunkene Kaffeetasse und eine dünne, stumpfgrüne Dokumentenmappe auf dem Tisch.

»Könntest öfter mal vorbeischau’n«, begrüßte ich ihn.

»Dein Barkeeper hat gesagt, du wärst beim Arzt.« Serge blickte mich prüfend an. »Alles okay bei dir?«

»Routinecheck.« Ich deutete auf die Mappe. »Sieht nach einem Arbeitsbesuch aus.«

»Ich möchte eigentlich nur deinen Rat einholen. Die Geschichte damals – Gut Kleinfeldt, du erinnerst dich…«

Ich gab ein humorloses Grunzen von mir. »Ob ich mich erinnere? Du machst Witze.«

»Diese verdammten Mumien«, fuhr Serge fort. »Du hast sie gesehen, bevor sie Feuer gefangen haben.«

»Thor hat sie ebenfalls gesehen«, korrigierte ich ihn.

»Thor… hm.« Serge runzelte die Stirn. »Der ist mir ein bisschen zu schräg drauf. Die Sache damals hat ihn wohl schwerer mitgenommen, als wir zuerst dachten.«

Wir schwiegen für einen Moment, dann schlug er die Mappe auf und schob ein Foto vor mich hin. »Und jetzt sage mir, dass dieser da genauso aussieht wie die Burschen, die euer Supergirl umgenietet hat.«

Auf dem Foto war ein magerer, so gut wie nasenloser Schädel zu sehen, von glänzender, pergamentartiger Haut umspannt. Die leeren Augenhöhlen wirkten wie Tunnel in die ewige Verdammnis. Und in der zylindrisch geformten Stirn klaffte ein sternförmiges Loch, exakt in der Mitte und etwa zwei Finger breit über der Nasenwurzel.

»Und?«, fragte Serge.

»Ziemlich genau so haben sie ausgesehen«, sagte ich. »Wo habt ihr den gefunden?«

»In einer Kiesgrube am äußersten Stadtrand. Angekokelt wie die anderen, nur besser erhalten. Ein Kampf scheint nicht stattgefunden zu haben.«

»Gibt’s wieder tote Frauen?«

Serge schüttelte den Kopf. »Bis jetzt nicht. Glaubst du, dass es wieder von vorne losgeht?«

»Schwer zu sagen«, erwiderte ich. »Dieses Mädchen, das damals die Bande im Alleingang erledigt hat… für mich fühlt es sich an, als hätte sie den Spieß umgedreht. Und macht jetzt Jagd auf diese Scheißtypen.«

»In der Pathologie haben sie den Clown komplett zerlegt«, sagte Serge. »Sein Körper, wenn man’s überhaupt so nennen kann, war nach medizinischen Kriterien definitiv funktionsunfähig. Und dieses Loch in der Stirn…« Er legte seinen Finger auf das Foto. »Sie haben auch kein Geschoss gefunden. Genauso wenig wie bei den anderen damals. Da war nur ein Hohlraum, ungefähr so groß wie ein Tischtennisball.«

»Wenigstens glaubt ihr mir jetzt«, sagte ich.

»Wir haben euch von Anfang an geglaubt«, stellte Serge klar. »Auch wenn uns die Geschichte mit den vier toten Frauen immer noch nicht ganz einleuchtet. Von den Toten auferstanden, einfach so. Und dann dieses Monster…«

»Erspare mir das«, unterbrach ich ihn. »Ich zweifle immer noch an meinem Verstand, wenn ich daran denke.«

»Die Nägel, mit denen sie fixiert gewesen sind, haben wir ganz hinten in der Asservatenkammer verstaut. Wieder so eine seltsame Sache. Keine DNS dran, rein gar nichts.«

»Warum erzählst du mir das alles? Da war ich noch dabei, hab die Ergebnisse auf den Tisch bekommen.«

Serge beugte sich vor und rieb seine Stirn. »Wir haben die Geschichte weit von uns weggeschoben, Lino. Ganz weit weg. Aber wenn die Scheiße jetzt weitergeht, brauchen wir dich.«

»Ich komme auf keinen Fall zurück«, sagte ich.

