Sunset Square - Peter Scheerer - E-Book

Sunset Square E-Book

Peter Scheerer

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Beschreibung

„Superposition ist ein Begriff aus der Quantenphysik und bezeichnet das Phänomen, dass sich ein Gegenstand in zwei Zuständen gleichzeitig befindet.“ Zehn Jahre nach der gerade noch abgewendeten Kollision unseres Kosmos mit dem Birrnstein-Universum ist in Alpha City eine neue Droge in Umlauf – Quantit, das die Anwender in einen Zustand versetzen soll, in dem sie die Wahl haben zwischen verschiedenen Möglichkeiten ihrer Existenz. Ex-Drogendealer Donnie Carlyle, jetzt Leiter einer Spezialeinheit der Polizei, zieht täglich Quantit aus dem Verkehr. Doch seine kranke Tochter braucht dringend eine wirksame Therapie – und dann ist da noch die schwer traumatisierte Kriegsveteranin Cuko, die für den Gangster Theo Morales die Dreckarbeit erledigt … Donnie wird korrupt, er wird zum Mörder und Verschwörer. Bis sich die Schlinge um seinen Hals so weit zusammenzieht, dass er nur noch einen Ausweg sieht: sich selbst und denen, die er liebt, mithilfe der Droge Quantit eine alternative Existenz zu erschaffen. „Sunset Square“ knüpft an den düsteren Sci-Fi-Thriller „Megaheaven“ an, funktioniert aber auch als in sich geschlossener Roman. Ein SF-Drama im Stil eines Noir-Krimis – spannend und schnörkellos, dabei nie um reißerische Effekte bemüht.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Inhaltsverzeichnis

SUNSET SQUARE

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Impressum

SUNSET SQUARE

© Peter Scheerer 2020

Cover-Motiv unter Verwendung einer Illustration von Tithi Luadthong (123rf)

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Am Anfang stand eine Lüge. Erinnert ihr euch? Das Ereignis des Jahrzehnts, wenn nicht des Jahrhunderts – ein Raumschiff wurde zu unserem Nachbarstern Alpha Centauri geschickt. Aber die Amundsen sollte nie dort ankommen. Sie brachte ihre Besatzung lediglich bis in die Nähe der Marsumlaufbahn, wo in der Abgeschiedenheit des interplanetaren Weltraums riskante Experimente durchgeführt wurden. Ein bis dahin rein theoretisch nachgewiesenes Paralleluniversum sollte angezapft werden, das man nach seinem Entdecker, dem Astrophysiker Birrnstein, benannt hatte.

Und wozu der Aufwand? Zu einem gewissen Anteil diente er wohl auch dem Zweck, von dem sich unerfreulich lange hinziehenden Krieg in Indonesien abzulenken. Doch der eigentliche Anlass für das Projekt war ein anderer. Denn im Birrnstein-Kontinuum existieren keine Gegensätze. Es kennt weder Dualität noch Polarität, es schwelgt in ewigem Einklang. Falls es gelingen würde, so die Überlegung der Verantwortlichen, die Gesetzmäßigkeiten des Birrnstein-Kontinuums auf unsere Dimension anzuwenden – würde das nicht eine friedvolle, jeglicher Opposition abgeneigte Bevölkerung hervorbringen? Eine Milliarden zählende Schafherde, die aus einem unreflektierten Harmoniebedürfnis heraus sang- und klanglos hinnimmt, was die Obrigkeit über ihre Köpfe hinweg entscheidet?

Das Experiment scheiterte auf der ganzen Linie. Die Astronauten hatten eine satte Dosis Birrnstein-Kontinuum abbekommen und kehrten als astrale Zombies auf die Erde zurück, die weder der einen, noch der anderen Dimension angehörten. Einige von ihnen schieden freiwillig aus dem, was einmal ihr Leben gewesen war. Die anderen arbeiteten fortan darauf hin, unsere Welt ihren neuen Bedürfnissen anzupassen. So brachten sie beispielsweise eine Droge in Umlauf, die in der Szene als Omega gehandelt wurde und die Information des Birrnstein-Universums auf ihre Konsumenten übertrug. Ahnungslose Pillenjunkies wurden zu wandelnden Zeitbomben, und wenn diese Zeitbomben hochgingen, hinterließen sie die gefürchteten »Rattenlöcher« – bodenlose Fenster ins absolute Nichts als Folge des Informationsabgleichs zweier unvereinbarer Universen.

Mit Ratten hatte das Phänomen natürlich nicht das Geringste zu tun. Aber Rattenlöcher klang so schön eklig und passte zu den Junkies, die den Effekt verbreiteten, wie es früher mal die Ratten mit der Beulenpest gemacht haben. Ich war einer von ihnen. Ich verdealte das Zeug an der Friedensesplanade und nach Dienstschluss, meistens so gegen drei, vier Uhr nachmittags, traf ich mich mit meiner Clique im Sunset Square, nach dem Megaheaven die zweit-angesagteste Mall in Alpha City. Zuerst das rituelle Vorglühen mit Tequila, Wodka und anderem Hochprozentigem, ehe wir uns nach nebenan ins Parkhaus verzogen, um dort die kleinen, wie Opale schimmernden Pillen einzuwerfen. Wir hielten uns für kosmische Anarchisten und das Omega für ein Gottesgeschenk – nicht ahnend, dass es in den Geheimlabors eines HiTec-Konzerns entstanden war. Es kam zum Sunset-Square-Desaster, das ich als Einziger aus unerfindlichen Gründen überlebte. Wobei »überleben« hier als relativer Begriff zu betrachten ist.

Viele sprachen damals vom Untergang, und auch kluge Köpfe, die es eigentlich besser hätten wissen müssen, wähnten das Ende aller Tage in greifbarer Nähe. Doch der Kosmos ist mehr als eine unermessliche Ausdehnung voller Staub, Gase, elektromagnetischer Impulse und harter Strahlung. Er besitzt eine Intelligenz, die weit über das hinaus geht, was für Menschen aus ihrer Amöbenperspektive erfassbar ist. Jeder Vorgang, der dieses komplexe Gefüge auch nur im Geringsten irritiert, wird beobachtet und gegebenenfalls korrigiert, im Großen wie im Kleinen. Und zu diesem Zweck scheinen, vielleicht schon vor Urzeiten, materialisierte Fragmente des Birrnstein-Kontinuums im Universum deponiert worden zu sein, um zur rechten Zeit Kräfte zu aktivieren, welche die Dinge wieder ins Lot bringen sollen. Personen, die unter dem Schleier einer unauffälligen Existenz auf ihre zukünftigen Aufgaben vorbereitet werden, bis sie dazu bereit sind, die damit verbundenen drastischen Konsequenzen für ihr persönliches Dasein zu akzeptieren.

Ich kannte einen von ihnen – und wäre nicht im Traum, darauf gekommen, welche Mission ihm anvertraut worden war. Ein Sonderermittler für die mittlerweile aufgelöste SecurLex AG, sein Name war Tom Schaefer, ein Kriegsveteran mit manisch-depressiven Zügen, exzentrisch und unberechenbar – ein Getriebener, wenn man so will. Und wenn ich daran denke, was ihn getrieben hat, läuft mir jetzt noch ein Schauer über den Buckel. Er hat es dann auch gewaltig krachen lassen, hat den Saustall rigoros aufgeräumt.

