Transition - Peter Scheerer - E-Book

Transition E-Book

Peter Scheerer

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Beschreibung

Sie sind ein ungleiches Paar: Der Geschäftsmann Gabriel, der seine Frau bei einer Attacke außerirdischer Monster verloren hat, und die sechzehnjährige Nika, die seit ihrer Entführung durch die Aliens deren Kommunikation im Kopf mithören kann. Als Team sollen sie der Geheimorganisation SMART helfen, die Invasoren aufzuspüren, doch erweisen sich die Ignoranz und Aggressivität der Menschheit als die größte Bedrohung. Während die Erde unaufhaltsam im Chaos versinkt, gelingt es Gabriel und Nika, das Rätsel um die Herkunft der Eindringlinge zu lösen – und dies ist erst der Anfang einer fantastischen Reise durch fremde Dimensionen, die ihr Leben für immer verändern wird.

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Veröffentlichungsjahr: 2019

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Inhaltsverzeichnis

Peter Scheerer

ERSTER TEIL: RADIO KRAKE

– 1 ­­–

– 2 –

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– 8 –

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ZWEITER TEIL: GEHEIMWAFFE

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DRITTER TEIL: ATLANTIS

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– 52 –

– 53 –

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– 56 –

VIERTER TEIL: GEGENSCHLAG

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– 58 –

– 59 –

FÜNFTER TEIL: NIKOLA

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– 74 –

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– 76 –

– 77 –

Impressum

Peter Scheerer

TRANSITION

Roman

© Peter Scheererer 2017

Covermotive: 123rf – Eugene Sergeev/Konstantin Kamenetskiy

ERSTER TEIL: RADIO KRAKE

– 1 ­­–

Ein Klopfen an der Tür, diskret und unaufdringlich, aber dennoch bestimmend. Gabriel blieb auf dem Sofa liegen und richtete den Blick durch die geöffnete Terrassentür auf den begrünten Innenhof, wo schillernde kleine Vögel in der Wiese herumpickten.

Es klopfte erneut. Die Pfleger und Ärzte waren nicht so geduldig. Die wären längst reingestürmt, zum einen wegen der angeblichen Suizidgefahr, und weil sie generell einen Hang zur Penetranz hatten. Aber Gabriel war nicht neugierig auf seinen Besucher. Mit wem er unter diesem Dach auch zu tun hatte, es lief jedes Mal mehr oder weniger auf dasselbe hinaus. Wie geht es Ihnen heute? Haben Sie schon Ihre Tabletten genommen? Denken Sie nicht auch, dass Sie mehr Bewegung brauchen?

Er hörte, dass jemand eintrat. Ein gutes Dutzend Stare flatterte von der Wiese auf und flüchtete in einen Baum. Ziemlich ängstlich heute, die kleinen Kerlchen.

»Gabriel Collins?«

Eine Frauenstimme, hell und weich, mit dominantem Unterton. Gabriel kannte sie nicht. Die Belegschaft hatte wohl Zuwachs bekommen.

»Was wollen Sie?«

»Ich will mit Ihnen reden.«

»Reden über was?«

»Darüber, warum Sie hier sind.«

Er massierte seine Stirn. Die Kopfschmerzen waren wieder da. Wie fast jedes Mal, wenn der Vorfall zur Sprache kam.

»Ah, zur Abwechslung mal was Neues.«

Sie ging durchs Zimmer und stellte sich vor die Terrassentür. Blonde Ponyfrisur mit kurzem Pferdeschwanz. Große, dunkle Augen, ernster Blick. Mittelgroß, sportlicher Typ, Anfang dreißig. Vielleicht auch darüber; der Pony ließ sie wahrscheinlich jünger aussehen.

»Immy Reitter. So heiße ich. Reitter mit einem Doppel-T. Ich gehöre nicht zum Personal dieser Einrichtung.«

»Immy«, sagte er. »Das klingt lächerlich.«

»Eigentlich Immaculata. Das klingt noch lächerlicher. Ich konnte es mir nicht aussuchen.«

»Ihre Eltern hatten einen religiösen Spleen? Das ist bedauerlich.«

»Ihr Vorname ist auch nicht frei von religiösen Konnotationen.«

»Meinen Eltern gefiel der Klang, das ist alles.«

»Sehen Sie, bei mir war’s genauso.«

Immy Reitter trat aus dem Gegenlicht, stellte sich neben das Sofa und zupfte an ihrem Kragen herum. Sie trug ein strenges graues Kostüm, das die Knie bedeckte. Ihre Wangen zeigten Spuren einer schlecht verheilten Pubertätsakne.

»Ich würde das Geplänkel mit Ihnen gerne noch ein wenig ausdehnen, aber…«

»Ich möchte Ihnen etwas sagen«, fiel er ihr ins Wort. »Ich fühle mich gut. Nicht hervorragend, aber gut. Ich mache jeden Tag Fortschritte. Fragen Sie Ihren Kumpel Hammersmith.«

»Doktor Hammersmith ist nicht mein Kumpel«, entgegnete sie spröde. »Ich bin auch nicht gekommen, um Ihnen zu helfen. Ich möchte, dass Sie mir helfen.«

Er unterdrückte den Impuls, sich aufzusetzen. Jetzt hatte sie ihn neugierig gemacht. Aber er würde ihr keinen roten Teppich ausrollen.

»Wie kommen Sie auf die Idee, dass ich Ihnen helfen könnte?«

»So weit sind wir noch nicht«, sagte sie.

Nun setzte er sich doch auf. Kam sich auf einmal schäbig vor in seiner ausgeleierten Jogginghose und dem T-Shirt mit dem Big-Lebowski-Aufdruck. Geduscht hatte er auch noch nicht.

»Ein neuer Therapieansatz also. Warum liegt euch nur so viel an mir?«

»Ich sagte bereits, dass das nicht meine Baustelle ist«, erklärte Immy Reitter. »Abgesehen davon haben die Seelenklempner keine weiteren Pläne mit Ihnen.«

»Na wunderbar. Denen fiel irgendwann auch nichts Besseres mehr ein, als mich mit Chemie abzufüllen und immer und immer wieder meine Geschichte erzählen zu lassen.«

»Jetzt werden Sie gleich sauer sein. Denn auch ich will Ihre Geschichte hören.«

»Was versprechen Sie sich davon?«

»Das weiß ich erst, wenn ich sie mit eigenen Ohren gehört habe.«

»Lesen Sie die Protokolle. Steht alles drin.«

»Das ist nicht dasselbe. Ich brauche die Interaktion mit Ihnen.«

Gabriel ließ sich aufs Sofa zurücksinken. »Interaktion, das hört sich gut an. Ich kann ein wenig Abwechslung brauchen. Außerdem gefallen Sie mir. Ich kann mir sogar vorstellen, mit Ihnen ins Bett zu gehen.«

»Was Sie nicht sagen. Und nun schildern Sie mir bitte, was sich am achtundzwanzigsten Mai ereignet hat.«

»Sind Sie von der Presse?«

»Für die Presse sind Sie uninteressant, seit die Ermittlungen eingestellt wurden.« Immy Reitter zog einen Stuhl heran und setzte sich. »Können wir nun anfangen?«

Er zögerte. Warum für diese Unbekannte noch einmal durch die Hölle gehen? Andererseits: Die Hölle hatte ihren Schrecken weitgehend eingebüßt. Und ihm war langweilig.

