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Daark ist der unwirtlichste aller kolonisierten Planeten. Verheerende Unwetter, tödliche Mikroben und gigantische Kreaturen, die wie aus dem Nichts auftauchen, machen den Siedlern das Leben zur Hölle. Doch nur auf Daark gibt es das Element Supralith, das für die interstellare Raumfahrt unentbehrlich geworden ist. Der ehemalige Elitesoldat Groj kümmert sich in einem Lazarett um die Opfer eines Bürgerkriegs, der zwischen der Regierung und den „Schürfern“ ausgetragen wird – jenen Kolonisten, die unter unmenschlichen Bedingungen das begehrte Supralith abbauen und um bessere Lebensbedingungen kämpfen. Grojs Leben nimmt eine neue Wendung, als ihn ein Geheimauftrag mit der faszinierenden Yeejhza konfrontiert, die im Genlabor einer zwielichtigen Organisation erschaffen worden ist – und die ihre ganz persönlichen Ziele zu verfolgen scheint. Doch der Ausgang ihrer Mission wird nicht nur über das Schicksal des dunklen Planeten und seiner Bewohner entscheiden.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Inhaltsverzeichnis
Cover: frey-d-sign, unter Verwendung eines Motivs von Tithi Luadthong (123rf)
1. EIN STURM ZIEHT AUF
2. DER BESUCHER
3. AUSGEWÄHLT
5. BERGKRABBE
6. PERSON X
7. EIN GESPÜR FÜR ZUKÜNFTIGE ENTWICKLUNGEN
8. DER ATMENDE FELS
9. DIE KREATUR
10. SCHWARZWIND
11. DIE KRÜCKE
12. NACH WESTEN
13. REBOOT
14. BANDITEN
15. GEFECHT
16. NACH DEM STURM IST VOR DEM STURM
17. GRANDE
18. ÜBERGABE
19. APHRODISIERT
20. NACHSPIEL
21. DIE BRÜCKE
22. AM ABGRUND
23. AUSGESCHLÜPFT
24. NICHT RICHTIG
25. GLAUBENSFRAGEN
26. BEGRÄBNIS
27. STEINREGEN
28. JENSEITSKRIEGER
29. SPERRGEBIET
30. GESPRÄCH MIT DEM KOPF
31. DER HUSTEN
32. DIE VERBORGENE STADT
33. SEHNSÜCHTE UND URSPRÜNGE
34. DIE FALLE
35. IN DER SCHLUCHT
36. EIN MONSTER ERWACHT
37. DIE RETTUNGSKAPSEL
38. VERLUST
39. FAMILIE
40. GORDISCHER KNOTEN
41. EINE VON IHNEN
42. GEFANGENNAHME
43. UNTERREDUNG MIT PICKERT
44. TURBULENZEN
45. STERNENKLAR
46. CHECKPOINT
47. IM KRATER
48. ENTFÜHRUNG
49. RETTUNG
50. SCHWESTERN
51. VISION
52. ZWISCHENLANDUNG
53. PRIMUS EINS
54. STAATSSTREICH
55. PRIMUS GROJ
56. HÖCHSTENS ACHT STUNDEN
57. SCHMETTERLINGE
58. DANACH
59. DER GROSSE SCHLAF
60. SONNENSCHEIN
61. CLUSTER
62. NACH NORDEN
63. UNSPEZIFISCHE INFORMATIONEN
64. ENDSPIEL
65. ZUKUNFT
Impressum
DUNKLER PLANET
© Peter Scheerer 2021
Gestaltung und Satz: frey-d-sign
Feiner Sprühregen ging über der Lichtung nieder und ließ die einschüchternde Silhouette des Dschungels zu einer fahlen Kulisse verschwimmen. Die winzigen Tropfen überzogen das Gesichtsschild von Grojs Schutzanzug mit einem feinen Muster, doch er hätte seine Tätigkeit auch blind erledigen können. Erst wenn es so richtig zu regnen anfing, begannen die Probleme; dann verwandelte sich die Lichtung in ein einziges Schlammloch. Und der Regen würde nicht mehr lange auf sich warten lassen: Im Westen türmten sich bereits pechschwarze Wolkenungeheuer auf, in denen grünliches Blitzgewitter zuckte. Groj hoffte, dass der Krankentransporter mit seiner täglichen Lieferung eintreffen würde, bevor die Sauerei losging. Es war kein Vergnügen, die Bahren mit den Verwundeten durch den Matsch zum Lazarett zu manövrieren.
Er beugte sich tiefer über das Programmiermodul des Leichenroboters und wischte einen Film aus schmieriger Feuchtigkeit von der Bedienoberfläche. Die Maschine war reif für den Schrottplatz, einen Ersatz aufzutreiben ein Ding der Unmöglichkeit. Also trichterte er dem verrostenden Koloss vor jeder Tour aufs Neue die Route zu der kaum zugänglichen Schlucht ein, die als Friedhof für das Lazarett diente. Seit die Rebellion der Schürfer auf die Bezirke Lavendel und Regenbogen übergegriffen hatte, galt es täglich an die fünfzehn Tote zu beseitigen, bevor die aggressiven Keime und Parasiten biologische Zeitbomben aus ihnen machten.
Das Display signalisierte, dass alle Befehle abgespeichert waren. Groj klappte den Deckel zu und gab dem Roboter einen Klaps auf eines seiner vier kugelförmigen Kniegelenke. Mit einem letzten Blick vergewisserte er sich, dass keiner der Toten aus der Transportwanne rutschen konnte, wenn die Maschine über die unbefestigte, steil abfallende Strecke zur Schlucht hinunterkletterte.
Der Roboter setzte sich stockend in Bewegung, drehte sich schwerfällig um seine Achse und wankte über die Lichtung davon wie ein betrunkenes Rieseninsekt. Eines Tages würde er nicht mehr zurückkehren, weil sich sein blecherner, altersschwacher Leib zu den verwesenden Körpern am Grund der Schlucht gesellt hatte.
Die Luft vibrierte unter einem dumpfen Röhren. Ein Quadrokopter mit den Emblemen des planetaren Rettungsdienstes durchstieß den perlmuttfarbigen Dunst über den steilen Dschungelklippen, legte sich in eine enge Kurve und sank gemächlich dem Boden entgegen. Noch während die Laderampe herunterklappte, stürmte vermummtes Personal aus dem Lazarett, das in einem umfunktionierten Flugzeughangar in der Mitte der provisorisch gerodeten Lichtung untergebracht war.
Groj riss den Schutzanzug auf, schüttelte sein langes, dunkles Haar aus und zupfte vom kondensierten Atem angefeuchtete Strähnen von seinem Mund, während er auf die Landestelle zustapfte.
»Wie viele?«, fragte er die plumpe Gestalt, die mit der Rampe auf die Oberfläche heruntergefahren war.
»Ungefähr vierzig«, tönte es geschlechtsneutral aus dem Helmlautsprecher. »Die Hälfte davon so gut wie tot.«
»Wieder alles Reguläre?«
»Ist doch egal. Oder interessierst du dich neuerdings für Politik?«
»Bist du das, Laurine?«
Die Gestalt lachte blechern auf. »Stehst du heute auf der Leitung, Groj? Ist ja auch kein Wunder bei meiner Kostümierung. Und du solltest schleunigst in deine Frischhaltefolie zurückschlüpfen. Ein paar von den armen Schweinen befinden sich im Zustand fortgeschrittener Verwesung.«
»Wenn ich mich anstecken könnte, wäre das längst passiert«, erwiderte Groj. »Und falls doch, soll es eben so sein.«
Normalerweise hätte Laurine jetzt versucht, sich mit ihm zu verabreden. Aber die ersten Bahren wurden bereits über die Rampe geschoben und er half den Schwestern und Pflegern, die Verwundeten ins Lazarett zu bringen.
Laurine hob zum Abschied die Hand, als sie von der Rampe zurück in den Bauch des Transporters gehievt wurde. Groj erwiderte ihren Gruß mit einem schiefen Lächeln. Er mochte Laurines trockene Art und ihren kräftigen, fordernden Körper. Doch Laurine neigte zur Eifersucht und konnte sehr unangenehm werden, wenn sie ihre Besitzansprüche infrage gestellt sah. Besonders seine Freundschaft mit Nori war ihr ein Dorn im Auge. Nori, die ihn nach seinem Absturz versorgt und schließlich ins Team aufgenommen hatte. Und die jetzt in einem Zelt, weitab im Wald gelegen, einen einsamen Kampf gegen ihre Infektion führte.
Er stand allein auf der Lichtung, während der Kopter senkrecht zum Himmel aufstieg und mit brüllenden Turbinen den Rückflug nach Süden antrat. Als die Maschine in den Wolken verschwunden war, fegte ein heftiger Windstoß durch die Bäume und es begann in dicken Tropfen zu regnen. Groj kehrte ins Lazarett zurück, um sich die neu eingetroffenen Verwundeten anzusehen.
»Wir hatten den Stützpunkt überrannt«, keuchte der Soldat. »Unten, an der Grenze zu Regenbogen… die Verluste waren immens, aber wir schafften es, wir kamen durch! Und dann…«
»Das ist jetzt vorbei«, brummte Groj und schnippelte mit dem Vibroskalpell einen Fetzen totes Fleisch vom Oberschenkel des Verwundeten. »Richte deine Gedanken auf ein Leben nach dem Krieg.«
»Wozu? Ich werde sterben. Alle Menschen müssen sterben! Und das Schicksal hat es mir bestimmt, dass ich als Soldat sterbe.«
»Von dem ganzen Haufen hier hast du die besten Chancen, durchzukommen. Rede also keinen Quatsch.«
Der Soldat war ein kräftiger, junger Kerl mit einem runden Bubengesicht, das wahrscheinlich in gesundem Rosa erblühte, wenn es nicht gerade von purpurroten und schwarzen Flecken entstellt war.
