LOUUR - Peter Scheerer - E-Book

LOUUR E-Book

Peter Scheerer

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Beschreibung

„Minerva Djinn ist ein Top-Scanner im Dienst der mächtigen Agentur für kosmische Angelegenheiten. Ihr neuester Auftrag führt sie in die Tiefe des interstellaren Weltraums, wo sie die Geheimnisse eines gigantischen außerirdischen Objekts ergründen soll. Begleitet wird sie von der Elitesoldatin Chandris, in der sie eine Komplizin aus ihrer kriminellen Vergangenheit erkennt – und der sie einst eine Kugel in den Kopf gejagt hat. Doch ehe es zu einer erneuten Konfrontation zwischen den einstigen Rivalinnen kommt, wird Minerva von einer fremden Macht in eine magische, von bizarren Wesen bevölkerte Welt versetzt, hunderte Lichtjahre von der Erde entfernt. Zunächst widerstrebend, akzeptiert sie nicht nur die außergewöhnlichen Fähigkeiten, mit denen sie plötzlich ausgestattet ist, sondern auch ihre Rolle in einem raffiniert eingefädelten Komplott, das ein außer Kontrolle geratenes Paralleluniversum aus den Angeln heben soll – eine Aufgabe, die sie nur mit der Unterstützung ihrer früheren Weggefährtin Chandris bewältigen kann… *Louur* ist ein Science-Fiction-Kammerspiel von kosmischen Dimensionen. Ein fantastischer, bisweilen surrealer Trip durch Raum, Zeit und alternative Realitäten. Die ideale Wohlfühl-Lektüre für Genre-Liebhaber, die von einem SF-Roman mehr erwarten als gruselige Aliens und explodierende Raumkreuzer.“

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Inhaltsverzeichnis

Peter Scheerer

LOUUR

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Impressum

Peter Scheerer

LOUUR

© Peter Scheerer 2019

Gestaltung und Satz: frey-d-sign

Covermotiv: 123rf – bovalentino/Tithi Luadthong

– 0 –

Eine deiner ersten Kindheitserinnerungen: Du läufst auf deinen kleinen nackten Füßen über eine Blumenwiese. Du quietschst vor Freude. Das Gras fühlt sich lebendig und kühl an, und die Blumen sind so bunt und vielfältig wie die Tapete in deinem Zimmer. Klee, Gänseblümchen, Löwenzahn, Fünffingerkraut… schillernde Insekten schwirren auf, Grashüpfer bringen sich mit beherzten Sprüngen in Sicherheit. Du bist ein Monster in ihrer Welt, aber du willst ja nur laufen und das Gras fühlen.

Die Wiese gehört zu einem Park in unmittelbarer Nähe eurer Wohnung. Es gibt dort auch einen Spielplatz, einen Eisstand und eine Würstchenbude. Aber jetzt interessiert dich nur diese Wiese. Warum kann nicht die ganze Welt eine einzige große Wiese sein?

Zwei Tage später wird ein Mähroboter die Pracht ruinieren, aber du nimmst die Blumenwiese in deiner Fantasie überall hin mit. Egal, ob du über die trostlosen Pflastersteine vor eurem Wohnblock läufst, über den toten Kunststoffbelag im Supermarkt oder über das gefälschte Parkett in eurem engen, verwinkelten Zuhause – überall, wo du hintrittst, sprießt frisches, leuchtend grünes Gras aus dem Boden. Durchsetzt von niedlichen Blümchen in allen erdenklichen Farben. Die sehen mal aus wie Gesichter, mal wie Schmetterlinge, dann wieder wie kleine Kunstwerke, einer Laune der Natur entsprungen. Oder vielmehr deiner Vorstellungskraft, aber der Unterschied ist dir natürlich nicht bewusst.

»Wenn ich groß bin«, sagst du eines Tages zu deiner Mutter, »will ich überall Blumen wachsen lassen. Weil Blumen die Menschen froh machen.«

»Das finde ich schön«, erwidert deine Mutter. »Aber es gibt andere Dinge, die wichtiger sind als Blumen.«

»Glaube ich nicht«, widersprichst du mit unerschütterlicher Überzeugung.

– 1 –

Der Spiegel ist unbestechlich: Du siehst alt aus, Minerva, alt und ganz schön verbraucht. Dabei sind sechsunddreißig Standardjahre k­ei­n Alter. Zumindest nicht für jemanden, der ein halbwegs erfülltes Leben führt, sei es auf der Erde oder einer der loyalen Kolonien. Mit einem netten Mann an der Seite, oder lass es eine nette Frau sein, dazu ein oder zwei gedeihende Kinder, ausgebrütet in einem Premium-Zuchtlabor oder vielleicht auch selbst produziert, sowie einem nicht allzu anspruchsvollen Job, der einem hin und wieder sogar Spaß macht…

…aber daraus wäre so oder so nichts geworden, nicht nur wegen deiner speziellen Veranlagung, die sich früher oder später von selbst durchgesetzt hätte – ganz ohne das Training bei der Agentur, dann jedoch unkontrolliert und unberechenbar. Denn du wolltest ja unbedingt alles hinter dir lassen, was du als einengend oder auch nur als unpassend empfunden hast: die Normen und Kompromisse, den Anpassungsdruck und die polierte Oberfläche einer Gesellschaft, deren Werte dir am Arsch vorbei gingen. Doch für eine renitente Außenseiterin wie dich gab es nur wenige Alternativen. Wie etwa die Umerziehungscamps für soziale Gefährder, wo sie dich so lange mit geheucheltem Einfühlungsvermögen und pharmazeutischen Horrorcocktails bearbeitet hätten, bis du im neunzigsten Stock aus dem Fenster gesprungen wärst. Oder aber der Weg zu einem Rekrutierungsbüro der AKA, der Agentur für Kosmische Angelegenheiten.

Die AKA ist ohne jede Übertreibung die mächtigste Organisation im bekannten Universum. Sie sorgt dafür, dass im Himmel wie auf Erden alles mit rechten Dingen zugeht. Wirtschaftlich, politisch und militärisch. Und sie heißt Querköpfe wie dich stets willkommen. Denn kein normaler Mensch würde sein Leben freiwillig im Außendienst der Agentur verbringen. Ein Leben, das sich auf Raumschiffen, abgelegenen Stützpunkten und unwirtlichen Exoplaneten abspielt.

Du hast dich damals für den dritten Weg entschieden, für ein Leben im Untergrund, einzig den Gesetzen der Straße unterworfen. Was gar nicht mal so übel war, denn wenn man es geschickt anstellte, sprich: im richtigen Moment bei den richtigen Leuten ordentlich auf die Kacke haute, gehörte man irgendwann zu denjenigen, die diese Gesetze aufstellten.

Dieser Lebensentwurf bot jenseits seiner wildromantischen Aspekte allerdings eine ausgesprochen düstere Perspektive: Man wurde nicht besonders alt. Das Herumtreiben in verseuchten Gebieten, die Scharmützel mit konkurrierenden Banden und die Säuberungsaktionen der paramilitärischen Einsatzkräfte forderten ihren Tribut. Und weil du trotz deiner rebellischen Energie ein hellwaches, realistisch denkendes Mädchen geblieben bist, hast du die Reißleine gezogen. Hast dich bei Nacht und Nebel von deiner Posse, der damals ziemlich berüchtigten Lightning Squad, weggeschlichen und bist bei der AKA vorstellig geworden. Wo man zwar keinen roten Teppich für dich ausgerollt, aber auch keine übermäßig dummen Fragen gestellt hat. Als sie dann auf dein spezielles Feature aufmerksam geworden sind, war deine Übernahme in den Dienst der Organisation nur noch reine Formsache.

Jetzt noch ein bisschen Lidschatten und den Kajal nachziehen, dazu Rouge auf die Wangen und die Konturen der Lippen nachgezogen. Minerva war halbwegs zufrieden mit dem Ergebnis. Zumindest war es ihr gelungen, den fahlen Grauton zu kaschieren, der in letzter Zeit ihre natürliche Hautfarbe, ein frisches, gesundes Haselnussbraun, unterwandert hatte.

Sie rieb die Lippen aneinander, um sattes Dunkelrot darauf zu verteilen. Zupfte an den Trägern ihrer Corsage. Vielleicht war ihre Aufmachung doch eine Spur zu nuttig? Das Ballettröckchen, die Netzstrümpfe, die kessen Schnürstiefel – ach was, scheiß drauf. Niemand kennt dich auf Basis XVII. Du bist nur eine von vielen, die in dieser Blechkugel mitten im leeren Weltraum nach Ablenkung gieren. Auch wenn du dich nach deinem letzten Einsatz aus dem Staub gemacht hast, ohne dich vorschriftsmäßig abzumelden. Aber die Agentur ist tolerant, denn sie weiß alles über dich und du stehst permanent unter ihrer fürsorglichen Aufsicht. Abgesehen davon fördert sie die hedonistischen Eskapaden ihrer Außendienstler, um sie bei Laune zu halten.

Minerva verließ ihre Kabine und stakste durch freudlose ockerfarbige Korridore zu den Lifts. Sie war hohe Absätze nicht mehr gewohnt, ihr Gang musste schrecklich aussehen. Auf halbem Weg begegnete sie einem Offizier der Kampftruppen. Ein Riese von einem Mann. Rote Stoppelfrisur, schlecht verheilte Narben auf dem Gesicht. Seine Uniform war verrutscht und sah an ihm aus wie ein Schlafanzug. Breit wie eine überfahrene Banane, der Kerl. Er bot ihr eine Ampulle Quick an und Minerva kramte ein paar Münzen aus ihrem Täschchen. Der Typ machte gestammelte Andeutungen, sie könne auch mit einem Blowjob bezahlen. Minerva lachte ihm derb ins Gesicht und drückte ihm das Geld in die feuchtgeschwitzte Pranke.