»Wir mussten unseren USA-Trip mehrmals verschieben«, sagte er schließlich. »Es war nicht einfach, mich mehrere Wochen auszuklinken. Die Firma und so weiter. Aber wir wollten uns Zeit nehmen. Nicht einfach nur die Sehenswürdigkeiten abhaken. Sondern ein Gefühl für das Land entwickeln.«

»Warum ausgerechnet Detroit?«

»Der Charme des Verfalls. Die alten Gebäude, die einmal so viel Prunk und Ausstrahlung besaßen. Ich bin romantisch veranlagt. Ich mag die Ästhetik des Untergangs.«

Immy Reitter blinzelte verstört, aber nur ganz kurz. »Ich glaube, ich verstehe… und dann haben Sie sich mit Ihrem Leihwagen verirrt?«

»Erzähle ich, oder erzählen Sie?«

»Verzeihen Sie meine Ungeduld, Gabriel. Bitte fahren Sie fort.«

»Ein Industriegebiet«, sagte er. »Völlig menschenleer. Riesige Silos, Schornsteine, Fabrikhallen. Es wurde bereits dunkel. Aber wir waren guter Dinge – nein, das stimmt nicht. Wir haben gestritten. Nicht schlimm, es war ein harmloser Streit. Und dann…«

»Um was ging es bei diesem Streit?«, fragte sie.

Gabriel blickte sie beleidigt an. »Wenn Sie mich weiter ständig unterbrechen…«

»Es könnte wichtig sein«, sagte sie. »Alles könnte wichtig sein.«

Er überlegte, ob er ihr auf dieselbe Leidenstour kommen sollte, mit der er das Klinikpersonal an der Nase herumführte. Tatsächlich hatte er sich mit dem Verlust von Agnes und dessen bizarren Begleiterscheinungen relativ schnell abgefunden – vielleicht zu schnell in den Augen skeptischer Fachärzte, die reflexartig eine tief sitzende Verdrängung witterten, wenn man zu weit vom Standard abwich. Andererseits vermied er es, zu fest auf die Pauke zu hauen, denn schließlich stand er offiziell unter Medikamenten – die seit geraumer Zeit auf direktem Weg ins Klo wanderten. Doch sein Instinkt verriet ihm, dass sich diese Immy Reitter nicht so leicht täuschen ließ.

»Wenn Sie nicht von der Presse sind«, sagte er, »wer schickt sie dann?«

»Später, Gabriel. Später, okay? Zuerst die Geschichte bitte.«

»Na gut.« Er räusperte sich. »Ich kurvte also durch diese verfallende Industrielandschaft. Und Agnes fing auf einmal damit an, dass sie Kinder wollte. Das war nicht das erste Mal. Eigentlich ein Dauerthema, schon seit einiger Zeit. Sie konnte nicht verstehen, dass ich…«

»Warum wollen Sie keine Kinder, Gabriel?«

»Weil es unanständig wäre. Unanständig und egoistisch. Überall Zerstörung, Ausbeutung, Krieg. Wenn wir so weitermachen wie bisher, ist es in zehn, vielleicht zwanzig Jahren vorbei. Es ist nicht fair, Kinder in so eine Welt zu setzen. Ihnen einen maroden Dreckhaufen zu hinterlassen, in dem sie nicht überleben werden.«

Immy Reitter wirkte für einen Moment angespannt, doch der Eindruck verflüchtigte sich rasch.

»Sie haben als Kind Ihre Eltern bei einem Badeunfall verloren«, sagte sie. »Hängt Ihre Einstellung damit zusammen?«

»Vielleicht. Nein. Keine Ahnung.«

»Kehren wir nach Detroit zurück, in das verlassene Industriegebiet.«

»Um es kurz zu machen«, fuhr er fort, »ich bekam schlagartig rasende Kopfschmerzen. Und verlor die Kontrolle über den Wagen. Wir prallten gegen einen Schrottcontainer. Die Airbags blähten sich auf, peng, und dann hatte ich einen Filmriss.«

»Sie haben etwas ausgelassen«, stellte sie fest.

»Habe ich nicht.«

»In der ersten Aussage, die Sie zu Protokoll gegeben haben, erwähnten Sie eine Vision.«

»Das habe ich mir eingebildet. Ich stand unter Schock.«

»Dann beschreiben Sie mir bitte, was Sie sich eingebildet haben.«

Gabriel hatte das Gefühl, sich am ganzen Körper kratzen zu müssen. Ein Juckreiz, wie man ihn empfindet, wenn man todmüde ist und die Gedanken dabei so rege, dass man nicht einschlafen kann.

»Keine Vision«, sagte er. »Mehr eine Eingebung. Dass da draußen etwas war.«

»Aber was das war, hat diese Eingebung nicht verraten?«

Er seufzte, setzte sich gerade hin und ließ sich wieder zurück sinken.

»Es fühlte sich an, als hätte ich plötzlich einen Kompass im Kopf. Da stand diese Fabrikhalle, etwa hundert Meter entfernt, vielleicht auch näher. Und in dieser Halle war etwas. Nachdem ich den Wagen geschrottet hatte, bin ich einfach drauflos marschiert, auf diese Halle zu. Agnes schrie mir nach. Ich konnte sie hören, aber der Drang, mich der Halle zu nähern, hat alles andere überlagert.«

»Sie sind in die Halle eingedrungen…«

»Ja, aber da war nichts. Außer ein paar alten Maschinen, die nicht weggeräumt worden waren. Und da war dieser Schacht, von dort kam das Signal. Es pulsierte wie ein Leuchtfeuer mitten in meinem Kopf.«

»Sie wollten dort hinunter?«

»Meine Beine trugen mich einfach dorthin, da war kein Wille im Spiel. Ich war Lichtjahre davon entfernt, einen eigenen Willen zu haben. Und dann war auf einmal Agnes bei mir. Sie wollte wissen, was los ist. Versuchte, mich ins Freie zu zerren. Ich bemerkte, dass sie verletzt war – eine Schramme an der Stirn, nichts Schlimmes. Aber ich war immer noch in Trance, wie hypnotisiert.«

»Verspürten Sie den Impuls, sie anzugreifen?«

»Nein, sie war mir in diesem Moment einfach nur egal. Ich habe mich von ihr losgerissen, sie blieb zurück. Ich hörte, wie sie eine Telefonnummer wählte, vermutlich 911. Dann hörte ich ihren Aufschrei, das hat mich aus meiner Trance gerissen. Ich drehte mich um und sah, wie dieses Biest mit seinen Polypenarmen nach ihr griff. Es war so groß wie ein Mittelklassewagen, halb durchsichtig, von innen heraus leuchtend. Und es bewegte sich durch die Luft, pfeilschnell. Ehe ich die Situation auch nur annähernd erfasst hatte, war es mit Agnes in dem Schacht verschwunden.«

Gabriel blickte auf seine im Schoß verschränkten Hände. Diese Version seiner Geschichte hatte er lange nicht mehr erzählt. Sie hörte sich immer noch genauso verrückt an wie beim ersten Mal.

»Sie haben nach Agnes gesucht«, sagte Immy Reitter.

Er nickte. »Ich bin in den Schacht gestiegen. Das war nicht schwierig, es gab eine Leiter. Unten war es dunkel. Verzweigte Gänge, Leitungsrohre, ein Labyrinth. Ich rief nach Agnes. Dann stürzte ich eine Rampe hinunter. Ich weiß nicht, wie tief. Es war warm dort unten, deutlich wärmer als in der Halle selbst. Da waren diese Biester, sie schwebten überall herum. Und ich sah die Toten, es mussten Dutzende sein. Vielleicht waren nicht alle tot, oder sie lagen in einem Koma. Egal, Agnes war jedenfalls nicht dabei. Also suchte ich weiter nach ihr.«

»Haben diese Wesen Sie attackiert?«, fragte Immy.

