Dezernat für Grenzfälle - Peter Scheerer - E-Book

Dezernat für Grenzfälle E-Book

Peter Scheerer

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Beschreibung

Einfach mal angenommen, du bist der einzige Normalo in einem Team aus paranormal begabten Ermittlern und wirst von deinem bescheuerten Boss auf einen unlösbaren Fall angesetzt. Angenommen, du triffst auf einen charismatischen Popstar, einen philosophierenden Ex-Bullen mit hohem Gewaltpotenzial, eine Schar versponnener himmlischer Botschafterinnen sowie einen schrulligen Buchhändler, der mehr als ein Leben zu haben scheint – und stellst nicht nur fest, dass du mühelos zwischen alternativen Realitäten wandeln kannst, sondern deckst nebenbei auch noch eine Verschwörung von kosmischen Ausmaßen auf… dann heißt du wahrscheinlich Leo Klostermann und dies ist deine Geschichte!

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Veröffentlichungsjahr: 2016

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Inhaltsverzeichnis

Dezernat für Grenzfälle

— 1 —

— 2 —

— 3 —

— 4 —

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– Impressum –

Dezernat für Grenzfälle

© Peter Scheerer 2017

Coverillustration: frey-d-sign

unter Verwendung eines Motivs von 123rf/Bruce Rolff

— 1 —

Leo Klostermann spülte den letzten Bissen seines Hamburgers mit einem Schluck Cola hinunter, als Chief Rumdorff in der Tür zu seinem engen, karg eingerichteten Büro erschien und mit verkniffener Miene signalisierte, dass er ein ernstes Anliegen zur Sprache bringen wollte.

»Essen Sie weiter, Leo. Es ist mir ein Vergnügen, Ihnen bei Ihrem Festmahl zuzusehen.«

Leo putzte seine Finger an einer Papierserviette ab und deutete auf den Besucherstuhl auf der anderen Seite seines Schreibtischs.

»Bin schon fertig, Boss. Legen Sie einfach los!«

Der Chief zog die Tür hinter sich ins Schloss, blieb jedoch mitten im Zimmer stehen. Sein hageres Gesicht war von Sorgenfalten zerfurcht, die sich in den Falten seines zerknitterten Anzugs fortsetzten. Reichlich unpassend dazu strahlte seine dunkelrote Fliege mit den weißen Punkten freigeistige Unbeschwertheit aus.

»Sie wissen, was ich von Ihnen halte, Leo?«

»Sagen wir mal so…« Leo platzierte die zerknüllte Serviette mit einer eleganten Drehung seines Handgelenks im Abfallkorb. »Ich habe eine Ahnung.«

»In meinen Augen sind Sie ein inkompetenter Blödmann. Entspricht das in etwa Ihrer Ahnung?«

»Sie verstehen es, mir zu schmeicheln.«

»Ihre Anwesenheit ist ein unwiderlegbares Indiz für den Niedergang des Dezernats«, fuhr Rumdorff in emotionslosem Tonfall fort. »Gepriesen seien die Tage, als ein gewisser Moses LaRue bei uns den Takt vorgegeben hat.«

»Stimmt, da gab es doch mal diesen durchgeknallten Freak. Was ist aus dem eigentlich geworden?«

»Wenn es bei uns jemals einen Freak gegeben hat, dann sind Sie das. Sie werden von mir geduldet, weil Ihr Schwiegervater über gute Beziehungen zum Innensenator verfügt. Wenn es nach mir ginge, hätten Sie niemals einen Fuß in diese Räume gesetzt.«

»Das sollte mir zu denken geben.«

»Ihre unbeholfenen, ironisch gemeinten Kommentare bestärken mich in meinem Urteil, was Ihre Person betrifft. Tatsächlich habe ich bereits ein Dossier über Sie angelegt, dessen Inhalt Ihre Entlassung mühelos rechtfertigen würde.«

»Dann gestatten Sie mir die Frage, warum ich immer noch hier sitze.«

Chief Rumdorff stützte sich mit den Händen auf den Schreibtisch und blickte Leo herausfordernd in die Augen.

»Tja, das Pendel ist nun mal anderer Meinung.«

»Das, äh… Pendel?«

»Psycho-Kinesiologie«, erläuterte Rumdorff. »Eine spirituelle Technik, mit deren Hilfe ich den Rat höherer Wesen einhole.«

»Verstehe«, murmelte Leo.

»Mir ist bewusst, dass dies Ihren Horizont übersteigt. Umso mehr wundere ich mich, dass Ihre Zugehörigkeit zum Dezernat für Grenzfälle auf der feinstofflichen Ebene durchaus erwünscht zu sein scheint.«

Leo vollführte eine unbestimmte Geste, um seine Verlegenheit auszudrücken. »Damit wäre also alles im grünen Bereich, wenn ich Sie richtig verstehe?«

»In gewisser Weise, ja. Ich habe mich nämlich spontan entschlossen, Sie auf einen bestimmten Fall anzusetzen.«

»Eine gute Idee, Chief. Lassen Sie mich endlich zeigen, was ich drauf habe.«

Rumdorff legte den Kopf schief und rieb mit Daumen und Zeigefinger an seinem Kinn. »Erinnern Sie sich an die Causa Robinson?«

»Elmer Robinson«, sagte Leo. »Der Finanzmakler, der als durchgegartes Steak in seiner Luxuswohnung aufgefunden wurde…«

»…nachdem er am Abend zuvor noch quietschfidel auf einer High-Society-Party getanzt hatte.«

»Die Forensiker haben bestimmt eine plausible Erklärung gefunden.«

»Haben sie nicht«, knurrte Rumdorff. »Da keine Fremdeinwirkung nachgewiesen werden konnte, wurde der Fall zu den Akten gelegt. Das war vor einem halben Jahr. Nicht, dass mir wohl dabei gewesen wäre – ich hasse ungelöste Fälle, aber dieser war aussichtslos. Und jetzt stehen wir vor einem Problem.«