An den Lifts köpfte sie die Ampulle, bog den Kopf zurück und zog sich das Zeug durch die Nase rein. Der Flash kam fast augenblicklich. Minerva fühlte sich aufgeputscht und sediert zugleich. Ein ambivalenter Schwebezustand, in dem andere auch eine Massenvergewaltigung mit einem idiotischen Grinsen über sich ergehen lassen würden. Aber sie hatte sich im Griff. Ein kleiner Kick und mehr nicht, so lautete ihr Deal mit sich selbst.

Auf dem Sozialdeck spielte sich der übliche Trubel ab. Aus den verschiedenen Clubs wummerten dumpfe Bässe, Betrunkene und anderweitig Bedröhnte wankten umher und starrten vor sich hin, sangen dämliche Lieder oder kommentierten Minervas Erscheinung mit plumpen Sprüchen. Sie entschied sich für den Club Cologne: Die Musik war erträglich, die Getränke erschwinglich, und sie hatte hier schon den einen oder anderen Aufriss gelandet, dem am Morgen danach weder Ekel noch übertriebene Hygienemaßnahmen gefolgt waren.

Sie kämpfte sich durch das verschwitzte Gedränge zur Bar vor und orderte einen Würger – einen Cocktail, dessen Zutaten von einer weit entfernten Kolonie stammten und der seinen Namen der Eigenschaft verdankte, dass einem der erste Schluck buchstäblich den Hals zusammenzog. Wenn der Effekt erst mal nachgelassen hatte, schmeckte das Gesöff nach Minze, Ingwer und irgendwas Süßlichem, Exotischem. Doch genau genommen handelte es sich um ein Getränk für überzeugte Masochisten.

Das Barmädchen, ein blutleeres, mageres Geschöpf mit leichenblasser Haut und dünnem, weißblondem Haar, das neben ihrem Gesicht als filigran gesponnener Zopf auf ihre Schulter herab baumelte, servierte den Würger in einem archaisch gestalteten Steinkrug. Minerva führte das Getränk an die Lippen und nahm einen beherzten Schluck. Der Effekt trat sofort ein – Höllenqualen im oberen Abdominalbereich – und sie erstarrte zur Salzsäule.

Warum tust du dir das an? Willst du dir etwas beweisen, und falls ja – was? Die haben echt leckeres Zeug hier im Angebot, aber du suchst dir das ekelhafteste Gebräu aus, das je im Umkreis von siebzehn Lichtjahren serviert worden ist.

Ein vierschrötiger Kerl in einer Art geringeltem Badeanzug nutzte seine vermeintliche Chance, er trat grinsend vor sie hin und griff ihr unter den Rock. Minerva schüttelte ihre Starre ab und verpasste ihm eine gerade Rechte ans Kinn. Der Charmeur prallte zurück und riss die Augen auf, stieß eine Beleidigung aus und tauchte im Gewühl unter. Minerva glaubte sich zu erinnern, dass sie schon mal eine Stehnummer mit ihm geschoben hatte. Kurz nach ihrer Ankunft auf XVII musste das gewesen sein, in einem schlecht beleuchteten Verbindungskorridor auf der Entsorgungsebene.

Du peilst es nicht mehr. Wirst gleichgültig, geradezu abgestumpft. Verlierst deine Prinzipien aus den Augen. Bist gerade mal drei Standardwochen hier und weißt nicht mehr, mit wem du es in dieser Zeit getrieben hast.

Sie bezahlte mit ihrem Daumenabdruck und machte, dass sie raus kam. Fäulnisgeruch stieg in ihre Nase. Vielleicht eine Nebenwirkung des Cocktails. Sie bemerkte, wie unsicher ihr Gang war. Dabei hatte sie doch nur genippt an dem Zeug. Das Quick – es musste gepanscht gewesen sein. Oder sie hatte einfach nur einen schlechten Tag. Sie hätte im Bett bleiben sollen. Ein bisschen vor sich hin träumen. Träumen war manchmal besser als alles andere… aber von was?

Du hast ausgeträumt, altes Mädchen. Es ist deine Entscheidung gewesen, dich in einer Welt ohne Träume durchzuschlagen, und jetzt bekommst du die Quittung dafür. Was hast du anderes erwartet?

Minerva zog die unbequemen Schuhe aus, pflügte durch die Schlange vor einem Imbissstand und stolperte in einen menschenleeren Korridor, der vor dem Schutzgitter eines gewaltigen Ventilators endete. Sie hielt das Gesicht in den abgestanden riechenden Luftzug und schloss die Augen. Ihr war ganz plötzlich nach Weinen zumute, aber das hatte sie sich vor langer Zeit abgewöhnt. Bei der Agentur wurde nicht geweint. Gefühle waren unprofessionell. Sie waren ein Privileg der Weicheier, die sie beschützte. Milliarden von Weicheiern, über dutzende Lichtjahre verstreut. Die nicht wussten, dass sie existierte, sie, die Behüterin ihres Gesundheitsschlafs und ihrer biederen Lebenspläne.

Abweichende Gedanken. Die können dir in mehrfacher Hinsicht das Genick brechen. Sei verdammt nochmal vorsichtig, Mädchen! Du hast dich entschieden, diesen Weg zu gehen, und die Agentur hat dich dabei unterstützt. Sie ist Mutter und Vater und großer Bruder für dich, sie ist deine Familie. Sie hat dich zu dem gemacht, was du jetzt bist. Nebenwirkungen inbegriffen. Du hast gewusst, worauf du dich einlässt, also beschwere dich nicht.

Sie hörte Schritte und verhaltene Stimmen, drehte sich jedoch nicht um. Wahrscheinlich ein paar notgeile Dummköpfe, die ihr gefolgt waren, um sie jetzt auf die plumpe Tour anzubaggern. Es würde eine Menge Spaß machen, sich mit ihnen prügeln. Auch wenn sie nicht gerade in Bestform war. Aber wer rechnete schon damit, von einer barfüßigen, zierlichen Person im Ballettröckchen Dresche zu beziehen?

»Alles in Ordnung mit dir?«

Eine sanfte, um Einfühlsamkeit bemühte Frauenstimme. Minerva entspannte sich ein wenig.

»Mir geht’s gut. Könnt ihr mich jetzt in Ruhe lassen?«

»Du machst nicht den Eindruck, als würde es dir gut gehen.«

Ein Mann jetzt, der versuchte, sensibel zu klingen. Oh, ihr dilettantischen Heuchler.

Minerva drehte sich um. Der Mann groß und dünn, mit langen, blonden Haaren und einem rosigen Milchgesicht. Die Frau zwei Köpfe kleiner als er, rot gefärbte Sturmfrisur, breites Gesicht, breite Hüften. Beide trugen die unauffälligen blaugrauen Overalls der psychologischen Betreuungseinheit.

»Ich denke nur darüber nach, auf welche Art ich mich heute umbringen werde. Das mache ich übrigens jeden Tag. Und jetzt kratzt endlich die Kurve.«

Der blonde Mann kam näher, leicht gebückt und die Handflächen vorgestreckt. Einstudierte Körpersprache, um die Deeskalation voranzutreiben. Minerva warf ihre Schuhe nach ihm, verfehlte ihn um mehrere Meter.

»Wir sollten unbedingt miteinander reden«, sagte er in sülzigem, jedoch sonorem Timbre.

Seine rothaarige Begleiterin nickte, ganz der Ernst in Person. »Ja, lass uns reden. Du kannst dich bei uns so richtig auskotzen. Das wird dir gut tun.«

Minerva begriff, dass sie keine Wahl hatte. Sie war auffällig geworden, hatte jemanden geschlagen und trieb sich nun mit düsterer Miene in einem abgelegenen Teil der Station herum. Die Psychos würden die Sicherheitsleute rufen, falls sie sich weigerte. Was einen Eintrag in ihre Akte zur Folge haben würde. Dann lieber das Spiel mitspielen und den beiden Seelenrettern erzählen, was sie hören wollten.

»Tut mir leid«, sagte sie. »Dass ich mit den Schuhen geworfen habe. Ich dachte, ihr wolltet mich belästigen.«

»Schon gut«, sagte der Blonde. Er hob Minervas Stiefel vom Boden auf und kam langsam näher. »Jeder rastet mal aus. Lass uns jetzt gemeinsam zum Betreuungszentrum gehen und eine Tasse Tee trinken, einverstanden?«

»Na klar, mach ich. Genau das, was ich jetzt brauche.«

Da kam noch jemand den Korridor entlang. Eine große, schlanke Gestalt in einer schwarzen, eng anliegenden Montur. Minerva kniff die Augen zusammen, spannte unwillkürlich die Muskulatur an. Teufel nochmal, war das nicht das Outfit der Unbesiegbaren? Sie hatte mit dieser Elitetruppe noch nie zu tun gehabt, hatte lediglich mal ein Team über die Landeplätze eines geheimen Militärterminals trotten sehen – sie erinnerte sich nicht, wann und wo das gewesen war, nur an diesen Blick durch eine beschlagene Fensterluke ihres Shuttles, und an das klamme Gefühl im Angesicht dieser menschlichen Kriegsmaschinen.

Auch die beiden Psychos wurden auf den Neuankömmling aufmerksam. Aus ihrem Konzept gebracht, wirkten sie verstört und ratlos. Was angesichts der imposanten Erscheinung durchaus nachvollziehbar war: eine sieben Fuß große Frau, an deren schmalem, glattrasiertem Kopf ein eiförmiges Implantat von der Größe einer Kinderhand schimmerte. Ihre Haut war schwarz wie Basalt, ihr ebenmäßiges, klar strukturiertes Gesicht das einer vorsintflutlichen Göttin, ihre Statur athletisch und zugleich extrem feminin: breite Schultern, gut ausgebildete Brüste, eine Wespentaille und muskulöse Schenkel.