Danach ist es still um ihn geworden, und schließlich ist er einfach so abgetreten – zumindest laut der offiziellen Version, die sich auf eine von mehreren Schüssen durchlöcherte Leiche stützt, aufgefunden an einem Bahnsteig nördlich der Innenstadt. Aber das war nur eine neue Station auf seinem Weg. In gewisser Weise hat er den Tod überwunden, und ich schätze mal, dass er selbst am allerwenigsten damit gerechnet hat.

Woher ich das alles weiß? Jetzt kann ich es ja zugeben – ich hatte damals bereits genug Omega eingeworfen, um über den Horizont dessen, was allgemein als Realität anerkannt wird, hinauszublicken. Und ich habe mich nicht in ein schwarzes Rattenloch verwandelt, wie ihr seht. Aus irgendeinem Grund habe ich das Zeug gut vertragen, auch wenn ich damit wohl die berühmte Ausnahme von der Regel darstelle.

Doch ich schwätze schon wieder zu viel. Ich will euch nicht den Appetit auf euer Frühstück oder euer nächstes Date verderben, euch auf dem Weg zu eurem Großraumbüro, zur Sozialfürsorge oder zu eurem Dealer ein hohles Gefühl im Bauch bescheren. Ich kann damit leben, dass ihr eure Realität als das akzeptiert, wofür ihr sie haltet – für eure alternativlose Gegenwart ohne Wenn und Aber. Macht also einfach weiter so. Lebt, leidet, liebt, bringt eure Kids zur Schule, streitet mit euren Nachbarn, fürchtet um eure Jobs. Und am Wochenende geht’s in den Erlebnispark, wo ihr lustige Fotos macht, die ihr mit euren Freunden und Bekannten teilt. Ist es nicht fantastisch? Ihr bekommt immer genau das, was ihr wollt, ohne dass es euch bewusst ist. Und das jede Sekunde eures blassen, fadenscheinigen Daseins.

Ich schwätze immer noch, das liegt wohl in meiner Natur. Dabei hätte ich Dringenderes zu erledigen. Ich habe da nämlich einen Kerl auf dem Schirm, bei dem scheint die Realität, über die ich mich gerade ausgelassen habe, kollabieren zu wollen. Das ist eine verdammt ernste Sache und mir stellt sich die Frage, was ich für ihn tun kann. Ich kenne ihn von früher, doch er würde sich nicht an mich erinnern. Aber ich erinnere mich an ihn. Ein anständiger Kerl, der seinen Stoff nicht an Kinder oder Schwangere verkauft hat. Die haben sich dann ein paar Meter weiter bei einem anderen Eckensteher eingedeckt, aber was soll’s. Er hat inmitten der ganzen Verderbtheit Haltung gezeigt, das hat mich beeindruckt.

Ja, ich sollte wirklich etwas für ihn tun. Nicht jetzt, das wäre noch zu früh. Aber wenn ihm seine Welt um die Ohren fliegt, und das wird sie, verlasst euch drauf – ja, dann werde ich für ihn da sein. So wahr ich Rodney heiße… ach ja, und merkt euch diesen Namen. Vielleicht steckt ihr auch mal in der Klemme und braucht jemanden, der euch an der Hand nimmt. Einen, der euch den Weg aufzeigt oder auch nur für euch Schmiere steht. Könnte sein, dass ich derjenige bin. Garantieren kann ich das natürlich nicht, aber man weiß ja nie.

– 1 –

Eine mobile Scannereinheit hatte Signale auf der Frequenz von 150 Megahertz empfangen – eindeutiger Hinweis auf einen aktiven Quantit-Enhancer. Eine knappe Viertelstunde später fiel das komplette Team in den vierzehnten Bezirk ein. Vans mit getönten Scheiben bezogen Position rund um den schmucklosen Wohnblock, zu dem die Signale zurückverfolgt worden waren. Scharfschützen gingen auf den umliegenden Dächern in Stellung, die Drohne eines Nachrichtensenders schwirrte geschäftig zwischen den blanken Fassaden. In einem neutralen, zur Einsatzzentrale umgebauten Lastwagen machte sich das Eingreifkommando bereit. Die Männer und Frauen prüften routiniert die Funktionen ihrer Helmdisplays und die Magazine ihrer Waffen.

Donnie Carlyle stand im Kommandowagen über das Kontrollpult gebeugt und versuchte, sich seinen Widerwillen gegen den übertriebenen Aufwand nicht anmerken zu lassen. Gepanzerte Kampfanzüge, vollautomatische Waffen, Sniper mit Wärmescannern und intelligenter Munition – eine medienwirksame Inszenierung mit dem Ziel, Quantit-User als dämonische Gefahr für die Gesellschaft zu brandmarken. Donnie kannte diese Leute nur als friedfertige Individuen, die vor einer seelenlosen, kalten Welt in ein Paralleluniversum flüchteten, in dem ihre Visionen und Sehnsüchte vorübergehend Gestalt annahmen. Keiner von ihnen hatte je Schwierigkeiten gemacht. Wer hart drauf kommen wollte, konsumierte den üblichen Drogenschrott von der Straße.

Vinnie Zummo, Donnies rechte Hand bei der Truppe, sah ihn forschend an. »Was ist los? Stimmt irgendwas nicht?«

»Ein, zwei Leute würden genügen«, sagte Donnie. »Man geht rein und nimmt ihnen den Stoff weg, fertig. Dafür brauchst du nicht mal eine Waffe.«

»Du weißt genau, warum wir so vorgehen müssen«, entgegnete Zummo, ein kräftig gebauter Mittvierziger mit grauem Stoppelhaar und dunklen Tränensäcken unter den Augen. »Wir könnten zum Beispiel auf ein Depot stoßen. Dann würden uns als erstes die Hohlspitzgeschosse um die Ohren fliegen.«

Donnie gab ein verächtliches Grunzen von sich. »Glaubst du im Ernst, dass die Gangster, die das Geschäft kontrollieren, einen Enhancer in Betrieb nehmen würden? Eher lassen die sich alle zehn Finger abhacken.«

»Mag sein. Aber man weiß eben nie.«

Donnie überflog die Informationen auf den Bildschirmen. Die Strahlungsquelle war exakt lokalisiert: Siebzehnte Etage, die Wohnung links am Ende des Korridors.

»Sieht aus, als könnten wir loslegen«, meinte Zummo.

Donnie nickte. »Ja, ziehen wir’s durch.«

Zehn vermummte Gestalten mit Kanonen, jede halb so groß wie eine Panzerfaust, stürmten das Gebäude. Zwei Mann bezogen im Foyer Stellung, während sich das restliche Team in eine Liftkabine quetschte und nach oben fuhr.

Donnies Leute gingen mit kühler Routine vor. Die Wohnungstür wurde mit einer Haftladung aufgesprengt. Ein Mann sicherte den Flur, die anderen gingen rein – geduckt und mit vorgehaltenen Waffen, es war wie im Krieg.