»Es hat einen neuen, ähnlichen Fall gegeben?«

»Halten Sie den Mund und hören Sie mir zu. Elmer Robinson hatte eine Freundin, Melissa van der Graaf…«

»Die Witwe von Ludwig van der Graaf, dem Architekten? Der das neue Weltwirtschaftszentrum entworfen hat?«

Rumdorff nickte. »Genau die. Sie ist äußerst großzügig, wenn es darum geht, der Stadt und ihren Institutionen finanziell unter die Arme zu greifen. Was ich damit sagen will: Sie hat eine Menge Freunde in einflussreichen Positionen.«

»Die nun Druck machen, damit der Fall neu aufgerollt wird?«

»So ist es. Also werden wir tun, was man von uns erwartet. Deshalb habe ich versprochen, einen meiner fähigsten Leute auf die Sache anzusetzen.«

»Und worin besteht nun mein Job?«, fragte Leo. »Darf ich für diesen fähigen Mitarbeiter, wer immer es auch sein mag, Tee kochen? Seine Schleppe tragen? Machen Sie’s nicht so spannend, bitte.«

Rumdorff winkte ab. »Hören Sie auf mit dem Quatsch. Es ist Ihr Fall, Leo. Ganz allein Ihr Fall.«

»Sie stellen mich vor ein Rätsel, Boss.«

»Ein Rätsel, das keines ist. Der Fall ist unlösbar – egal, wem ich ihn gebe. Die Elite des Dezernats hat sich schon längst die Zähne daran ausgebissen. Um die Zeit meiner besten Leute nicht zu vergeuden, übergebe ich den Fall Ihnen. Sie können nicht viel falsch machen, weil so oder so nichts dabei herauskommen wird.«

»Und falls ich doch etwas herausfinde?«

Der Chief ließ sich mit einem resignierten Ächzen auf dem Besucherstuhl nieder.

»Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Aber Ihr Einwand ist nicht von der Hand zu weisen. Die höheren Wesen sind nicht ohne Grund der Ansicht, dass Sie der richtige Mann für diese Aufgabe sind.«

Leo rutschte tiefer in seinen Sessel und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Was sagt eigentlich der Innensenator dazu? Dass der Leiter des Dezernats für kriminalistische Grenzfälle seine Entscheidungen anhand eines Pendels trifft?«

Chief Rumdorff legte ein süffisantes Grinsen auf. »Der Senator zieht lieber das Tarot zu Rate. Ansonsten greift er auf die Fähigkeiten von mindestens drei Hellsehern zurück. Zerbrechen Sie sich seinetwegen also nicht den Kopf.«

Leo schluckte. »Übrigens habe ich nicht im Geringsten die Absicht, Sie in irgendeiner Form zu denunzieren…«

»Natürlich nicht. Ein schleimiger Möchtegern-Karrierist wie Sie würde sich niemals zu so etwas her­ablassen.«

»Irgendwie haben Sie’s heute besonders auf mich abgesehen.«

»Ach Leo, Sie werden’s schon verkraften. Übrigens sind die Akten bereits auf dem Weg zu Ihnen nach Hause.«

»Zu mir nach Hause?«

Rumdorff kostete den Moment sichtlich aus. »Nach Hause. Weil Sie diese Arbeit in Ihrer Freizeit bewältigen werden. Es soll sich bei uns nicht herumsprechen, dass ich ausgerechnet Ihnen diesen Job gegeben habe. Ansonsten erwarte ich Sie nach wie vor um Punkt acht an Ihrem Arbeitsplatz.«

»Das ist nicht fair«, protestierte Leo. »Sie können mich auf einfachere Weise loswerden. Darauf läuft es doch hinaus, oder?«

»Hören Sie auf zu jammern. Meinen Sie etwa, ich wüsste nicht, dass Sie hier kommen und gehen, wann Sie wollen?«

Chief Rumdorff stand auf und griff nach dem Türknauf. »Übrigens werden Sie nicht völlig auf sich selbst gestellt sein. Sobald ich es als sinnvoll erachte, wird Ihnen Moses LaRue als Mentor zur Seite stehen. Dieser Freak, Sie wissen schon.«

»LaRue? Aber der ist doch aus dem Spiel.«

»LaRue ist niemals aus dem Spiel. Man muss ihn nur ein bisschen Blut lecken lassen, und schon steht er in Höchstform auf der Matte.«

»Warum lassen Sie die Akten dann nicht gleich zu ihm bringen?«

»Oh, er hasst Akten. Einer der Gründe, aus denen er dem Dezernat nicht mehr angehört.«

Der Chief rückte seine Fliege zurecht und trat auf den Gang hinaus. Leo starrte die Tür an. Moses LaRue hasste Akten, das machte ihn beinahe sympathisch. Aber eben nur beinahe. Sein Ruf als exzentrisches Arschloch eilte ihm weit voraus. Zudem wurde ihm eine magnetische Anziehungskraft aufs weibliche Geschlecht nachgesagt. An seinem Äußeren konnte es nicht liegen. Leo hatte Fotos von ihm gesehen: ein untersetzter, kahlköpfiger Macho mit buschigen Augenbrauen und einem absurd dimensionierten Oberlippenbart.

Leo entsorgte die Überreste seiner Mahlzeit im Abfallkorb und schlug die Akte auf, mit der er die vergangenen zwei Bürotage verbracht hatte. Sieben Verkehrsunfälle, die sich gleichzeitig, am dritten Juni punkt vierzehn Uhr zweiunddreißig nämlich, in einem Gebiet von circa fünf Quadratkilometern ereignet hatten. Existierte ein Zusammenhang? Falls ja, war dieser kausal oder nonkausal? Gab es Parallelen, ein System, versteckte Übereinstimmungen? Leo hatte keine Ahnung, wie viele dieser Phänomene aufgeklärt und wo die gewonnen Informationen weiter verwertet wurden.