»Du weißt nicht, wovon ich spreche!«, stieß er hervor. »Denn du warst nicht dabei. Aber ich war dort, ich habe ihn gesehen. Den Jenseitskrieger! Es gehörte zu seinem Plan, uns den Stützpunkt einnehmen zu lassen. Er wollte, dass wir uns zuerst an unserem trügerischen Sieg ergötzten, ehe er uns abmähte wie Strohhalme mit seinem unsichtbaren Schwert!«
»Ein Jenseitskrieger, was immer das ist. Der sich auf die Seite der Schürfer geschlagen hat.«
»Er steht auf keiner Seite, er verfolgt nur sein eigenes Ziel. Und das ist unser aller Untergang.«
»Steigere dich nicht so hinein«, erwiderte Groj mit erzwungener Gelassenheit. »Du brauchst jetzt vor allem Ruhe.«
»Ich stand ihm gegenüber«, fuhr der Soldat mit flacher, hechelnder Stimme fort. »Ja, er hat mich verschont, aber das hat nichts zu bedeuten. Denn er hat mich erkannt! Er ist nun bei mir, wird immer bei mir sein – die wenigen Stunden, die mir noch bleiben, und danach. Er hat mich in sein Reich geholt, so wie er euch alle holen wird! Niemand kann ihm entkommen, niemand!«
Groj blickte deprimiert auf die hässliche Wunde, die sich vor seinen Augen millimeterweise auszudehnen schien. Das Phänomen hatte er schon mehrmals beobachtet. Es ließ sich nicht allein mit der Aggressivität der heimischen Erreger erklären.
Eine junge Schwester trat neben ihn und berührte seine Schulter. Ondra, die so etwas wie seine rechte Hand geworden war.
»Fliegeralarm«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Klassifizierung dreizehn.«
»Kurs?“, fragte Groj.
»Direkt aufs Lazarett. Ankunft in zwei Minuten.«
Er richtete sich auf und reichte der Schwester das Skalpell. »Mach du hier weiter, Ondra.«
»Der Jenseitskrieger wird alle Schlachten für sich entscheiden!“, krächzte der Soldat und bäumte sich in seinem Bett auf. »Die Dunkelheit hat ihn geschickt, sie wird sich uns alle einverleiben!«
»Ganz ruhig jetzt«, sagte Ondra.
Groj betrat sein schlichtes Büro, das lediglich durch transparente Planen vom Rest des Lazaretts abgetrennt war, und holte den Plasmakarabiner unter dem Terminal hervor. Mit der schweren, altmodischen Waffe in der Hand ging er in den prasselnden Regen hinaus.
Klassifizierung dreizehn bezeichnete ein Objekt, das nicht in den gängigen Kategorien aufgelistet war. Es konnte sich um alles mögliche handeln, zum Beispiel um eine ferngelenkte Bombe. Zwar spielte der Rettungsdienst in diesem Krieg keine strategische Rolle. Aber den Hardlinern unter den abtrünnigen Schürfern war es zuzutrauen, auf diese Weise ein Zeichen setzen zu wollen.
Ein hohes, singendes Geräusch drang aus den Wolken. Groj entdeckte ein merkwürdiges Fluggerät am Himmel – einen schimmernden, stromlinienförmigen Tropfen, der über die vom aufkommenden Sturm gebeutelten Baumwipfel heran schoss, getragen von zwei Paaren flirrender Libellenflügel. Das Objekt verharrte kurz über der Lichtung, ehe es sich schnurgerade herabfallen ließ. Er sah das zierliche Gefährt bereits zwischen den Baumstümpfen zerschellen, doch fing es seinen Sturz dicht über dem Boden geschmeidig auf. Die Libellenflügel erstarrten und verschmolzen mit dem glatten, silbrig-weißen Rumpf, in dem sich nun eine ovale, auf suggestive Weise obszön wirkende Öffnung formte.
Ein Nanojet der neuesten Bauweise. Komplexe Hochtechnologie, intelligente Materie, die perfekte Verschmelzung von Werkstoff und Energie – so etwas gab es auf Daark nicht. Was hatte das Ding ausgerechnet auf diesem isolierten, verlorenen Planeten zu suchen, der von seinen Bewohnern und unergründlichen Naturkräften ins Chaos gestürzt wurde?
Grojs Armbandkom machte sich bemerkbar. Drängte es Laurine nun doch nach einem Date? Aber die Signatur des Anrufers verwies in eine andere Richtung und Groj verspürte ein beklemmendes Gefühl in der Brust.
»Wer ist da?«
»Ich spreche im Auftrag von Primus Eins. Er will, dass du in den Dienst zurückkehrst.«
Die Stimme wurde von statischen Geräuschen überlagert, wahrscheinlich die Folge eines Supergewitters über dem Großen Plateau. Die Auswirkungen reichten manchmal hunderte Kilometer weit, nicht selten beeinträchtigten sie die Kommunikation auf dem gesamten Kontinent.
»Ich werde hier gebraucht«, erwiderte Groj. »Die Lazarettchefin ist erkrankt, ich bin ihre Vertretung.«
»Irrelevant«, sagte die fremde Stimme. »Das Lazarett spielt in den Plänen von Primus Eins eine untergeordnete Rolle.«
Groj spähte zu dem Nanojet hinüber. In der Luke zeichnete sich eine Bewegung ab. Ein athletisch gebauter, kahlköpfiger Mann in einer hellgrauen Montur sprang heraus und kam federnd auf dem matschigen Boden auf.
»Ich muss mich jetzt um eine andere Sache kümmern«, schnarrte Groj.
»In Kürze wird ein Kurier aus dem Stab von Primus Eins beim Lazarett eintreffen«, fuhr der Anrufer ungerührt fort. »Von ihm wirst du deine neuen Instruktionen erhalten.«
»Er ist gerade gelandet«, entgegnete Groj. »Ich rede mit ihm und melde mich wieder.«
Er unterbrach die Verbindung und ging durch den Regen auf den Ankömmling zu, den Karabiner geschultert.
»Du hast keine Landeerlaubnis. Dies ist ein Lazarett. Ist jemand verwundet?«
Der Fremde lächelte unverbindlich, seine hellen, graublauen Augen blieben kalt. »Ich will mit der Leitung des Lazaretts sprechen.«
»Die Leitung, das bin ich. Worum handelt es sich?«
»Dann möchte ich, dass du mich zu Terval Grojin’nan bringst.«
»Er steht vor dir.«
»Das vereinfacht die Dinge. Primus Eins hat dich über deine neue Mission informieren lassen?«
»Nur dass es eine Mission gibt«, erwiderte Groj gereizt. »Kannst du nun auf den Punkt kommen?«
Der kahlköpfige Mann streckte die Hand aus und betrachtete die Regentropfen, sie sich auf ihr sammelten. Dann legte er sie mit einem milden Lächeln auf Grojs Arm.
»Ich würde lieber in deinem Büro weiterreden. Du hast doch ein Büro, nehme ich an?«
Groj versuchte, den Unbekannten einzuschätzen, der ihm an seinem Schreibtisch gegenüber saß. Konnte ihn jedoch keiner bestimmten Institution zuordnen. Der Statur nach war er bestens trainiert, doch er verhielt sich zu locker für einen Soldaten und war zu gepflegt für einen Söldner – die sorgfältig rasierte Glatze, die straffe Haut und die sauber geschnittenen Fingernägel verwiesen eher auf einen Bürokraten in mittlerer bis gehobener Position.
»Die Ankunft einer wichtigen Person steht unmittelbar bevor«, erklärte der Mann. »Diese Person hat auf Daark eine streng geheime Angelegenheit zu erledigen. Primus Eins hat angeordnet, dass du ihr dabei assistierst.«
»Warum ausgerechnet ich?«, fragte Groj, den Karabiner auf seinen Knien.
»Weil du bei deinen früheren Einsätzen bewiesen hast, dass du verschwiegen und zuverlässig bist. Dass du professionell vorgehst und keine Ambitionen hast, deine Aufträge zu deinem eigenen Vorteil zu nutzen.«
»Stimmt. Ich halte mich aus allem so weit wie möglich heraus. Aber das allein…«
Sein Gegenüber brachte ihn mit einer gelassenen, jedoch bestimmenden Handbewegung zum Schweigen. »Diese Sache ist in mehrfacher Hinsicht sensibel, Terval Grojin’nan. Und Primus Eins hat dich ausgewählt, sich ihrer anzunehmen. Dass er keinen Widerspruch akzeptiert, dürfte dir genauso bekannt sein wie mir.«
»Er hat mich ausgewählt, ohne mich auf meine Einsatztauglichkeit prüfen zu lassen?«
»Deine Daten wurden vorher beim Lazarett angefordert. Du bist körperlich zu hundert Prozent intakt. Schlichte Gemüter würden dies als ein Wunder bezeichnen nach allem, was du durchgemacht hast. Ich sehe es als eine Kombination aus Glück, Überlebenswillen und einer außergewöhnlichen Konstitution.«
»Da wäre noch etwas«, wandte Groj ein. »Ich trage hier inzwischen große Verantwortung. Gerade erst habe ich kommissarisch die Leitung des Lazaretts übernommen…«
»Bestimmt erfüllst du auch diese Aufgabe mit mustergültigem Engagement«, unterbrach ihn der Unbekannte. »Doch du verfügst über keine medizinische Ausbildung und bist von daher entbehrlich. Jemand aus den Reihen des geschulten Personals wird deine Position einnehmen, bis die offizielle Leiterin wieder ihren Aufgaben nachkommen kann.«
Groj lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Dann ist es wohl beschlossene Sache.«
Der Andere lächelte schmallippig. »Genau so ist es.«
»Von wem bekomme ich meine Instruktionen?«
»Von mir – jetzt. Dein Kontakt, nennen wir ihn vorläufig Person X, trifft übermorgen mit einem Frachter der Mendelson Handelsallianz in Port Kopernikus ein. Den exakten Zeitpunkt kann ich nicht nennen, die Wetterbedingungen sind dort gerade extrem unbeständig. Sobald der Kontakt hergestellt ist, unterstehst du ausschließlich den Weisungen von Person X.«
Groj nickte anerkennend. »Diese Person scheint tatsächlich etwas Besonderes zu sein, wenn Primus Eins die Zügel aus der Hand gibt.«
Sein Besucher zuckte mit den Schultern. »Ich weiß weder, wer sie ist, noch kenne ich den Grund für ihre Anwesenheit auf Daark. Gehen wir davon aus, dass Primus Eins weiß, was er tut.«
»Was ist, wenn ich Unterstützung brauche?«
»Mache dir darüber keine Gedanken. Darauf ist man vorbereitet.«
»Ich hoffe, die Unterstützung fällt dann effektiver aus als letztes Mal.«
Der Unbekannte sah ihn verständnisvoll an und legte die Handflächen aufeinander, als wollte er ein Gebet sprechen. »Mein lieber Groj – ich möchte dich daran erinnern, dass bei dem Absturz dein Tracker beschädigt wurde und du als verschollen galtst. In einer Umwelt, in der auch ein unversehrter Mensch ohne ausreichenden Schutz nicht länger als zwei Tage überleben kann.«
Groj nickte grimmig und blickte durch die milchige Plane in den Krankensaal. Die Verwundeten und Sterbenden würden ihm nicht fehlen, die Toten noch weniger. Die Gemeinschaft des Lazaretts dafür um so mehr: Nori und die Ärzte, Schwestern und Pfleger, die zu einer Familie für ihn geworden waren.