Er schüttelte den Kopf. »Mein Eindruck war, dass sie mir auswichen. Ich habe nicht darüber nachgedacht, aber im Nachhinein erscheint es mir unlogisch. Ich habe mich ihnen doch regelrecht als Beute angeboten, bin in ihren Bau eingedrungen, und doch wollten sie mich nicht.«

»Wie lange sind Sie dort unten umhergeirrt?«

»Das weiß ich nicht. Als ich neben meinem Wagen zu mir kam, war es vier Uhr morgens. Eine Polizeistreife hat mich zufällig gefunden, aber das wissen Sie bestimmt alles schon.«

»Sie können sich nicht daran erinnern, wie Sie zu Ihrem Wagen zurück gelangt sind?«

»Ich weiß nicht einmal, wann mein Bewusstsein ausgesetzt hat. Vielleicht hatte ich eine Reizüberflutung.«

»Sie sind eine starke Persönlichkeit, Gabriel.« Immy zog eine Schachtel Zigaretten aus ihrer Jackentasche. »Was dagegen, wenn ich eine rauche?«

»Ist nicht erlaubt«, brummte er.

»Dann gehe ich auf die Terrasse. Kommen Sie mit?«

Gabriel beobachtete, wie sie draußen im Sonnenlicht ihre Zigarette paffte. Schwerfällig erhob er sich vom Sofa und schlurfte ins Freie.

»Wundern Sie sich nicht, wie schnell die Ermittlungen gegen Sie eingestellt wurden?«, fragte sie. »Dass man Ihnen im Schnellverfahren eine schwere Psychose attestiert und Sie in die Psychiatrie überstellt hat?«

»Die Ermittlungen wegen Mordes waren absurd.«

»Natürlich waren sie das. Zumal die Leiche Ihrer Frau nicht gefunden wurde.«

»Es wurden überhaupt keine Leichen gefunden.«

»O doch, Gabriel. Es wurde sogar eine ganze Menge Leichen gefunden. Aber Ihre Frau war nicht darunter.«

Er wusste nicht, was er davon halten sollte. Zumal er zu keinem Zeitpunkt gehofft hatte, dass man ihm seine Geschichte doch noch abkaufen würde. Er hatte ja selbst nicht daran geglaubt und sie einem psychischen oder organischen Defekt zugeschrieben. Wobei weder das eine noch das andere bei ihm diagnostiziert worden war.

»Und diese Viecher?«, fragte er.

»Absolut real«, antwortete sie. »Alles, an das Sie sich erinnern, hat so oder ähnlich stattgefunden.«

»Sie wollen mich verarschen.«

»Dafür bin ich nicht von New Mexico hergeflogen. Genauer gesagt von Albuquerque. Dort befindet sich das Hauptquartier meiner Organisation. Sie heißt SMART und unterhält ein weltumspannendes Netz, das Fällen wie Ihrem auf den Grund geht. Übrigens nennen wir diese Riesenpolypen Cthulhu. Der Begriff hat sich auf diversen Verschwörungsseiten im Internet durchgesetzt, wir haben ihn der Einfachheit halber übernommen.«

»Er stammt von Lovecraft«, sagte Gabriel. »Den habe ich gelesen, in meiner Jugend.«

»Anscheinend nicht nur Sie.« Immy Reitter winkelte das Bein an und drückte die Zigarette an ihrem Absatz aus, ließ die Kippe in einem verschließbaren Mini-Aschenbecher verschwinden. »Wir haben Ihren Fall genau studiert«, fuhr sie fort. »Noch mehr als die Tatsache, dass Sie verschont wurden, verblüfft uns, wie zielgenau Sie das Nest aufgespürt haben.«

»Aufgespürt? Das trifft es wohl nicht ganz. Eher noch hat es mich aufgespürt. Und magnetisch angezogen, ich konnte nichts dagegen unternehmen.«

»Der Eindruck täuscht, man kann sehr wohl etwas dagegen unternehmen. Aber beim ersten Mal ergeht es den Meisten wie Ihnen. Oft mit fatalen Folgen, leider.«

Sie kehrten ins Zimmer zurück. Gabriel ließ sich aufs Sofa plumpsen, Immy nahm wieder auf dem Stuhl Platz.

»Wir vermuten, dass die Cthulhu aus dem Weltall kommen«, sagte sie. »Nein, ersparen Sie mir Ihren Kommentar. Ich weiß, wie unglaublich sich das anhört. Unglaublich, und gleichzeitig abgedroschen. Wir vermuten des Weiteren, dass sie versuchen, in die Gehirne der Menschen, die sie entführen, einzudringen. Vielleicht auch in ihre Körper. Dass sie versuchen, sie unter ihre Kontrolle zu bringen.«

Gabriel schüttelte entgeistert den Kopf. »Das kann nicht Ihr Ernst sein. Ich habe die Hosen vor Ihnen runtergelassen, und Sie kommen mir mit einem Science-Fiction-Plot aus den Fünfzigern.«

»In den Fünfzigern waren sie auch schon hier«, erwiderte Immy ungerührt. »Möglicherweise sogar lange vorher. Aber da sie wahre Meister darin sind, unsichtbar zu bleiben, ist es sehr schwierig, ihre Spuren zu einem Ursprung zurück zu verfolgen.«

»Sie haben gesagt, Sie bräuchten meine Hilfe«, sagte Gabriel. »Ist Ihnen bewusst, dass Sie meine Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit jedem Satz an die Wand fahren?«

»Damit muss ich leben«, entgegnete Immy. »Sie sind ein aufgeklärter, intelligenter Mensch. Sie haben studiert, leiten eine etablierte Recycling-Firma…«

»Schön, dass Sie sich so gut informiert haben. Aber das ändert nichts daran, dass ich Ihre Story für totalen Quatsch halte. Ein Internet-Hoax, Däniken, die X-Files… wer bezahlt Sie für den Mist?«

»Die Regierungen der führenden Industrienationen. Und noch einige andere.«

»Können wir das Experiment an dieser Stelle abbrechen?«

Sie beugte sich zu ihm vor und blickte ihm tief in die Augen. »Ich kann Sie nicht dazu zwingen, mir zu glauben. Aber hören Sie mir wenigstens zu, bis ich fertig bin.«

»Einverstanden«, murmelte er zögernd.

Immy stand auf und holte wieder ihre Zigaretten heraus. Trat in die Terrassentür und zündete sich eine an.

»Wenn wir ein Nest ausgehoben haben«, fuhr sie fort, »werden die Toten, die wir dort finden, mit den Vermissten aus der jeweiligen Region abgeglichen. Daher wissen wir, dass bei weitem nicht alle Menschen, die von den Cthulhu entführt werden, sterben. Manche von ihnen kehren in die Gesellschaft zurück und verhalten sich in der Regel unauffällig. Die Tests, die wir mit ihnen durchführen, bringen kaum Ergebnisse. Lediglich die DNS dieser Personen weist marginale Abweichungen auf, für die es keine plausible Erklärung gibt.«

»Diese Leute haben bestimmt eine Menge zu erzählen«, meinte Gabriel.