Er schaute auf seine Armbanduhr – eine Breitling der mittleren Preisklasse, Emily hatte sie ihm in ihrem ersten gemeinsamen Jahr zum Geburtstag geschenkt. Ein kleines Freudenfeuer loderte in seiner Brust auf. Es galt, noch zwei, drei Stunden im Büro abzusitzen, ehe er Emily wieder in die Arme schließen konnte. Sie war sein sicherer Hafen, sie war die Sonne in seinem Leben. Und solange diese Sonne strahlte, würden Anfeindungen von Idioten wie Rumdorff wirkungslos von im abperlen.

Dann dachte er an die Akten, die inzwischen bei ihm zuhause angekommen sein mussten. Er richtete den Blick aufs Telefon und machte sich auf Emilys entrüsteten Anruf gefasst.

— 2 —

Der Anruf blieb aus, doch als Leo nach Hause kam, lief Emily in ihren dicken Wollsocken vor den unansehnlichen Kartons, die den Flur säumten, auf und ab, als wären sie Rekruten, denen sie gleich eine Standpauke halten würde.

»Leo, warum hast du mir nichts davon gesagt? Diese Kartons sind scheußlich. Deprimierend scheußlich. Du willst sie doch nicht etwa hier stehen lassen?«

»Du hättest dem Fahrer sagen können, dass er sie in mein Arbeitszimmer bringen soll.«

Emily stampfte mit dem Fuß auf und verschränkte die Arme vor der Brust. »Und woher hätte ich wissen sollen, dass sie ausgerechnet in dein Arbeitszimmer gehören?«

»Weil es Akten sind, und die gehören nun mal ins Arbeitszimmer. Aber nun lass uns nicht wegen dieser paar Kartons streiten. Ich trage sie gleich rauf, und du wirst nicht mehr an sie denken.«

»Aus deinem Mund hört es sich immer so an, als wäre alles kein Problem.«

»Aber es gibt kein Problem! Nur ein paar Kartons, das ist alles.«

»Ich finde es trotzdem nicht gut, dass du jetzt deine Arbeit mit nach Hause nimmst.«

Leo strahlte Emily vergnügt an. »Wer redet von Arbeit? Ich sehe nebenbei ein paar Akten durch, komme zu keinem Ergebnis – und in ein paar Tagen werden sie wieder abgeholt.«

Sie machte einen Schmollmund. »Manchmal habe ich den Eindruck, dass du überhaupt nichts ernst nimmst.«

»Du weißt, dass das nicht stimmt. Sonst wärst du nicht mit mir verheiratet.«

»Vielleicht bist du ja genau deswegen mit mir verheiratet – ach, egal.«

Er zog sie an sich und strich über ihr glattes, schwarzes Haar, saugte ihren frischen Duft ein. Sie regte sich schnell auf, doch genauso schnell war die Aufregung meist wieder verflogen. Seit der Absage von Invasive Records flippte sie zwar noch schneller aus als sonst. Aber auch das würde sich geben. Schließlich ging es nicht um existenzielle Belange, sondern um ihre Anerkennung als Künstlerin. Emilys Vater, David Eukarius Thomsen, war der erfolgreichste Anwalt der Stadt. Die Thomsens schwammen in Geld. Emily konnte ihre eigene Plattenfirma gründen, wenn sie wollte.

Leos Familie war zwar nicht annähernd so reich wie die Thomsens, aber wenn kein apokalyptischer Börsencrash dazwischenkam, konnte er den Rest seines Lebens mit gepflegtem Nichtstun verbringen. Den Job beim Dezernat hatte er nur angenommen, um Emilys Eltern zu beweisen, dass er kein nutzloser Tagedieb war, der sich nach einem mit Ach und Krach abgeschlossenen Jurastudium dem Müßiggang hingab.

Emily entspannte sich in seinen Armen und blickte ihn forschend an. Die blauen Augen in ihrem perfekten, runden Gesicht leuchteten wie kleine Seen im ersten Morgenlicht.

»Heute Abend kommen Heidi und Roger zu Besuch. Meinst du, bis dahin hast du die Kartons nach oben geschafft?«

»Die beiden hatte ich total vergessen. Tut mir leid, Schatz. Zu viel Ablenkung im Büro…«

»Schon gut.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss. »Ehrlich gesagt finde ich es toll, wie du dich in deinen Job reinhängst. Ich bin mir sicher, du wirst noch eine steile Karriere hinlegen.«

Er blinzelte sie treuherzig an. »Irgendwann vielleicht schon, aber ganz bestimmt nicht bei den Grenzfällen.«

»Sag das nicht. Mein Vater ist der Meinung, bei den Grenzfällen wärst du gut aufgehoben. Dort kämen herausragende Begabungen zum Vorschein, die woanders nicht entdeckt werden.«

Leo seufzte. »Dein Vater ist ein Meister der feinsinnigen Ironie. Zumal meine herausstechende Begabung vor allem darin besteht, die Zeit im Büro mit Tagträumen totzuschlagen.«

»Das kaufe ich dir nicht ab.« Emily wies auf die Kartons. »Einem Träumer vertraut man nicht all diese geheimen Akten an. Du solltest dich nicht ständig unterschätzen, Leo. Ich weiß, dass du zu großen Dingen in der Lage bist.«

»Vielleicht hast du ja recht. Aber im Moment steht ausschließlich stumpfsinnige Büroarbeit auf meiner Agenda.«

Auf Emilys Stirn bildete sich eine steile Falte. »Du hast doch nicht etwa vor, den Abend mit deinen Akten zu verbringen?«

»Ich werde sie nur mal eben durchblättern«, sagte er. »Um mir einen Überblick zu verschaffen. Wann kommen unsere Gäste?«

»Gegen neun. Aber du weißt ja, wie unpünktlich Roger sein kann.«

»Wenn es dir nichts ausmacht, werde ich ein bisschen später zu euch stoßen.«

Ein missmutiger Ausdruck legte sich auf ihre Züge und war im nächsten Augenblick wieder verschwunden.