»Minerva Djinn ist Mitglied der frei operierenden Spezialkräfte«, sagte die Unbesiegbare mit einer dunklen Stimme, die von natürlicher Autorität getragen war. »Personen mit ihren Fähigkeiten neigen gelegentlich zu auffälligem Verhalten, wenn sich zwischen den Außeneinsätzen der Stress abbaut. Aber sie haben gelernt, damit umzugehen. Daher ist Ihre Anwesenheit absolut unnötig.«

Die Rothaarige stemmte ihre Fäuste in die Hüften. »Wer sind Sie, dass Sie glauben, uns Vorschriften machen zu können?«

»Ich mache Ihnen keine Vorschriften. Doch steht es Ihnen frei, sich bei der Administration über mich zu beschweren.«

»Dann nennen Sie mir Ihren Namen und Dienstgrad!«

Der blonde Mann stupste seine Kollegin an und gab ihr mit dem Kopf einen Wink: Lass uns verschwinden.

Die Unbesiegbare sah ihnen nur kurz nach, als sie in Richtung Sozialdeck davon tippelten. »Mein Name ist Chandris«, wandte sie sich an Minerva. »Du wirst von nun an mit mir zusammenarbeiten.«

Woher kenne ich dich nur?, dachte Minerva. Aber sie wusste es bereits, wollte es nur nicht wahrhaben. Chandris war nicht der richtige Name, denn der lautete – Ariana, richtig? Alle hatten sie damals Ari genannt, hinter ihrem Rücken manchmal auch »Arr« oder »Arr-Arr«, weil sie andere gern nach Art eines Piratenkapitäns herumkommandiert oder ihnen sonstwie die Hölle heiß gemacht hatte.

Du musst jetzt Haltung bewahren, Minerva. Was geschehen ist, ist geschehen – in einer anderen Zeit, in einer anderen Welt, unter anderen Bedingungen. Ari zeigt nicht das geringste Anzeichen eines Wiedererkennens, ergo wirst du mitspielen, als wäre nie etwas zwischen euch vorgefallen. Vielleicht stimmt es ja, dass den Unbesiegbaren die Erinnerungen an ihr früheres Leben genommen werden, wie manche Gerüchte behaupten. Und so unmenschlich du das fändest, im Moment käme es dir sehr gelegen.

»Es muss sich um einen Irrtum handeln«, sagte Minerva und hoffte, Chandris würde das leichte Flattern in ihrer Stimme nicht auffallen. »Meine Anweisungen bekomme ich direkt von der Agentur.«

»Dein offizielles Briefing erhältst du noch«, entgegnete Chandris. »Brahms möchte, dass wir uns schon vorher aufeinander einstimmen.«

»Ich arbeite grundsätzlich allein. Nicht teamfähig, steht alles in meinem Dossier.«

»Dann werden wir uns eben zusammenraufen. Übrigens sind wir vom Rang her gleich gestellt. Von daher steht es uns zu, auf Augenhöhe zu verkehren.«

So etwas wäre dem stets nach Dominanz gierendem Alphatier Arr-Arr nie über die Lippen gekommen. Was haben sie mit dir gemacht, Ari? Und ist am Ende alles meine Schuld?

»Verstehe«, lenkte Minerva ein, »wir beide sind jetzt ein Team. Mein Spezialgebiet dürfte dir bekannt sein. Was ist deines?«

Chandris legte ihre schwarz umhüllte Hand auf Minervas nackte Schulter. Minerva unterdrückte ein Zusammenzucken, doch sie fröstelte.

»Das Projekt unterliegt der höchsten Geheimhaltungsstufe. Wir werden die Details in deinem Quartier erörtern.«

»In meinem Quartier?« Minerva lachte auf. »Das ist ein winziges Rattenloch.«

Chandris verzog keine Miene. »Du solltest mal meines sehen«, erwiderte sie.

– 2 –

Chandris, die Ex-Ariana aus Minervas Ex-Leben, legte sich unaufgefordert aufs Bett und starrte aus halb geschlossenen Augen die niedrige Kabinendecke an. Sie war viel zu groß für das Bett und musste die Beine anwinkeln, um darauf Platz zu haben.

Minerva zog die nuttigen Klamotten aus und schlüpfte in den anschmiegsamen Overall, den sie auch zum Schlafen trug. Sie erleichterte ihren Getränkevorrat um zwei Flaschen Bier und reichte eine davon Chandris, die den Verschluss mit dem Daumennagel aufschnappen ließ.

»Warum legst du deine Montur nicht ab?«, fragte Minerva.

»Hab nichts darunter«, antwortete Chandris. »Und die Kluft ist bequemer, als sie aussieht.«

Minerva zog einen der beiden gepolsterten Sitzwürfel heran, die in ihrer Kabine als Stühle dienten, und ließ sich darauf nieder. Sie prostete Chandris mit ihrer Flasche zu.

»Na dann – auf gute Zusammenarbeit.«

Chandris stieß mit ihr an. »Ja, auf gute Zusammenarbeit.«

»Und jetzt will ich wissen, um was es geht.«

Chandris nahm einen kräftigen Schluck. Minerva beobachtete, wie sie mit ihrer langen, rosigen Zunge über ihre Lippen leckte – genau so, wie Ari es immer gemacht hatte.

»Ein Objekt, weit draußen im Niemandsland«, sagte Chandris. »Es ist groß, es ist künstlich, und keiner versteht es.«

»Und weiter?«

»Es ist rund, mit Noppen und Stacheln wie die stilisierte Darstellung eines Virus. Durchmesser knapp fünf Kilometer. Angefertigt aus einem unbekannten Material. Das Innere ausgehöhlt mit tausenden von leeren Kammern, die alle miteinander verbunden sind. So wie ein Ameisenhaufen, aber ohne Ameisen. Keine erkennbaren Spuren von Technologie.«

»Hinweise auf Leben?«

»Negativ.«

»Und mein Job bei der Sache?«

»Herausfinden, was es ist und wer es erschaffen hat.«

»Die übliche Routine?«

Chandris nickte. »Es heißt, du sollst gut darin sein.«

»Ich hatte meine Erfolge«, sagte Minerva.

Sie war sieben Jahre alt gewesen, als die Gabe zum Vorschein gekommen war… warum musste sie ausgerechnet jetzt daran denken? Ein Brüderchen war unterwegs gewesen und ihre Eltern hatten eine neue, größere Wohnung gesucht. Bei einer der Besichtigungen war es dann passiert – die Wände hatten zu sprechen begonnen, zuerst nur ein Flüstern, doch plötzlich hatten sich die Bilder vor ihrem inneren Auge manifestiert. Es war das Verstörendste gewesen, das sie in ihrem jungen Erdendasein zu Gesicht bekommen hatte, und es hatte sich nicht abschalten lassen. Auch nicht, als sie die Augen schloss; der Film lief einfach weiter.

Chandris sah sie lauernd an. Ihre Pupillen glänzten wie polierte schwarze Kiesel.

»Was ist los mit dir?«

»Was soll schon mit mir los sein?«

»Du machtest gerade einen abwesenden Eindruck.«

»Nur ein kleiner Flashback, das habe ich manchmal.«

»Ein Flashback oder eine Erinnerung?«

»Okay, es war eine Erinnerung«, lenkte Minerva ein. »An Dinge, die man nicht sehen sollte, wenn man sieben Jahre alt ist.«

»Was für Dinge?«

»Warum sollte ich dir das erzählen?«

»Du bist der erste Scanner, mit dem ich direkt zusammenarbeite«, sagte Chandris. »Deshalb versuche ich zu verstehen, wie du tickst.«

Minerva starrte auf die Flasche in ihrer Hand. Hatte Ari von ihrer Veranlagung gewusst? Sie war sich nicht mehr sicher, bei wem aller sie sich geoutet hatte. Kev, den Anführer der Lightnings, hatte sie natürlich eingeweiht. Was ihr einen Platz in der Führungsriege gesichert hatte. Lobinger hatte das von Anfang an nicht gefallen. Lobinger war Kevs rechte Hand gewesen, der Mann fürs Grobe. Er fürchtete um seine Position und wollte Minerva gegen Ari ausspielen. Bis dahin war Minerva, abgesehen von ein paar kleineren Reibereien, gut mit Ari ausgekommen. Insofern, dass Ari sie meistens ignorierte. Doch Lobingers kleine, fiese Intrigen verfehlten ihre Wirkung keineswegs, und als es zum Showdown kam, hätte Kev eigentlich einschreiten müssen. Doch irgendwie schien es ihn zu amüsieren, diesen Arsch, wenn zwei Weiber aus seiner Gang aufeinander losgingen und…

»Hey«, sagte Chandris, »bist du eingeschlafen?«

»Ich hab nur überlegt, wo ich anfangen soll«, erwiderte Minerva.

»Du warst sieben, hast du gesagt.«

»Ja, ich war sieben«, sagte Minerva. »Wir besichtigten eine Wohnung. Und die Räume begannen zu sprechen. Sie zeigten mir, was in ihnen geschehen war. Ein Mann hatte seine Frau halb tot geprügelt. Er war eifersüchtig, er war verzweifelt, konnte sich nicht mehr kontrollieren. Er hat erst aufgehört, als sie sich nicht mehr bewegt hat. Als die Polizei kam, leistete er keinen Widerstand, er war völlig weggetreten.«

»Das alles hast du gesehen?«

»Es spielte sich vor mir ab wie in einem Traum, einerseits gerafft und gleichzeitig unerträglich langsam und ausführlich. Es hat wahrscheinlich nur ein paar Sekunden gedauert, sich aber wie eine Ewigkeit angefühlt.«

»Hast du mit deinen Eltern darüber gesprochen?«

»Ich habe mich geschämt für das, was ich gesehen hatte. Weil ich glaubte, ich hätte es mir selbst ausgedacht. Und dann habe ich die Sache verdrängt. Geblieben ist das Gefühl, dass etwas mit mir nicht stimmt.«

»Die Prüfer bei deinem Eignungstest müssen entzückt gewesen sein«, meinte Chandris.