»Die Erinnerung an die Entführung und an den Eingriff ist bei allen gelöscht«, sagte Immy. »Nur unter Hypnose konnten wir bei einigen von ihnen Fragmente ans Licht zerren, die unseren Verdacht bestätigt haben.«

»Fragmente«, sagte Gabriel. »Mehr habe ich auch nicht zu bieten. Ja, ich habe diese Monster gesehen, aber ich war alles andere als klar im Kopf. Ich war auf einem Horrortrip, verstehen Sie?«

Immy blies eine Rauchwolke in die Luft. »Sie haben sie gesehen, und Sie haben die Begegnung überlebt. Und Sie sind in der Lage, ihre Nester aufzuspüren. Eine Fähigkeit, die nur wenige Menschen mit Ihnen teilen.«

»Ich soll also für Sie arbeiten?«

Immy nickte ernst. »SMART braucht Sie, Gabriel. Das ist der Grund meines Besuchs. Unsere Organisation verfügt mittlerweile über ein Milliardenbudget, aber wir machen keine nennenswerten Fortschritte. Die Cthulhu treten völlig unvorhersehbar in Erscheinung, und dann verschwinden sie wieder. Vielleicht ins Erdinnere, vielleicht in den Weltraum oder in eine andere Dimension. Aber sie sind hier, das ist eine Tatsache. Wir wissen nicht, was genau ihr Ziel ist. Doch das, was wir wissen, lässt nichts Gutes ahnen. Wir können nicht ausschließen, dass sie die Menschheit unterwandern und früher oder später versklaven wollen. Oder ganz auslöschen. Wir spielen die verschiedensten Szenarien durch, nur eines können wir mit Gewissheit ausschließen: Dass sie eine friedliche Koexistenz anstreben.«

Gabriel lehnte sich tief ins Sofa, schloss die Augen und verschränkte die Finger vor dem Bauch.

»Ich habe keine Ahnung, wie ich Ihnen helfen soll. Abgesehen davon ist es mir inzwischen ziemlich egal, was mit der Menschheit passiert. Und mit dem Tod meiner Frau habe ich meinen Frieden gemacht. Egal, wie sie gestorben ist.«

»Sind Sie sich da wirklich sicher?«, fragte Immy. »Und was ist mit all den anderen, die einen geliebten Menschen durch die Cthulhu verloren haben?«

»Kommen Sie mir jetzt mit Moral?«, erwiderte Gabriel scharf. »Menschen sterben bei Unfällen, sie sterben im Krieg oder an Hunger. Und früher oder später ersticken wir sowieso alle an unserem eigenen Müll. Vielleicht wäre es das Beste, wenn diese Weltraumkraken hier gründlich aufräumen.«

»Ich respektiere Ihre Haltung«, sagte sie. »Auch wenn unüberhörbar die Verbitterung aus Ihnen spricht.«

»Sie können mich ja einer Gehirnwäsche unterziehen«, entgegnete er.

»Das ganz sicher nicht, aber wir werden Sie im Auge behalten. Und mit Ihnen Kontakt aufnehmen, sobald Sie sich aus Ihrem Schneckenhaus hervorwagen.«

Er zwang sich zu einem Lachen. »Tun Sie das. Vielleicht treffen Sie mich in einem Zustand quälender Langeweile an. Dann könnte ich vielleicht auf Ihr Anliegen eingehen. Aber im Moment will ich nur meinen Frieden. Geht das rein in Ihren Kopf?«

Immy warf ihre Kippe auf den Boden und trat sie energisch aus. »Auch ich will Frieden, Gabriel. Und ich weiß sehr wohl, was es bedeutet, einen Verlust zu erleiden. Machen Sie es sich nicht zu einfach, auch um Ihrer selbst willen.«

Sie wandte sich um und ging über die Grünfläche zwischen den Sanatoriumsgebäuden davon. Gabriel ließ sich noch tiefer ins Sofa sinken.

Das kann doch alles nicht wahr sein, dachte er.

– 2 –

Doktor Hammersmith, der Anstaltsleiter, empfing Gabriel in seinem geräumigen, kühl ausgestatteten Büro. Er war Ende vierzig, groß und schlaksig, und trug ausgewaschene Jeans sowie ein kariertes Flanellhemd. Ein Typ, wie man ihn gern als Nachbarn hatte. Der Rasen gepflegt, aber nicht zu gepflegt, das Wohnzimmer voller gescheiter Bücher und eine stets gut gelaunte Ehefrau, die hübsche Aquarelle malt.

»Ich freue mich, Sie zu sehen, Gabriel.« Hammersmith wies auf die Sitzgruppe vor dem Fenster. »Machen wir es uns gemütlich, okay? Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten? Tee? Oder ein Glas Wasser?«

»Nicht nötig, danke.«

Gabriel setzte sich an den kleinen, flachen Couchtisch. Hammersmith nahm ihm gegenüber Platz.

»Wie geht es Ihnen, Gabriel?«

Gabriel zuckte mit den Achseln. »Normal, würde ich sagen. Ja, relativ normal.«

»Wie kommen Sie jetzt mit dem Verlust zurecht? Machen Sie sich immer noch Vorwürfe?«

»Nicht mehr als zuvor. Ich kann damit leben, denke ich.«

»Sie wissen, dass Sie keinen Grund haben, sich Vorwürfe zu machen.«

»Es sind ja auch keine richtigen Vorwürfe.«

»Sondern?«

»Fragen. Wie hätte ich mich anders verhalten können? Und hätte es etwas geändert? So ungefähr in der Art.«

»Ich kann Sie gut verstehen«, sagte Hammersmith. »Aber brechen wir es doch auf das herunter, was faktisch vorgefallen ist. Sie haben sich in einer fremden Stadt verirrt, das kann jedem passieren. Und was immer auch danach geschehen ist, dafür tragen Sie keine Verantwortung. Je länger Sie die Schuld bei sich selbst suchen, desto schwieriger wird es, den Verlust nachhaltig zu verarbeiten.«

»Schuld«, sagte Gabriel und schüttelte langsam den Kopf. »Nein, es geht mir nicht um Schuld. Es geht mir um Klarheit. Was da wirklich passiert ist.«

Hammersmith legte den Kopf schief. Auf dieselbe Art, wie Kevin Spacey das oft in seinen Filmen machte. »Um vielleicht doch noch einen Aufhänger für Ihre Schuldgefühle zu finden? Obwohl alles dafür spricht, dass Sie mit dem Verschwinden Ihrer Frau nichts zu tun haben?«

»Erzählen Sie das dem Staatsanwalt«, entgegnete Gabriel. »Der mich wegen Mordes anklagen wollte.«

»Die Anklage wurde längst fallen gelassen. Sie sollten sich mit dem Gedanken anfreunden, dass Sie ein freier, unbescholtener Mann sind.«

»Na ja, irgendwas bleibt immer an einem hängen.«

»Machen Sie sich deswegen Sorgen? Das sollten Sie nicht. Die Schlagzeilen von damals sind längst vergessen.«

»Und jetzt?«, fragte Gabriel.

Hammersmith machte eine übertrieben generöse Handbewegung, was offenbar scherzhaft gemeint war. »Sie können gehen, wohin Sie wollen. Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass Sie alle Voraussetzungen für ein Leben draußen erfüllen.«

»Ich werde also entlassen.«

»So ist es. Aber Sie scheinen sich nicht gerade darüber zu freuen.«

Gabriel lehnte sich zurück, streckte die Beine unter dem Tisch aus. »Ich glaube nicht, dass es eine Rolle spielt. Ob ich hier bin. Oder irgendwo anders.«

Ein verschmitztes Lächeln. »Wir sind kein Hotel, Gabriel. Aber das wissen Sie natürlich.«

»Ich habe eine schwere Psychose, leide unter Wahnvorstellungen. Und Sie behaupten, ich wäre fit für ein normales, geregeltes Leben?«

Der Doktor faltete die Hände und legte sie an sein Kinn.