»Geht in Ordnung, Leo. Das wird sicher noch öfter vorkommen. Jetzt, wo du es so richtig anpackst. Magst du einen Kaffee?«

»Ganz sicher mag ich einen Kaffee.«

Sie löste sich aus seinen Armen und verschwand in der Küche. Leo zog das Sakko aus und hängte es an die Garderobe, krempelte die Hemdärmel hoch und wuchtete den ersten von insgesamt sieben Kartons die Treppe rauf.

— 3 —

Elmer Robinsons Biografie las sich wie eine Anleitung zum Erfolg. Aufgewachsen in ärmlichen Verhältnissen, hatte er bereits als Zehnjähriger alle möglichen Jobs angenommen. Mit sechzehn hatte er aus seinem Freundeskreis eine Putzkolonne rekrutiert und eine gestandene Firma aufgebaut, die er wenige Jahre später einem seiner Mitstreiter verkaufte. Den Erlös hatte er in Aktien investiert. Mit fünfundzwanzig war er stinkreich gewesen, das Geld war ihm von allen Seiten zugeflossen. Woran sich bis zu seinem mysteriösen Ende nichts geändert hatte. Zudem hatte er sich einen veritablen Ruf als Gesellschaftslöwe erarbeitet. Obwohl fest mit Melissa van der Graaf liiert, hatte er sich in der Öffentlichkeit regelmäßig mit berühmten Models, Schauspielerinnen und Sängerinnen gezeigt, unter anderem mit der mysteriösen Moon Destiny – was Leo nicht einleuchtete, denn die ätherische Chanteuse machte aus ihrer Abneigung gegen Kapitalismus, korrupte Eliten und habgierige Konzerne kein Geheimnis.

»Ist das Moon Destiny auf dem Foto?«

Leo zuckte vor Schreck zusammen. Emily hatte geräuschlos das Zimmer betreten und beugte sich mit vor Aufregung geweiteten Augen über seine Schulter, um das Bild zu betrachten.

»Du hättest anklopfen können«, sagte er.

Sie nahm das Foto aus seiner Hand. »Das war vor drei Jahren, auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung zugunsten von Obdachlosen. Elmer Robinson hat eine halbe Million gespendet an diesem Abend.«

»Hat er?«

Sie sah ihn stirnrunzelnd an. »Ja, hat er. Sonst wäre Moon garantiert nicht auf diesem Foto mit ihm zu sehen. Übrigens war sie Schirmherrin dieser Veranstaltung.«

»Ist mir neu, dass Robinson sich als Wohltäter hervorgetan hat.«

»Steht das nicht in deinen Akten?«

»Wahrscheinlich schon, aber ich habe gerade erst angefangen.«

»Moon hat einen anderen Menschen aus ihm gemacht«, sagte Emily. »Er gab eine Party, wollte seinen Gästen etwas ganz Besonderes bieten. Und ließ Moon auf dem Fest auftreten. Sie muss gewusst haben, dass sie mit ihrer Musik sein kaltes Herz erreichen würde. Sonst hätte sie das Angebot abgelehnt.«

»Du meinst, sie hat ihn um ihren Finger gewickelt?«

Für einen Moment zeigte sich Entrüstung in Emilys Zügen.

»So etwas hat sie nicht nötig. Du solltest dich intensiver mit ihrer Musik beschäftigen. Dann würdest du verstehen, welche Wirkung von ihr ausgeht.«

»Millionen von Menschen hören ihre Musik«, sagte Leo. »Ohne dass sich die Gesellschaft spürbar verändert.«

Emily gab ihm das Bild zurück und zupfte an seinem Ohrläppchen. »Weißt du noch, wie wir uns kennen gelernt haben?«

»Traust du mir wirklich zu, dass ich das jemals vergessen könnte?«

»Ich bin im Blue Café aufgetreten. Du kamst zur Tür herein, als ich ein Cover von Generous gespielt habe. Einen von Moons älteren Songs. Du hast mich in der Pause darauf angesprochen. Und wir wissen beide, was daraus entstanden ist.«

»Ich hatte da so eine Phase«, räumte er ein. »Nach der Trennung von Linda habe ich manchmal Moon Destiny gehört.«

»Ihre Musik gab dir Trost«, behauptete Emily.

Leo stand auf, legte die Hände auf ihre Schultern. »Ja, es hat mir bestimmt gut getan. Aber der Grund, dass ich dich angesprochen habe, warst du, sonst nichts.«

»Schon gut, Leo. Ich bin keine dreizehn Jahre alt und verehre nicht blindlings irgendein Idol. Ich finde es nur schade, dass es so schwer ist, meine Empfindungen mit dir zu teilen. Musik kann eine Brücke in eine andere Welt sein.«

Er zog sie an sich und küsste sie auf die Stirn. »Weißt du, dass mein Boss mit höheren Wesen spricht? Dass der Innensenator Karten legt und Hellseher befragt? Und meine Kollegen folgen so gut wie ausschließlich den Einflüsterungen göttlicher Intuition… deshalb bitte ich dich um Verständnis, wenn ich einen großen Bogen um Brücken mache, die in andere Welten führen.«

Emily kraulte seinen Nacken, schmiegte ihre Wange an seine Brust. »Schon gut, Leo. Bleibe einfach so, wie du bist. Wir teilen so Vieles miteinander, dass es nicht darauf ankommt, ob wir gemeinsam zu einer bestimmten Musik schmachten.«

»Du bist einfach wunderbar«, murmelte er.

»Ich weiß.« Sie streifte seine Arme ab und ging zur Tür. »Heidi und Roger werden in einer halben Stunde da sein. Ich muss mich noch ein bisschen auftakeln.«

»Übertreib’s aber nicht!«, rief er ihr nach.

Emily lachte. »Nur wenn du versprichst, dass du später zu uns herunterkommst.«

»Das werde ich. Auch wenn mich deine Freunde für einen Spießer halten.«

»Sie halten dich für einen Spinner. In Künstlerkreisen gilt das als Kompliment.«

Abgang Emily. Zurück zu Elmer Robinson.