Die Quantit-Junkies waren zu viert. Hingen teilnahmslos in geblümten Polsterstühlen, die um einen Beistelltisch aus hellem Holzimitat gruppiert waren. Auf dem Tisch Gläser, ein Aschenbecher und eine Brille mit Goldrand sowie ein Teller mit rötlich angelaufenen Apfelspalten und einem Gemüsemesser. Dazwischen eine flache, etwa handtellergroße Schachtel aus eierschalenfarbigem Plastik: der Enhancer.

Zummo sah in den anderen Räumen nach. Küche, Bad, Schlafzimmer. Gab Donnie mit einem Handzeichen zu verstehen, dass da niemand war. Vor dem Fenster schwebte wie ein neugieriges Rieseninsekt die Drohne.

»AUFWACHEN, IHR JUNKLEICHEN!«

Das war Burkes raue, durchdringende Stimme. Der vierschrötige alte Haudegen genoss seinen Auftritt. Weltfremde Spinner in die Realität zurückzubrüllen, das war genau nach seinem Geschmack.

»Aufwachen, hab ich gesagt! Die Reise ist zu Ende! Ich weiß, dass ihr mich hören könnt. Macht also verdammt noch mal nicht auf taub, verstanden!?«

Ein hagerer Mittdreißiger mit gestreiftem Hemd und angehender Stirnglatze regte sich als Erster. Tastete wie in Trance sein Gesicht ab, blinzelnd und leise in sich hinein murmelnd.

»Na also, geht doch«, sagte Burke und brachte nun auch seine Kanone in Anschlag.

Die anderen User, zwei durchschnittlich aussehende Männer und eine magere, rothaarige Frau mit wächsernem Gesicht, gaben ebenfalls Lebenszeichen von sich. Keuchten, stöhnten, krallten ihre Finger in die Armlehnen.

»Aus der Traum«, murmelte jemand aus der Truppe.

»Gebt ihnen Zeit«, sagte Donnie. »Sie haben eine weite Reise hinter sich.«

»Junkie-Versteher«, brummte jemand anderer.

»Das hab ich nicht gehört.«

Der Mann im gestreiften Hemd beugte sich vor, legte die Hände auf den Tisch. Seine Fingerspitzen berührten das Messer. Das Messer fiel neben den Teller. Der Mann schloss in einem Reflex seine Hand um den Griff.

Burke legte mit seiner Kanone auf ihn an. »DAS MESSER WEG, SCHWUCHTEL!«

Der Mann richtete sich auf, mit dem Messer in der Hand. »Entschuldigung – haben Sie meine Brille gesehen? Ich kann meine Brille nicht finden…«

»DAS MESSER WEG ODER ICH KNALL DICH AB!«

»Burke!«, rief Donnie. »Mach mal halblang, ja?«

Die rothaarige Frau erhob sich wie in Zeitlupe aus ihrem Sessel und versuchte, dem Mann das Messer zu entwinden.

»Gib das her, sonst schießen sie auf dich!«, sagte sie.

Der Mann im gestreiften Hemd war noch nicht wirklich angekommen. »Schießen?«, fragte er mit entrücktem Blick, als wäre die kleine Armee aus gepanzerten Polizisten für ihn nicht vorhanden. »Aber wer? Und… warum?«

Er taumelte auf wackligen Beinen durchs Zimmer, ein halbes Dutzend Waffenläufe folgte seinen Bewegungen. Dann prallte er gegen einen von Donnies Leuten. Und schon ging die Knallerei los. Donnies gebrüllter Befehl – »FEUER EINSTELLEN!« – ging im Getöse unter.

Der Mann tanzte durchs Zimmer, von den Geschossen hin und her geworfen. Die rothaarige Frau stürzte sich auf ihn, vielleicht um ihn zu Boden zu reißen. Fontänen aus Blut spritzten aus ihrem Rücken. Beide fielen und blieben liegen wie achtlos hingeworfene Schaufensterpuppen.

»O Mann, das war knapp«, sagte Burke mit einem Keuchen.

»Arschloch«, sagte Donnie. »Er hat nur nach seiner Brille gesucht.«

Burke klappte das Visier hoch, starrte Donnie grimmig an.

»Verdammt noch mal, er wollte uns aufschlitzen! Du hast es verdammt noch mal gesehen, alle haben es gesehen! Wer ist hier wichtiger, die oder wir?«

»Er hatte ein Messer«, murmelte eine Frau aus dem Team. Entweder Rita oder Melissa. Donnie konnte sie in ihren Rüstungen nicht voneinander unterscheiden.

»Ja, er hatte ein Messer«, sagte Donnie. »Ein blödes, kleines Gemüsemesser. Damit hätte er unsere Monturen nicht mal ankratzen können.«

Zummo trat dazwischen, das breite Gesicht hinter dem Helmvisier von Schweiß glänzend. »Es ist nicht optimal gelaufen, aber daran lässt sich jetzt nichts mehr ändern. Oder wie siehst du das, Donnie?«

Donnie ließ die Schultern hängen. Das Team zur Schnecke zu machen würde zu einer Konfrontation führen, die seine Autorität infrage stellte. Seine Leute fühlten sich im Recht, er durfte ihr Vertrauen nicht im Übermaß strapazieren.

Er deutete auf die beiden verbliebenen Männer, die sich immer noch ächzend in ihren Sesseln wälzten, während sie von ihrem Trip zurückkehrten. »Schafft die beiden raus und bringt sie in die Klinik.«

Donnie wartete, bis er allein in der Wohnung war. Allein mit den Toten. Er wusste, dass der Zwischenfall keine Konsequenzen nach sich ziehen würde. Quantit-User galten als unberechenbare Soziopathen. Dafür hatten die offiziellen Pressestellen gesorgt, deren Stellungnahmen von den Medien kritiklos übernommen wurden. Und das Videomaterial, das die Drohne produziert hatte, würde wie jedes Mal zurechtgeschnitten werden, bis es sich mit der behördlichen Darstellung deckte.

Er betrachtete flüchtig die Einrichtung: nachgemachte Antik-Möbel, gestreifte Tapeten an den Wänden, Jugendstilkitsch in den Regalen, ein gerahmtes Poster mit einem Klimt-Gemälde. Dann machte er sich auf die Suche. Zuerst tastete er die Hosentaschen des Gemüsemessermannes ab. Und wurde fündig: Eine kleine Blechdose, auf deren Boden winzige Kristalle schimmerten.

Er befeuchtete den rechten Mittelfinger und steckte ihn in die Dose. Tupfte die erbeuteten Kristalle mit einem kleinen Schwamm ab, den er in einem Plastiktütchen verstaute. Das übrige Quantit würde er vorschriftsmäßig in der Asservatenkammer abgeben. Niemand würde aufgrund der geringen Menge Verdacht schöpfen, denn bei Quantit spielte die Dosis keine Rolle. Selbst das winzigste Bruchstück beinhaltete sämtliche Informationen, die für einen ausgedehnten Trip ans Ende des Universums nötig waren. Vorausgesetzt, dass ein Enhancer das Gehirn mit der Frequenz von 150 Megahertz stimulierte.

Donnie nahm den Enhancer vom Tisch, schaltete ihn aus und steckte ihn in die Jackentasche. Er aktivierte das Funkgerät an seinem Kragen.