»Was Sie gesehen zu haben glauben, ist Ihre eigene Realität. Unser Auftrag besteht nicht darin, Ihnen eine Realität aufzuzwingen, die nicht die Ihre ist. Sie haben akzeptiert, dass Sie in einem extremen Ausnahmezustand Dinge wahrgenommen haben, die eigentlich gar nicht existieren können. Das ist mehr, als wir für Sie tun können. Und genau darin besteht Ihre Heilung.«

»Mich verstört nicht, dass ich die Kreaturen gesehen habe«, sagte Gabriel. »Vielarmige Polypen, die sich wie in Schwerelosigkeit bewegen und von innen heraus leuchten wie die Neonreklame für einen Stripclub. Mich verstört, dass auch noch andere daran glauben. Es wäre mir lieber, diese Monster wären meine Privatangelegenheit geblieben.«

»Auch das kann ich gut nachvollziehen«, sagte Hammersmith.

»Ich hatte gelernt, mit dem Trauma und dem Verlust zu leben«, fuhr Gabriel fort. »Aber dann spaziert diese Immy Reitter in mein Zimmer und breitet ihr Weltuntergangsszenario vor mir aus. Das hätten Sie nicht zulassen dürfen.«

»Ich verstehe Sie sehr gut, Gabriel. Ich habe übrigens versucht, den Besuch hinauszuzögern. Bis ich Anweisungen von ganz oben bekam, wie es so schön heißt.«

Gabriel beugte sich vor und nagelte den Doktor mit seinem Blick fest. »Und Sie? Glauben Sie an die Geschichte von den Aliens, die in uns Menschen hineinschlüpfen wollen?«

»Ich bevorzuge es, nicht darüber nachzudenken.«

»Sie würden pausenlos darüber nachdenken, wenn Sie gesehen hätten, was ich gesehen habe.«

»Das mag sein. Aber es geht hier nicht um mich. Es geht um Sie, und wie Sie ihr zukünftiges Leben gestalten.«

»Ihre Meinung würde mich trotzdem interessieren.«

Hammersmith setzte eine nachdenkliche Miene auf. »Ich bin ein bornierter Akademiker, der sich strikt an Fakten orientiert. Von einer Organisation namens SMART habe ich heute zum ersten Mal gehört. Ich hätte Immy Reitter unter keinen Umständen zu Ihnen vorgelassen, wäre ihrem Besuch nicht ein Anruf der Heimatschutzbehörde vorausgegangen.«

»Sie haben also zugestimmt, mich denen auszuliefern.«

»Niemand liefert Sie an irgendjemand aus, Gabriel. Man interessiert sich für Sie, weil Sie zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort waren und trotzdem noch unter uns weilen. Oder hat man Sie etwa unter Druck gesetzt? Mir wurde versichert, dass dies auf keinen Fall geschehen würde.«

Gabriel schüttelte den Kopf. »Alles ging völlig entspannt über die Bühne. Und da Sie mir mitgeteilt haben, dass ich nun wieder ein freier Mann bin…«

»Sie waren die ganze Zeit ein freier Mann. Wir haben uns lediglich um Sie gekümmert. Weil es nötig war, glauben Sie mir.«

»Haben Sie meine DNS untersuchen lassen?«

Hammersmiths Blick wurde für einen Moment starr. »Natürlich wurden körperliche Untersuchungen an Ihnen durchgeführt«, sagte er. »Aber für eine DNS-Entnahme bestand kein Anlass.«

Ein schlechter Lügner, dachte Gabriel.

»Wie sehen Ihre Pläne aus?«, fragte Hammersmith. »Was werden Sie als nächstes tun?«

»Ich fliege nach Hause«, antwortete Gabriel. »Die Wohnung verkaufen, mich um die Firma kümmern. Oder ich steige für eine Weile aus. Kreuz und quer durch die Welt reisen, das wollte ich schon lange mal machen.«

Hammersmith lächelte. »Das finde ich ausgezeichnet, wirklich ausgezeichnet. Sie werden sehen, das Leben erwartet Sie mit offenen Armen.«

»Dann sind wir jetzt fertig?«

»Wie ich schon sagte – Sie sind ein freier, gesunder und unbescholtener Mann.«

Hammersmith stand auf und brachte Gabriel zur Tür, klopfte ihm ermutigend auf die Schulter.

»Sie werden es schaffen. Und falls es doch irgendwann einmal zwickt, kann ich Ihnen einen hervorragenden Experten in Ihrer Nähe empfehlen. Ganz egal, wo Sie sich gerade aufhalten. Wir Psychofritzen verfügen über ein exzellentes Netzwerk.«

– 3 –

Düsseldorf lag in grauem, lichtdurchflutetem Dunst, als er die Wohnung betrat. Agnes war überall präsent. Es war ihre Wohnung. Sie hatte sich um die Einrichtung gekümmert, während er die Firma aufgebaut hatte. Die Möbel, die Dekoration, die Bilder an den Wänden. Alles ihr Werk.

Er setzte sich auf das Sofa mit dem Blick nach draußen, auf die Dächer. Auch das weckte Erinnerungen. Er rief Barbara an, Agnes’ Schwester. Sie klang reserviert, beinahe ängstlich. Er bat sie, die Wohnung aufzulösen. Nach kurzem Zögern war sie einverstanden. Sie würde sich um alles kümmern, sagte sie. Schließlich fragte sie vorsichtig, wie es ihm erging.

»Ich arbeite daran«, antwortete er. »Aber jetzt, in der Wohnung, das tut richtig weh.«

»Dann bleib nicht länger als nötig«, sagte Barbara. »Hast du einen Plan, wie es für dich weitergehen soll?«

»Ich ziehe in ein Hotel. Vielleicht verreise ich. Wenn ich nach der Firma gesehen habe. Und die Wohnung losgeworden bin.«

»Wenn du möchtest, erledige ich das mit dem Verkauf. Ich bin gut im Verhandeln.«

»Danke, Barbara. Wir teilen uns den Erlös.«

»Das ist nicht nötig. Ich tu’s für dich. Und für Agnes.« Sie hielt inne, ehe sie weitersprach. »Die Zeitungen haben geschrieben, ihr hättet euch gestritten.«

»Die Zeitungen schreiben, was sie wollen. Ja, wir hatten Differenzen. Aber wir waren glücklich.«

»Das weiß ich. Wie hast du die Psychiatrie überstanden? Hast du viele Medikamente bekommen?«

»Als sie kapiert haben, dass ich Agnes nicht umgebracht habe, wurde es halbwegs erträglich. Langweilig, aber erträglich.«

»Verrätst du mir eines Tages, was wirklich passiert ist?«

Er schnaubte ins Telefon. »Ich hatte einen Filmriss. In der Klinik sind sie sich nicht sicher, ob ich mich je erinnern werde. Damit muss ich wohl leben.«

»Das stelle ich mir schrecklich vor.«

Ein Film lief vor seinem inneren Auge ab. Die riesige Molluske, die ihre Fangarme blitzschnell um Agnes’ Körper schlang. Agnes trug einen sandfarbigen Rock, ein helles T-Shirt, Jeansjacke. Ihr dunkles Haar, das durch die Luft wirbelte.