»O ja, das waren sie.«

»Und diese Kabine hier? Was verrät sie dir?«

»Nichts«, antwortete Minerva.

»Nichts.«

»Weil ich es nicht zulasse. Wenn ich es nicht unterdrücken könnte, hätte ich längst durchgedreht.«

»Versuch’s trotzdem. Nur das eine Mal.«

»Du würdest enttäuscht sein, glaube mir.«

»Ich will dir bei der Arbeit zusehen, das ist alles.«

Minerva holte tief Atem, schloss die Augen und konzentrierte sich. Legte in ihrem Kopf den Schalter um, mit dem sie die Schutzblockaden durchlässig machte, und ging auf Sicht.

»Sex«, sagte sie. »Männer mit Frauen, Männer mit Männern, Frauen mit Frauen. Einsamkeit, Betäubung, Stimulation. Masturbation, Tränen, Sehnsucht. Philosophische Gespräche, dumme Gespräche, noch dümmere Gespräche, Streitereien…«

»Du siehst das nicht«, behauptete Chandris. »Du stellst es dir vor.«

Minerva seufzte gedehnt. »Ich sagte doch, du würdest enttäuscht sein. Ich versenke mich nicht in Trance, sage kein Mantra auf, und meine Körpertemperatur bleibt unverändert.«

Chandris trank ihre Flasche leer und hielt sie Minerva hin. »Bekomme ich noch eine?«

Minerva griff nach einer neuen Flasche, öffnete sie und gab sie Chandris.

»Quid pro quo, alles klar? Du bist an der Reihe. Was ist dein Spezialgebiet?«

»Töten«, antwortete Chandris.

»Schade. Ich war gerade dabei, dich nett zu finden.«

»Tu nicht so, als wüsstest du nicht Bescheid.«

»Über die Unbesiegbaren? Natürlich weiß ich Bescheid. Aber trotzdem…«

»Ich mag es nicht, wenn man uns die Unbesiegbaren nennt. T-Force gefällt mir besser.«

»Das T steht für Terminierung.«

Chandris zuckte mit den Schultern. »Für mich ist es nur ein Buchstabe. Wir gehen da rein, wo andere nicht reingehen. Wir räumen auf, bringen Dinge in Ordnung.«

»Ihr kämpft gegen das Bündnis. Verdeckte Operationen, solches Zeug.«

»Ich würde es so ausdrücken: Wir stellen denjenigen ein Bein, die versuchen, in eine loyale Kolonie einzusickern.«

»Was öfter geschieht, als man davon erfährt.«

Chandris ging nicht darauf ein. Vielleicht lag es am Quick, vielleicht auch an Chandris’ pflegeleichter Gemütsverfassung, dass sich Minerva spontan zu einem tollkühnen Vorstoß hinreißen ließ.

»Und vorher?«, fragte sie. »Was war, bevor du zur T-Force gegangen bist?«

Chandris blickte sie aus leeren Augen an. Minerva wollte ihre Dreistigkeit gerade bereuen, als die Unbesiegbare mit leiser Stimme zu sprechen begann.

»Sie haben mich in der Wildnis gefunden, auf einem Exoplaneten. Mein halber Schädel war weggeschossen. Vermutlich eine Auseinandersetzung zwischen zwei Schmugglerbanden, hieß es. Ich kam in eine Spezialklinik, wo sie mich Stück für Stück neu zusammengebaut haben. Irgendwann überstellten sie mich zur Ausbildung an die T-Force. Das ist eigentlich schon alles.«

Wildnis, Exoplanet, Schmugglerbanden… Minerva hätte beinahe aufgelacht. Nun gut, die Aktivitäten der Lightning Squad ließen sich definitiv als Bandenkriminalität bezeichnen und die Slums entlang der Fünfundneunzig gerade noch als Wildnis – doch was sollte der Quatsch mit dem Exoplaneten?

»Wie bist du an diese Schmugglerbande geraten?«, fragte sie. »War dir langweilig, oder ging es um einen Kerl?«

»Ich kann mich nicht erinnern«, antwortete Chandris. »Mein Gedächtnis setzt ein, als ich aus dem künstlichen Koma erwacht bin.«

»Aber du musst doch irgendwo registriert sein. Jeder ist in irgendeiner Datenbank registriert.«

»Nicht jeder. Wahrscheinlich haben meine Leute schon seit Generationen im Untergrund gelebt.«

Ich könnte dir sagen, wer du bist, dachte Minerva. Wo du gelebt hast, welche krummen Sachen du am Start gehabt und mit wem du gevögelt hast. Dann müsste ich dir aber auch verraten, dass ich es gewesen bin, die dir das Ding verpasst und deine Erinnerung gestohlen hat. Denn es hieß: du oder ich, und du warst hitzig und blind vor Wut, ich jedoch ein winziges Bisschen besonnener und kaltblütiger, das hat die Sache entschieden.

»Warum haben sie ausgerechnet dich für den Job ausgesucht?«, fragte Minerva.

Chandris’ Flasche war leer, sie stellte sie neben das Bett. »Ich stand wohl gerade zur Verfügung.«

»Und was ist so anders an dem Job, dass ich Begleitschutz brauche?«

»Ich vermute, dass du selbst der Grund bist.«

Minerva machte sich auf eine unangenehme Offenbarung gefasst. »Sprecht ihr Unbesiegbaren gerne in Rätseln?«, tastete sie sich weiter vor.

Chandris drehte sich auf den Rücken und faltete die großen, geschmeidigen Hände wie zum Gebet. »Vor zwei Standardjahren wurde das Objekt aufgespürt. Und jetzt erst sollst du es dir ansehen. Was schließt du daraus?«

»Es war bereits ein Scanner dort«, vermutete Minerva. »Und er hat versagt.«

»Entweder das, oder es ist etwas Unvorhergesehenes mit ihm passiert. Etwas, das ihn zu einer Bedrohung gemacht hat.« Chandris tippte auf das Implantat an ihrem Kopf. »Das ist nicht nur ein Ersatzteil für meinen lädierten Schädel. Es ist auch ein Generator, der eine Abschirmung gegen jegliche mentale und psychische Beeinflussung erzeugt. Erst vor zwei Monaten wurde ein Update draufgeladen.«

»Hast du den ausdrücklichen Befehl, mich zu töten, wenn die Sache aus dem Ruder läuft?«

»Bis jetzt noch nicht.«

»Aber du würdest es tun.«

Chandris nickte. »Zum Beispiel dann, wenn du nicht mehr du selbst wärst.«

»Und woher willst du wissen, wann ich nicht mehr ich selbst bin? Ich möchte nicht sterben, nur weil ich gerade meine albernen fünf Minuten habe.«

»Deshalb soll ich dich näher kennen lernen, bevor wir uns auf die Mission begeben.«

»Das genügt mir nicht«, entgegnete Minerva. »Ich erwarte von dir, dass du mich beschützt. Dass du mich rettest, wenn sich etwas in meinem Kopf einnistet und mich beschissene Dinge tun lässt. Die Terminierung muss die allerletzte Option sein.«

Chandris blickte sie grüblerisch an. »Ich werde darüber nachdenken«, sagte sie zögernd.

Minerva rollte mit den Augen und gab einen Stoßseufzer von sich. »Dann bin ich ja beruhigt. Und jetzt sollte ich Brahms kontaktieren.«

»Wir starten morgen früh nach Moebius. Brahms erwartet dich bereits.«

»Was spricht dagegen, dass ich jetzt schon mit ihm rede? Oder hört er vielleicht sogar mit, wenn wir beide uns hier schwesterlich zusammentun?«

Chandris griff an ihr Implantat, wirkte für einen Moment irritiert. »Du meinst, da steckt eine Abhöre drin? Natürlich ist das so. Aber die Agentur vertraut mir, ich habe sie noch kein einziges Mal enttäuscht.«

Sie ist sich nicht sicher, erkannte Minerva. Ein Grund mehr, vorsichtig zu sein. Chandris war ein Geschöpf der Agentur, ihr gesamtes Verhalten konnte antrainiert, möglicherweise auch vorprogrammiert worden sein.

»Dann sind wir fürs erste fertig?«, fragte sie.

»Du meinst, ich soll jetzt gehen?«

»Ich will ausgeruht sein, wenn wir morgen fliegen.«

Chandris setzte sich langsam auf und legte die Hände auf ihre Knie, was sie wie eine Skulptur aussehen ließ. Warum so anhänglich, stolze Kriegerin? Weil in deinen Synapsen ein Echo aus deinem früheren Leben herumschwebt, das dir eine unterschwellige Vertrautheit suggeriert?

»Du hast recht, auch ich sollte mich vor dem Start ausruhen.«

Chandris ging zum Ausgang und verharrte dort schweigend, ehe sie den Öffner betätigte. Dann schloss sich die Tür mit einem leisen Einschnappen hinter ihrer dunklen, imposanten Gestalt.

Minerva machte eine neue Flasche auf und trank sie zur Hälfte aus. Stellte die Flasche ab und warf sie dabei um. Ein dunkler Fleck breitete sich auf dem Bodenbelag aus. Ihr Blick wanderte zwischen dem Fleck und ihrer zitternden Hand hin und her.

»Ich glaube, ich stecke voll in der Scheiße«, murmelte sie.