Dessen zweite Karriere als Mäzen der Künste und Unterstützer der Armen unmittelbar nach seiner Begegnung mit Moon Destiny begonnen hatte, wie den Akten zu entnehmen war. Wobei Moon lediglich in einer langen Liste von Kontaktpersonen erwähnt wurde. Doch wie tief hatte ihre Beziehung zu dem Finanzjongleur wirklich gereicht?

Leo klappte die Akte zu und lümmelte sich in seinen Stuhl. Er durfte nicht der Versuchung erliegen, sich von Nebensächlichkeiten ablenken zu lassen. Emilys Schwärmerei für Moon Destiny sollte seine Recherchearbeit auf keinen Fall beeinträchtigen.

Doch falls Robinsons Bekehrung zum Wohltäter wirklich bei dem Privatkonzert stattgefunden hatte, dann vielleicht deshalb, weil Moon etwas Kompromittierendes gegen ihn in der Hand gehabt und ihn damit unter Druck gesetzt hatte?

Aber das war der Stoff, aus dem Kriminalromane und Fernsehserien geschnitzt wurden. Er musste sich an die Fakten halten, auch wenn nichts dabei herauskommen würde.

Von unten drang sphärische Musik herauf. Klänge wie aus einer anderen Welt, dazu die schmeichelnde, gläserne Stimme von Moon Destiny.

Wie alt sie inzwischen wohl war? Mindestens Ende Dreißig. Dabei sah sie immer noch genauso aus wie zu seiner Studentenzeit, als er ihr maskenhaftes, durchscheinendes Gesicht, umrahmt von weißblondem Engelshaar, in einer Zeitschrift aufgefallen war. Ihre Züge deuteten auf einen asiatischen Ursprung hin, zeugten vielleicht aber auch von diversen chirurgischen Eingriffen… nein, zu so etwas würde sich Moon Destiny niemals hinreißen lassen. Ihre Jugend und Schönheit kamen von innen, aus ihrem Herzen, aus ihrem unerschütterlichen Glauben an die Liebe…

Ich sollte mich als ihr Pressesprecher bewerben, dachte Leo.

— 4 —

Emily hatte das Haar auftoupiert und trug ein kurzes, schwarzes Kleidchen mit reichlich Spitze am Dekolleté. Leo beobachtete sie kurz von der Galerie aus, ehe er die Wendeltreppe zum Wohnzimmer hinunterstieg. Er fand es immer wieder verblüffend, mit welch geringem Aufwand sie so viel Glamour erzeugen konnte – eine Folge jahrelanger Bühnenroutine.

Emily wurde auf ihn aufmerksam. Sie kam ihm ein paar Stufen entgegen und nahm seine Hand.

»Verehrte Gäste, mein Ehemann gibt sich die Ehre. Wie ihr wisst, ist er etwas scheu und hadert mit seinen sozialen Fähigkeiten. Seid also verdammt nochmal nett zu ihm.«

Zwei Gläschen Wein, urteilte Leo. Das entsprach der Menge an Alkohol, die Emilys latenten Hang zur Ironie freisetzte.

»Hi Leo«, sagte Roger. »Wie geht’s denn so? Emily sagt, du steckst bis über beide Ohren in Arbeit. Hoffentlich springt dabei auch ordentlich was raus für dich.«

Roger hatte seinen schlaksigen Körper auf dem Sofa platziert. Er prostete Leo mit einem leeren Whiskyglas zu. Seine rote Krawatte bildete Schlangenlinien auf seiner Brust. Roger war eigentlich Jazzmusiker, hatte jedoch zwei oder drei Popsongs für Emily geschrieben. Sein größter Coup war der Soundtrack zu einer erfolgreichen Seifenoper.

»Ein Scheiß springt heraus«, sagte Leo. »Bei meinem Verein gibt’s nun mal keine Tantiemen.«

Er beugte sich zu Heidi vor, um die obligatorischen Bisous auszutauschen. Heidi war eine füllige Rothaarige mit einem gutmütigen, grob geschnittenen Gesicht. Sie spielte Klavier, Cello, Gitarre und noch ein paar andere Instrumente. Emily trat des Öfteren mit ihr auf.

»Schön, dass du dir Zeit für uns nimmst«, sagte Heidi.

»Ich werde versuchen, euch nicht übermäßig zu langweilen«, erwiderte er.

Roger lachte. »Red kein Blech, Leo. Dein Job ist viel spannender als meiner. Ich wette, du hast die besseren Stories auf Lager.«

»Leo, was möchtest du trinken?«, fragte Emily.

»Whisky«, antwortete Leo. »Ja, ich finde, ich habe heute einen strammen Schotten verdient.«

Roger streckte die Hand mit dem leeren Glas aus. »Mir bitte auch noch einen.«

Heidi signalisierte mit ihren braunen Kuhaugen, dass sie nicht einverstanden war. Aber da hatte Emily bereits die Flasche in der Hand und schenkte ein.

»Sie haben mir einen ungelösten Fall aufgebrummt«, sagte Leo. »Einen Fall, an dem sich die alten Hasen die Zähne ausgebissen haben. Mein Boss scheint der Ansicht zu sein, dass ich eine Beschäftigungstherapie nötig habe.«

»Warum so negativ?«, fragte Roger. »Sieh es einmal anders herum. Die alten Hasen sind mit ihren eingefahrenen Denkmustern in einer Sackgasse gelandet. Jetzt setzt man auf dich, den unverbrauchten Newcomer.«

»Hast du denn schon etwas heraufgefunden?«, wollte Heidi wissen.

»Und ob ich etwas herausgefunden habe«, antwortete Leo. »Der Typ, dessen Tod ich aufklären soll, war mit Moon Destiny befreundet. Das nenne ich einen spektakulären Ermittlungserfolg.«

Roger grinste von Ohr zu Ohr. »Und? Hat sie’s getan?«

Leo nippte am Whisky. »Nein, sie war es nicht. Niemand war’s! Da ist einfach nur jemand gestorben und hat uns ein makabres Rätsel hinterlassen.«

»War Moon sehr eng mit ihm befreundet?«, fragte Heidi. »Mit dem Mann, der da ermordet wurde?«

»Von Mord war keine Rede«, stellte Leo klar.