»Gabriel? Bist du noch dran?«

»Ich war in Gedanken. Ich muss jetzt hier raus. Lass uns ein andermal weiterreden.«

»Ich umarme dich.«

»Ich umarme dich auch. Du hörst von mir, okay?«

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Die Firma lief auch ohne ihn gut. Rudy, sein Kompagnon, hatte alles im Griff. Rudy: stiernackig, beleibt, kurzes schwarzes Haar, Dreitagebart, chronische Hypertonie. Sah immer ein wenig verschwitzt aus. Auch dann, wenn er es gerade einmal nicht war.

»Deinen Anteil übernehmen? Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist. Es ist deine Firma, Gabs. Ich hätte dich gern weiterhin mit an Bord. Willst du’s dir nicht noch mal überlegen?«

Gabriel blickte durchs Fenster. Immer noch Dunst über der Stadt. Die Türme des Nikko-Hotels, nur ein paar hundert Meter vom Firmensitz entfernt, waren in der Suppe kaum zu erkennen.

»Ich war fast sechs Monate weg«, sagte er. »Du hast den Laden allein geschmissen, das Geschäft ist sogar gewachsen. Du brauchst mich nicht. Ich wäre dir in meinem jetzigen Zustand nur ein Klotz am Bein.«

»Die Arbeit würde dir bestimmt gut tun«, meinte Rudy. »Was willst du schon machen? Du kannst nicht den ganzen Tag Trübsal blasen. Ich kenne dich. Du brauchst eine Aufgabe, sonst trocknest du aus.«

»Ich habe bereits eine Aufgabe«, entgegnete Gabriel.

»Schon klar, du musst mit dem Verlust fertigwerden. Ich mag gar nicht daran denken, wie es in dir aussieht. Und dann noch die Mordanklage…«

»Ich hätte ihnen nicht sagen sollen, dass wir gestritten haben. Ein übereifriger Staatsanwalt kann aus allem eine Anklage basteln.«

»Es hieß, du hättest ihnen eine wirre Story aufgetischt.«

»Ich war total neben mir«, sagte Gabriel. »Mit einem Migräneanfall fing es an. Dann kamen die Halluzinationen. Ich weiß bis heute nicht, was wirklich geschehen ist.«

»Du hast doch nicht mit Drogen oder so…?«

»Rudy, sieh mich an. Wie lange kennst du mich? Na also. In der Psychiatrie haben sie nichts gefunden. Sie sind überzeugt, dass ich es schaffen werde. Aber nicht mit der Firma am Hals. Nein, das haut nicht hin.«

Sie schwiegen. Draußen brach Sonnenschein durch den Dunst und brachte den grauen Rhein zum Glitzern.

»Dann machen wir es eben so, wie du meinst«, sagte Rudy. »Ich vereinbare einen Termin mit dem Notar. Und erledige alles, was sonst noch anfällt.«

»Danke«, sagte Gabriel.

Rudy geleitete ihn zur Tür, öffnete sie jedoch nicht.

»Sechs Monate in der Psychiatrie. Einfach so, Gabs? Oder gibt es etwas, über das du mit mir sprechen möchtest?«

»Sie wollten nichts falsch machen«, erwiderte Gabriel. »Zuerst hielten sie mich für einen geistesgestörten Killer. Dann befürchteten sie, dass ich Selbstmord begehen könnte. Oder es zumindest versuche.«

»Du und Selbstmord?« Rudy lachte, es klang ein wenig gekünstelt. »Die haben anscheinend nicht kapiert, mit wem sie’s zu tun hatten.«

»Vielleicht wollten Sie mich auch nur beobachten«, sagte Gabriel. »Warten, ob nicht doch der Mörder in mir zum Vorschein kommt.«

»Idioten«, brummte Rudy.

– 4 –

England, die Heimat seines Vaters. Seine Mutter stammte aus Polen. Sie waren gute Eltern gewesen. Verständnisvoll und gerecht, wenn es darauf ankam. Und lebenslustig. Freunde, Tanzen, Sport – Eltern, von denen viele andere nur träumen konnten.

Sie waren mit dem Auto unterwegs gewesen, um Verwandte seines Vaters zu besuchen. Die Straße führte an der Küste entlang. Und bot einen verführerischen Ausblick auf einen menschenleeren Sandstrand. Seine Eltern, beide leidenschaftliche Schwimmer, ließen sich nicht von den herbstlichen Temperaturen abschrecken. Und Gabriel war ein ernster Zehnjähriger, den man bedenkenlos eine halbe Stunde am Strand allein lassen konnte.

Irgendwann sah er von den Fantasietieren auf, die er aus dem feuchten Sand modellierte. Die zwei dunklen Punkte, die Köpfe seiner Eltern, waren von der Wasseroberfläche verschwunden.

Gabriel blieb ruhig. Bestimmt waren sie am Strand entlang geschwommen und wurden durch eine Düne verdeckt. Sie würden jeden Moment wieder auftauchen.

Er wartete, bis die Dämmerung hereinbrach. Und begriff mit einem Schlag, dass sie nie zurückkehren würden. Er lief zum Wasser und rief nach ihnen. Schließlich watete er in die sanfte Brandung hinein, bis er den Boden unter den Füßen verlor. Es war Flut und das Meer nahm ihn mit, spülte ihn ein Stück weit hinaus. Er konnte gut schwimmen, das hatten ihm die Eltern beigebracht, doch jetzt paddelte er nur planlos herum. Später konnte er sich nicht erinnern, wie ihn die Wellen nach und nach verschlungen hatten. Nur an das Gefühl, von zitternden Händen auf den Strand gebettet zu werden. Als er zu sich kam, war der Typ, der ihn aus dem Wasser gezogen hatte, auf dem Weg zum Parkplatz, um die jungen Leute, die dort gerade ein Besäufnis vorbereiteten, um Hilfe zu bitten. Eine halbe Stunde später wimmelte es von Polizisten, Sanitätern, Feuerwehrleuten. Gabriels Retter hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits aus dem Staub gemacht. Später würde man in der Nähe ein improvisiertes Nachtlager finden, mit einer Batterie leerer Schnapsflaschen. Gabriel verdankte sein Leben einem Landstreicher, der wohl aus gutem Grund die Begegnung mit der Polizei vermieden hatte.

Die Suche nach seinen Eltern verlief ergebnislos. Freunde der Familie nahmen ihn bei sich auf. Er gab sich Mühe, tapfer zu sein, und schaffte es, ein normaler Junge zu werden. Er beendete seine Schullaufbahn mit Bestnoten und studierte Geisteswissenschaften in Oxford. Dort lernte er Agnes kennen. Agnes kam aus Deutschland, aus einer Kleinstadt nahe der belgischen Grenze. Sie hatte ein Stipendium. Er ging mit ihr nach Deutschland und eröffnete eine Blueskneipe. Agnes finanzierte das Experiment mit dem Geld ihres Vaters, dem ein Entsorgungsunternehmen gehörte. Das Experiment ging schief. Gabriel eröffnete einen Bio-Lebensmittelladen, meldete nach zwei Jahren Konkurs an. Agnes überzeugte ihren Vater, ihm einen Job in seiner Firma zu geben. Gabriel lernte alles über Müll und Recycling. Fünf Jahre später übernahm er zusammen mit Rudy die Firma. Der Abfall wurde zu seinem Anliegen. Und zu seiner Sisyphusarbeit. Für jedes Scheiß-Plastikteil, das in den Containern landete, wurden drei neue unter die Leute gebracht. Du kannst die Welt nicht retten, hatte Agnes gesagt. Mach es wie Rudy, sieh es als Geschäft.