Er blickte mir in die Augen und schob das Foto in die Mappe zurück. »Sollst du auch nicht. Aber als inoffizieller Berater könntest du mir vielleicht weiterhelfen.«

Ich schaute durchs Fenster auf die Straße. Draußen flanierten die beiden fröhlichen Teenager vorbei, jetzt in der Gegenrichtung.

Unrein, kommentierte die fremde Stimme in meinem Kopf.

»Gebt noch einmal eine Fahndung nach Naja heraus«, sagte ich. »Zeugin gesucht, so wie damals. Mehr fällt mir dazu im Moment nicht ein. Die Phantomzeichnung habt ihr hoffentlich noch?«

»Dann machen wir es eben so.« Serge trank seinen Kaffee aus und klappte die Mappe zu. »Du meldest dich, wenn dir noch etwas einfällt.«

- 6 -

Ich nahm die gleiche Strecke wie an dem Abend, als Thor und ich die Suche nach den verdächtigen Gestalten aufgenommen hatten. Also runter von der Autobahn und rein zwischen die Felder. Vorher hatte ich noch die Karte studiert. Gegenüber dem Anwesen gab es einen kleinen See mit dem fantasielosen Namen Neusee. Der war hinter Schilf verborgen gewesen, als wir das Tor zur Hölle durchschritten hatten – doch an seinen moosigen Geruch konnte ich mich noch gut erinnern. Weiter die Straße rauf, am Fuß der bewaldeten Hügel im Westen, lag eine kleine Ansiedlung namens Rieddorf. Die bestand laut Karte aus einer Kirche, etlichen Bauernhöfen und Privathäusern sowie einem ehemaligen Feuerwehrteich mit anschließendem Campingplatz.

Ich parkte an derselben Stelle wie damals. Von Gut Kleinfeldt war nur die Gartenmauer erhalten geblieben, die inzwischen vollständig von Efeu überwuchert worden war. Von den Gebäuden selbst zeugten geschwärzte Artefakte, die aussahen wie die verfaulten Zahnstümpfe eines gefallenen Kolosses. Wo sich die Bergungsteams nach dem Brand Zugang verschafft hatten, waren verkohlte Balken und rußige Mauerreste zu chaotischen Wällen aufgetürmt. Der Raum, in dem sich das Gemetzel abgespielt hatte, war weitgehend freigelegt. Anders als auf der Gartenmauer hatte sich hier keine Vegetation breitgemacht.

Ich suchte nach einem Zugang zu den Kellerräumen, aber die mussten sich in den vergangenen Jahren mit Schutt gefüllt haben. Nach einem deprimierenden Rundumblick machte ich mich auf den Rückweg. Erinnerungen an die Nacht der Schrecken zogen an meinem inneren Auge vorbei. Ich dachte an die junge Frau im schwarzen Nahkampfdress, an die finstere Glut in den Augen. Naja, die so kaltblütig mit den Unholden aufgeräumt hatte. Meine PPK hatte gegen das Gesindel nichts ausrichten können, während ihre Wunderwaffe den Horrorgestalten auf beinahe verspielte Weise ein Ende bereitet hatte.

Eine Kriegerin, resümierte ich beim Verlassen des Grundstücks. Wer hatte sie ausgebildet und woher nahm sie ihre übermenschliche Gelassenheit? Bestimmt war sie bereits vorher in derartige Situationen geraten. Doch was war das für ein Krieg, der Geschöpfe wie sie hervorbrachte?

Eigentlich hatte ich genug gesehen, doch in meinem Kopf kreisten Eindrücke, die sich mit den Bildern der Vergangenheit mischten und verarbeitet werden wollten. Ich ließ den Wagen stehen und streifte außen an der Gartenmauer entlang bis ans Ende des Anwesens. Dort erstreckte sich jenseits der verwilderten Wiese ein lichtes Wäldchen aus Birken, Pappeln und Eschen, wobei vor allem die Eschen unter Pilzbefall zu leiden schienen. Auch die anderen Bäume trugen nur wenig Laub, als wären sie im Absterben begriffen.