– 3 –

Lobinger hatte einen plumpen Trick angewendet, um die Situation aufzuheizen. Hatte sich aus Minervas Bude eines ihrer Höschen besorgt und es in einer Ritze von Mofos Matratze versteckt. Mofo war Aris Liebhaber… na ja, eher so ’ne Art Schoßhündchen, fast so groß wie sie selbst und dreimal so breit, ein bisschen hohl in der Birne und seiner Herrin treu ergeben. Aris Wutschrei war im ganzen Haus zu hören und jeder wusste, dass ein Massaker unmittelbar bevorstand. Doch Lobinger, der fiese Drecksack, war bereits auf der Lauer gelegen und hatte Ari abgepasst, ehe sie Minerva in ihre Einzelteile zerlegen konnte. So war es auf dem Innenhof vor der versammelten Posse zum Duell gekommen. Ari war nicht zufrieden mit dieser Lösung, lieber hätte sie Minerva Arme, Beine und sonst noch was ausgerissen, wie sie lauthals bekundete, doch Obermacker Kev fand die Idee in Ordnung und machte es sich in einem pompösen Ohrensessel gemütlich wie ein dekadenter altrömischer Tyrann.

Minerva hatte bis zuletzt überlegt, ob sie nicht Lobinger die Kugel verpassen solle, der gab ein gutes Ziel ab und sein schmieriges Grinsen war eine einzige Einladung zum Abknallen. Aber das hätte Ari, randvoll mit Aufputschmitteln und dem aufgestauten Zorn einer desaströsen Kindheit, keinesfalls aufgehalten. Schneller, als sie erwartet hatte, gab Lobinger das Kommando und das flache, kalte Ding in Minervas Hand zuckte wie ein erschrecktes Tier, dann spritzte eine Mischung aus Blut, Knochenteilen und schwarzen Korkenzieherlocken aus Aris Schädel.

Minerva hatte Lobinger die Pistole in den Schoß geworfen und war, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, ins Haus gestapft. Später erfuhr sie, dass Ari noch gelebt hatte. Doch weit entfernt konnten sie sie nicht abgeladen haben, denn unvermittelt waren Hubschrauber der Counter Riot Unit im Tiefflug über das Viertel hinweggezogen. Da galt es, in Deckung zu gehen, wenn man nicht im Arbeitslager enden wollte. Und falls sie einen mit Waffen erwischten, musste man damit rechnen, abgeschossen zu werden wie ein räudiger Hund.

In der Nacht darauf beschloss Minerva Djinn, ihr Dasein als Gesetzeslose am Abgrund der Gesellschaft zu beenden und das nächst gelegene Rekrutierungsbüro der AKA aufzusuchen…

Der Türsummer fuhr wie eine Axt in ihren Halbtraum. Wie durch Watte hörte sie Chandris’ dunkle, kräftige Stimme: »Wach auf, Minerva. Es geht los. Beeile dich!«

Minerva stöhnte inbrünstig, ließ sich in einer selbstzerstörerischen Anwandlung über die Bettkante rollen und blieb nach der harten Landung einen langen Moment auf dem Boden liegen. Ihr Kopf tat weh. Eine Folge der Mixtur aus Quick, dem ekelhaften Cocktail und den Bieren, die sie nach Chandris’ Abgang getrunken hatte.

»Wir treffen uns in zehn Minuten in Dock vierzehn. Hast du gehört, Minerva?«

»Warum kommst du nicht rein, die Tür ist offen.«

»Wiederhole, was ich gerade gesagt habe.«

»Dock vierzehn, in zehn Minuten. Kein Problem.«

Zu wenig Schlaf, ein Kater, und jetzt auch noch ein überstürzter Aufbruch. Keine Zeit, mit Brahms in Kontakt zu treten. Benommen packte Minerva ihre Sachen zusammen, zog ihre Dienstuniform an und machte sich auf den Weg zu den Docks.

Der Raumer, der sie nach Moebius bringen sollte, stellte sich als rostige alte Schüssel heraus, weniger als hundert Meter lang, mit abblätternder Kennung an den Flanken. Ein Truppentransporter für kleinere Kontingente, langsam, schwerfällig, kaum gefechtstauglich. Unter der Personenschleuse hatte sich ein Rudel Soldaten versammelt, gezeichnet von den Exzessen in den Amüsiergruften von Basis XVII. Chandris stand mit einem unteren Dienstgrad an der Treppe zu einem kleinen Seiteneinstieg. Minerva drängte sich an ihnen vorbei, nuschelte eine Begrüßung und stieg die Treppe rauf.

Chandris und der junge, blasse Offizier folgten ihr ins Innere des Schiffs. Der Jüngling wirkte verstört. Er vermied es, sowohl Chandris als auch Minerva anzusehen, als er ihnen den Weg zu ihrer Unterkunft beschrieb. Vermutlich stammte er von einer der fundamentalistisch-religiösen Kolonien und kämpfte nun gegen einen Tornado aus sündigen Gedanken an, der an seiner indoktrinierten Rumpfpersönlichkeit zerrte. Minerva reizte es, sich einfach so aus Jux in seinem Oberstübchen umzusehen. Aber das Risiko, dass der Bursche etwas davon mitbekam, wollte sie nicht eingehen. Denn um diesen Teil ihrer Spezialbegabung hatte sie sich nie so richtig gekümmert, und das aus gutem Grund. Gedankenscanner genossen das bei Weitem größte Misstrauen in der Gesellschaft.

Chandris wurde auf Minervas Schmunzeln aufmerksam und warf ihr einen forschenden Blick zu. Sehr hellhörig, das Mädchen. Auch als sie noch Ari geheißen hatte, war ihr in ihrer Umgebung so gut wie keine Regung entgangen. Zusammen mit ihrem ausgeprägten Hang zur Paranoia hatte dies regelmäßig für lautstarken Zoff gesorgt.

»Was? Nur eine Kabine?«

Minerva funkelte den verklemmten Jungspund kämpferisch an. Der wurde noch eine Spur blasser, schluckte, wich jedoch keinen Millimeter zurück.

»So lautet die Order«, erklärte er steif. Und machte sich auf leisen Sohlen davon.

Die Kabine, die man ihnen zugeteilt hatte, war klein und schummrig, roch nach Desinfektionsmitteln. Die Einrichtung bestand aus zwei Kojen, einem Spind und einem kleinen Schreibtisch mit einem fest verankerten Stuhl davor. Minerva warf ihre Tasche in die Ecke und stemmte die Fäuste in die Hüften.

»Bitte sag, dass es nicht deine Idee war.«

Chandris stellte ihr Gepäck, einen länglichen, schwarzen Koffer, in der anderen Ecke ab. »Es war nicht meine Idee. Aber es wird uns helfen, unsere Beziehung zu vertiefen.«

Sie schälte sich aus ihrer schwarzen Montur und öffnete den Zugang zu der winzigen Nasszelle. Ihr Körper bestand zu einem großen Teil aus Muskeln und Sehnen, und doch wirkte sie kein bisschen maskulin. Ihre Bewegungen waren anmutig, in Nuancen fast geziert. Das Burschikose, das Minerva an Ari beobachtet hatte, fehlte ihnen völlig.

Chandris drehte die Dusche auf. Minerva zog ihre Schuhe aus und legte sich auf eine Koje. Sie war müde. Sie wünschte sich an einen anderen Ort. Sonne, ein bisschen Wind, Meeresbrandung. Ein Haus, lichtdurchflutet und umgeben von duftenden Blüten. So etwas in der Art.

»Was hast du bei dem Milchgesicht gesehen?« , fragte Chandris aus der Duschkabine.

»Das Gleiche wie du«, antwortete Minerva.

»Aber du hast gelächelt.«

»Stimmt, lächeln ist strafbar. Tut mir leid, dass ich das vergessen habe.«

»Sag mir einfach, warum.«

»Wir haben ihn verwirrt. Seine Fantasie in Gang gesetzt. Ich fand’s lustig, dass ihm das so deutlich anzusehen war.«

Das Geräusch der Brause versiegte. Chandris kehrte in die Kabine zurück, ließ sich auf die leere Koje gleiten und legte sich flach auf den Rücken. Als stramme Soldatin hatte sie ein unproblematisches Verhältnis zu Nacktheit. Gemeinsam duschen, umziehen, pinkeln und so weiter, das setzte Maßstäbe.

»Meinst du, er hält uns für ein Paar?«

Minerva gab ein Grunzen von sich. »Ach, dem ist bestimmt alles Mögliche durch den Kopf geschossen. Diese Puritaner denken doch ständig an nichts anderes. Deswegen machen sie auch nirgends Karriere.«

Chandris verschränkte die Hände hinter dem Kopf, starrte an die Decke und schwieg. Minerva drehte sich auf die Seite und schloss die Augen, konnte Chandris’ Anwesenheit jedoch nicht ausblenden. Wie viel Ariana steckte noch in der hochgezüchteten Elitesoldatin, die auf der Pritsche neben ihr atmete, so gleichmäßig wie eine Belüftungsanlage? Und wie stark war die Membran, die Chandris’ Bewusstsein von Arianas verschütteten Erinnerungen trennte?

Brahms, du Schweinehund, dachte Minerva. Falls sich herausstellt, dass du hinter all dem steckst, dann…

Ein Rumpeln ging durch das Schiff, Generatoren heulten auf wie Urweltmonster. Die Reise hatte begonnen.

– 4 –

Sie schlief unruhig, wälzte sich von einer Seite auf die andere und wieder zurück. Hunger, Durst und eine volle Blase trieben sie schließlich aus dem Bett. Chandris’ Koje war leer. Minerva ging pinkeln, schlüpfte in ihre Schuhe und machte sich auf die Suche nach der Messe. Ihr begegneten Soldaten, einzeln und in kleinen Gruppen, Männer und Frauen. Einige versuchten im Vorbeigehen, die Symbole auf ihrem Uniformkragen zu identifizieren.

In der Messe nahm sie eine Mahlzeit zu sich, Fleischersatz mit synthetischem Kartoffelpürree. Das Zeug schmeckte übertrieben nach dem, was es darstellen sollte. Minerva stocherte lustlos darin herum, aß aber alles auf.

Einmal wirklich gut essen. In ansprechender Atmosphäre, mit Kerzenlicht und aufmerksamem Personal, das einem die Wünsche von den Augen ablesen konnte. Zusammen mit jemand, den du magst. Jemand, mit dem du gern ins Bett gehen würdest. Und zwar wirklich gern, nicht einfach nur aus einem spontanen geilen Impuls heraus, oder um den Frust zu vertreiben.