Eigentlich war alles gesagt, aber der kahlköpfige Mann blieb auf seinem Stuhl sitzen und beobachtete Groj aufmerksam. Groj erwiderte seinen Blick und runzelte die Stirn.
»Willst du noch etwas loswerden?«, fragte er.
Sein Gegenüber schüttelte den Kopf. »Nein, wir beide sind fertig. Ich bin mir sicher, dass Primus Eins die richtige Wahl getroffen hat.«
Der Mann richtete sich auf und verließ grußlos das improvisierte Büro. Groj folgte ihm bis zum Ausgang und sah zu, wie er im Einstiegsluk des Nanojets verschwand. Die Frage, wie dieses utopisch anmutende Fluggerät nach Daark gelangt war, beschäftigte ihn noch, als es mit seinen Libellenflügeln bereits in den grauen Regenschwaden über dem Dschungel verschwunden war.4. DAS ZELT IM WALD
Die riesigen, uralten Bäume mit ihren Bärten aus schwer herabhängenden Flechten bildeten ein düsteres Labyrinth, in dem es von monströsem Ungeziefer wimmelte. Das meiste davon bekam man erst zu Gesicht, wenn es fast schon zu spät war. Nicht so die Lufthummer, deren Reich in etwa zehn Metern Höhe begann. Bizarre Krustentiere von feuerroter Färbung, die kopfunter an ihren Schwebekokons hingen und mit ihren vier Stielaugen die Umgebung sondierten. Die Biester hatten mindestens sechs Paar Beine und waren erstaunliche Flieger, wenn sie auf Beute aus waren. Mit Menschen konnten sie allerdings nichts anfangen und am Boden waren sie so gut wie nie anzutreffen.
Groj entdeckte einen Bartwurm, der neben dem Trampelpfad im Schutz eines Farngestrüpps durch einen morastigen Graben pflügte. Es war ein Prachtexemplar, mindestens drei Meter lang und doppelt so dick wie Grojs Oberschenkel. Bartwürmer neigten zu unangemessenen Reaktionen, falls man sie dabei störte, wenn sie im Dreck nach Nahrung grundelten. Dann benutzten sie ihren gepanzerten Körper äußerst effektiv als Knüppel und man konnte von Glück reden, wenn man mit ein paar gebrochenen Rippen davon kam.
Er überwand den Graben mit einem Sprung und marschierte zügig weiter. Der Wald lichtete sich zu einer unregelmäßig geformten Fläche, mit hüfthohem Kraut bewachsen und ungeschützt dem Regen ausgesetzt. Donner spaltete den Himmel und vor Groj flatterte ein Schwarm Aasfalter auf, die pergamentartigen Flügel in den Farben verwesenden Fleisches gesprenkelt. Er machte einen großen Bogen um den Kadaver, mit dem sie beschäftigt gewesen waren.
Am Ende der Lichtung kam das Zelt in Sicht. Ein faltiger, schlammgrüner Quader, halb eingebettet in das Laub und die Luftwurzeln des Waldes und umgeben von einem leise knisternden Energiefeld. Es war Noris Wunsch gewesen, hier draußen untergebracht zu werden. Zwar hätte die Quarantäne ihren Zweck ebenso erfüllt, wenn das Zelt in Sichtweite des Lazaretts aufgestellt worden wäre. Doch Nori wollte von den Aktivitäten ihrer Mitarbeiter nichts wissen, solange sie zur Untätigkeit gezwungen war.
Groj schaltete das Feld mithilfe des Controllers an seinem Gürtel aus und schlüpfte durch die enge Schleusenkammer ins Zelt. Drinnen herrschte graugrünes Dämmerlicht. Nori lag auf einer Bahre, von den Knien bis zur Brust von einem durchgeschwitzten Laken bedeckt. Ihr Kopf war stellenweise kahl, Gesicht und Gliedmaßen angeschwollen und von Ekzemen übersät. Ihr Atem ging rasselnd und schwer. Infusionsschläuche wanden sich über ihre gespannte, rissige Haut und mündeten in hervorquellenden Adern, summende und tickende Apparaturen bewachten ihr wächsernes Leben.
»Ich habe dich später erwartet«, flüsterte sie. Ihre Stimme war kaum verständlich im Dauergeräusch des Regens auf dem Zelt. »Hat es einen bestimmten Grund, dass du jetzt schon kommst?«
Groj desinfizierte ihre Armbeuge, fischte die mitgebrachte Ampulle Pyrococcin aus seiner Westentasche und schob behutsam die Injektionsnadel unter Noris Haut.
»Ich hatte einen Besucher«, erklärte er. »Angeblich gehört er zum Stab von Primus Eins. Man erwartet von mir, dass ich den Dienst wieder aufnehme.«
»Aus welchem Grund?«
»Diese Sache ist streng geheim. Du weißt, dass ich dir vertraue. Doch würde ich uns beide nur in Schwierigkeiten bringen.«
Sie gab ein Keuchen von sich, das er als Zustimmung deutete. Er setzte sich zu ihr auf die Bahre und nahm ihre heiße, schwammige Hand in die seine, während die gelbliche Tinktur tröpfchenweise in ihren Arm einsickerte.
»Pass dieses Mal besser auf dich auf«, sagte sie leise. »Es wäre wirklich schade um dich.«
»Sobald ich den Auftrag erledigt habe, komme ich zum Lazarett zurück.«
»Ich hoffe, dass ich dann noch am Leben bin.«
»Du schaffst das, Nori. Du hast nun schon über eine Woche durchgehalten und dein Zustand hat sich nicht verschlimmert. Das ist ein gutes Zeichen.«
»Es gibt eine neue Version von Pyrococcin. Viel wirksamer als diejenige, die wir verwenden. Aber… wegen der Isolation kann es noch eine Ewigkeit dauern. Bis sie nach Daark gelangt.«
»Man kann von Primus Eins halten, was man will«, sagte Groj. »Doch er wird alle Hebel in Bewegung setzen, um das Zeug aufzutreiben.«
»Und dann bekommen es nur die Regulären«, gab Nori zu bedenken. »Dabei benötigen es die Schürfer noch dringender.«
»Primus Eins braucht auch die Schürfer«, erwiderte Groj. »Und eine wirksamere Medizin wäre ein geeignetes Argument, sie wieder an den Verhandlungstisch zu bringen.«
Sie tätschelte kraftlos seinen Arm, lächelte mit ihren matten, olivgrünen Augen. »Du bist ein Optimist. Sogar dann noch, wenn die Welt um dich herum in Trümmern liegt.«
»Noch ist es nicht so weit.«
»Dann lass uns nun über deine Nachfolge reden. Hast du jemand bestimmten im Auge?«
»Ondra«, sagte er. »Sie kennt die Abläufe, sie hat eine angeborene Autorität und sie liebt ihre Arbeit.«
»Sie ist noch sehr jung… aber du hast recht, Ondra hat das Zeug dazu.« Nori stöhnte gedehnt. »Ich bin so erschöpft, Groj. Es wäre schön, wenn du noch eine Weile bleiben könntest… aber bestimmt musst du deine Abreise vorbereiten.«
Im nächsten Moment war sie eingeschlafen. Groj sah nach der Ampulle: sie war leer. Er entfernte sie vorsichtig und warf sie in den Abfallbehälter neben der Bahre.
In der Nacht hatte sich der Regen zu einem mächtigen Gewitter entwickelt, dessen grellviolette Blitzkaskaden die Konturen der Dschungelklippen hart aus der Dunkelheit hervortreten ließen. Groj saß mit Ondra in seinem Büro und besprach mit ihr die Details der Übergabe. Wenn der Donner krachend über das Lazarett hinweg rollte, schwiegen sie, bis es wieder möglich war, sich zu verständigen.
»Du musst den Laden zusammenhalten«, sagte Groj. »Jedem Einzelnen das Gefühl geben, dass er oder sie wichtig ist und einen guten Job macht. Und dafür anerkannt wird.«
Ondra lächelte scheu, das runde, blasse Gesicht leicht gesenkt und das rötliche Haar unnatürlich schimmernd in der kalten, unsteten Beleuchtung.
»Ich werde versuchen, es genauso zu machen wie du«, sagte sie. »Und wie Nori. Wie geht es ihr?«
»Nicht gut«, antwortete Groj. »Aber es könnte schlimmer sein. In drei Tagen braucht sie ihre nächste Injektion. Ihr habt mich immer ohne Schutzanzug zu ihr gehen sehen, aber das solltest du auf keinen Fall tun.«
Ondra sah ihn forschend an. »Du bist ein Phänomen, Groj. Die Keime scheinen dir tatsächlich nichts anhaben zu können. Obwohl du keine Antikörper hast.«
»Vielleicht wurden sie nur noch nicht entdeckt«, meinte er. »Wir gehen davon aus, dass unser Immunsystem hier immer noch genauso funktioniert wie auf der Erde. Aber dies ist eine andere Welt mit anderen Herausforderungen, auf die es neue Antworten finden muss. Vielleicht bin ich nur ein Vorläufer für zukünftige Generationen, die mit dem Leichenfieber und den anderen Krankheiten keine Probleme mehr haben werden.«
Das Licht flackerte und erlosch für einige Sekunden, während draußen Blitze am Himmel knisterten und schwerer Donner das Lazarett erbeben ließ.