Soviel ich wusste, gehörte das Gelände ebenfalls zu dem Gutshof, der schon lange mehr keinen landwirtschaftlichen Zweck erfüllt hatte, sondern zu einer Art Herrenhaus geworden war. Von einer Generation der Familie Kleinfeldt zur nächsten übergegangen, bis man das Anwesen aufgrund astronomischer Renovierungskosten sich selbst überlassen hatte. Meine Kollegen hatten Sofia Kleinfeldt, die momentane Eigentümerin, zu dem Zwischenfall befragt, aber die hatte nie einen Fuß auf das Anwesen gesetzt.

Der Waldboden war mit Brombeersträuchern und anderen Pflanzen von niedrigem Wuchs bedeckt. Hier und dort ragten die bereits vertrockneten Wedel von frisch ausgetriebenen Farnen aus dem Laub, das der Herbst hinterlassen hatte.

Hier war alles durchsucht worden, so wie die umliegenden Felder. Auch in dem See hatte man nach möglichen Hinweisen geforscht. Dennoch war ich mir auf einmal sicher, dass etwas übersehen worden war.

Ich erreichte den Rand einer kleinen Lichtung, die aufgrund des ohnehin kargen Baumbestandes kaum diese Bezeichnung verdiente. Ließ den Blick umherwandern, ohne dass etwas meine Aufmerksamkeit erregte. Es roch schwach nach Bärlauch, obwohl keiner zu sehen war – Pflanzen schienen diesen Ort zu meiden.

Eine Krähe pickte im maroden Laub, wandte den Kopf kurz in meine Richtung und hüpfte dann ein paar Meter weiter, um sich auf einem umgestürzten Baumstamm niederzulassen.

Da war noch ein zweiter Baumstamm, wie der erste ungefähr fünfzehn Zentimeter im Durchmesser und halb unter trockenen Blättern vergraben. Die bildeten zusammen einen Sechzig-Grad-Winkel. In meinem Kopf wurde eine Assoziationskette ausgelöst und ich schaute noch genauer hin.

Der dritte Baumstamm befand sich unmittelbar vor meinen Füßen und vervollständigte ein gleichschenkliges Dreieck von etwa vier Metern Seitenlänge.

Ich schob mit dem Fuß das Laub beiseite, und wenige Minuten später hatte ich die gesamte Struktur freigelegt. Die Stämme waren an den Enden deutlich sichtbar mit einer Axt gestutzt und sorgfältig zusammengefügt worden. Doch falls es tatsächlich einen Zusammenhang mit den Amuletten geben sollte, war das Bild noch nicht komplett.

Ich trat in die Mitte des Dreiecks, kniete mich hin und scharrte mit den Händen im Laub, bis ich etwas berührte, das sich wie verknotete Wurzeln anfühlte. Nach und nach kam ein Gebilde aus geflochtenen Ästen und Zweigen zum Vorschein, dessen verdicktes Ende den Eindruck einer schlangenförmigen Skulptur vervollständigte. Ihr keilförmiger Kopf verwies auf die Verwandtschaft zu einer giftigen Spezies.

Ich richtete mich auf und drehte mich langsam im Kreis, um das Symbol als Ganzes zu überblicken. Aber da war noch etwas.

Für einen Moment glaubte ich, zwischen den Bäumen eine magere, halbnackte Gestalt kauern zu sehen, die mich durchdringend anstarrte.

»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«, fragte eine erhobene Männerstimme hinter meinem Rücken. Bestimmend, aber nicht unfreundlich. Ich wandte mich zu dem grauhaarigen Brillenträger im Tweedsakko um, der mich vom Rand der Lichtung aus aufmerksam beäugte. Warf einen schnellen Blick über die Schulter zurück, aber die merkwürdige kauernde Gestalt war verschwunden.

Ich deutete auf das Dreieck mit der Schlange in der Mitte. »Haben Sie das da schon mal gesehen?«

Der Mann im Tweedsakko blinzelte konzentriert und rückte seine Brille zurecht.