Zurück in der Kabine. Chandris immer noch abwesend. Minerva legte sich auf ihre Koje, versuchte zu schlafen. Das synthetische Essen schob sich murmelnd durch ihre Eingeweide.

Aber was geschieht da plötzlich? Die Kabinenwände schießen in die Höhe, falten sich über ihr zu einer kathedralenhaften Kuppel, von der schier endlose Korridore abzweigen, sanft geschwungen, und in andere Hallen und Dome münden, erhabene Strukturen, klerikal und faschistisch und doch irgendwie organisch, Erzeugnisse eines nichtmenschlichen Verständnisses von Ästhetik und Funktionalität, erfüllt von diffusem, frostigem Licht ohne erkennbaren Ursprung.

Da bewegt sich jemand. Oder vielmehr etwas. Falls es Menschen sind, dann sind es sehr kleine Menschen. Und sie tragen faltige Kutten, danach sieht es jedenfalls aus, unter denen ihre Gestalt verborgen bleibt. Sie sitzen in mehreren Reihen auf dem Boden, kreisförmig um ein leeres Zentrum angeordnet, über dem etwas Helles, Strahlendes in der Luft schwebt. Die vielfältigen Lichtbrechungen legen nahe, dass es sich dabei um einen Kristall handelt.

Minerva schreckte aus dem Schlaf hoch, schnappte nach Luft. Ihr Puls raste, der Overall war durchgeschwitzt. Das Objekt. Sie hatte dieses Objekt besucht – aber hatte Chandris nicht behauptet, es gäbe kein Leben dort? Was also hatte sie gesehen?

Sie hasste diese Visionen, sie gingen ihr an die Pumpe und beschäftigten sie im Nachhinein unangemessen lang, ohne dass viel dabei herauskam. Um wieder ihre Mitte zu finden, nahm sie sich Zeit für eine kurze Meditation. Ihre Aufregung legte sich, die Fragen blieben. Und warum war Chandris nicht da? Sie musste mit ihr reden. Sofort.

Das Schiff war nicht groß, aber groß genug, um sich für eine Weile darin zu verstecken. Minerva knipste ihre Gedanken aus und ging auf Sicht, scrollte in winzigen Schritten in der Zeit zurück. Sah, wie Chandris von ihrer Pritsche aufstand, ihre Montur anlegte und einen langen, nachdenklichen Blick auf ihre schlafende Reisegefährtin warf, ehe sie die Kabine verließ.

Jetzt den Radius erweitern, Meter für Meter, ein mühseliges Unterfangen. Nein, so funktionierte das nicht. Aber da gab es ja noch dieses andere Feature, das sie während der Ausbildung entdeckt hatte. Falls Chandris etwas davon mitbekam, würde sie einfach leugnen. Natürlich hätte sie warten können, bis die Ausreißerin zurückkam, doch ihr Instinkt sagte ihr, dass Chandris nicht grundlos abgetaucht war.

Minerva verspürte eine schwache Resonanz aus der Tiefe des vibrierenden, summenden Schiffs. Sie erhöhte die Auflösung und erhielt eine räumliche Information: Eine Gerätekammer unmittelbar neben der Antriebssektion.

Sie sprang aus dem Bett und machte sich auf den Weg. Ohne Schuhe, wie eine Schlafwandlerin. Sie begegnete einem Maschinisten, der sie überrascht musterte, und schenkte ihm ein verschmitztes Lächeln. Ihre Füße tappten über Gitterroste und ölverschmierte Treppenstufen, führten sie geradewegs in die Antriebssektion.

Die Tür zu der Gerätekammer – Aufschrift: ZUTRITT NUR FÜR FACHPERSONAL – stand halb offen. Chandris saß mit dem Rücken zur Tür auf einer Metallkiste, die weiß Gott was enthielt, und starrte durchs spärliche Licht auf einen Stapel aus kryptisch beschrifteten Containern.

»Dann hat es also funktioniert«, sagte sie, ohne sich zu Minerva umzudrehen.

»Du hast mich hierher gelotst?«

»Es war ein Versuch.«

»Und jetzt verpetzt du mich bei der Agentur.«

»Damit würde ich mir nur selbst schaden«, erwiderte Chandris.

»Was hast du sonst noch drauf, das keiner wissen darf?«

»Keine Ahnung. Für mich ist das alles noch neu.«

Minerva setzte sich zu Chandris auf die Kiste. Warum ausgerechnet hier?, wäre ihre nächste Frage gewesen, doch im selben Augenblick formulierte sich die Antwort von selbst in ihrem Bewusstsein: Die Emissionen des Antriebs störten den Informationsfluss, den Chandris’ Implantat an die Kommunikationsbahnen des Schiffs sendete – von wo aus sie an die Agentur weiter geleitet wurden.

»Es ist also neu für dich«, sagte sie. »Wann hast du es zum ersten Mal bemerkt?«

Chandris fixierte den Boden zwischen ihren Stiefeln. »Ich war schon einmal auf dem Objekt. Danach hat es angefangen. Zuerst war es nur ein Gemurmel in meinem Kopf. Dann begriff ich, dass es die Gedanken von anderen waren.«

»Was hast du dort gemacht?«, fragte Minerva. »Auf dem Objekt.«

»Der erste Scanner. Er hat die Trooper manipuliert. Hat sie dazu gebracht, sich gegenseitig über den Haufen zu schießen. Ich habe es beendet.«

»Die Trooper manipuliert? Es ist sehr schwierig, mehrere Personen gleichzeitig zu beeinflussen. Falls jemand dazu in der Lage wäre, würde man ihn aus dem Verkehr ziehen, bevor er Unheil anrichten kann.«

Chandris hob den Kopf und schaute Minerva grüblerisch an. »Es ist dieses Objekt. Es macht etwas mit einem, wenn man die entsprechende Veranlagung hat. Es vergrößert sie.«

»Das würde erklären, warum man dich auf mich angesetzt hat.«

»Aber wenn es nicht mit dir passiert? Sondern mit mir. Oder mit uns beiden.«

»Ich hatte eine Vision von dem Objekt«, sagte Minerva. »Die Räume haben sich mir geöffnet. Und dann…«

Chandris straffte sich kaum merklich. »Was hast du gesehen?«

»Wesen. Da waren Wesen.«

»Auf dem Objekt gibt es nichts Lebendiges.«

»Vielleicht war es ein Blick in die Vergangenheit. Diese Wesen haben so eine Art Andacht gehalten. Oder etwas angebetet, oder sie haben meditiert. Und mitten im Raum schwebte etwas, das wie ein Kristall aussah.«

»In dem Objekt gibt es auch keinen Kristall.«

»Vielleicht hat es dort mal einen gegeben.«

Chandris sah Minerva rätselnd an. »In deinem Dossier steht nicht, dass du aus der Entfernung scannen kannst.«

»Konnte ich auch nicht. Bis jetzt jedenfalls.«

Chandris schien nachzudenken. Starrte mürrisch vor sich hin, ballte eine Hand zur Faust und entspannte sie wieder. »Es ruft nach dir«, behauptete sie. »Es erweitert deine Fähigkeiten. So wie es meine erweitert hat.«

Minerva schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht. Es ist nur ein Ding. Vielleicht bewirkt es irgendwas, wenn man dort ist. Aber nicht über eine Distanz von vielen Lichtjahren.«

»Ich habe ein ganz, ganz mieses Gefühl. So ist es mir noch nie bei einem Job ergangen.«

»Reg dich ab«, entgegnete Minerva. »Wir dürfen uns da nicht reinsteigern, sonst verpatzen wir noch was.«

Chandris sah ihr fest in die Augen. »Beobachte genau, was in dir vorgeht. Und berichte mir davon, wenn sich deine Fähigkeiten weiter entwickeln.«

»Damit du mich rechtzeitig unschädlich machen kannst?«

»Ich werde alles tun, um das zu verhindern. Bitte vertrau mir.«

»Dann gilt das Gleiche auch für dich«, sagte Minerva. »Und weil ich niemandem mehr vertraue als mir selbst, werde ich dich im Auge behalten. Versuche also nicht, etwas vor mir zu verheimlichen.«

»Abgemacht«, sagte Chandris.

Ein Schauer kroch über Minervas Rücken. Sie dachte an den durchgeknallten Scanner, den Chandris ausgeschaltet hatte. Und an das Inferno, das eine zum Töten ausgebildete Kampfmaschine wie sie anrichten konnte, wenn sie außer Kontrolle geriet. Addierte man noch das ungezügelte Temperament von Ariana hinzu, das vielleicht lediglich durch ein neuronales Implantat unterdrückt wurde, stellte sich ganz von selbst die Frage, warum Brahms sich auf ein derartiges Risiko einließ. War es ihm nicht bewusst, oder gehörte es zum Kalkül irgendeines obskuren Plans?

– 5 –

»Volltreffer!«, jubelt der Gehirnspezialist. Er wendet sich von seinen Monitoren ab und beugt sich mit einem triumphierenden Grinsen über dich. »Da haben wir ja einen formidablen Scanner gefunden. Wie lange weißt du es schon, Kleine?«

»Keine Ahnung, was du da laberst«, entgegnest du schroff.

Der Spezialist schüttelt grinsend den Kopf. Er ist ein bärtiger Kerl mittleren Alters mit dem grob geschnittenen Gesicht eines Bauern. Jedenfalls stellst du dir so einen Bauern vor, auch wenn du, durch und durch ein Geschöpf suburbaner Gefielde, noch nie einen gesehen hast.