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London. Speziell Camden. Dort hatte er sich mit seinen Kommilitonen an den Wochenenden durch die Pubs gesoffen. Camden wurde jetzt noch mehr als früher von Touristen überflutet. Doch irgendwie war es immer noch seine Gegend.

Auf einmal war Immy Reitter bei ihm und belegte den Barhocker neben seinem. Jeans, dunkelblaues T-Shirt, schwarze Halbschuhe. In Sachen Frisur hielt sie es nach wie vor mit Pony und Pferdeschwanz.

»Das ist ja eine Überraschung«, sagte er. »Ich stehe also unter Beobachtung?«

»Sagte ich nicht, wir würden Sie im Auge behalten?«

»Stimmt, hätte ich fast vergessen. Aber ich will mich nicht beschweren. So hübsch, wie Sie aussehen. Zum Verlieben.«

»Und Sie sind blau wie eine Haubitze.«

»Noch lange nicht. Engländer können was vertragen. Wir sind berühmt dafür.«

Sie reckte kämpferisch das Kinn vor. »Soweit alles klar bei Ihnen?«

»Klar wie Klosterbrühe, wie die Deutschen sagen.«

»Sie haben Ihren Anteil an der Firma verkauft.«

»Was geht Sie das an?«

»Was haben Sie vor, Gabriel? Sich durch die Kneipen dieser Welt zu saufen?«

»Wenn ich das vorhätte, wäre es allein meine Angelegenheit.«

Immy winkte dem Barkeeper und bestellte ein Bier. Und wandte sich wieder Gabriel zu.

»Ich hatte gehofft, Sie würden sich stabilisieren. Damit wir ernsthaft über mein Angebot sprechen können.«

»Erstens bin ich stabil, stabiler geht’s nicht. Zweitens kann ich mich kaum an Ihr Angebot erinnern. Es kann also nicht sehr verlockend gewesen sein.«

»Sie erinnern sich sehr wohl.«

»Als wenn ich keine anderen Probleme hätte.«

Sie beugte sich zu ihm herüber und machte ein grimmiges Gesicht. »Meine Eltern kamen bei einem Verkehrsunfall um, da war ich siebzehn. Mein bester Freund hatte Leukämie. Ich war bei ihm, als er starb. Verlust ist kein Privileg. Verlust ist etwas Alltägliches. Gewöhnen Sie sich an den Gedanken.«

Gabriel schlürfte an seinem Bier. Immy Reitter ging ihm auf die Nerven. Aber nicht so sehr, dass er sie gern losgeworden wäre.

»Warum reden wir nicht über etwas anderes?«, fragte er. »Ich habe Lust auf ein bisschen Smalltalk. Wir könnten ein bisschen flirten. Und dann gehen wir zu meinem Hotel. Alltäglicher geht’s nicht.«

»Wir haben einen Test für Sie vorbereitet«, sagte sie.

»Soll ich raten? Es ist ein Kochtest. Zubereitung von acht Meter langen Calamari. Die Kunst dabei ist es, sie auf den Grill zu bekommen, bevor sie einem ins Gehirn eindringen und…«

»Das ist nicht witzig, Gabriel.«

»Nennen Sie mich Gabs. Alle meine Freunde tun das. Na ja, fast alle.«

Immy nahm ihr Bier in Empfang und trank einen großen Schluck. Der Wirt drehte die Musikanlage auf, es lief The Boys are back in Town. Hooligan-Musik.

»Wir fliegen morgen nach New York«, sagte Immy. »Der Test findet in einem Hotel statt. Im W am Times Square. Waren Sie schon einmal in New York?«

»Zwei Tage. Agnes wollte unbedingt wieder hin.«

»Sagen Sie einfach ja. Es wird nicht weh tun. Und es ist total unverbindlich.«

»Vergessen Sie’s.«

»Wir wollen herausfinden, wie sich Ihre Beziehung zu den Cthulhu zusammensetzt. Das ist alles. Sie gehen keine Verpflichtung ein.«

»Das habe ich auch nicht vor. Stecken Sie sich Ihren Test an den Hut, Immaculata. Ihre Menschen fressenden Polypen interessieren mich nicht.«

»Obwohl Sie sie mit eigenen Augen gesehen haben.«

»Eine Psychose. Die mir helfen sollte, den Tod meiner Frau zu verarbeiten.«

»Und wenn sie gar nicht tot ist?«

Er blickte sie gereizt an. Ja, für eine Weile hatte er sich an diese Möglichkeit geklammert. Bis ihm der Verdacht gekommen war, dass er sich damit lediglich in einen lähmenden Erwartungszustand versetzte.

»Sie denken doch nicht etwa, dass ich diesen Köder schlucke?«

»Ich verstehe«, sagte Immy. »Sie haben Agnes aufgegeben, weil das für Sie leichter ist, als die Ungewissheit zu ertragen.«

»Nein. Weil es eine realistische Einschätzung ist.«

»Und Sie halten es für eine gute Lösung, diese Realität einfach hinzunehmen?«

»Als ob es meine Frau zurückbringen würde, wenn ich bei Ihrem Verein mitmische.«

Immy schnaubte durch die Nase, trank in einem Zug ihr Glas leer und legte eine Visitenkarte auf den Tresen.

»Rufen Sie mich an, wenn Sie es sich anders überlegt haben.«

»Warum rufen Sie nicht mich an, wenn Sie es sich anders überlegt haben?«

»Ich sehe es nicht als meine Aufgabe an, Ihnen beim Verdrängen behilflich zu sein. Leben Sie wohl, Mr. Collins.«

Sie rutschte vom Barhocker, legte eine Banknote auf den Tresen und pflügte quer durch eine bierselige Menschentraube zum Ausgang. Gabriel starrte gedankenverloren in sein Glas. Schließlich nahm er die Visitenkarte in die Hand. Schlichtes, unauffälliges Design. Immy Reitter, Executive Manager. Plus eine Handynummer. Kein Firmenlogo, keine Geschäftsadresse.

Gabrel steckte die Karte ein und bestellte noch ein Bier.

– 5 –

Er mietete einen japanischen Roadster und fuhr ohne festes Ziel nach Westen. Fünfzehn Kilometer hinter Salisbury verließ er die A354 in südlicher Richtung, auch das eine spontane Entscheidung. Es war später Nachmittag, die Sonne sank dem Horizont entgegen und übergoss die flache, menschenleere Landschaft mit goldenem Licht.

Ein verlassenes Gehöft fiel ihm auf, etwa zwei- bis dreihundert Meter von der Straße entfernt und zur Hälfte von einer Gruppe zerzauster Eschen verdeckt. Fast gleichzeitig bekam er Kopfschmerzen. Lange nicht so schlimm wie in Detroit, aber unmöglich zu ignorieren. Er bremste ab, parkte den Wagen am Straßenrand und schaute zu der Ruine hinüber. Hohle Fenster, Gras und Gestrüpp auf dem durchhängenden Dach. Der Charme des Verfalls, die Ästhetik des Untergangs… hatte er das allen Ernstes von sich gegeben? War sein Faible für altes Zeug nicht eher der Versuch, sich mit den allgegenwärtigen Vorboten der globalen Zerstörung anzufreunden, auf die dieser Planet zusteuerte, wenn die zweibeinigen Würmer, die ihn bewohnten, so weitermachten wie bisher?