»Nein, habe ich nicht. Was soll das sein?«

»Sieht irgendwie nach einem Kult aus, was meinen Sie?«

»Jugendliche machen so etwas. Oder Leute, die sich für Schamanen halten.« Er schaute mich prüfend an. »Sie kommen nicht aus dieser Gegend, hm?«

»Ich bin Kriminalermittler im Ruhestand«, erklärte ich. »Ich war dabei, als das Gut gebrannt hat. Die Sache lässt mir einfach keine Ruhe.«

»Ja, der arme Jansen«, sagte der Mann. »Und ihr habt immer noch keine Ahnung, wer’s getan hat?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, haben wir nicht. Wie lange steht das Gut eigentlich schon leer?«

»Schon ziemlich lange«, antwortete er. »Ein reicher Kaufmann mit einem Faible für das Bäuerliche hat es vor ungefähr zweihundertfünfzig Jahren erbauen lassen, hat es aber meist nur als Sommerresidenz benutzt. Als die Kleinfeldts es übernommen haben, hat sich daran nicht viel geändert. Bis irgendwann überhaupt niemand mehr kam, weil sich das Leben immer mehr in die Stadt verlagert hat. Die Leute aus Rieddorf haben darauf geachtet, dass sich kein Gesindel dort breitmacht. Zuerst Wanderarbeiter, später dann Hippies und Obdachlose. Aber im Grunde wär’s egal gewesen, so wie das Haus mit der Zeit verfallen ist.«

»Und sonst etwas Ungewöhnliches?«, hakte ich nach. »Etwas, das auf den ersten Blick vielleicht gar nicht unbedingt auffallen würde?«

Mein Gegenüber zog die Brauen hoch und richtete seine Augen auf die kümmerlichen Baumwipfel. »Oh, da könnte ich Ihnen viel erzählen. In dieser Gegend kursieren seit Jahrhunderten die skurrilsten Geschichten. Die mischen sich ganz unmerklich in die alltäglichen Narrative. Allein um das Gut Kleinfeldt ranken sich genug Legenden, um damit ein Buch zu füllen.«

Er blickte auf seine Armbanduhr. »So, jetzt muss ich aber weiter. Sonst lässt meine Frau den Kaffee kalt werden. Wenn ihr Interesse tiefer geht, lieber Herr…«

»Schwarz«, sagte ich. »Cornelius Schwarz.«

»…dann kommen Sie doch einfach bei uns zuhause vorbei. Mein Name ist Herbert Lohmann. Wir wohnen drüben in Rieddorf, es ist das gelbe Haus gleich neben der Kapelle.«

Er wandte sich mit einer Abschiedsgeste um und stiefelte zwischen den Bäumen davon. Ich spähte noch einmal nach der seltsamen Gestalt, die mir vorhin erschienen war, konnte sie jedoch auch jetzt nirgends entdecken. Also holte ich mein iPhone raus und fotografierte das Symbol am Boden, dann machte ich mich auf den Weg zu meinem Wagen.

- 7 -

Thor hatte einen ganz persönlichen Weg gewählt, um die Ereignisse auf Gut Kleinfeldt zu bewältigen: Er war zum Esoteriker geworden. Wühlte in Antiquariaten nach vergilbten Büchern und ersteigerte auf Auktionen obskure alte Schriften, für die sich sonst nur bekennende Spinner und Cosplayer auf der Suche nach Inspiration für ihre Rollenspiele interessierten. Das hatte dazu geführt, dass meine Besuche seltener geworden waren und wir kaum noch telefonierten; ich hatte keine Lust mehr gehabt, mit zusammengebissenen Zähnen seinen merkwürdigen Theorien zu lauschen.

Jetzt fand ich es an der Zeit, seine Meinung einzuholen.

Er hatte am Stadtrand ein kleines Haus gemietet, das von der Straße aus hinter all dem Gebüsch kaum zu erkennen war. Ich betätigte die Klingel am Gartentor und ging, flankiert von ordentlich angelegten Gemüsebeeten, zum Hauseingang. Thors Lebensgefährtin Helga öffnete mir die Tür – eine stattlich gebaute Frau, die blonde Mähne zu dicken Zöpfen geflochten. Sie trug Jeans und einen rosa Blazer, ein ungläubiges Lächeln zog ihr rundes Gesicht noch weiter in die Breite.

Unrein, keuchte die Stimme in meinem Kopf. Ich ignorierte das.

»Lino? Das nenne ich eine Überraschung. Wie geht’s denn so, hm?«

»Kann nicht klagen.« Ich deutete durch die offene Tür in Innere des Hauses. »Ist er da?«

Helga seufzte. »Natürlich ist er da. Kannst du ihm schonend beibringen, dass ich mit ihm gern mal auf einen Kaffee oder einen Drink ausgehen würde?«

»Ich werd’s versuchen«, sagte ich.