»Wir alle werden dich vermissen«, sagte Ondra. »Bitte sei vorsichtig, Groj. Wohin auch immer du gehst.«
»Das werde ich. Da fällt mir ein – der Soldat, der von diesem Jenseitskrieger gesprochen hat. Lebt er noch?«
»Er hält sich gut. Seine Symptome sind wohl zu einem großen Anteil psychischen Ursprungs.«
»Hat er ihn noch einmal erwähnt?«
»Den Jenseitskrieger? Ja, hin und wieder. Warum fragst du?«
»Ich werde mich auf unbekanntes Terrain begeben und möchte wissen, was da draußen los ist. Falls seine Fantasie nicht mit ihm durchgegangen ist, könnten wir es mit einer neuen unbekannten Größe zu tun haben.«
Ondra sah Groj aus großen, erstaunten Augen an. »Du meinst… noch eine weitere Bedrohung? Zusätzlich zu den Kreaturen und dem verrückten Wetter, und zu dem unsinnigen Krieg gegen die Schürfer?«
»Ich möchte dich um etwas bitten«, sagte er. »Dass du darauf achtest, was die Verwundeten reden. Wenn dieser Soldat wirklich etwas derartig Spektakuläres beobachtet hat, könnten auch andere etwas zu berichten haben.«
»Ich werde aufmerksam sein«, versprach Ondra. »Wie kann ich dich informieren, falls ich etwas erfahre?«
»Über mein privates Kom. Falls ich es behalten darf.«
»Du arbeitest wieder für die Regierung?«
»Primus Eins wollte mich. Da gibt es keine Alternative.«
Ein penetrantes Alarmgeräusch ertönte. Ondra und Groj blickten auf ihre Armbandkoms.
»Klassifizierung sieben«, sagte Ondra. »Ein Transporter der regulären Streitkräfte. Erwartest du Besuch, Groj?«
»Ja und nein«, antwortete er.
Sie verließen das Büro und gingen hinüber zum Eingangsbereich, blickten gespannt in die wütende Nacht hinaus. Unweit des Lazaretts schlug eine Serie von Blitzen in den Dschungel ein, mörderisches Krachen ließ die transparente Wand vor ihnen erzittern. Dann zeichneten sich vier verschwommene Lichter am schwarzen, regengepeitschten Himmel ab. Sie bildeten die Ecken eines Quadrats, das sich langsam über die Lichtung herabsenkte. Groj erkannte das schwere Fahrzeug, das unter dem Leib des Quadrokopters an seinen Befestigungstauen schwang: eine Bergkrabbe, wie die Baureihe inoffiziell genannt wurde. Ein unverwüstliches Monstrum, vollständig gepanzert und nahezu jedem Gelände gewachsen. Primus Eins schien tatsächlich ein enormes Interesse an Person X zu hegen.
Grojs Kom gab ein diskretes Piepen von sich: Die Personalisierungsdaten für die Bergkrabbe waren übertragen worden.
»Ich weiß, dass ich nicht danach fragen sollte«, sagte Ondra. »Aber das sieht nach einem militärischen Einsatz aus.«
Er brummte etwas Unverständliches und beobachtete, wie das Fahrzeug auf der Lichtung aufsetzte. Die Befestigungen lösten sich und tanzten im Sturm wie die Tentakel eines verrückten Polypen, während sie rasch eingeholt wurden und die Lichter des Quadrokopters an den Himmel zurückkehrten, wo sie von Regenwirbeln und entfesselten Wolkenfetzen ausgelöscht wurden.
Port Kopernikus war ein annähernd runder Talkessel, den man zum Weltraumbahnhof ausgebaut hatte. Die steilen Bergflanken boten Schutz vor den unberechenbaren Stürmen, die Lücken zwischen ihnen waren durch gigantische Stahlkonstruktionen aufgefüllt worden. Den einzigen Zugang von der künstlich eingeebneten Talsohle aus bot ein hohes, spitzbogenförmiges Tor, vor dem nun eine Doppelreihe von gedrungenen Transportfahrzeugen darauf wartete, ihre Fracht abzuliefern: Tonnen von supralithhaltigem Gestein – jenem Material, ohne das die interstellare Raumfahrt noch in den Kinderschuhen gesteckt hätte.
Supralith war der einzige Grund, warum man Daark noch nicht vollständig von den anderen Kolonien des Mendelson-Kartells isoliert hatte, als nach einem halben Jahrhundert der Goldgräberstimmung die Natur des kaum erschlossenen Planeten begonnen hatte, verrückt zu spielen. Daark, der seinen Namen einem Pionier mit mangelhaften Kenntnissen des Englischen verdankte – einer alten Sprache, die schon lange nicht mehr auf allen Kolonien gesprochen wurde. So war der Versuch, die anhaltende Düsternis unter den dichten, schweren Wolken von Sankt Benedict zum Charakteristikum des ganzen Planeten zu stilisieren, in einen bedrohlich klingenden Fantasienamen gemündet, dem der Planet mit der Zeit immer mehr gerecht geworden war.
Angefangen hatten die Wetterschikanen mit Gewitterstürmen auf dem Großen Plateau, einer monumentalen Erhebung im Süden des einzigen Kontinents, deren zerfurchter Buckel mehr als vierzehn Kilometer über den Meeresspiegel aufragte. Die Stürme hatten sich innerhalb weniger Monate auf den Kontinent ausgeweitet, hatten ganze Siedlungen weggepustet und Unmengen Wasser, Geröll und verhackstückte Wälder regnen lassen. Gleichzeitig hatten groteske Kreaturen, deren Ursprung in den unerforschten Höhlensystemen des Plateaus vermutet wurde, die ohnehin bizarre Fauna des Planeten bereichert. Die unkontrollierbare Ausbreitung aggressiver Viren und Bakterien hatte schließlich zur Rebellion der Schürfer geführt, die in den Minen des Südostens unter schwierigsten Bedingungen das Supralith abbauten. Und es lag am allerwenigsten an Primus Eins, dass ihre Forderungen nicht erfüllt wurden. Als Statthalter im Dienste des Kartells waren seiner Entscheidungsfreiheit enge Grenzen gesetzt.
Groj hatte nach Stunden des Wartens die Landung des Handelsschiffs vom Cockpit der Bergkrabbe aus beobachtet. Wie an einem unsichtbaren Seil hängend hatte der plumpe Riesenleib die anthrazitfarbige Wolkendecke durchstoßen und war so gut wie geräuschlos zwischen den Felsgipfeln von Kopernikus verschwunden. Das war nun bereits eine Weile her, die Nacht war hereingebrochen und Batterien von Scheinwerfern gaben dem immer noch verschlossenen Tor das Aussehen eines überdimensionalen Altars aus blankem Metall.
Die Kommunikation zwischen Port Kopernikus und dem planetaren Frühwarndienst erfüllte das vom kalten Schein der Armaturen und Monitore beleuchtete Cockpit: Ein Sturm, der sich von der Westflanke des Plateaus gelöst hatte und eine mächtige Regenwalze auf Kap Lucien zutrieb. Ein weiterer Sturm an der Grenze zur Stratosphäre, der eine Schicht Gesteinsschutt mit sich führte. Die Sichtung einer unbekannten Kreatur in der Nähe von Alvarez. Ein verschollener Lebensmittelkonvoi im Bezirk Löwenberge…
»Hier Koordinationsstelle Kopernikus. Zarathustra sieben-Strich-einundzwanzig, seid ihr auf Empfang?«
Das war die offizielle Kennung der Bergkrabbe. Groj beugte sich in seinem Sessel vor und bestätigte die Verbindung.
»Hier Zarathustra sieben-Strich-einundzwanzig. Kontakt klar und deutlich.«
»Ihr könnt eure Besucherin jetzt am Tor in Empfang nehmen.«
»Verstanden, Kopernikus. Ich bin unterwegs.«
Groj unterbrach den Kontakt und musste unwillkürlich lächeln. Person X war eine Frau? Vor seinem Aufbruch hatte er seine Mähne auf militärisch getrimmt und seinen fusseligen Bart abrasiert. Aus rein hygenienischen Gründen, aber amüsant fand er das irgendwie schon.
Er wollte gerade die Krabbe starten, als ein durchdringender Sirenenton die Öffnung des Tors ankündigte. Die Transportfahrzeuge setzten sich in Bewegung, scherten aus ihren Parkpositionen aus und verstopften die Gasse, die Groj hatte benutzen wollen.
Er schlüpfte in seine Jacke und fuhr die Leiter am Einstiegsluk aus. Eine kräftige Windbö zerrte an ihm und schleuderte lauwarmen Regen in sein Gesicht. Hinter den Bergen von Port Kopernikus zuckten die ersten Blitze als Vorboten des heran nahenden Gewitters.
Groj marschierte zwischen den Reihen der langsam dahinrollenden Metallkolosse auf das Tor zu. Auf halbem Weg kam ihm eine Gestalt in einem flatternden, dunklen Cape entgegen. Sie hatte eine Kapuze über den vorgebeugten Kopf gezogen, an ihrer Schulter hing ein sackförmiges Gepäckstück.
Die Gestalt blieb ruckartig vor ihm stehen. Sie war fast genauso groß wie er, jedoch von eher zierlichem Körperbau.
Sie hob den Kopf und Groj sah in ein blasses, streng geometrisch geschnittenes Gesicht, auf dem nasse, schwarze Haarsträhnen klebten. Der starre Blick ihrer großen, dunklen Augen wirkte neugierig und herausfordernd zugleich, schien ihn regelrecht durchleuchten zu wollen.
»Bist du mein Partner?«
Er brauchte einen Moment, um seine Verblüffung zu überwinden. Person X sah nicht aus wie eine Agentin, die in geheimem Auftrag zwischen den Sternen unterwegs war. Ihre kalte, sterile Schönheit hätte mehr zu einem dieser chirurgisch optimierten Retortenstars gepasst, die er in seiner Kindheit bewundert hatte. aarHaaHHHHH´
»Mein Name ist Terval Grojin’nan und…«
»Ich weiß«, unterbrach sie ihn und wies mit dem Kinn in Richtung der Krabbe. »Ist dies unser Fahrzeug?«
»Ja, ist es«, antwortete er. »Eine Flugmaschine wäre sicher praktischer. Aber das ist, was sie mir geschickt haben.«
»Ich habe es angefordert«, erwiderte sie. »Weil es nicht so stark vom Wetter abhängig ist. Und weil ich während der Fahrt Eindrücke sammeln kann.«
Sie ging an ihm vorbei und streifte ihn mit ihrem Gepäckstück. Er fand ihr Verhalten anmaßend, schluckte seinen Ärger jedoch hinunter und folgte ihr.