Er stieg aus dem Wagen und ging zurück bis zu dem geschotterten Fahrweg, der von der Straße zu dem Gehöft führte. Die verwilderte Hecke, welche die linke Seite des Wegs säumte, wucherte an manchen Stellen bis zum Mittelstreifen herein, die Spurrinnen zeigten keine erkennbaren Reifenprofile.

Lass es sein, warnte ihn die Stimme seiner Vernunft. Es geht dich einen Scheiß an. Mach, dass du von hier weg kommst. Gabriel ging weiter, pochende Schmerzen hinter seiner Stirn. Nur noch ein paar Schritte, dann würde er umkehren… nein, würde er nicht. Die Katastrophe von Detroit konnte sich nicht wiederholen. Und wenn die Polypen dieses Mal ihn mitnahmen, sollte es eben so sein.

Die Dämmerung hatte eingesetzt, ließ die Mauern des Anwesens mit dem umgebenden Dickicht aus Brennnesseln und Heckenrosen verschmelzen. Die rustikale Version eines Dornröschenschlosses.

Neben dem Haus und ein Stück zurückgesetzt die Scheune. Altes Holz, ausgedörrt und aufgebogen. Schief in den Angeln hängende Torflügel. Gabriel stemmte das Tor auf und ging rein. Ein verrosteter Drehpflug, bizarr wie das Skelett eines vorsintflutlichen Ungetüms. Der Boden von einer Schicht aus altem Stroh und trockenen Blättern bedeckt.

Im hinteren Teil der Scheune, kaum erkennbar im schwindenden Licht, war der Boden leicht eingedellt. Die Absenkung war annähernd kreisförmig und etwa zwei Meter groß. Gabriel hob eine morsche Latte auf und näherte sich vorsichtig.

Der Boden unter seinen Füßen fühlte sich mit einem Mal nachgiebig an. Gabriel blieb stehen und stocherte mit der Latte in das Stroh, das die Vertiefung ausfüllte. Stieß einige Male auf Widerstand, dann ging die Latte durch.

Er stocherte weiter, wie von kindlichem Eifer getrieben. Ein Loch bildete sich und wurde größer, verschluckte Schichten von altem Stroh. Gabriel stampfte mit dem Absatz auf, bis der Boden unter ihm nachzugeben begann. Er wich ein paar Schritte zurück. Trockenes Holz knackte, weiteres Stroh verschwand in dem Loch. Eine verbeulte Schubkarre, die in unmittelbarer Nähe gelegen hatte, rutschte in die Tiefe und kam scheppernd auf einem harten Untergrund auf.

Gabriel ließ die Latte fallen und zog sich aus der Scheune zurück. Die Kopfschmerzen hatten nachgelassen, aber sein Puls hämmerte wie nach einem Belastungs-EKG.

Auf dem Weg zu seinem Wagen drehte er sich immer wieder um. Keine Aktivität bei dem Gehöft. Keine leuchtenden Riesenkraken, nichts.

Ein Motorrad raste auf der Straße vorbei. Aus der Gegenrichtung näherte sich ein Kleinlaster. Gabriel atmete auf – die Realität hatte ihn wieder. Er holte sein Telefon heraus, suchte nach Immys Visitenkarte. Er fand sie in seiner Brieftasche zwischen den Kreditkarten, zerknittert und abgenutzt – einmal hatte er ihre Ecken als Zahnstocher zweckentfremdet.

Seine Hand zitterte. Erst beim dritten Anlauf gelang es ihm, die Nummer richtig einzutippen.

Immy hörte sich überrascht an.

»Gabriel? Sind Sie das?«

»Ich weiß nicht, ob es richtig war, Sie anzurufen…«

»Sie hören sich merkwürdig an. Was ist passiert?«

»Ich bin immer noch in England. Gerade war ich bei einem alten Bauernhof. Habe mich dort umgesehen, einfach so. Und dann habe ich ein Loch entdeckt. Im Scheunenboden.«

»Reden Sie weiter. Was ist mit diesem Loch?«

»Vielleicht hatte ich nur einen Flashback. Aber das Gefühl war dasselbe. Zuerst die Kopfschmerzen, und dann… ich kann es nicht beschreiben, aber für einen Moment war ich mir fast sicher…«

»Ganz ruhig, Gabriel. Was war das für ein Gefühl?«

»Dass da etwas nicht stimmt.«

»So wie in Detroit?«

»Möglich, ja… aber ich war nicht ferngesteuert. Nur ein bisschen, vielleicht.«

»Haben Sie etwas gesehen?«, hakte Immy nach. »War da jemand?«

»Nein, da war niemand. Nur dieses Loch im Boden… hören Sie, es tut mir leid, dass ich Sie damit belästige. Wahrscheinlich habe ich überreagiert.«

»Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Wir haben in diesem Moment Ihren Standort lokalisiert und werden ein Team schicken. Gehen Sie in ein nettes Hotel, betrinken Sie sich oder lenken Sie sich sonstwie ab. Und sprechen Sie mit niemand über Ihre Beobachtung, haben Sie verstanden? Ach ja, und lassen Sie Ihr Telefon eingeschaltet, damit wir Sie finden können. Ich werde binnen zwölf Stunden mit Ihnen Kontakt aufnehmen.«

»In Ordnung«, sagte er.

– 6 –

Das Hotel hieß Drusilla’s Inn und war ein reetgedeckter Klinkerbau, direkt an der Landstraße gelegen. Von seinem Zimmer aus blickte Gabriel auf einen mittelalterlichen Turm, der wenige hundert Meter entfernt aus den Feldern aufragte. Das Ding war mit Sicherheit absolut harmlos, doch Gabriel kam es vor wie ein mahnend erhobener Zeigefinger, der ihn dazu aufforderte, bestimmte Dinge nicht so genau anzuschauen.

Den Abend hatte er in der Hotelbar verbracht. Er hatte viel getrunken, ohne dass der Alkohol eine nennenswerte Wirkung gezeigt hätte. So hatte er die Nacht weitgehend schlaflos verbracht, in Gedanken ständig in die Psychiatrie zurückkehrend und, sich mit aller Macht gegen das aufkeimende Grauen stemmend, in das Zwielicht der maroden Detroiter Fabrikhalle.

In Detroit war er komplett von der Rolle gewesen. Die Kopfschmerzen, der tranceartige Zustand, die Willenlosigkeit hatten die zugrunde liegende Schwingung überlagert. Doch als der verlassene Bauernhof in seine Aufmerksamkeit gerückt war, hatte er sie spüren können: ein unterschwelliges, sanftes Brummen dicht an seiner Wahrnehmungsschwelle. Und er war nicht in das Loch hinabgeklettert, sondern hatte das einzig Vernünftige getan. Er hatte den Rückzug angetreten. Aber die unerklärliche Anziehungskraft war dieselbe gewesen. Nur dass er sich ihr dieses Mal nicht willenlos ausgeliefert gefühlt hatte.

Scheiße, dachte er. Diese Beziehung zu den Polypen, von der Immy gesprochen hatte – sie existierte wirklich.

Ein Helikopter zog im Tiefflug über das Hotel hinweg. Gabriel verließ den Speisesaal und ging raus auf den Parkplatz, lehnte sich an die Motorhaube seines Mietwagens.

---ENDE DER LESEPROBE---