Sie blickte mir streng in die Augen. »Aber du kommst doch nicht wegen dieser alten Sache, oder?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Ich fürchte schon.«

»Ach, was geht’s mich an.« Helga machte eine resignierte Handbewegung. »Ich muss jetzt ins Krankenhaus, meine Schicht beginnt in einer halben Stunde.«

Sie wandte sich ab und schritt, aufrecht und energisch wie eine Schildjungfer, zum Gartentor. Ich betrat das Haus und drang auf knarzenden Dielen durch den schmalen Flur in Richtung von Thors Studierzimmer vor.

»Komm rein, Lino. Ich weiß, dass du’s bist.«

Thor saß an seinem Arbeitstisch, über einen Notizblock gebeugt und von abgegriffenen Büchern sowie von vergilbten, lose zusammengehefteten Papierstapeln umgeben. Seine Haare waren länger geworden, sein Bart war neu und verlieh ihm zusammen mit der Nickelbrille, mit der ich ihn ebenfalls noch nicht gesehen hatte, das Aussehen eines verschrobenen Privatgelehrten.

»Helga sieht gut aus«, bemerkte ich.

»Ja, sie hat abgenommen. Außerdem ist sie zur Stationsschwester befördert worden. Holst du uns was zu trinken? Bier ist im Kühlschrank.«

Ich ging nach nebenan in die kleine Küche und besorgte zwei Flaschen Becks. Öffnete sie und drückte eine in Thors ausgestreckte Hand. Ich lehnte mich an den Türrahmen, wir prosteten uns zu und tranken.

»Serge war bei mir in der Bar«, sagte ich.

»Läuft er immer noch so geschniegelt herum?«

»Ja, da ist er sich treu geblieben.«

Ich beobachtete einen kleinen Vogel, der draußen auf dem Fensterbrett herumhüpfte und schließlich mit einem erbosten Zwitschern davonflatterte.

»Sie haben wieder einen gefunden«, fuhr ich fort. »Einen dieser Mumienheinis. In einer Kiesgrube, definitiv tot und mit diesem ganz bestimmten Loch in der Stirn.«

»Definitiv tot?«

Ich nickte grimmig. »Auch wenn sie in der Pathologie meinen, dass da schon vorher kein Leben drin gewesen ist. Jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinn.«

Thor blickte mich ausdruckslos an. »Meinst du, unser Killer-Girlie ist wieder da?«

»Sieht jedenfalls ganz danach aus, oder?«

»Und so, wie ich dich kenne, bist du dann zum Gutshof rausgefahren.«

»Ja, bin ich. Und ich hab mich in der Umgebung umgesehen. Jetzt schau dir das an.«

Ich holte das iPhone heraus und rief eines der Bilder auf, die ich von dem Symbol gemacht hatte.

Thor runzelte die Stirn. »Wo hast du’s gefunden?«

»In einem Waldstück hinter dem Gutshof. Jetzt sag mir, ob du auch eine Schlange erkennst.«

Er holte tief Luft und nahm einen Schluck von der Flasche. »Diese Amulette. Ein Dreieck, Spitze nach unten. Eine Hierarchie, die auf den Kopf gestellt worden ist.«

»Der Kopf der Schlange zeigt ebenfalls nach unten.«

»Du weißt, was es mit der Schlangensymbolik auf sich hat?«

»Ein bisschen… nein, eigentlich gar nicht.«

Thor stemmte sich aus seinem Stuhl hoch, trat vor das Regal hinter seinem Schreibtisch und zog ein Buch heraus, blätterte darin und steckte es wieder zurück.

»Der Garten Eden«, sagte er. »Der Baum der Erkenntnis…«

»Die Schlange!«, fuhr ich auf. »Warte mal… was sie uns im Religionsunterricht erzählt haben…«

»Da stand die Geschichte bereits auf dem Kopf.«

»Denn während unser Stammvater Adam faul im Gras gelegen hat…«

»…wusste seine Angeheiratete, dass da noch mehr war. Viel, viel mehr. Sie hat durch den Spiegel geblickt.«

»Scheiße«, entfuhr es mir.