Sein Blick fiel auf ihre nackten Füße – für eine Sekunde glaubte er, seine Augen würden ihm einen Streich spielen.
»Du solltest hier auf keinen Fall barfuß laufen«, sagte er. »Die Mikrofauna ist extrem angriffslustig. Die kleinen Biester fressen sich durch die Fußsohlen bis hinauf in die Leber. Und von dort aus weiter zum Gehirn.«
»Deine Bedenken sind unbegründet«, entgegnete sie kühl. »Ich bin gegen Erreger immun, die man erst in Jahrtausenden entdecken wird.«
»Wie kommt das? Genetische Manipulation?«
»Es steht dir nicht zu, solche Fragen zu stellen.«
Groj war klar, dass er Tage, möglicherweise Wochen mit dieser abweisenden, reservierten Person verbringen würde. Auch wenn er sich dazu überwinden musste, unternahm er einen erneuten Versuch, seinen guten Willen zu demonstrieren.
Er holte zu ihr auf und deutete auf ihr Gepäck. »Das sieht schwer aus. Lass mich das tragen.«
Sie warf ihm unter ihrer Kapuze hervor einen Blick zu, in dem er einen Funken Ironie zu erkennen glaubte. »Es ist überhaupt nicht schwer. Aber wenn du darauf bestehst…«
Sie ließ den Tragegurt lässig von ihrer Schulter rutschen und reichte Groj ihr Gepäckstück. Es war so schwer, dass es ihm um ein Haar aus den Händen geglitten wäre.
»Was ist da drin?«, fragte er. »Steine?«
»Natürlich nicht.«
In Erwartung einer Erklärung sah er sie skeptisch an. Sie erwiderte seinen Blick. Lidschlaglos wie ein Reptil.
»Ich bin, was du denkst«, sagte sie. »Hast du ein Problem damit?«
»Nein, absolut nicht«, erwiderte er. »Es ist nur… neu für mich.«
Sie gingen weiter auf die Bergkrabbe zu. Die Transporter links und rechts von ihnen rückten meterweise vor. Wetterleuchten geisterte über den Gipfeln von Port Kopernikus.
»Man hat mich Yeejhza genannt«, sagte sie. »Ich bin ein Prototyp.«
»Hybrid?«, fragte Groj. »Oder rein kybernetisch?«
»Zu hundert Prozent biologisch.«
Sie lief ein paar Meter voraus, breitete die Arme aus und drehte sich mit wehendem Cape einmal um ihre eigene Achse.
»Weißt du, was mich gerade so glücklich macht?«, rief sie. »Der Regen! Der Schlamm zwischen meinen Zehen… das ist so elementar! Ich wurde in einer völlig sterilen Umgebung erschaffen. Doch unter Bedingungen wie diesen fühle ich mich lebendig.«
Nicht nur abweisend und reserviert, dachte Groj. Sondern auch spleenig und egozentrisch.
Yeejhza atmete tief ein und seufzte inbrünstig. »Diese Luft! So dick, so schwer, so feucht. Das Gewitter, das sich über uns zusammenbraut! Ich kann seine Energie bis in die Zehenspitzen fühlen.«
»Daark ist alles andere als ein Paradies«, bemerkte er.
Ihr euphorischer Gesichtsausdruck löste sich auf. »Das ist mir bewusst«, sagte sie mit nüchterner, emotionsloser Miene. »Wobei ich nicht auf dem neuesten Stand bin, was meine Informationen über Daark betrifft. Zu viele Veränderungen in letzter Zeit.«
Sie setzte ihren Weg fort, Groj trottete ihr nach. »Die machen uns allen hier schwer zu schaffen«, sagte er.
»Eure Probleme interessieren mich nicht«, erwiderte sie. »Es sei denn, sie überschneiden sich mit meinen eigenen Anliegen.«
Sie erreichten die Bergkrabbe. Groj stieg die Leiter hinauf, stellte das Gepäckstück ab und streckte die Hand aus, um Yeejhza behilflich zu sein. Sie ging leicht in die Knie und erhob sich mit einem eleganten Sprung in die Luft. Im nächsten Moment stand sie dicht an seiner Seite in dem schmalen Einstiegsluk.
»Ich bin beeindruckt«, murmelte er.
»Manchmal bin ich selbst überrascht von den Fähigkeiten, die sie mir verliehen haben.« Sie schob die Kapuze in den Nacken und fixierte ihn abwägend. »Vielleicht bin ich auch ein ziemlich guter Fick, wer weiß?«
Er wich zur Seite, um sie durchzulassen, und folgte ihr ins Innere der Krabbe. Sie wandte sich nach links, wo es zur Mannschaftskabine und zum Sanitärbereich ging. Anscheinend war sie über den Aufbau der Krabbe bestens informiert.
»Lass uns etwas klarstellen«, sagte er. »Primus Eins hat mich beauftragt, dir zu assistieren und dich zu unterstützen. Wir werden eine reine Arbeitsbeziehung führen. Ich gehe davon aus, dass dies auch in deinem Sinne ist.«
Yeejhza legte das Cape ab. Darunter trug sie eine eng anliegende, silbrig-grau schimmernde Montur, die sie nun mit abgezirkelten Handgriffen öffnete.
»Gut, dass du darauf zu sprechen kommst. Denn eines solltest du wissen: Ich bin geradezu süchtig nach Erfahrungen, die meine Menschlichkeit fördern können. Daher neige ich dazu, diese Art von Erfahrungen zu provozieren.«
»Du bist arrogant und selbstbezogen«, entgegnete er. »Wie menschlich willst du noch werden?«
Yeejhza stand vor ihm, nackt und ästhetisch perfekt wie Fleisch gewordenes Porzellan. Sie hatte flache Brüste und schmale Hüften, was sie auf Groj geradezu zerbrechlich wirken ließ. Er konnte keine Merkmale an ihr feststellen, die auf überlegene körperliche Eigenschaften hinwiesen. Keine Muskelpakete, keine hervor tretenden Sehnen, nichts.
»Eineinhalb Standardjahre«, sagte sie und fuhr mit den Händen an ihren Flanken hinab. »So lange existiere ich in dieser Form. Ich habe Empfindungen, die ich nicht einordnen kann, solange sie nicht durch reale Erfahrungen abgeglichen werden. Deshalb brauche ich jemanden in meiner Nähe, der einen regulierenden Einfluss auf mich ausübt.«
»Einen Tugendwächter?«, fragte er.
»Jemand, auf dessen Entscheidungen und Urteilskraft ich mich verlassen kann. Der mich vor Dummheiten bewahrt, wenn ich von unbewussten Impulsen geleitet werde.«
»Einverstanden«, sagte Groj nach kurzem Zögern.
Ein vorsichtiges Lächeln spielte um Yeejhzas blassrosa Lippen. »Und jetzt brauche ich dringend eine Dusche. Auf dem Schiff waren sie extrem knausrig mit dem Wasser.«
Groj wendete die Krabbe und fuhr durch das Tal zurück. Nach etlichen Kilometern verengte sich das Tal zu einer Schlucht mit überhängenden, von dichter Vegetation überwucherten Felswänden, von denen nun Wasser herabstürzte – das Gewitter war inzwischen angekommen und brachte Regen, Blitz und Donner mit.
Yeejhza betrat das Cockpit und ließ sich in den Sessel neben seinem gleiten. Sie trug wieder ihre enge Montur und Stiefel aus dem gleichen silbrig-grauem Material.
»Du hast dir deinen Job anders vorgestellt«, behauptete sie und sah ihn aufmerksam von der Seite an.
»Stimmt«, sagte Groj, auf die Kontrollanzeigen vor ihm konzentriert. »Aber ich halte mich an meine Anweisungen.«
»Liegt es daran, dass ich…?«
»Darüber werde ich nicht mit dir reden.«
Yeejhza ließ sich tiefer in ihren Sitz rutschen. »Ich bin so, wie man mich gemacht hat«, sagte sie leise. »Aber auch normale Menschen werden irgendwie gemacht. Sie tragen die Gene ihrer Vorfahren in sich. Meine Gene sind ein wissenschaftliches Konstrukt, doch sie beruhen ebenfalls auf den Genen realer Menschen. Ich bin kein durch und durch künstliches Wesen.«
»Dann benimm dich auch nicht wie eines«, brummte er.
Sein gutmütiger Tonfall schien ihr zu entgehen. »Du hast nicht das Recht, mich zu kritisieren«, erwiderte sie schroff. »Niemand hat das.«
Groj ließ den Satz im Raum stehen und glaubte zu spüren, dass sich ihre Anspannung legte. Er wartete, bis eine Walze aus rumpelndem Donner über die Schlucht hinweg gerollt war, ehe er das Wort an seine schweigende Begleiterin richtete.
»Sprechen wir über meine Arbeit«, sagte er. »Was ist unser Ziel?«
»Grünhausen«, antwortete sie. »Eine Bergbausiedlung im Bezirk Lavendel.«
»Eine ungemütliche Ecke. Liegt direkt am Westhang des Plateaus, nahe beim Schürfer-Territorium. Der Weg dorthin ist mit Schwierigkeiten gepflastert.«
»Du kennst dich dort aus, hast längere Zeit in dieser Region verbracht. Dies ist nur einer der Gründe, warum ich dich ausgesucht habe.«
»Du hast mich ausgesucht?« Er sah sie überrascht an. »Wie das?«
»Ich habe Zugriff auf eine Fülle an Informationen«, sagte Yeejhza. »Auch solche, die dich betreffen. Ich bat Primus Eins darum, dich mir zuzuteilen, und er hat meinem Wunsch entsprochen.«
Groj wusste nicht, was er davon halten sollte, und beließ es bei einem behäbigen Nicken.