»Ich bin hier oben fertig. Schickt die Spurensicherung rauf. Und die Truppe mit den Leichensäcken.«

– 2 –

Theo Morales war klein, sehr klein. Und enorm fett. Wer immer auch seinen silbergrauen, perfekt sitzenden Maßanzug geschneidert hatte, musste zu den Spitzenkönnern seiner Zunft gehören. Denn Morales war nicht nur klein und fett, er hatte auch einen Buckel. Und zwei verschieden lange Beine. Er hatte mal durchblicken lassen, dass er als kleiner Junge in eine Kiste gesperrt worden war, wenn er etwas ausgefressen hatte. Mit schwer wiegenden Folgen für seine körperliche Entwicklung.

»Schön, dich zu sehen, Donnie. Bestimmt hast du mir wieder etwas mitgebracht?«

Morales hatte eine heisere, gepresst klingende Stimme, als wäre da etwas Chronisches mit seinen Bronchien. Donnie ließ ihn das Tütchen betrachten. Morales legte den Kopf schief und grinste. Immer das gleiche Ritual. Vielleicht ließen sich damit irgendwelche subalternen Laufburschen beeindrucken. Donnie fand es peinlich, spielte jedoch geduldig mit.

Er sah sich in dem großen Zimmer um. Morales hatte eine Vorliebe für Kolonialstil. An der Decke ein riesiger vorsintflutlicher Ventilator. Drucke mit Motiven aus dem Kamasutra an den Wänden. Vor dem Teakholzschreibtisch ein Tigerfell mit Zähne fletschendem Kopf. Wer unaufgefordert seinen Fuß auf das Fell setzte, bekam Ärger.

Auf dem Rattansessel in der Ecke rechts hinter dem Schreibtisch thronte wie eine archaische Rachegöttin Theos Leibwächterin Cuko. Eine groß gewachsene Amazone mit wilden schwarzen Locken und dem Körper einer Raubkatze, der in eine hautenge, türkisfarbige Lederkluft gezwängt war. Das geschnürte Dekollettee reichte fast bis zum Bauchnabel. Cukos Hände ruhten auf den Armlehnen, ihr teilnahmsloser Blick war ins Leere gerichtet. Sie wirkte wie ausgestopft.

Cuko war Elitesoldatin gewesen, damals in Südostasien. Dort hatte sie einen Kopfschuss abbekommen. Seitdem war sie ein bisschen dumm. Dumm, passiv und teilnahmslos. Wenn sie nicht gerade aus einer Person, die bei Morales in Ungnade gefallen war, die Scheiße herausprügelte.

»Donnie«, sagte Morales. »Du bist mein zuverlässigster Lieferant. Auf Männer wie dich gründet sich mein bescheidenes Imperium.«

»Das ehrt mich, Theo«, sagte Donnie.

Morales streckte seine kleine, feiste Hand aus. »Darf ich die Ware jetzt haben?«

Donnie streifte seine Schuhe ab und trat auf das Tigerfell, legte das Tütchen auf Morales’ Handfläche. Dieser nahm es geziert mit der anderen Hand auf und hielt es vor seine Augen.

»Wie das glitzert und glimmt! Keine große Ration, aber das macht nichts. Der Stoff wird bald knapp werden, nicht zuletzt dank des unermüdlichen Durchgreifens der QWE. Deine Leute leisten ganze Arbeit, Donnie! Der Preis wird in den Himmel schießen. Ich wäre schön blöd, das Zeug jetzt schon auf den Markt zu bringen.« Morales bedachte Donnie mit einem lauernden Seitenblick. »Oder weißt du etwas, das ich noch nicht weiß?«

»Die Wiederbeschaffungsquoten bleiben konstant«, erwiderte Donnie. »Dein Kalkül wird aufgehen, keine Frage.«

»Das höre ich gern.« Morales ging an seinen verschnörkelten Schreibtisch, verstaute das Tütchen mit dem Schwamm in einer Schublade und sperrte sie ab.

»Donnie, ich möchte dich für deine Loyalität mit einer Prämie belohnen. Wie findest du das, mein Freund?«

»Ich bin vollkommen zufrieden, wenn du mir den üblichen Preis zahlst.«

»Deine Bescheidenheit in Ehren, aber damit kommst du bei mir nicht durch!«

Morales kam um den Schreibtisch herum und legte die Hände auf Donnies Arme. Der süßliche Geruch der Pomade, mit der er seine grau melierten Locken in Form hielt, stieg Donnie in die Nase.

»Wie lange belieferst du mich nun schon? Zwei Jahre? Drei Jahre? Und nie hast du mir Ärger gemacht. Das muss ausreichend gewürdigt werden.«

»Dann sage ich nicht nein«, lenkte Donnie ein. Einem Mann wie Morales zu widersprechen konnte erheblichen Schaden nach sich ziehen.

Morales nickte zufrieden. »So mag ich es. Man muss geben und nehmen können. So läuft das unter Freunden.«

Er wies mit dem Kinn auf die reglos dasitzende Cuko. »Wie du sie immer wieder anguckst – du stehst doch nicht etwa auf sie, he?«

»Ich mag sie«, antwortete Donnie. »Ja, ich finde sie nett.«

»Sie ist ein beschissener Zombie. Aber ein paar Sachen hat sie wirklich drauf. Soll sie dir einen blasen? Sie macht alles, was ich sage.«

Donnie verspürte nicht zum ersten Mal den Impuls, dem kleinen Mistkerl den Hals umzudrehen. Wären da nicht die beiden Gorillas gewesen, die im Treppenhaus Wache schoben. Wohingegen Cuko keine Bedrohung darstellte. Ohne den ausdrücklichen Befehl ihres Meisters würde sie nichts gegen ihn unternehmen.

»Nicht nötig, Theo«, sagte Donnie. »Ich bin gerade nicht in der richtigen Stimmung.«

Morales runzelte die flache Stirn. »Du weißt, dass ich es nicht schätze, wenn meine Angebote ausgeschlagen werden.«

»Ich nehme dein Angebot an. Aber nicht jetzt. Ich bin müde, muss dringend Schlaf nachholen. Du würdest Perlen vor die Säue werfen, Theo.«

Morales blickte Cuko nachdenklich an. »Sie reizt dich nicht, was? Ja, sie hat ein wenig nachgelassen in letzter Zeit. Ihr fehlt es an Spannkraft. Vielleicht sollte ich ihr öfter eine Lektion erteilen.«

Morales schob seinen linken Ärmel rauf und befummelte ein Gadget an seinem Handgelenk. Cuko schnellte aus dem Sessel hervor und knallte der Länge nach aufs Parkett.

»Cuko, du wirst doch schön brav sein, wenn ich jetzt mit meinem Freund Donnie das Haus verlasse? Du wirst schön brav sein, nicht wahr?«

Cuko bäumte sich auf, zuckend wie ein verwundetes Insekt, und klappte wieder zusammen. Krümmte sich wie ein Wurm auf dem Boden. Ihre Bewegungen wirkten mechanisch wie bei einem Roboter, bei dem eine Sicherung durchgebrannt war.

»Das Scheiß-Implantat hat nicht mal hundert Mäuse gekostet«, raunte Morales Donnie zu. »Inklusive Bedieneinheit. Man muss nur die richtigen Leute kennen.«

Cuko bäumte sich erneut auf. Sie hatte Krämpfe. Aber kein Schrei drang über ihre Lippen, kein Wimmern, kein Schluchzen. Sie kämpfte einfach nur stumm gegen die Schmerzen an.