»Ja, scheiße. So sieht’s aus, Lino. Wenn es eine Krone der Schöpfung gibt, dann sind es verdammt nochmal die Frauen. Jetzt rate mal, wer damit ein Problem haben könnte?«

»Ich jedenfalls nicht«, sagte ich.

Thor seufzte. »Keine Ahnung, wie’s die Drecksäcke bis hierher, in unsere Zeit, geschafft haben. Aber eines steht für mich fest: Dieser Scheiß ist so alt, dass es unsere Vorstellungskraft übersteigt.«

»Deine anscheinend nicht.«

So etwas wie ein triumphierendes Grinsen legte sich auf sein Gesicht. »Hast du’s auch bemerkt? Gerade waren wir wieder genauso in Fahrt wie zu unseren Sternstunden. Zack, zack, den Ball hin und her gespielt.« Sein Grinsen verflüchtigte sich und er fuhr fort: »Schön, dass wir endlich wieder zusammenkommen. Hab ich mich schon dafür bedankt, dass du dich damals schützend auf mich geworfen hast?«

»Unzählige Male. Aber da warst du im Delirium.«

Thor machte eine ausholende Geste, die sein ganzes kleines Reich umfasste. »Ich habe astrologische Daten mit Ereignissen abgeglichen, zwischen denen scheinbar kein offensichtlicher Zusammenhang besteht. Habe versunkene Kulte und Religionen studiert… nein, warte, lass mich zum Nächstliegenden kommen. Du weißt, dass es so etwas wie mystische Kraftorte gibt?«

»Ich bin immer ausgestiegen, wenn du damit angefangen hast.«

»Es ist der See«, fuhr er fort. »Dieser mickrige See bei Gut Kleinfeldt. Er taucht nicht direkt in den alten Schriften auf, aber die Koordinaten…«

Ich winkte ab. »Der See wurde abgesucht. Da wurde nichts gefunden.«

»Sie haben ein bisschen an den Ufern herumgestochert…«

»Was schlägst du vor?«, unterbrach ich ihn. »Soll ich mir eine Tauchausrüstung zulegen?«

Er schüttelte energisch den Kopf. »Ach was, Blödsinn. Aber ihr solltet den Kleinfeldts nochmal auf den Zahn fühlen. Die müssen doch irgendwas mitgekriegt haben.«

»Von der Familie war nur noch eine Person übrig. Sofia Kleinfeldt, die wurde damals befragt. Gerade, dass sie noch wusste, dass der abgebrannte Trümmerhaufen ihr gehört.«

»Sofia wurde adoptiert«, sagte Thor.

»Und?«

»Es ist nur ein Gefühl«, erwiderte er. »So wie früher… wie viele Fälle haben wir aus dem Bauch heraus gelöst? Nur, dass sich dieses Gefühl bei mir irgendwie… erweitert hat.«

Thor kehrte auf seinen Stuhl zurück und betrachtete seine Bierflasche. »Ich habe Erkundigungen über Sofia eingeholt«, fuhr er fort. »Das Ehepaar Kleinfeldt hat sie vor ungefähr zwanzig Jahren am Straßenrand herumirrend aufgelesen und bei sich aufgenommen. Total-Amnesie, Identität nicht feststellbar. Später haben sie das Mädchen adoptiert. Na, klingelt’s bei dir?«

»Die toten Frauen«, sagte ich. »Keine Identität, keine Geschichte, nichts.«

»Sprich mit ihr.« Thor nahm seine Brille ab, legte sie auf den Tisch. »Ich weiß nicht, ob sie der Schlüssel zu dem ganzen Rätsel ist. Aber mit deiner empathischen Art wirst du bestimmt etwas aus ihr herauskitzeln.«

Ich trank von meinem Bier und stellte die halbleere Flasche auf den Tisch. »Ich werde mit Serge darüber reden.«

»Dann sind wir beide also wieder im Geschäft?«, fragte Thor.

»Nur nicht so voreilig«, erwiderte ich.

Thor zwinkerte mir freundschaftlich zu. »Ich war mir übrigens nie sicher, wer von uns das Gehirn und wer der Muskel war. Aber vielleicht ist das auch nicht wichtig.«

»Und bitte auch keine alten Geschichten aufwärmen.«

»Ach was, dann lass uns doch einfach nur diese mumifizierten Mistkerle ficken«, sagte er. »Egal, wie alt sie sind und woher sie kommen.«

»Jetzt tritt mal auf die Bremse«, mahnte ich.