»Sei mal nicht so aufmüpfig, junges Fräulein. Du hast dich freiwillig gemeldet, weil du zur AKA willst. Niemand hat dich gezwungen.«

»Noch so ein klugscheißerischer Spruch und ihr habt mich gesehen.«

»Schon kapiert, du bist eine ganz Wilde. Und jetzt sei mal schön brav, damit wir heute noch fertig werden.«

Heute noch: ein überschaubarer Zeitraum. Du hältst es für ein gutes Omen, dass sie sich so viel Mühe mit dir geben. Aber da ist noch jemand, weiter hinten in dem klinisch ausgeleuchteten Saal, und bündelt Aufmerksamkeit. Anscheinend bist du nicht die einzige Sensation hier. Du würdest gerne rübergehen und dieser Person eine reinhauen, dass ihr Hören und Sehen vergeht. Aber die Gesetze der Straße haben hier keine Gültigkeit. Also vergiss es und denk erst gar nicht an Vergeltung. Wofür auch? Du bist auf dem besten Weg, bei der Agentur Karriere zu machen. Steck dein Ego zurück und hör endlich damit auf, den Querkopf zu spielen. Das Riot Girl war gestern. Morgen bist du Spezialagentin der AKA, das willst du nicht vermasseln.

Andere Spezialisten kommen hinzu, umringen den Monitor mit den Messergebnissen. Du beobachtest sie von der Untersuchungsliege aus, mit dem Elektrodenhelm auf dem Kopf. Helle Aufregung in flatternden weißen Kitteln. Wenige Minuten später betritt eine Frau den Raum, groß und ernst dreinschauend, sie trägt Zivil. Du weißt, dass sie wegen dir gekommen ist. Wegen deines, wie es scheint, sensationellen Befundes. Aber sie ignoriert dich und berät sich in gedämpftem Tonfall mit dem bärtigen Gehirnheini.

Fickt euch doch, ihr Wichtigtuer. Ihr macht hier einen auf dicke Hose, um eure Bedeutung zu demonstrieren. Diese Show liefert ihr bestimmt jedes Mal ab, wenn ein junges Ding wie ich halbnackt auf eurer Untersuchungsliege gelandet ist.

Dann musst du kichern, denn in deinem spätpubertären Gehirn, das du in letzter Zeit ein wenig hast verkümmern lassen, wobei wahllose sexuelle Kontakte und der Gebrauch halluzinogener Drogen eine gewisse Rolle gespielt haben mögen… na, jedenfalls läuft in deinem Gehirn ein Szenario ab, in dem sich die Weißkittel mit heruntergelassenen Hosen gegenseitig auf Teufel komm raus in den Arsch ficken und dabei ekstatisch ihre Messergebnisse herunterbeten.

Die Frau in Zivil tritt an deine Liege und mustert dich ausdruckslos. Das graue Kostüm steht ihr gut, ein Modell von der Stange und sicherlich nicht sehr teuer. Ihr schwarzes, strähniges Haar ist im Nacken zu einem lockeren Knoten gebunden.

»Minerva«, sagt sie, »das ist ein seltener Name. Wie nennt man dich, Kleine? Ich tippe auf Minnie…«

»Man nennt mich Minerva«, entgegnest du.

»Ist ja gut, dann eben Minerva. Du bist jetzt fertig hier und kommst mit mir.«

»Warum sollte ich?«

Du kannst es einfach nicht lassen. Immer musst du pokern. Kapier doch endlich, dass du die Straße hinter dir gelassen hast.

»Sieh es mal so, Minerva«, sagt die Frau. »Du kannst aufstehen und gehen, wohin du willst. Du vögelst weiter mit tätowierten, grenzdebilen Primaten herum, lässt dir eine Hepatitis nach der anderen anhängen und gibst dein Geld für Drogen aus, die dir helfen, das alles super zu finden. Oder du willst dein verkacktes Leben hinter dir lassen und wir reden darüber, wie es mit dir weitergeht.«

Ihr Name ist Isobel. Sie verfügt über ähnliche Fähigkeiten wie du und wird dich trainieren. Sie ist eine Veteranin der AKA. Mehr als zwanzig Jahre ist sie von einer Kolonie zur nächsten gereist, bis sie von einer Gruppe Trappist-Bündlern entführt, vergewaltigt und gefoltert wurde. Die Bündler wollten sie dazu zwingen, einen Informanten in ihren Reihen zu entlarven. Ein Sonderkommando konnte sie aufspüren, im anschließenden Gefecht wurde Isobel als Schutzschild benutzt und verlor einen Arm und beide Beine. Die Agentur ließ sich ihre Wiederherstellung ein kleines Vermögen kosten und machte sie zur Ausbilderin.

»Schön, dass Sie mir keine Illusionen verkaufen wollen«, sagst du. »Aber auf mich wirkt Ihre Biografie eher abschreckend.«

»Es ist völlig unwahrscheinlich, dass dir das Gleiche passiert wie mir«, beruhigt dich Isobel. »Ein gewöhnlicher Trooper lebt hundertmal gefährlicher als ein Spezialagent.«

Spezialagent, das klingt enorm geil. Du hast die Comics gelesen und die Filme gesehen, in denen Spezialagenten das Chaos aufräumen, die Menschheit retten und die Frau ihrer Träume erobern. Beziehungsweise den Traumprinzen, wenn es schon unbedingt sein muss. Nicht so einen Arsch wie Kev, dem du vertraut hast und dem es scheißegal war, wer bei dem Duell ins Gras beißen würde – ja, das mit Ari war voll die üble Scheiße und deine Hände fangen immer noch an zu zittern, wenn du daran denkst. Aber was hättest du tun sollen? Ach was, scheiß auf alles. Auf Kev und vor allem auf Lobinger, lass sie weiter im Schlamm ihres abgefuckten Milieus herumkrebsen und in absehbarer Zeit eines unschönen Todes sterben, während du zu den Sternen aufsteigst und Dinge tun wirst, die weit jenseits ihres beschränkten Horizonts angesiedelt sind.

Es gelingt Isobel, deinen Ehrgeiz zu wecken. Du möchtest genauso gut werden wie sie, besser als sie. Mit deinen neunzehn Jahren bist du naiv genug, um an eine steile Karriere bei der Agentur zu glauben. Später wirst du die Erfahrung machen, dass man als Scanner keine Karriere hat. Auch wenn du dich als nützlich erweist, wirst du als potenzielles Sicherheitsrisiko angesehen. Du wirst eine Außenseiterin bleiben, ein Freak in den Augen der anderen. Aber was soll’s, das haben wir ja alles schon gehabt.

Doch von diesen unerfreulichen Perspektiven hast du noch nicht die geringste Ahnung. Du absolvierst eine militärische Ausbildung an den verschiedensten Waffensystemen, übst dich im Nahkampf Mann gegen Mann und belegst Pilotenlehrgänge. Nach einem Jahr kannst du kleinere Flugmaschinen durchs All steuern und einen Kerl, der mehr als das Doppelte wiegt wie du, in weniger als drei Sekunden außer Gefecht setzen.

Den Schwerpunkt jedoch bildet das mentale Training.

Du wirst von insgesamt fünf verschiedenen Ausbildern betreut, die wiederum von Isobel koordiniert werden. Jeder von ihnen hat ein eigenes Fachgebiet. Laurel zum Beispiel bringt dich zu den verschiedensten Orten – Wohnungen und Häuser, manche bewohnt, andere nicht. Oder ein Industriegelände, eine Schule, eine belebte Straßenecke mitten in einer Großstadt. Vielleicht auch mal eine Waldlichtung weitab der Zivilisation. Er lehrt dich, deine Sinne zu öffnen und gezielt die Informationen abzurufen, die in den Orten abgespeichert sind. Und deine Sinne wieder zu verschließen, wenn du das willst. Im Grunde ist das nichts Neues für dich, das hast du schließlich ständig praktiziert – zum Beispiel indem du Häuser aufgespürt hast, die als Unterschlupf für die Posse taugten, weil sich schon lange niemand mehr für sie interessiert hat, die Bullen genauso wenig wie rivalisierende Gangs. Aber es hat dich überrascht, wie viel du noch herausholen konntest. Zeitschienen imaginieren und dadurch Ketten von Geschehnissen rekonstruieren. Auf Kleinigkeiten achten, die sich als wichtige Puzzleteile erwiesen. Manchmal fühlst du dich wie die Herrin über Raum und Zeit.

Mit Laurel könntest du dir theoretisch eine Bettgeschichte vorstellen, er ist nicht zu alt und sieht durchaus passabel aus, und irgendwie kannst du es ihm ansehen, dass er interessiert wäre, wenn du nur den ersten Schritt machst… aber diese Zeiten hast du hinter dir gelassen. Die schmuddelige Raupe Minerva ist Vergangenheit, sie ist ins Verpuppungsstadium eingetreten und auf dem besten Weg, ein prächtiger Schmetterling zu werden. Jedenfalls ist Laurel mehr als zufrieden mit dir, er bezeichnet dich als seine talentierteste Schülerin.

Dann sind da Hanna und Jules, sie arbeiten mit Filmen und Bildern von Orten, Dingen und Personen, auf denen meist nur wenig, manchmal auch überhaupt nichts zu erkennen ist. Die Bilder sprechen zu dir, das schon, aber nicht deutlich genug für eine Analyse, nur so ein hauchzartes Flimmern stellt sich ein.

Was du den beiden vorenthältst: In bestimmten Momenten kannst du in ihren Gedanken und Gefühlen blättern wie in einem Buch. Sie leben in einer Beziehung, die für beide sehr anstrengend ist. Jules ist extrem labil, von Depressionen und Selbstzweifeln geplagt. Medikamente nimmt er keine, weil sie seine feinen Antennen betäuben würden. Hanna ist die einzige Stütze in seinem Leben, doch ihre Kraft geht allmählich zur Neige. Sie spielt mit dem Gedanken, ihn zu verlassen, weiß aber, dass sie es nicht tun wird. Die beiden sind auf ewig zusammengeschweißt in ihrer Dauerkrise. Vielleicht sind sie dadurch so abgelenkt, dass sie die verräterischen kleinen Ausschläge auf ihren Messgeräten übersehen, welche auf den empathischen Aspekt deiner speziellen Features hinweisen. Oder aber sie wollen dir eine Zukunft als aktenkundiger, von allen Seiten argwöhnisch betrachteter Gedankenscanner ersparen, was diesen beiden sensiblen Seelen durchaus zuzutrauen ist. Um die Sache auf sich beruhen zu lassen, verzichtest du darauf, dir die Antworten direkt aus ihren Gehirnen zu holen. Und du bist verdammt stolz auf dich, weil du dich der Versuchung widersetzt hast, deinem Geltungsdrang freien Lauf zu lassen.