»Du bist dir immer noch sicher, dass sie dir keinen blasen soll?«

Donnie sah Morales eindringlich an. »Hast du dich schon mal gefragt, wie sie auf dich aufpassen soll, wenn du ihr derartig an die Substanz gehst?«

»Guter Gedanke, Donnie. Guter Gedanke.«

Morales drückte eine Taste an seinem Gadget. Cuko gab ein erlöstes Seufzen von sich und streckte die verkrampften Gliedmaßen aus.

Morales packte Donnie fest am Arm. »Du bist in Ordnung, Donnie. Jeder andere wäre sofort auf meine Offerte eingegangen. Weil sie alle beweisen wollen, dass sie keine unterwürfigen Schwanzlutscher sind. Aber du musst nichts beweisen. Du bist ein richtiger Mann. Einer, auf den absoluter Verlass ist.«

»Danke, Theo.«

»Gehen wir jetzt deine Prämie abholen. Zur Zeit haben mich die Steuerprüfer auf dem Kieker, da habe ich meine Portokasse mal eben ausgelagert.«

Donnie zog seine Schuhe an. Cuko kroch mit zittrigen Bewegungen auf den Rattansessel zurück, wandte ihm ihr leeres Gesicht zu. Stirn und Wangen waren gerötet, am Kinn war eine Hautabschürfung zu erkennen.

Nicht die Spur einer Emotion, stellte Donnie fest. Keine Wut, keine Scham, nichts. Dennoch verspürte er eine Verbindung zu ihr, auch wenn es sich dabei wahrscheinlich um pure Empathie handelte.

– 3 –

Sie fuhren mit dem Aufzug runter in die Tiefgarage, wo Morales’ schnittiger, solargetriebener Zweisitzer parkte. Morales überließ Donnie das Steuer und machte es sich auf dem Beifahrersitz bequem.

»Fahr raus zum Reservat«, sagte er. »Bist du in letzter Zeit mal dort gewesen? Dort tanzt der Bär, Donnie! Ich war so schlau und habe rechtzeitig investiert, mehrere tausend Quadratmeter Grund erworben. Natürlich musste ich ein paar Gebäude hochziehen, um die Auflagen zu erfüllen. Nur die Rohbauten, versteht sich. In einem halben Jahr kann ich den Scheiß für das Vier- bis Fünffache verhökern.«

»Guter Deal«, meinte Donnie.

Er reihte den Wagen in den Verkehr auf der Friedensesplanade ein. Vor zehn Jahren war er hier in den Grünanlagen herumgestanden und hatte Designer-Stoff verkauft. Das Geschäft war so gut gelaufen, dass er eine viel versprechende Therapie für Jezebel bezahlen konnte. Bis von einem Tag auf den anderem die Rattenlöcher aufgetaucht waren: unerklärliche Fetzen aus purem Nichts, die sich in die Stadt hineinfraßen. Die Offiziellen hatten einen Zusammenhang mit einer bestimmten Droge vermutet und die gesamte Szene binnen weniger Stunden trocken gelegt – der Erntetag, mit dem niemand wirklich gerechnet hatte. Wie durch ein Wunder war Donnie durch die Maschen der in hysterischer Eile durchgeführten Razzien geschlüpft. Und hatte sich bei der Polizei beworben, als diese ihr Personal dramatisch aufstockte – nachdem der Konzern, der bis dahin einen Großteil der Polizeiarbeit erledigt hatte, über Nacht von der Bildfläche verschwunden war.

»Ja, ein verdammt guter Deal«, sagte Morales. »Der nur deshalb zustande gekommen ist, weil ich mich auf Leute wie dich verlassen kann. Leute, die begreifen, um was es mir geht. Dass ich im Grunde den Menschen Gutes tun will. Allen Menschen. Du weißt, ich hatte eine Scheiß-Kindheit. Die Hälfte davon habe ich in einer dunklen Kiste verbracht. Meine Mutter war eine Nutte, mein Vater ein komplettes Arschloch. Wäre er nicht in den Bau gewandert, hätte ich ihn umgelegt. Ja, ich hätte ihn umgelegt. Ihm die Pistole in den Arsch geschoben und abgedrückt. Und ihm gesagt, was für ein mieser, wertloser Drecksack er ist. Dann ein Kugel zwischen die Augen, bang! Meinen eigenen Vater. Was für ein Arschloch. Wie stehst du zu deinen Eltern, Donnie?«

Brave Menschen mit dem geistigen Horizont einer Heuschrecke, dachte Donnie. Er hatte auf die Kunstakademie gehen wollen. Sie hatten es ihm nicht erlaubt. Hatten gewollt, dass aus ihm ein IT-Zombie wurde, der in einem fensterlosen Kabuff Programme schrieb, die nie so funktionieren würden, wie sie sollten. Mit siebzehn war er abgehauen und hatte sich dem Nachtfalter-Clan angeschlossen.

»Sie sind in Ordnung«, antwortete er. »Wir hatten nie größeren Ärger. Ich sehe sie nicht mehr oft, sie wohnen zu weit weg.«

»Du solltest sie öfter besuchen. Gute Eltern kann man nicht genug würdigen.«

»Stimmt, ich sollte mich mehr um sie kümmern.«

Donnie hoffte, Morales würde das Thema wechseln oder, besser noch, den Mund halten. Es fühlte sich wie Verrat an, mit ihm über familiäre Dinge zu reden. Aber Morales war noch nicht fertig.

»Wie geht’s deiner Tochter, Donnie?«

»Mal so, mal so. Jez weiß sich zu helfen, wenn sie einen Schub hat.«

»Die Medikamente, die sie bekommt – die taugen doch hoffentlich was, oder?«

»Sie spricht gut darauf an. Ich bin optimistisch, was den weiteren Verlauf betrifft.«

»Das freut mich. Aber deine Frau. Wie heißt sie gleich wieder… Candy?«

»Cassandra«, sagte Donnie. »Wir nennen sie Candy.«

»Ach ja, Candy.« Morales seufzte. »Schlimme Sache. Schaust du noch manchmal bei ihr vorbei?«

Donnie steuerte den Wagen auf die Ringautobahn. Wohnblocks wie Termitenhügel auf beiden Seiten. Die Sonne stand tief über dem Horizont und zauberte ein orangerotes Spektakel an den wolkenlosen Himmel, der sich in den Glasfronten der dicht an dicht stehenden Wolkenkratzer im Stadtzentrum spiegelte.