»Oh Mann, du bist wieder ganz der Alte.« Ein ironisches Lächeln spielte um Thors Lippen. »Habe dir jemals gesagt, dass ich dich liebe?«

- 8 -

»Ich verstehe nicht, was du dir davon erhoffst.«

Serge rührte verdrossen seinen Cappuccino um. Mein Vorschlag, mit Sofia Kleinfeldt zu sprechen, gefiel ihm anscheinend überhaupt nicht. Zwar wusste er als erfahrener Kriminaler, wie man »Intuition« buchstabiert, doch Sofias Aussagen hatten schon damals wenig hergegeben. Wozu also ein zweites Mal Zeit mit dieser verschlossenen, introvertierten Person vergeuden?

»Dass es auf dem Gut nicht mit rechten Dingen zugegangen ist, müssen wir nicht mehr diskutieren«, sagte ich. »Und nach der Befragung hast du selbst verlauten lassen, Sofia Kleinfeldt wäre nicht ganz von dieser Welt…«

»Das war nur mein subjektiver Eindruck. Hör mal, Lino…« Serge beugte sich über den Tisch zu mir herüber und fuhr mit gesenkter Stimme fort: »Diese Frau ist hochsensibel, die Befragung hat ihr sichtlich Stress bereitet. Obwohl wir sie mit Samthandschuhen angefasst haben. Sie könnte es als Schikane auffassen, wenn wir ihr noch einmal auf den Leib rücken. Und sich zum Beispiel an einen Anwalt oder an die Presse wenden. Zumal wir offiziell keine Begründung für eine Befragung vorweisen können, solange wir das Ausmaß der Geschichte unter Verschluss halten.«

»Genau darin liegt das Problem«, entgegnete ich. »Anstelle der Geheimhaltung oberste Priorität zu geben, hättet ihr die Hintergründe von Anfang an tiefer ausleuchten müssen.«

»Und jetzt willst du damit ausgerechnet bei Sofia Kleinfeldt anfangen.«

»Weil es Parallelen gibt. Zwischen ihr und den Opfern. Keine feststellbare Identität, keine Vorgeschichte…«

»Moment mal… hast du das von Thor?«

Ich nickte. »Ihn lässt die Sache auch nicht los.«

Serge verkniff das Gesicht. »Dir ist schon klar, dass er einen an der Klatsche hat? Dieser übernatürliche Kram, mit dem er sich beschäftigt…«

»Was damals passiert ist, war definitiv übernatürlich. Vielleicht ist er der Einzige, der den Fall von der richtigen Seite her angeht.«

»Na, ich weiß nicht.«

Serge nippte an seiner Tasse und blickte auf seine Armbanduhr.

»Ich muss jetzt wieder ins Büro. Fall du eine Idee hast, wie es jetzt weitergehen soll…«

»Du vereinbarst einen Termin mit Sofia Kleinfeldt«, sagte ich.

Er schnaubte durch die Nase. »Wenn das herauskommt…«

»Kannst du deine nächste Beförderung knicken.«

»Oder meine Rentenansprüche.« Er stand auf und zupfte sein Jackett zurecht. »Ich werde darüber nachdenken. Und danke für den Kaffee.«

Ich sah ihm nach, als er durch das Lokal zur Tür ging. Falls er auf mein Ansinnen einging, dann jedenfalls nicht, um mir einen Gefallen zu tun. Sondern nur, weil er selbst eine Möglichkeit sah, Licht ins Dunkel zu bringen.

Die Studentin, die heute den Service machte, kam zu mir und fragte, ob sie den Tisch abräumen solle. Ihr Name war Evie, ich mochte sie.

Es ist unrein, knurrte die Stimme in meinem Kopf. Du weißt, was du zu tun hast.

Ich dachte an Schlangen. Schwarze Schlangen, die sich geschmeidig durch saftig grünes Gras wanden, ihre Drüsen angefüllt mit einem Gift, das jede Dunkelheit zersetzen konnte.