»Und woraus besteht nun deine Mission?«
»Ich bin nicht die einzige meiner Art«, erklärte sie. »Ich habe eine Zwillingsschwester. Ihr Name ist Aldinjha. Meinen Schöpfern erschien es zu riskant, mich wie ursprünglich vorgesehen mit meinem vollen Potenzial auszustatten. Also haben sie es auf zwei Exemplare verteilt. Aldinjha scheint man den rebellischen Anteil unserer Persönlichkeit übertragen zu haben. Sie ist aggressiver als ich, hat sich schneller entwickelt und ist schon nach wenigen Monaten aus dem Institut geflohen. Ihre Spur führt hierher, nach Daark.«
Groj runzelte die Stirn. »Du suchst nach deiner Schwester?«
»Was findest du daran merkwürdig?«
»Nichts, aber… welches Interesse könnte Primus Eins daran haben, dass ihr beide wieder zusammenkommt?«
»Ich habe ihm in Aussicht gestellt, dass wir ihn im Krieg gegen die Schürfer unterstützen.«
Groj bedauerte, dass er gefragt hatte. Der Krieg, was sonst auch. Alles drehte sich mit jedem Tag mehr um den Krieg. Über die Ursachen des Aufstands wurde kaum mehr gesprochen.
»Ich weiß, dass du diesen Krieg ablehnst«, sagte Yeejhza. »Doch es gehen Dinge vor sich, hier, auf diesem Planeten. Dinge, die größer sind als das, was euch aufeinander einschlagen lässt. Aldinjha ist nicht ohne Grund nach Daark gekommen. Sie hat ein feines Gespür für zukünftige Entwicklungen.«
»Welche Entwicklungen?«, fragte er.
»Es ist zu früh, um darüber zu sprechen.«
Er blickte schweigend durch den frontalen Fensterschlitz auf die überschwemmte Straße. Wich einem Wasserfall aus, der sich von den Steilhängen herab ergoss und loses Gestein mit sich führte, das auf der Straße zersplitterte. Ein Netzwerk von grellen Blitzen verwandelte die ohnehin bizarre Landschaft in eine bedrohliche Kulisse aus hart gemeißelten Kontrasten.
Statisches Rauschen mischte sich unter das Dauergeräusch des Regens: Die Kommunikationsfilter hatten eine Durchsage des Frühwarndienstes als relevant beurteilt.
»Warnhinweis für die Bezirke Rosendahl, Morgentau und Paramount«, durchdrang eine nüchterne, um Deutlichkeit bemühte Stimme das Knistern der Störungen. »Gewitterfront von Nordosten trifft auf troposphärische Gesteinswolke aus Süden. Ihr ergreift die üblichen Sicherheitsmaßnahmen und haltet euch bedeckt, wir halten euch auf dem Laufenden.«
Yeejhza blickte Groj an, sie wirkte beunruhigt.
»Betrifft uns das?«
»Kopernikus liegt in Rosendahl, das Lazarett in Paramount«, sagte er. »Wir sind sozusagen mittendrin.«
»Dann wird es…« Sie blinzelte irritiert. »Es wird Steine regnen?“
Er genoss für einen Moment ihre Verunsicherung und ärgerte sich gleichzeitig über seine Reaktion. »Nicht flächendeckend“, antwortete er. »Aber wir sollten einen Unterstand aufsuchen. Der nächste ist nur wenige Kilometer von hier.«
»Und dann?«
»Warten wir, bis das Chaos vorbei ist.«
»Du bist sehr umsichtig“, sagte sie. »Ich habe wirklich die richtige Wahl getroffen.«
Er warf ihr einen scharfen Blick zu. »Was das betrifft, bist du mir eine Erklärung schuldig.«
»Ich bin dir rein gar nichts schuldig«, entgegnete sie spröde.
Der Unterstand befand sich nahe der Kreuzung, an der die Straße nach Port Kopernikus auf die Verbindung zwischen Morgentau und Paramount traf. Eine Nische, aus einer senkrechten Felswand gefräst. Drei Fahrzeuge hatten dort bereits Schutz gesucht: ein Schwertransport und zwei geländegängige Kleinbusse, die vermutlich zu den Casinos und Bars von Morgentau unterwegs waren. Dieser Bezirk, arm an Bodenschätzen, lockte mit einem breiten Angebot an Vergnügungen, das auch von Siedlern aus weiter entfernten Regionen angenommen wurde. Groj hatte sich einmal dort umgesehen, aber das war lange her und er hatte nicht den Wunsch verspürt, seinen Besuch zu wiederholen.
Er stellte die Krabbe hinter dem zweiten Kleinbus ab und fuhr die Systeme herunter. »Du kannst dich jetzt ausruhen«, sagte er zu Yeejhza. »Wir werden hier für einige Stunden festsitzen.«
»Ich muss mich nicht ausruhen«, erwiderte sie. »Außerdem sind da draußen Menschen. Einheimische. Ich möchte mit ihnen reden.«
Groj warf ihr einen überraschten Blick zu. »Ich glaube kaum, dass sie etwas über den Verbleib deiner Zwillingsschwester wissen.«
Sie musterte ihn lidschlaglos. »Du verstehst gar nichts«, sagte sie dann und stand von ihrem Sitz auf.
Er hörte, wie sie das Luk entriegelte und das Geräusch des Regensturms von draußen herein drang. Mit einem Gefühl von Ratlosigkeit ging er hinunter in die Mannschaftskabine und holte eine Dose Bier aus dem Kühlfach. Zurück im Cockpit, legte er die Füße auf das Armaturenbrett und schaltete den Kanal des Frühwarndienstes auf Dauersendung.
Die Steine regneten im Niemandsland des nordwestlichen Paramount-Bezirks ab – hunderte Kilometer vom Lazarett entfernt, das war schon mal eine gute Nachricht. Im Süden von Rosendahl war mit Überschwemmungen und Erdrutschen zu rechnen. Das Auftauchen der Kreatur im Bezirk Alvarez hatte den Angriff einer Schürfer-Truppe auf ein Waffendepot der Regulären ins Stocken gebracht…
Diese Kreaturen, dachte Groj. Wo waren die auf einmal hergekommen? Aus dem labyrinthischen Höhlensystem des Plateaus, hieß es. Das war eine einleuchtende Erklärung, doch was hatte die Biester aufgeweckt, nachdem man Jahrzehnte lang keines zu Gesicht bekommen hatte?
Er überlegte, ob er Ondra anrufen sollte. Oder Nori? Und entschied sich, es nicht zu tun. Bestimmt hatten sie sich damit abgefunden, dass sie ihn nie wieder sehen würden. Dass er im Bauch von Primus Eins’ Geheimdienst abgetaucht war und für den Rest der Menschheit aufgehört hatte zu existieren.
Groj nuckelte an der Bierdose, er hatte schon besseres Bier getrunken. Aber nicht auf Daark. Als es ihn auf der Suche nach einer neuen Perspektive hierher verschlagen hatte, war er bereits ein Veteran gewesen, was das Springen von Kolonie zu Kolonie betraf. Geboren auf einem der schwerfälligen Auswandererschiffe, die noch vor der Entdeckung von Supralith gebaut worden waren und die mehrere Jahre von einem Sonnensystem zum nächsten gebraucht hatten, war er im Laufe seines Lebens nicht nur mit interessanten Frauen und skurrilen Jobs in Berührung gekommen, sondern auch mit verdammt gutem Bier…
Doch nichts, aber auch rein gar nichts, war früher besser gewesen. Die Vergangenheit war für ihn eine Aneinanderreihung von Bildern und Eindrücken, die keine Emotionen bei ihm auslösten. Erst auf Daark hatte er angefangen, sich verwurzelt zu fühlen – in seiner Umgebung genauso wie in sich selbst. Hier war zum ersten Mal die Ahnung in ihm aufgekeimt, dass seine Zeit erst noch kommen würde. Dass das Beste noch vor ihm lag.
Auch wenn Daark vielleicht der letzte Ort im Universum war, von dem man eine bessere Zukunft erwarten konnte.
Das Luk machte Geräusche, ließ Donner und Regen ein. Groj wandte sich im Fahrersitz um und sah Yeejhza eintreten. Gefolgt von einem unscheinbaren blonden Kerl in den Zwanzigern, gekleidet in einen olivgrünen Overall von der Stange.
»Das ist Jared«, sagte Yeejhza. »Ich möchte, dass du ihm zuhörst.“
Groj schwenkte mit dem Sessel herum und unterzog Jared einer eingehenden Musterung. Dem jungen Mann war nicht wohl in seiner Haut, er wirkte eingeschüchtert und sein Blick irrte ziellos über die imposante Ansammlung von Technologie im Cockpit der Bergkrabbe.
»Jared also«, sagte Groj. »Und was hast du mir mitzuteilen?«
»Wahrscheinlich ist es nicht wichtig«, begann Jared mit belegter Stimme. »Ich sag jetzt einfach mal, was ich der Dame schon gesagt habe, okay?«
Yeejhza strich ihm sanft über den Rücken. »Genau deswegen bist du hier. Das ist Terval Grojin’nan, mein Projektleiter. Erzähle ihm, was du mir erzählt hast.«
Projektleiter? Groj warf ihr einen missbilligenden Blick zu, ihr Porzellangesicht zeigte keine Reaktion.
»Es ist so…«, fuhr Jared fort, »ich bin Ranger im Bezirk Nordende. Mein Job ist, mich im Dschungel umzusehen. Auf Veränderungen zu achten. Neue Spezies registrieren, verirrte Waldarbeiter zurückholen und so weiter. Vor zwei Wochen ungefähr ist mir eine Felsformation aufgefallen, die vorher nicht da gewesen ist. Als wäre sie gerade erst aus dem Boden hervor gekommen… und sie ist gewachsen. Ich bin noch ein paarmal hingegangen, habe jedes Mal ein paar Stunden dort verbracht. Und dann habe ich bemerkt…«
Jared zögerte. Yeejhza nickte ihm wohlwollend zu. Groj räusperte sich.
»Was hast du bemerkt, Jared?«
»Es atmet«, antwortete der junge Mann. »Es dehnt sich aus, dann zieht es sich wieder zusammen. Etwa alle fünf Minuten. Ich hab’s nicht gemeldet, weil… weil ich mich nicht lächerlich machen wollte. Ein Felsen, der atmet… so etwas gibt es doch nicht, oder?«
Groj wusste nicht, was er davon halten sollte. Die Natur von Daark steckte voller grotesker Überraschungen, ein atmender Fels erschien ihm nicht außergewöhnlich. Warum war Yeejhza diese Information, die ganz offensichtlich nichts mit ihrer Mission zu tun hatte, so wichtig?