Hidalgo wiederum, ein beleibter, lebhafter Clown mit einem roten Rauschebart, verkörpert das Gegenteil des feinsinnigen, schwermütigen Paares. Er erzählt dir Witze – manche unvorstellbar blöd und andere wiederum so komisch, dass du vor Lachen aus dem Stuhl fallen könntest. Dann legt er plötzlich einen Gegenstand auf den Tisch, ein Stück Holz, einen Ziegelstein oder eine Schraube, einmal war es eine tote Ratte, und lässt dich damit allein. Stundenlang. Du weißt, was er von dir erwartet: Dass du dich auf dieses Ding konzentrierst, es anstarrst und zum Sprechen bringst. Geklappt hat es nur mit der Ratte. »Ich muss gleich kotzen«, hast du von dem Vieh empfangen, die Worte haben sich deutlich in deinem Kopf geformt. Als du nach fünf Minuten immer noch gackernd durchs Zimmer torkelst, kommt Hidalgo zurück, Sorgenfalten auf der verschwitzten Stirn. Es stellt sich heraus, dass es sein Gedanke war, den du empfangen hast. Generiert in dem Augenblick, als er die Ratte in seiner Tasche verstaut hat. Irgendwie musste sich die Gefühlsregung, die den Gedanken hervorgebracht hat, im räudigen Fell des verblichenen Nagers verfangen haben.

Hidalgo könnte ein Freund sein. Einer, den man jederzeit um Rat fragen kann und mit dem sich Nächte durchzechen lassen. Dabei weißt du im Grunde nichts über ihn. Nicht einmal, ob er selbst über eine Spezialbegabung verfügt, oder ob er einfach nur ein ausgebuffter Fachidiot ist.

Ach ja, und Irina. Sie nimmt dich mit auf innere Exkursionen. Das ist meist sehr entspannend, aber nicht besonders aufschlussreich. Zumindest nicht für dich. Du begegnest deinen Eltern, deinen Vorfahren und gutmütigen Tieren, die dich »führen«. Du wandelst durch surreale Landschaften, kannst fliegen, musst plötzlich weinen und weißt nicht warum. Das Ganze fühlt sich irgendwie banal an, weil du es dir genauso gut selbst ausgedacht haben könntest. Doch Irina besteht darauf, dass es sich um tiefgreifende, aussagekräftige Bilderwelten handelt. Und sie muss es schließlich wissen.

Auf einer dieser inneren Reisen zeigt sie dir eine Tür, ein mittelalterlich anmutendes Monstrum aus massiven Holzplanken und grob geschmiedetem Eisen. Dahinter läge deine Begabung, sagt sie. Ob du die Tür öffnen willst, um dir deinen ganzen Reichtum zu erschließen? Für einen langen Moment willst du genau das, dann kommt die Angst und du brichst die Sitzung ab. Hinter dieser Tür könnte sich schließlich alles Mögliche verbergen – Dinge, von denen nicht einmal Irina etwas ahnt. Irina verbirgt ihre Enttäuschung hinter einer professionellen Maske, aber du kannst sie trotzdem spüren.

Nichts für ungut, Schätzchen – wenn ich je durch diese Tür gehe, bist du ganz sicher nicht dabei.

Einmal wöchentlich trittst du bei Isobel an und lieferst ihr deine eigene Einschätzung deiner Fortschritte. Du befürchtest jedes Mal, dass sie sich mehr erhofft hat, und fühlst dich als Versager. Vielleicht solltest du doch mit deinem telepathischen Feature Punkte sammeln? Isobel klärt dich auf: Nur ganz wenige Scanner verfügen über mehr als eine spezifische Begabung. Und ein Super-Scanner, der sich in allen Trainingsfächern bewährt, käme wohl nie zum Einsatz, sondern würde sein restliches Dasein in einer abgelegenen Spezialklinik fristen, mithilfe von Medikamenten in einen willenlosen Zombie verwandelt.

»Sie haben Angst vor uns«, schließt Isobel ihre Ausführungen. »Wenn sie uns nicht bräuchten, würden sie uns wegsperren. Oder Schlimmeres. Also sieh zu, dass du dich nützlich machst, und halte dich ansonsten bedeckt.«

Das ist ernüchternd, aber es bestätigt dich in deinen Ängsten und Schlussfolgerungen. Und es erklärt, warum du während deiner Ausbildung keine anderen Nachwuchsscanner getroffen hast. Ihr werdet voneinander ferngehalten, solange eure Fähigkeiten nicht exakt ermittelt worden sind. Und wahrscheinlich auch später noch. Die Zukunft schmeckt nach Einsamkeit.

»Das hört sich scheiße an«, sagst du. »Am liebsten würde ich aussteigen. Das geht doch, aussteigen, oder?«

»Natürlich geht das«, antwortet Isobel. »Aber sie würden dich ständig überwachen. Und bei der kleinsten Verfehlung wegsperren. Du wärst nicht die Erste, mit der sie auf diese Weise verfahren.«

»Das ist Erpressung«, murmelst du und blickst finster in die Ecke. Isobel legt ein feines Lächeln auf.

»Minerva, sieh der Realität ins Auge. Du machst einen guten Deal. Was wäre in deinem alten Leben wohl aus dir geworden? Du arbeitest für die Agentur, lieferst gute Ergebnisse, und die Welt ist in Ordnung. Und wenn du Mist baust, hast du die Konsequenzen zu tragen. So wie bei jedem anderen Job auch.«

– 6 –

Moebius hat die Form eines Fünfecks, einen Kilometer im Durchmesser und zweihundert Meter dick. Ein künstlicher Himmelskörper, der im leeren Weltraum zwischen zwei Sonnensystemen schwebt, umgeben von einem Ring aus Killersatelliten und dauerhaft einsatzbereiten Kampfschiffen. Moebius ist eine Außenstelle des Verteidigungsministeriums, betrieben von der AKA – dem ehemaligen Technologie- und Medienkonzern, der über das Leben auf der Erde und ihren Kolonien bestimmt wie keine andere Institution. Und bis auf eine Handvoll notorischer Querulanten und das Bündnis der Trappist-Kolonien scheint das auch niemanden zu stören.

Fünf Trooper in kompletter Kampfausrüstung erwarteten Minerva und Chandris im Hangar. Bei Minervas früheren Besuchen war jeweils nur ein Kadett erschienen, einmal hatte Brahms’ persönlicher Assistent sie abgeholt. Eine kleine Armee zum Empfang, das war neu.

Sie betraten den Schwindel erregend hohen Rundkorridor, der den Innenbereich von Moebius einfasste. Aufzugschächte, gestaltet wie antike Säulen und von innen heraus golden leuchtend, schmiegten sich an die stahlgrauen Wände. Überwachungsdrohnen schwebten lautlos unter den filigranen Stegen hindurch, die den Abgrund überspannten.

Minerva, die vorausging, wandte sich halb zu Chandris um. »Wem von uns beiden gilt wohl dieser Aufmarsch?«, raunte sie ihr zu. »Vielleicht hätte ich doch nicht ganz so offen mit dir plauschen sollen.«

Chandris blickte stur geradeaus, wechselte ihren schwarzen Koffer von der linken in die rechte Hand.

»Dann war unsere Verabredung in der Gerätekammer vielleicht nur ein weiterer Trick, um mir meine Geheimnisse zu entlocken?«, fuhr Minerva fort. »Gut gemacht, Partnerin. Du verstehst es, Vertrauen zu schaffen.«

Chandris zeigte noch immer keine Reaktion. Minerva empfing von ihr einen schwachen Impuls von innerer Unsicherheit und Gekränktheit. Sie zog ihre unsichtbaren Antennen zurück und streckte sie nach der Eskorte aus.

»Tu das nicht!«, zischte Chandris kaum hörbar.

Minerva ignorierte sie und tastete die Trooper ab. Sie verspürte Gleichmut, Desinteresse und Langeweile, unterlegt mit einer Grundschwingung von antrainierter Achtsamkeit. Die Trooper verrichteten einfach nur ihren Dienst. Nicht einmal Chandris’ ungewöhnliche Erscheinung übte Eindruck auf sie aus, was darauf hindeutete, dass sie schon vorher mit der T-Force zu tun gehabt hatten.

»Du riskierst zu viel«, sagte Chandris. »Warum fragst du nicht Brahms, was er mit diesem Aufwand bezweckt?«

Sie fuhren mit einem der Lifts zu den höheren Etagen hinauf. Überall dieses diffuse, goldene Licht, das einen schläfrig machen wollte. Die Waffen der Trooper waren auf den Boden gerichtet. Minerva entspannte sich. Es war auch denkbar, dass die Sicherheitsbestimmungen generell verschärft worden waren.

Die Trooper führten sie in einen großen, vieleckigen Raum. Indirektes Licht, bequem aussehende Sitzgruppen, wuchernde Topfpflanzen. An den Wänden stumme Projektionen von Straßenszenerien – Menschen, die geschäftig durcheinander wimmelten. Ladenfronten, Bürohäuser, eine Sportarena. Minerva war hier noch nie gewesen. Das Ambiente irritierte sie. Warum wollte Brahms sie nicht wie üblich in seinem spartanisch ausgestatteten Büro treffen?

»Es ist schön, dich zu sehen, Minerva!«