»Candy ist total weg vom Fenster«, sagte er. »Nach der Psychose die totale Katatonie, sie wird künstlich ernährt. Ihre Ärzte sind der Ansicht, dass bei ihr nichts mehr zu retten ist.«

»Das muss dich extrem belasten.«

Donnie nickte. »Es ist schwer auszuhalten. Aber ich konzentriere mich voll auf Jezebel.«

Morales seufzte mitfühlend. »Was für eine Tragödie. All diese Leute, die durchgeknallt sind, seit die Rattenlöcher entstanden sind.«

»Die Rattenlöcher existieren nicht mehr.«

»Das nicht, aber sie haben diese Kristalle gebildet, von denen wir nun so vortrefflich profitieren. Hast du schon mal daran gedacht, dass Quantit deine Frau heilen könnte? Oder deine Tochter?«

»Ich schätze dich sehr, Theo, und das weißt du auch. Aber in diesem Punkt möchte ich auf deine Ratschläge verzichten.«

Morales setzte einen verletzten Dackelblick auf. »Das finde ich wirklich schade. Immerhin sitzt du an der Quelle. Du könntest so viel Quantit für dich abzweigen, wie du brauchst.«

»Quantit wirkt nur begrenzt«, sagte Donnie. »Nach dem Trip stürzt man zurück in die Realität. Vielleicht bringt man die eine oder andere Erkenntnis mit, aber das ist auch schon alles.«

»Marvell behauptet, er wollte der Menschheit einen Dienst erweisen…«

»Marvell hält sich für einen Messias. Er hat das Quantit in Umlauf gebracht, um sich wichtig zu machen.«

»Er ist Physiker. Vielleicht weiß er mehr als wir?«

»Und wenn schon. Du handelst mit dem Zeug, du kennst dich aus. Die User gehen auf den Trip und kommen wieder zurück. Dann gehen sie auf den nächsten Trip. Und so weiter und so fort. Von der Erleuchtung, die Marvell predigt, sind sie Lichtjahre entfernt.«

Morales klatschte in die Hände. Donnie zuckte zusammen.

»Du siehst die Dinge realistisch! Ja, Quantit ist nur ein Stoff wie jeder andere. Und das ist gut so. Gut fürs Geschäft. Ach ja, und achte auf die nächste Ausfahrt. Da müssen wir raus.«

– 4 –

Donnie hatte sich nie für das Reservat interessiert. Als der Flieger über der Stadt seine Bomben verloren hatte, war er wegen eines schweren Infekts im Krankenhaus gewesen. Selbst wenn auch die restliche Welt um ihn herum untergegangen wäre, hätte er es nicht mitbekommen. Später war eine komplexe Subkultur in der Ruinenlandschaft entstanden, was ihr den Namen Reservat eingebracht hatte. Das hatte nicht die geringste Anziehungskraft auf ihn ausgeübt. Auch dann nicht, als er ins Drogengeschäft eingestiegen war. Er hatte es bevorzugt, seine Deals in einer geordneten, zivilisierten Umgebung abzuwickeln, mit einem Kundenkreis aus der Mittelschicht und abgesichert durch einen Klüngel aus bestochenen Polizisten.

Riesige Baustellen, von grellen Scheinwerferbatterien der Abenddämmerung entrissen. Das außerordentliche Sanierungsareal, wie die offizielle Bezeichnung für das Reservat lautete, würde als Hochglanz-Stadtviertel wieder auferstehen. Die Subkultur war in die ärmlichen Randbezirke von Alpha City abgewandert.

Morales stupste Donnie am Arm. »Hinter dem nächsten Bauschild rechts, dann sind wir da.«

Donnie bog ab und stoppte vor einem flachen, fensterlosen Gebäude. Morales wälzte sich aus dem Wagen und watschelte zu einer trapezförmigen Stahltür, legte seine Hand in eine Mauervertiefung. Die Tür glitt mit einem leisen Fauchen in die Wand.

»Komm schon, Donnie. Das ist keine Falle oder so’n Scheiß. Na los, komm!«

Donnie folgte Morales in das Gebäude. Hinter ihm schloss sich die Tür. Kaltes Licht flammte auf. Ein kahler, sechseckiger Raum mit abgeschrägten Wänden. In der Mitte wie ein kultisches Artefakt eine marmorgetäfelte Säule von quadratischem Grundriss. Morales klappte eine Abdeckung auf und starrte in die dahinter liegende Öffnung.

»Ein Iris-Scanner«, erklärte er. »Es genügt also nicht, wenn sie mir die Hand abhacken. Sie müssen mir auch ein Auge rausreißen, wenn sie an meinen Zaster wollen.«

»Es gibt ’ne Menge Leute, die würden das glatt tun«, meinte Donnie.

»Dann müssten sie erst einmal mit Cuko fertig werden. Oder mit dir. Du würdest mich doch beschützen, Donnie? Ich kann mich doch auf dich verlassen, oder?«

»Ich weiß, was ich dir zu verdanken habe.«

»Na, dann ist ja alles bestens!«

Morales tippte einen Code in eine kleine Tastatur. Ein Schubfach fuhr lautlos aus der Säule. Morales öffnete den Deckel.

»Komm her und sieh es dir an! Das gute, alte Bargeld. Beinahe hätten sie’s durchgeboxt, es abzuschaffen. Erinnerst du dich noch? Wenn damals nicht wieder mal ein paar große Banken in die Knie gegangen wären, weil die Chinesen ihr Scheiß-System gehacked haben.«

Morales fischte ein Bündel Geldscheine aus dem Schubfach und drückte es Donnie in die Hand. »Nimm, es gehört dir. Na, was ist das für ein Gefühl?«

»Welche Gegenleistung erwartest du von mir?«, fragte Donnie.

»Keine Gegenleistung. Höchstens eine kleine Gefälligkeit.«

»Was für eine Gefälligkeit?«

»Ein Job, der einen Profi verlangt. Und du bist ein Profi. Du ziehst das durch mit links.«

»Mach’s bitte nicht so spannend, Theo. Was soll ich für dich tun?«

Morales verschloss das Schubfach und blickte Donnie durchdringend an. »Auch ich erweise dem einen oder anderen Freund hin und wieder eine Gefälligkeit. In diesem speziellen Fall wurde ich darum gebeten, einen blöden, jungen Kerl aus dem Weg zu schaffen, der zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen ist. Er hat etwas gesehen, was er nicht sehen sollte, und ist zum Staatsanwalt gegangen. Dumme Sache. Ganz, ganz dumme Sache.«

»Ich bin kein Auftragskiller. Und ich habe auch nicht vor, einer zu werden.«

Morales lächelte verständnisvoll. »Bleib cool, Donnie-Boy. Du musst dir nicht die Hände schmutzig machen. Cuko wird den Job erledigen. Cuko weiß, wie man so etwas schnell und sauber durchzieht. Aber in letzter Zeit ist sie, sagen wir mal: ein bisschen instabil. Ich möchte nicht, dass sie den Job versemmelt, kapiert?«

Donnie biss die Zähne aufeinander. Wenn er nicht bald die Reißleine zog, würde er immer tiefer in diesen Sumpf hineingezogen werden. Aber er konnte es sich nicht leisten, Morales einen Wunsch abzuschlagen. Nicht jetzt.

»Ich bin dabei«, sagte er.

Morales kicherte und schlug ihm auf den Rücken. »Ich hab’s gewusst, auf dich kann ich mich verlassen. Warum gibt es nicht mehr coole Typen wie dich?«

– 5 –

Ein Scheiß-Mordauftrag also. Cuko im Auge behalten, damit sie es nicht verbockte. Zusehen, wie sie irgendeinem armen Kerl das Genick brach oder ihm das Herz aus der Brust schnitt. Wie würde die nächste Gefälligkeit aussehen? Durfte er, Donnie, dann selber das Messer führen oder sein Magazin auf einen blöden Kerl leer feuern, weil dieser zu viel wusste oder weil er zu wenig wusste, oder weil er einfach nur irgendeiner verkackten Unterweltintrige im Weg stand?