»Es war dieser Finanzmakler«, sagte Emily. »Elmer Robinson. Moon hat ihn mit ihrer Musik zur Menschlichkeit bekehrt.«

Leo verkniff peinlich berührt das Gesicht und setzte sich neben Roger aufs Sofa.

»Emily, du weißt, dass ich eigentlich nicht darüber reden sollte.«

Emily gab sich unbeeindruckt. »Ach komm schon, es bleibt doch alles unter uns.«

»Moon macht gerade eine harte Zeit durch«, sagte Heidi. »Erst kürzlich wurde eine ihrer Backgroundsängerinnen umgebracht.«

»Davon weiß ich gar nichts!«, platzte Emily heraus.

»Irgendwie ist es ihrem Management gelungen, ihren Namen aus den Medien herauszuhalten. Aber weil wir Layla gekannt haben…«

»Wann ist das passiert?«, fragte Leo.

»Vor ungefähr einem halben Jahr«, sagte Roger. »Kurz nachdem es diesen Robinson erwischt hat.«

»Es muss Moon ins Herz getroffen haben«, sagte Heidi. »Sie und Layla standen sich sehr nahe.«

»Was immer man darunter verstehen mag…«, begann Roger.

Heidi schlug ihm aufs Knie. »Deine chauvinistischen Männerfantasien kannst du in die Tonne treten!«

Leo betrachtete versonnen den bernsteinfarbigen Schotten in seinem Glas. »Es könnte natürlich Zufall sein…«

»Sieht der Meisterdetektiv einen Zusammenhang?«, hakte Roger nach.

»Wie hat man sie umgebracht?«

»Sie wurde regelrecht in Stücke gehackt«, antwortete Roger. »In ihrer eigenen Wohnung. Die Tür war von innen durch eine Kette gesichert, als man sie fand. Als wäre der Täter durch die Wand gegangen.«

»Ich habe einige Male mit Layla zusammengearbeitet«, sagte Heidi mit verklärter Miene. »Sie war etwas ganz Besonderes. Ein Engel in Menschengestalt.«

»Ich kannte sie, als sie noch ein Junkie war«, sagte Roger. »Wenn das Geld für ihren nächsten Schuss nicht reichte, ließ sie sich nach dem Gig auf der Toilette vögeln. Und zwar von Männchen und Weibchen.«

»Dann hast du sie nicht gekannt«, entgegnete Heidi.

»Können wir bitte über etwas anderes reden?«, fragte Emily. »Dieses Thema schlägt mir auf den Magen.«

»Wir leben in dunklen Zeiten«, sagte Roger und leerte sein Glas mit einem Zug. »Aber Leo wird uns vor den Mächten der Finsternis erretten. Das wirst du doch, Leo, oder?«

Leo kippte ebenfalls seinen Whisky hinunter. »Na klar werde ich das. Die Meister des Universums haben mich entsandt, um euch von allem Übel zu erlösen. Feierabend und Wochenenden inbegriffen. Darauf sollten wir gleich noch einen trinken, was meint ihr?«

— 5 —

Leo ließ die Akte Layla aus dem Archiv bringen. Roger hatte nicht übertrieben: Layla war mehrmals wegen Drogenbesitzes und Prostitution verknackt worden. Die Wende war gekommen, als Moon Destiny sie in ihren Backgroundchor aufgenommen hatte. Keine Drogen mehr, keine kriminellen Freunde. In der Weihnachtszeit trat Layla gratis in Altenheimen und Waisenhäusern auf. Sie sprach vor Schulklassen und in Jugendgefängnissen über ihre überwundene Sucht. Leo fand es bemerkenswert, dass sie weder Gott, noch Jesus oder die heilige Jungfrau Maria ins Spiel gebracht hatte. Sie hatte ihren eigenen Weg gefunden, das imponierte ihm.

Chief Rumdorff polterte zur Tür herein.

»So früh schon an der Arbeit? Was ist passiert, Leo? Hat Ihre Frau Sie rausgeworfen wegen der hässlichen Akten, die nun Ihr kuscheliges Heim verschandeln?«

»Anstatt sich über mich lustig zu machen, könnten Sie mir einen Kaffee bringen.«

»Bei Ihnen paaren sich Frechheit und Inkompetenz in einem Maße, dass ich um meinen Job bangen sollte. Im Ernst, Leo – auf diese unverschämte Tour können Sie es tatsächlich noch weit bringen.«

»Ihren Job dürfen Sie behalten«, sagte Leo, ohne von der Akte aufzublicken. »Ich trachte nach nichts Geringerem als dem Amt des Innensenators.«

»Da bin ich ja beruhigt.«

»Spaß beiseite, Boss. Eigentlich wollte ich mit Ihnen reden, und zwar über…«

»Sie wissen, wo mein Büro ist. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte.«

Rumdorff ließ die Tür hinter sich zufallen. Leo knabberte an seinem Bleistift.

Zwei Menschen, die mit Moon Destiny und ihrer Musik in Berührung gekommen waren, ihrem Leben eine neue Richtung gegeben hatten – und auf rätselhafte Weise gestorben waren. Eine Beweiskette sah anders aus. Doch beim Dezernat für Grenzfälle nahm man intuitive Schlussfolgerungen ernst, hier wurde auch den akausalen Zusammenhängen auf den Grund gegangen.

Leo klemmte die Akte Layla unter den Arm und machte sich auf zu Rumdorffs Büro. Kaffeegeruch wehte durch die Gänge und brachte ihn auf den Gedanken, dass sich das mit Sicherheit unerfreulich verlaufende Vorsprechen bei seinem Boss mit einer Dosis Koffein in den Adern besser verkraften ließ. Er unternahm einen Abstecher zur Kantine, einem kleinen, fensterlosen Aufenthaltsraum mit zwei bescheidenen Holztischen, um die eine Anzahl Stühle gruppiert waren. Vier Personen aus dem Dezernat waren anwesend, von denen Leo nur eine mit Namen kannte: Dorothea Sommerberg, eine drahtige Rothaarige mit knochigen Gesichtszügen, einem ausgeprägten Kinn und einer Vorliebe für strenge, gouvernantenhafte Outfits. Die anderen drei waren Männer in zerknitterten Hemden. Mit denen hatte er hin und wieder ein »hallo« auf dem Korridor ausgetauscht.