»Und weiter?«, fragte er.
Jared zuckte mit den Achseln. »Das war’s schon. Ich hab’s der Dame auch nur erzählt, weil… weil sie…«
Weil sie dich um den Finger gewickelt hat, dachte Groj. »Schon gut«, sagte er, »du kannst jetzt wieder zu deinen Leuten zurück.«
Der junge Mann gab ein erleichtertes Seufzen von sich und wandte sich um, schlüpfte durch das Luk ins regenfeuchte Draußen.
»Ich versteh’s nicht«, sagte Groj zu Yeejhza. »Er hat etwas Merkwürdiges beobachtet. Na und? Verbringe ein paar Tage im Dschungel und du wirst so viel Merkwürdiges zu Gesicht bekommen, dass du ein Buch darüber schreiben kannst. Mehrere Bücher.«
Yeejhza setzte sich neben ihn. »Du verstehst das nicht«, sagte sie. »Noch nicht. Aber ich spüre, dass zwischen dem atmenden Felsen und Aldinjha eine Verbindung besteht.«
»Eine rein intuitive Annahme also.«
»Es klingt so abwertend, wie du das aussprichst. Wenn du mehr über mich wüsstest, würdest du anders denken.«
»Dann weihe mich ein in deine Geheimnisse«, entgegnete er mit mildem Spott. »Bei mir sind sie gut aufgehoben.«
»Das ist einfacher, als du denkst.«
Yeejhza griff an ihre Hüfte, wo sich eine Tasche bildete, die vorher nicht da gewesen war. Sie zog einen kleinen metallischen Zylinder heraus, den sie vorsichtig öffnete. Ließ eine winzige graue Kapsel auf ihre Handfläche kullern und hielt sie ihm hin.
»Was ist das?«, fragte er.
»Ich habe Zugriff auf eine nahezu unbegrenzte Informationsquelle«, erklärte sie. »Das wurde von meinen Schöpfern so eingerichtet. Wenn du diese Kapsel schluckst, wird sie ein Nanogitter in deinem Nervensystem bilden und einen permanenten Kontakt zu mir herstellen. Mit dem Effekt, dass du auch mit meiner Informationsquelle verbunden sein wirst.«
»Geht es dir nicht eher darum, mich ständig unter Kontrolle zu haben?«, entgegnete er.
»Es hat rein pragmatische Gründe. Wir könnten einander finden, falls wir, aus welchen Gründen auch immer, getrennt werden sollten.«
»Das ist alles?«
»Du hättest über mich indirekten Zugang zu meiner Informationsquelle“, fuhr sie fort. »Allerdings müsste sich dein Nervensystem erst daran gewöhnen. Aber dann könnte sich diese Verbindung als extrem hilfreich erweisen.«
»Erzähle mir von deiner Informationsquelle«, sagte er.
»Später, Groj. Ich befinde mich noch in einer Orientierungsphase. Über vieles muss ich mir selbst erst klar werden, bevor ich dich vollständig einbeziehen kann.«
»Verstehe«, murmelte er, obwohl er gerade rein gar nichts verstand.
Yeejhza steckte die Kapsel in den Zylinder und verschloss ihn, wollte ihn wieder in ihre Montur zurückstecken.
Groj hielt ihr seine Hand hin. »Kann ich es haben?“
Sie blickte ihn überrascht an. »Ja… natürlich.«
»Falls ich mich doch dafür entscheide«, sagte er, »möchte ich es sofort tun, bevor ich es mir wieder anders überlege.«
Sie reichte ihm den kleinen Gegenstand, er schob ihn in eine seiner Jackentaschen.
»Wie viele Leute hast so eine Pille bereits schlucken lassen?«, fragte er.
»Niemanden«, antwortete sie. »Es ist bis jetzt die Einzige ihrer Art. Ich habe sie selbst entwickelt, auf der Basis meiner eigenen Funktionsweise. In einem kleinen Privatlabor im Outlander-Archipel.«
Yeejhza richtete sich auf und stand einen Moment lang zögernd da, als wollte sie noch etwas sagen. Groj glaubte, eine hauchdünne Aura von Verlorenheit bei ihr wahrzunehmen, doch dann verhärteten sich ihre Gesichtszüge und sie sah ihn ausdruckslos an.
»Ich werde jetzt schlafen«, erklärte sie und machte sich auf den Weg nach hinten zur Mannschaftskabine. »Du darfst mich wecken, wenn du mich brauchst.«
Groj betastete den kleinen Zylinder in seiner Tasche und spielte mit dem Gedanken, die graue Kapsel sofort zu schlucken. Würde sich seine Beziehung zu Yeejhza dadurch verändern? Würde sich ihre Verständigung vereinfachen oder komplizierter werden? Würde das Nanogitter in seinem Organismus noch etwas anderes übertragen als pure Information? Emotionen zum Beispiel? Erotische Schwingungen…?
Ihm wurde bewusst, welche Anziehungskraft Yeejhza auf ihn ausübte. Aber er durfte dieser Kraft nicht nachgeben. Yeejhza war ein künstliches Lebewesen und ihre Persönlichkeit schien sich gerade erst zu entfalten. Sie gab sich elitär und unnahbar, doch wenn sie es für angebracht hielt, zeigte sie sich von einer weicheren, einfühlsamen Seite. Als würde sie verschiedene Tasten der emotionalen Klaviatur drücken, um die Resonanz der Klänge, die sie ihr entlockte, zu erforschen.
Wie war sie auf ihn aufmerksam geworden? Und auf Grund welcher Kriterien hatte sie ihn ausgesucht? Lag es an seinem unbestechlichen Charakter, an seiner militärischen Erfahrung, oder an seiner altruistischen Einstellung? Fragen, die sie ganz bestimmt nicht beantworten würde.
Widerstrebend ließ er den kleinen Zylinder los und zog die Hand aus der Tasche.
Das Unwetter hatte sich abgeschwächt. Groj steuerte die Krabbe aus dem Unterstand hervor und nahm die Route nach Paramount. Auf den folgenden vierzig Kilometern bis zur Abzweigung in Richtung Nordende begegnete ihm kein einziges Fahrzeug. Die Straße, kerzengerade in den Dschungel geschnitten, überwand sanfte Hügelketten und schwindelerregend tiefe Schluchten, in denen smaragdgrünes Wasser schäumte. Aus der abgeschirmten Welt des Cockpits betrachtet, hatte die Landschaft durchaus ihren Reiz.
Als der Regen allmählich nachließ und die Wolkendecke hier und dort aufriss, um spärliche Bündel von Sonnenstrahlen durchzulassen, fuhr er in eine der Ausbuchtungen, die in regelmäßigen Abständen am Straßenrand angelegt waren, um das Passieren von besonders breiten Schwertransporten zu ermöglichen. Unter einem alten, mächtigen Krakenbaum, dessen tentakelförmiges Geäst einen halbrunden Baldachin formte, schaltete er den Antrieb auf Standby und neigte den Fahrersessel nach hinten, lehnte sich zurück und schloss die Augen.
Seit einiger Zeit fiel es ihm manchmal schwer, einzuschlafen. Dann spielten sich schattenhafte, hektische Bildsequenzen vor seinem inneren Auge ab und ließen Gefühle von Panik und Verzweiflung in ihm aufsteigen. Eine Erklärung dafür hatte er nicht. Mit den Erlebnissen während seiner Kampfeinsätze hatte er sich eingehend beschäftigt, seelische Hygiene war Teil seiner täglichen Routine gewesen. Selbst der Absturz mit anschließendem Überlebenskampf im Dschungel hatte ihn innerlich eher gestärkt. Was wollte da immer wieder hochkommen?
Er war gerade eingenickt, als ihn ein hartes Knattern auf der Panzerung der Bergkrabbe hochfahren ließ. Zuerst dachte er an eine Steinwolke – einen Nachzügler des Unwetters, das weiter nördlich abgeregnet hatte. Doch es waren Lufthummer, über ein Dutzend allein auf der Frontpartie vor dem Cockpit. Wahrscheinlich von der Wärme des Fahrzeugs angelockt, hatten sie sich aus dem Baum fallen lassen und versuchten jetzt, mit ihren Kieferzangen Stücke aus der Karosserie zu schneiden. Das stellte zwar keine Bedrohung dar, auch nicht für die außen angebrachte Elektronik, aber merkwürdig war es schon – Lufthummer waren so gut wie nie auf dem Boden anzutreffen. Und wenn einer mal von seinem Baum fiel, machte er schleunigst, dass er wieder hinaufkam.
Vielleicht eine regionale Verhaltensweise? Die Natur von Daark war weitgehend unerforscht, systematisch aufgezeichnetes Wissen existierte nicht. Nur ein Sammelsurium aus Beobachtungen, weitgehend subjektiven Erfahrungen und Legenden.
Groj spürte Yeejhzas Nähe, bevor sie ins Cockpit kam und hinter seinen Sitz trat.
»Sind das Lufthummer?«, fragte sie.
»Eine ganze Luftlandedivision«, sagte er.
»Sie sehen abstoßend aus. Sind sie wenigstens essbar?«
Er begriff, dass sie einen Witz machen wollte. »Wir hatten ein paar Hinterwäldler im Lazarett«, antwortete er. »Die haben es versucht. Bis auf einen sind alle gestorben.«
Ein Alarmsignal trötete los, eine Reihe Monitore schaltete sich ein. Fast gleichzeitig prallte etwas mit dumpfer Wucht gegen die Krabbe, der Ruck ging durch das viele Tonnen schwere Gefährt. Eine dunkle Masse wischte über die Frontpartie hinweg. Und sämtliche Lufthummer waren verschwunden.
Yeejhza hatte ihre Finger in Grojs Schultern gekrallt. Das wurde ihm erst bewusst, als sie ihren Griff wieder lockerte.
»Anscheinend… sind sie doch… essbar“, sagte sie stockend.
Er grunzte, halbwegs amüsiert, und rief die Protokollfunktionen auf, die sich bei einem Alarm automatisch aktivierten.
»Bildschirm vier«, flüsterte Yeejhza. »Da kommt es.«
»Ich kann nichts erkennen«, sagte er.