Donnie trat aus dem Lift. Ging durch den trüb beleuchteten Korridor zu der Wohnung, die er mit Jezebel teilte. Fünfzehnter Stock in einem uringelb gestrichenen Wohnblock mit sieben Eingängen. Müllsäcke lehnten an den Wänden und lockten Ungeziefer an. Das Ungeziefer war eine Plage. Resistent gegen die gängigen Pestizide. Das Viehzeug ernährte sich inzwischen von dem Gift.

Jez hatte Angst vor Ungeziefer. Dass es ihr in den Mund krabbelte, wenn sie nach einem Anfall starr auf dem Boden lag. Nicht, dass es sie angespornt hätte, ihre Medikamente regelmäßig einzunehmen. Die wirkungslosen Scheiß-Medikamente, für die die Krankenkasse aufkam. Der gute Stoff, der angeblich wirklich half, wurde nicht bezahlt.

Er betrat die Wohnung. Merkwürdiger Geruch. Vielleicht hatte Jez gekocht. Manchmal machte sie Nudeln, oder irgendwas mit Reis. Fertiggerichte vertrug sie nicht, von den Konservierungsstoffen bekam sie Ausschlag.

»Stell dich nicht so an, du Nutte! Werd mal locker, hast du verstanden? Werd verdammt noch mal locker!«

Eine aggressive, männliche Stimme aus Jezebels Zimmer. Donnies Nackenhaare sträubten sich. Er zog die Spitfire aus dem Halfter und stieß die Tür auf.

Ein pickeliger, spärlich behaarter Männerarsch. Auf Jezebels Bett. Jez reglos, offenbar weggetreten und die Beine gespreizt, von der Taille abwärts nackt.

»Locker, du Nutte! Locker, hast du gehört?«

Donnie schob die Spitfire ins Halfter zurück. Packte den jungen Mistkerl an seinem fettigen, dunkelblonden Haar und zerrte ihn von Jez herunter, warf ihn neben das Bett. Trat ihm in den Bauch und in die Eier, zog ihn am Kragen seines Kapuzenshirts hoch und polierte ihm die Fresse. Der Mistkerl, eigentlich noch ein Mistkerlchen, verzerrte das blasse Gesicht zu einer schmerzerfüllten Grimasse, quakende Laute drangen aus seinem blutig geschlagenen Mund. Donnie zog ihn auf den Flur, stieß seinen Kopf gegen die Wand.

»Wenn du mir noch ein einziges Mal über den Weg läufst, bringe ich dich um. Nur ein einziges Mal, hast du gehört?«

»Hör auf Mann«, winselte Mistkerlchen, »die hat es doch gewollt! Ich hab ihr’n Flashy dafür abgetreten, es war’n gottverdammter Deal!«

»Fresse, Arschloch.«

Donnie verfrachtete den Wichser vor die Tür, schleifte ihn zum Lift und kehrte zu seiner Tochter zurück. Jezebel starrte die Decke an, einer ihrer ganz normalen Dropouts. Die hatte sie in manchen Phasen täglich, dann wiederum nur in Abständen von einer oder zwei Wochen. Die Anfälle kündigten sich nicht an, konnten jederzeit stattfinden. Aber seine Tochter rund um die Uhr wegzusperren, war auch keine Lösung.

Donnie betrachtete die Fläschchen und Röhrchen neben ihrem Bett. Nein, er würde ihr nichts einflößen. Sie würde von selbst wieder zu sich kommen.

Er deckte Jezebel zu und ging in die Küche, machte Kaffee. Sein Puls beruhigte sich nur langsam. Er zog Morales’ Geschenk, das nicht wirklich eines war, aus der Jacke und legte es auf den Tisch. Fünftausend. Für das Quantit hätte er gerade mal vier- bis fünfhundert bekommen. Morales schien noch viel von ihm zu erwarten.

Er saß immer noch am Tisch und starrte das Geld an, als er Jez nebenan stöhnen hörte. Zwei Minuten später kam sie in die Küche geschlurft. Sie hatte die Hose raufgezogen, nur der Gürtel schlackerte noch lose um ihre Hüften.

»Wo ist Mick?«

»Ich hab ihn rausgeworfen. Er wollte deinen Zustand ausnutzen.«

Sie machte ein überraschtes Gesicht. »Nein, wollte er nicht. Mick ist nett. Ich mag ihn.«

»Er hat dich Nutte genannt.«

Jezebel seufzte und blickte zur Seite. »Das sagt man eben so. Ist ja nicht so gemeint.«

»Seit wann pfeifst du dir Flashys rein?«, setzte Donnie nach.

Jez wich bis zur Tür zurück, knabberte an ihrer Unterlippe. »Dieser Idiot«, zischte sie. Und blickte Donnie feindselig an. »Du hast ihn verprügelt! Sonst hätte er nie…«

»Ich hab ihn sogar ziemlich heftig verprügelt«, sagte Donnie.

»Oh scheiße.«

»Allerdings. Weißt du, was Flashys sind, Jez?«

»Keine Ahnung. Mir auch egal. Man kommt gut drauf, darum geht’s doch.«

»Es ist gepanschte Chemie. Rezeptur aus dem Web, jeder macht da sein eigenes Zeug daraus.«

Jez verdrehte die Augen, holte tief Luft und ließ die Schultern hängen. »Also gut, ich seh’s ja ein. Meine Mutter liegt im Koma, du rennst den ganzen Tag hinter Kriminellen her, und ich öde mich hier zu Tode und bau Scheiß. Du hast mich erwischt, alles klar.«

»Jetzt komm mal her, Süße. Magst du’n Kaffee?«

Jezebel trat an den Tisch, setzte sich zögernd. »Na klar, gerne.«

Donnie schob die Kanne über den Tisch. »Bediene dich.«

Sie griff nach der Kanne und trank.

»Wir haben auch Tassen«, sagte Donnie.

»Bin noch zu matschig, um mir eine zu holen.«

»Verstehe.«

Sie deutete auf das Bündel Geldscheine. »Mächtig viel Asche ist das. Ich hab mir schon oft gedacht, dass du dich bestechen lässt.«

»Verachtest du mich dafür?«

Sie beugte sich vor und streckte den Arm aus, kraulte seinen Nacken. »Verachten? Wofür? Du weißt doch immer, was du tust.«

»Wenn ich genügend Kohle gescheffelt habe, bekommst du eine Eins-A-Therapie.«

»Ich möchte nicht, dass du dich wegen mir bestechen lässt und so.«

»Ich tu’s für uns beide, okay? Weil ich will, dass du gesund wirst. Du bist alles, was ich habe.«

»Und Echo?«, fragte Jez.