Sommerberg lachte burschikos auf, während Leo am Kaffeeautomaten hantierte.

»Gotthard, du Ferkel! Danach habe ich dich nun wirklich nicht gefragt. Komm, versuchen wir es noch einmal. Aber denk dieses Mal an etwas Jugendfreies, okay?«

Der Angesprochene lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, verschränkte die Hände im Schoß und schloss die Augen. Die Blicke seiner beiden Kollegen wanderten erwartungsvoll zwischen ihm und Dorothea Sommerberg hin und her.

»Ich bekomm dich voll rein«, sagte einer von ihnen. »Du fragst ihn gerade, was er…«

»Ruhe im Kuhstall!«, fauchte die Sommerberg. »Ich will wissen, ob Gotthard es reinbekommt. Ah, da ist es schon… entspann dich, Gotthard. Zwei Monate Jugendknast, richtig? Weil du das Mädchen von nebenan dazu gezwungen hast, sich vor dir in der Waschküche auszuziehen.«

»Ich hab’s mir eigentlich nur gewünscht«, sagte Gotthard. »Da war keine Absicht dahinter. Himmel Arsch, ich war fünfzehn! Ich konnte es doch selbst kaum glauben.«

»Sie hat gedacht, du wärst es gewesen. Nächstes Mal solltest du bei deinem Opfer die Erinnerung löschen.«

»Ich habe das nie wieder gemacht. Und ich habe auch nicht vor, es wieder zu tun.«

»Wie das halt so ist mit den Vorsätzen«, frotzelte einer der beiden Kollegen.

»Weißt du was?«, sagte Gotthard. »Du kannst mich mal.«

»Oh wie köstlich!«, frohlockte Sommerberg. »Ihr Buben seid euer Geld wert.«

Leo flüchtete mit seinem Kaffeebecher auf den Flur. Leute wie Sommerberg waren ihm unheimlich. Er hätte sie gern als Scharlatane abgetan, aber das Dezernat für Grenzfälle baute auf ihre Fähigkeiten. In der restlichen Welt galten sie als Außenseiter, hier bildeten sie die Norm. Und er, der verhinderte Jurist und Sohn halbwegs reicher Leute, war die bemitleidenswerte Ausnahme.

Er trank hastig seinen Kaffee, warf den Becher in einen Abfalleimer und schlug den Weg zu Chief Rumdorffs Büro ein. Vor der Tür ging er für einen Moment in sich und überlegte, ob er wirklich das Richtige tat.

Er klopfte an, drehte am Türknauf und trat ein. Rumdorff saß hinter seinem Schreibtisch und blickte angestrengt auf das Messingpendel, das unter seinen Fingern an einem silbernen Kettchen tanzte.

»Boss, ich muss…«

»Psst«, machte Rumdorff. »Ich habe gerade eine spirituelle Konferenz.«

»Das trifft sich ausgezeichnet.« Leo legte die Akte auf Rumdorffs Schreibtisch. »Dann erkundigen Sie sich bei den höheren Wesen gleich mal nach dem Zusammenhang zwischen der Causa Robinson und diesem Fall hier.«

Rumdorff, die Augenbrauen auf indignierte Weise hochgezogen, ließ das Pendel in der Hosentasche verschwinden und las die Beschriftung der Akte.

»Woher haben Sie das?«

»Aus dem Archiv. Noch ein ungelöster Fall.«

»Man ist zu dem Schluss gekommen, dass wir nicht zuständig sind. Den entsprechenden Vermerk haben Sie anscheinend übersehen.«

»Fenster geschlossen, die Tür von innen verriegelt. Im Badezimmer eine zerstückelte Leiche. Und dafür sollen wir nicht zuständig sein?«

»Es ist nicht sicher, ob die Tür wirklich verriegelt war. Vielleicht hat sie auch nur geklemmt, als die Polizisten sie gewaltsam geöffnet haben.«

»Der Bericht stellt eindeutig klar, dass die Tür…«

»Der Bericht stellt überhaupt nichts klar. Es hat eine Menge Kleinholz gegeben bei der Aktion.«

»Das Opfer sang im Backgroundchor von Moon Destiny. Zu der Elmer Robinson ebenfalls Beziehungen pflegte. Des Weiteren fanden beide Morde innerhalb einer Woche statt.«

»Dann haben Sie also herausgefunden, dass Elmer Robinson ermordet wurde? Respekt, Leo. Bestimmt können Sie das auch beweisen.«

»Seit ich Laylas Fall kenne, gehe ich davon aus, dass es Mord war. Auch wenn ich mir über die Methode noch nicht im Klaren bin.«

»Ein typischer Anfängerfehler«, sagte Rumdorff in generösem Tonfall. »Anfänger sehen Zusammenhänge, weil sie sie sehen wollen. Aber das Dezernat ist keine Spielwiese für jedwede überbordende Fantasie. Auch kriminalistische Grenzfälle wollen nüchtern betrachtet und methodisch verfolgt werden. Was wir hier machen ist im Grunde Polizeiarbeit, wenn auch mit unterschiedlichen Mitteln.«

»So sehe ich das auch«, erwiderte Leo. »Deshalb brauche ich die Genehmigung für eine Befragung.«

»Und wen wollen Sie befragen, wenn ich fragen darf?«

»Moon Destiny, die Sängerin.«

Rumdorff ließ sich mit dem Stuhl nach vorn kippen und stützte die Ellbogen auf seinen Schreibtisch.