Sie beugte sich über ihn und gab flink einen Tastaturbefehl ein. Dieselbe Einstellung, sie zeigte den gegenüberliegenden Straßenrand mit dem dahinter aufragenden Wall aus Vegetation. Ein verschwommenes, graues Schemen fegte übers Bild, durch die Andeutungen wirbelnder Gliedmaßen gerade noch als gestalthaft zu erkennen.
Groj fröstelte. »Es ist riesig. Und sehr, sehr schnell«
»Es ist gesprungen«, sagte Yeejhza. »Die Bilderfassung reicht aus dieser Perspektive etwa dreißig Meter weit. Und sie hat nur einen Teil des Sprungs erfasst.«
»Hier werden wir jedenfalls nicht bleiben.«
Er startete den Antrieb, das sanfte Rütteln der Maschine gab ihm ein Gefühl von Sicherheit. Yeejhza setzte sich neben ihn, musterte ihn aufmerksam.
»Ich sollte fahren«, sagte sie schließlich.
»Wieso das?«
»Die Situation erfordert ein schnelles Reaktionsvermögen und absolute Präsenz«, erklärte sie. »Ich befinde mich in optimaler Verfassung, während du bist müde und angespannt bist.«
»Du hast keine Ahnung von der Funktionsweise der Krabbe«, wandte er ein.
Yeejhza tippte mit dem Zeigefinger an ihre weiße Stirn. »Alles hier drin. Ich könnte auch die Reifen wechseln, ohne die Bedienungsanleitung zu lesen. Vertraue mir, es ist besser so.«
Ich muss verrückt sein, dachte er, als er die Steuerung auf ihre Seite hinüber schob. Dann sah er, wie souverän, beinahe spielerisch sie die Bedienfunktionen aufrief. Sie steuerte die Krabbe mit Schwung auf die Straße zurück und beschleunigte maßvoll, aber durchaus zügig.
Groj stellte den Kontakt zum Frühwarndienst her.
»Zarathustra sieben-Strich-einundzwanzig an Leitstelle«, sagte er. »Wir befinden uns im Bezirk Nordende, auf der Verbindungsstraße von Paramount Nordwest nach…“ Ein kurzer Blick auf das Display der virtuellen Landkarte. »Ungefähr einhundertdreißig Kilometer vor einem Ort namens Schwarzwind. Wir hatten soeben eine Kollision mit einer unbekannten Kreatur. Groß, extrem beweglich und aggressiv.«
»Danke für die Information, Zarathustra«, erwiderte eine raue, tiefe Frauenstimme. »Ist euer Fahrzeug intakt?«
»Wir haben es noch nicht inspiziert. Im Moment sind wir sozusagen auf der Flucht.«
»Wir geben eure Warnung weiter und lassen den Straßenabschnitt sperren. Fahrt bis Schwarzwind, die dortige Behörde wird von uns informiert und vorsorglich einen Rettungstrupp für euch zusammenstellen.«
Was hoffentlich nicht nötig sein wird, dachte Groj und unterbrach die Verbindung.
»Monitor drei«, sagte Yeejhza. »Hinter uns.«
Monitor drei zeigte das helle Band der Straße in ihrem Urwaldkorsett. Und mitten auf der Straße kauerte etwas, das aussah wie ein kopfloser Affe mit dicht an den Körper gedrückten Spinnenbeinen, die spitzen Gelenke aufragend wie gotische Türmchen am Schiff einer Kathedrale.
»Scheiße«, brummte Groj. »Das Ding macht sich bereit zum Sprung.«
Er zog das Tablet für die Bedienung des Waffensystems heran und ließ die Granatwerfer ausfahren. Die Software fokussierte das Biest. Groj hatte den Daumen auf dem Auslöser. Im nächsten Moment war die Kreatur vom Bildschirm verschwunden.
»Das Zielobjekt liegt vor uns«, sagte Yeejhza.
»Vor uns ist nichts«, erwiderte er.
Doch er ahnte, was sie meinte, und justierte die Granatwerfer neu.
Yeejhza legte eine Vollbremsung hin, dass es Groj beinahe aus dem Sitz warf.
»Jetzt!«, kommandierte sie.
Er drückte den Auslöser, obwohl die Straße vor ihm leer war. Dann erst kam das Monstrum in einer schmutzigen Wolke aus Schlamm und Kies auf, etwa dreißig Meter vor der schleudernden Bergkrabbe. Groj sah einen plumpen, pelzigen Hinterleib, sah die mächtigen Spinnenbeine nach einer imaginären Beute greifen und ein Bündel ins Leere züngelnder Tentakel, ehe die Granaten einschlugen und die Kreatur in Feuer und Rauch hüllten.
Yeejhza beschleunigte die Krabbe, das Gesicht emotionslos und völlig konzentriert. Sie durchstießen die Rauchwolke, Erschütterungen von Bodenunebenheiten drangen durch die Federung.
Groj suchte die Außenmonitore ab. Der Rauch lichtete sich, gab den Blick auf die Straße frei.
»Wo ist das Mistvieh?«
»Du hast es erwischt«, sagte Yeejhza. »Aber es lebt noch. Wahrscheinlich zieht es sich in den Wald zurück, um sich zu regenerieren. Oder um zu sterben.«
Er überspielte die Aufzeichnungen des Zwischenfalls an den Frühwarndienst. »Sie werden eine Staffel Kampfjets schicken. Mit Infrarotscannern.«
»Sind nicht alle einheimischen Lebensformen Kaltblüter?«
»Das ist nicht das einzige Problem«, sagte er. »Sie tauchen plötzlich auf – und niemand weiß, woher sie eigentlich kommen. Eine Theorie besagt, dass diese Kreaturen aus dem Höhlensystem des Plateaus stammen. Dass sie durch die unzähligen Schluchten und Felsspalten in den restlichen Kontinent vordringen. Niemand weiß, wie tief diese Höhlen hinab reichen. Deshalb werden sie auch nicht bombardiert. Stürzt das Plateau in sich zusammen, könnte es den halben Kontinent mit sich reißen.«
»Die meisten Minen liegen in der Nähe des Plateaus«, sagte Yeejhza. »Es wäre das Ende der Supralith-Versorgung.«
Groj nickte. »Zumindest für längere Zeit. Die interstellare Raumfahrt würde um Jahrzehnte zurückgeworfen.«
Sie musterte ihn von der Seite. »Geh jetzt schlafen. Ich komme hier gut zurecht.«
»Das sehe ich«, erwiderte er. »Du hast einen verdammt guten Job gemacht.«
»Das finde ich auch«, sagte sie.
»Es hat mit deiner Informationsquelle zu tun, nicht wahr?«
»Darauf werde ich zu gegebener Zeit eingehen.«
Er ignorierte ihre schnippische Bemerkung und richtete sich auf, unterdrückte ein Gähnen und ging nach hinten. Als er die Kabine betrat, stand Yeejhzas Tasche vor ihrer Koje auf dem Boden. Der Verschluss war halb offen und ließ die abgerundete Ecke eines Gegenstands erkennen.
Das Ding, das der Tasche ihr enormes Gewicht verlieh?
Groj setzte machte die Tasche weiter auf. Der Gegenstand hatte die Form eines schräg abgeflachten Würfels. Seine Oberfläche, in frostigem Weiß schimmernd, war vollständig geschlossen. Keine Nahtstellen, keine Bedienungselemente, nichts.
Er zog den Verschluss wieder zu, schlüpfte aus den Stiefeln und legte sich auf das schmale Bett in seiner Koje. Das Bild der fremden Kreatur vor seinem inneren Auge, fiel er in einen seichten, unruhigen Schlaf.
Yeejhzas Koje war leer, als Groj aufwachte. Er wusste nicht, warum er sie dort vermutet hatte; vielleicht hatte er es geträumt. Er sah vorne im Cockpit nach, auch dort war sie nicht.
Er blickte durch die Fensterschlitze nach draußen: Kompakte, flache Bauten, vereinzelt herumstehende Fahrzeuge, ein wolkenverhangener Himmel über den unregelmäßigen Zinnen eines grauen Felsenmassivs.
Schwarzwind.
Groj kehrte in die Kabine zurück, beugte sich in die Nasszelle und wusch sein Gesicht. Dann ging er zum Luk und stieg die Leiter hinunter. Seine Stiefel versanken ein paar Zentimeter tief in grau-grünem Morast, von dem süßlicher Modergeruch aufstieg.
Er sah sich auf dem menschenleeren Platz um, wo Yeejhza die Krabbe abgestellt hatte. Der Ort schien intakt, machte jedoch einen deprimierenden Eindruck. So wie viele andere dieser kleinen Ansiedlungen. Umschlossen von einer menschenfeindlichen Natur, oft hunderte Kilometer vom nächsten Ort entfernt.
Er inspizierte die Krabbe. Die mannshohen Reifen schlammverkrustet, die gepanzerte Karosserie durchschnittlich verdreckt. Keine sichtbaren Spuren vom Aufprall des Monsters.
Eine Staffel aus drei pfeilförmigen Kampfjets zog mit ohrenbetäubendem Getöse über die Felsentürme hinweg, die im Süden wie stumme Riesensoldaten über Schwarzwind wachten.
»Groj! Du bist doch Groj, oder?«
Er wandte sich um und sah einen stämmigen Mann in einer Ranger-Uniform auf sich zu kommen. Kurz geschorene Haare, offenes Gesicht, neugierige Augen.
»Der bin ich«, erwiderte Groj.
»Ich heiße Larsen, bin so ’ne Art Bürgermeister hier. Einer von mehreren, wir wechseln uns ab. Es gibt immer ’ne Menge zu tun, um den Laden am Laufen zu halten.« Larsen wies mit dem Kinn in die Richtung, in der die Flugzeuge verschwunden waren. »Heute haben sie schon mal Bomben abgeworfen, Richtung Paramount. Aber ich kann mir kaum vorstellen, dass sie das Biest schon erwischt haben.«
»Ist ein richtiges Scheiß-Vieh«, sagte Groj. »Mindestens fünfzehn Meter groß und schneller als das Auge.«
Larsen nickte grimmig. »Frühwarn hat uns eure Aufnahmen geschickt. So etwas haben wir hier noch nie gesehen. Aber die Viecher kommen auch fast nie so weit herauf. Alvarez, Grünhausen, das Schürfer-Territorium, die trifft es am härtesten.«