- 9 -

Sofia Kleinfeldt bewohnte die Mansarde eines Jugendstilgebäudes, erbaut Ende des neunzehnten Jahrhunderts, die Fassade mit floralen Ornamenten verziert. Serge parkte den Wagen ein und wir überquerten die stille Straße mit ihrer Eskorte aus Linden und Ahornbäumen.

»Du kannst es dir immer noch anders überlegen«, sagte ich.

Aber da hatte er bereits den Klingelknopf an dem unbeschrifteten Messingschild gedrückt.

»Dein Spiel«, sagte er. »Ab jetzt.«

»Wer ist da?«, fragte eine zarte Stimme durch die Gegensprechanlage.

»Kriminalinspektor Berkov«, antwortete Serge. »Wir haben einen Termin vereinbart…«

Der Türsummer ertönte, wir betraten das Treppenhaus und stiegen die Treppe rauf. Ganz oben unter dem pyramidenartigen Glasdach gab es nur eine einzige Tür, und die stand weit offen. Ich folgte Serge in den dahinter liegenden Flur, machte die Tür leise zu und sah mich um: Alte Möbel und Bilder, wahrscheinlich seit Generationen weiter vererbt. Ein feiner Geruch von Citrus und Bergamotte hing in der Luft.

»Sofia Kleinfeldt?«

Serges Bariton verebbte unerwidert in den Tiefen der Wohnung. Wir blickten einander ratlos an und ich ging im Kopf die Möglichkeiten durch, wie wir uns diskret aus der Affäre ziehen konnten.

»Die Herren von der Polizei?«

Eine schlanke Frau in einem petroleumfarbigen Hausmantel war in den Flur getreten, eine flauschige, hellgraue Perserkatze im Arm. Sie trug keine Schuhe, ihre Zehennägel waren grellviolett lackiert. Ihr blasses, fein geschnittenes Gesicht bildete einen reizvollen Kontrast zu ihrer dunklen Mähne, die an der Stirn zu einem kindlich anmutenden Fransenpony gestutzt war.

Du musst es zerstören, meldete sich mein Inkubus zurück. Es darf keine Macht über dich haben.

Serge zückte seinen Dienstausweis und setzte zum Sprechen an.

»Aber wir kennen uns doch«, sagte die Frau. »Ich kann mich noch gut an das Verhör erinnern.«

»Es war kein Verhör«, erwiderte Serge. »Wir nennen das eine Befragung.« Er wandte sich mir mit angespannter Miene zu und fuhr fort: »Das ist mein Kollege Cornelius Schwarz, er wird dieses Mal die Fragen stellen. Und ich verspreche Ihnen, dass wir Sie dann kein weiteres Mal belästigen werden.«

Sofia Kleinfeldt setzte die Katze auf dem Boden ab. »Na los, verzieh dich, du dummes Vieh.« Sie lächelte entschuldigend. »Cato hat zur Unzeit feline Bedürfnisse angemeldet, weswegen ich Sie nicht mit dem gebührenden Anstand empfangen konnte. Diese Katze ist eine weitere Hinterlassenschaft meiner Eltern, die mir nicht unbedingt Freude bereitet. Aber lassen Sie uns hier nicht herumstehen… was darf ich Ihnen anbieten? Tee? Kaffee? Oder einfach nur Wasser?«

Serge lehnte zuerst ab, wollte dann aber doch ein Glas Wasser. Ich entschied mich für Kaffee. Und ließ den geräumigen Salon auf mich wirken. Schwere Vorhänge, eine Glasvitrine mit chinesischem Porzellan, ein Bücherregal voller Klassiker, ein Stutzflügel, der Parkettboden mit wertvoll aussehenden Perserteppichen ausgelegt. Die Kleinfeldts waren etwa ein Jahr vor dem Horror auf ihrem Landgut kurz nacheinander verstorben, doch schien ihre Adoptivtochter in der Wohnung nichts verändert zu haben.

Sofia kehrte mit einem zierlichen Jugendstiltablett zu uns zurück. »Ich fühle mich wohl hier«, erklärte sie, als hätte sie meine Gedanken gelesen. »Vielleicht, weil ich nichts anderes kenne. Bestimmt sind Sie über meine Geschichte informiert.

---ENDE DER LESEPROBE---