»Ist das Ihr Ernst? Nur weil diese Dame zufällig mit Elmer Robinson und dieser Drogennutte befreundet war?«

»So ist es. Zumal beim Dezernat der Leitsatz gilt, dass es keine Zufälle gibt.«

»Ein Leitsatz, den Sie gerade nach Ihrem persönlichen Wohlwollen interpretieren.«

»Holen Sie das Formular aus der Schublade, setzen Sie Ihr Autogramm drauf und lassen Sie mich meine Arbeit erledigen.«

»Ich habe eine bessere Idee«, knurrte Rumdorff. »Sie setzen sich an Ihren Schreibtisch und belästigen mich nicht weiter mit Ihren Eingebungen.«

»Ist das Pendel derselben Meinung?«, fragte Leo.

»Nur weiter so. Ich kann warten, bis bei Ihnen die Luft raus ist. Ich kann das aussitzen.«

Leo nahm die Akte an sich, wandte sich um und ging raus, zurück zu seinem Büro. Schmeiß den Job hin, dachte er. Lass dich von diesem Irren nicht länger demütigen. Er hat es auf dich abgesehen, warum auch immer. Und du hast es nicht nötig, seinen Punchingball zu spielen. Du hast es absolut nicht nötig.

Auf dem Korridor lief ihm Othello Santos über den Weg. Ein hünenhafter Kerl in einem dunkelblauen Anzug, ein breitkrempiger Hut saß in verwegener Schräglage auf seinem Kopf. Leo hatte einige Male mit ihm gesprochen, im Lift und vor dem Kaffeeautomaten.

»Nimm es nicht persönlich«, sagte Santos. »Er wird damit aufhören, von einem Tag auf den anderen.«

Nein, Santos hatte nicht an der Tür gelauscht. Er hatte nicht mal Leos Gedanken gelesen. Der Bursche wusste einfach, was gerade zwischen ihm und Rumdorff abgelaufen war. Weil es noch in der Luft lag, er musste die Informationen nur einatmen. Jedenfalls stellte es sich Leo so vor.

»Hast du das auch mal durchgemacht?«, fragte er.

Santos nickte. »Aber nicht so heftig wie du. Bei mir war er subtiler.«

»Er gibt mir einen Auftrag, und dann behindert er meine Arbeit.«

»Bleib einfach dran. Und stelle deine Ohren auf Durchzug. Ich sage doch, auf einmal ist es vorbei.«

»Ich denke nicht, dass ich so lange mitspielen werde.«

Santos schob Leo in sein Büro und machte die Tür zu. »Komm schon, Klostermann, diese läppischen Anfeindungen wirst du doch wegstecken können. Rumdorffs Tage beim Dezernat sind ohnehin gezählt. Er steht im Herrenklo vor dem Spiegel und führt absurde Selbstgespräche, wenn er nicht gerade in der Tiefgarage auf einem Gebetsteppich kniet und die Weisen vom Sirius anbetet. Spätestens in ein paar Monaten wird er versetzt, falls er nicht vorher in der Psychiatrie landet. Er ist seinem Job nicht gewachsen. Alle sehen das so, und die Mannschaft ist auf deiner Seite. Sei also kein Spielverderber, okay?«

»Ich werd’s versuchen«, murmelte Leo.

»Wir wissen, dass deine Familie Geld hat«, fuhr Santos fort. »Von der Familie deiner Frau mal ganz zu schweigen. Und du weißt, was Geld in unserer Gesellschaft bedeutet.«

»Dass ich die Wasserhähne in meinem Haus vergolden lassen kann?«

»Es bedeutet, dass du früher oder später auf einer wichtigen Position landen wirst. Rumdorff kommt aus kleinen Verhältnissen, er hat sich mühselig emporgearbeitet. Er hat Angst, du könntest an ihm vorbei befördert werden.«

Leo schüttelte den Kopf. »Du bist auf dem Holzweg. Weil ich nicht die geringsten Ambitionen habe. Von mir aus kann Rumdorff bis ans Ende aller Tage den Boss spielen. Er soll mich einfach nur in Ruhe lassen.«

Ein Grinsen legte sich auf Santos’ breites Gesicht. »Da soll noch mal einer behaupten, Geld verdirbt den Charakter. Du bist in Ordnung, Klostermann. Du bist einer von uns. Ach ja, und viel Glück bei deinem Fall.«

— 6 —

Die Adresse von Mick »The Kick« Baldwin war in Laylas Akte vermerkt. Baldwin war ihr Manager gewesen. Er hatte eine kleine Vorgeschichte wegen Marihuanabesitzes und angeblicher Betrügereien, die ihm nicht nachgewiesen werden konnten. Seit fünf Jahren war er nicht mehr auffällig geworden.

Leo fuhr auf gut Glück zu Baldwins Büro. Es befand sich in einer guten Gegend, die Schilder von Anwaltskanzleien, Arztpraxen und Werbeagenturen zierten die Hauseingänge.

Er hatte keine Ahnung, was ihn erwartete, als er in der siebten Etage aus dem Lift stieg. Er klingelte an Baldwins Tür, die sich daraufhin selbsttätig öffnete. Zögernd trat er ein.

Ein Korridor, die Wände voller gerahmter und signierter Künstlerfotos. Das Büro selbst mit goldenen Schallplatten ausstaffiert. Kein Schreibtisch. Nur Sofas, Sofas, Sofas. Sofas mit Kissen, Sofas mit gestickten Bezügen, mit Bommeln dran und gedrechselten Füßen. Auf einem davon saß ein leicht übergewichtiger Mann von unbestimmbarem Alter und rauchte einen Joint, der den typischen harzigen Geruch verströmte. Er trug einen beigefarbigen Maßanzug, ein Paisley-Hemd und eine breite Krawatte mit Ufo-Stickereien. Seine schwarzen Locken, von Pomade glänzend, reichten bis auf seine Schultern. Über den wulstigen Lippen, die einen Hang zu sinnlichen Genüssen suggerierten, ragte eine breite, indianisch anmutende Nase hervor. Mit seinen sanften, dunklen Augen nahm er Leo gelassen ins Visier.

»Entschuldigen Sie die Störung«, sagte Leo.

»Geschenkt«, sagte Baldwin.

---ENDE DER LESEPROBE---