»Echo…« Er zögerte. »Wir sind nicht richtig zusammen. Keine Ahnung, ob da jemals was daraus wird. Wir sind sehr verschieden. Außerdem hat sie ein Problem mit meinem Job.«

»Vielleicht hat sie auch ein Problem mit mir.«

»Echo mag dich«, sagte er. »Sie findet dich süß.«

»Sie hat mich nur ein einziges Mal kurz gesehen.«

»Wir könnten mal zum Essen gehen. Du, Echo und ich. Jetzt, wo ich es mir leisten kann.«

Jezebel strich eine blonde Strähne aus ihrem blassen, von den Medikamenten aufgeschwemmten Gesicht. »Ich hab Angst vor ihr. Sie schaut durch einen hindurch, als wäre man aus Glas. Würde mich nicht wundern, wenn sie Quantit nimmt.«

Donnie grunzte. »Dann wäre sie schön blöd, sich ausgerechnet mit mir einzulassen.«

Sie schob die Kaffeekanne von sich weg. »Natürlich würde ich mit euch beiden zum Essen gehen. Ich will eurem Glück nicht im Wege stehen.«

»Jetzt bist du zynisch«, sagte Donnie.

»Vielleicht habe ich nur Angst, dass sie mir meinen Vater wegnimmt.«

»Das wird niemandem gelingen.«

»Ich denke an meine Mutter. Ihr wurde alles genommen. Einfach alles. Ich möchte nicht, dass mir das Gleiche passiert.«

»Candy ist schwer krank. Keine Aussicht auf Heilung. Ich denke jeden Tag an sie. Aber für sie bin ich nicht mal ein Schatten. Du darfst das nicht vergleichen.«

»Du besuchst sie noch manchmal?«

Er nickte. »Zweimal im Monat.«

»Nächstes Mal möchte ich mitkommen.«

»Lieber nicht. Sie würde dich nicht erkennen. Ihr Zustand ist einfach nur erbärmlich.«

»Sie ist meine Mutter«, sagte Jez.

»Sie ist nicht mehr deine Mutter«, erwiderte er. »Sie könnte auch ein Stein sein, der vom Himmel gefallen ist.«

»Irgendwann gehe ich zu ihr. Ob es dir nun passt oder nicht.«

»Dann gehen wir eben gemeinsam. Kein Problem, Jez. Wirklich nicht.«

Jez stemmte sich von ihrem Stuhl hoch. »Ich muss jetzt schlafen, bin total kaputt.« Sie legte ihre Hände auf Donnies Schultern. »Ich bin nicht sauer wegen Mick. Dass du ihn vermöbelt hast und so. Eigentlich ist er ein ziemlicher Scheißkerl. Mich vögeln, wenn ich einen Dropout habe. So etwas tut man nicht.«

Er hörte, wie sie ins Badezimmer ging. Er hörte die Toilettenspülung, das Quietschen des defekten Wasserhahns, das Geräusch ihrer Gürtelschnalle auf den Bodenfliesen. Jedes Geräusch von ihr bedeutete Lebendigkeit. Dass sie bei Sinnen war und keinen Anfall hatte.

Donnie nahm Morales’ Geld vom Tisch und ging in sein Zimmer, versteckte es unter der Matratze. Dort war es fürs Erste am besten aufgehoben. Er nahm sich vor, nicht über den Job nachzudenken, der mit dem Geld verbunden war. Lag dann noch lange wach und fragte sich, ob er die Eier dazu hatte, der Sache zum richtigen Zeitpunkt ein Ende zu setzen.

– 6 –

Trafalgar wollte ihn sehen. Trafalgar war der Boss der Quantit-Wiederbeschaffungseinheit, kurz QWE genannt. Donnie vermutete, dass er über die Schießerei reden wollte. Eine Formsache, ehe der Fall zu den Akten gelegt wurde.

Er klickte die Message weg und rief den Mitschnitt der Haftkamera auf, mit der die Einsätze der Truppe dokumentiert wurden. Ein simples Procedere, welches das Anlegen ellenlanger Protokolle ersparte. Vor zwei Tagen war die Kamera an Zummos Helm befestigt gewesen. Zummo agierte meist in der ersten Reihe und lieferte verwertbare Aufnahmen.

Noch einmal sah Donnie dem Mann im gestreiften Hemd dabei zu, wie er geistesabwesend den Tisch abtastete und seine Hand um den Messergriff schloss. Er biss die Zähne aufeinander, als sich die Frau dazwischen warf, um ihren Quantit-Genossen vor dem Kugelhagel zu schützen. Hörte sich selbst »Arschloch!« rufen und hielt den Film an.

Eine Tragödie, die niemanden interessierte. Der Mann hatte ein Messer gehabt. Nur ein spitzfindiger Anwalt würde daraus eine Anklage wegen unangemessener Gewaltanwendung stricken können. Doch Anwälte, die sich eines Falles wie diesem annehmen würden, waren noch seltener als überführte Quantit-User, die auf ihren Rechten beharrten.

Auf dem PopUp-Screen entfaltete sich ein kleines schwarzes Rechteck. Trafalgars Vorzimmerdame mit ihrer schicken Retro-Dauerwelle.

»Hallo Donnie, der Chief kann Sie jetzt empfangen. Würden Sie bitte sofort…?«

»Bin schon unterwegs«, sagte er.

Chief Trafalgar war nicht allein in seinem nussbaumfurnierten Büro. Auf einem der mit abgenutztem Kunstleder bezogenen Besucherstühle lümmelte Staatsanwalt Leonhard, die Weste seines schwarzen Dreiteilers aufgeknöpft und feine Schweißperlen auf der Stirnglatze. Donnie mochte ihn nicht, diesen aalglatten, jungen Karrieristen mit seinem Summa-cum-Laude-Abschluss. Auf dem Stuhl neben Leonhard saß Viktoria Hermes, die Leiterin der internen Koordinationsstelle. Eine deutlich geliftete Blondine in den Vierzigern mit einem Faible für uniformartige Designerkostüme.

»Immer nur hereinspaziert!«, begrüßte ihn Trafalgar mit aufgesetzter Heiterkeit und wies ihm den dritten Besucherstuhl zu. Donnie setzte sich. Trafalgar grinste jovial und rieb seine großen, haarigen Pfoten. »Wie geht’s Ihnen heute, Donnie? Alles klar? Bereit für prickelnde Neuigkeiten?«

»Allzeit bereit«, sagte Donnie und nickte Leonhard und Hermes freundlich zu.

Trafalgar lachte. »Ehrlich gesagt erwarte ich auch nichts anderes von Ihnen. Ihre Erfolge können sich sehen lassen, sie sind das Schmuckstück auf dem Revers der QWE. Allein in der vergangenen Woche haben Sie acht Quantit-Buden ausgeräuchert.«

»Die Scanner-Einheiten liefern immer präzisere Ergebnisse«, erwiderte Donnie. »Wir erledigen nur den Rest.«

»Ist er nicht ein Muster an Bescheidenheit?«, wandte sich Trafalgar mit breitem Grinsen an Leonhard und Hermes. »Als ob er nicht wüsste, dass die anderen Einheiten mehr als die Hälfte der Subjekte entkommen lassen.«

»Sie sind ein harter Hund, Donnie«, sagte Leonhard. »Kein Grund, sich dafür zu schämen.«

Viktoria Hermes schien Donnie mit ihrem Blick durchbohren zu wollen. Ihre Mundwinkel zeigten Spuren eines Lächelns. Über ihrer spitzen Nase bildeten sich kleine Querfalten.

»Ich mache meinen Job so gut ich kann«, sagte Donnie. »Darauf habe ich, soweit ich mich erinnere, einen Eid geleistet.«

»Lassen Sie es uns kurz machen«, ergriff Trafalgar erneut das Wort. »Von nun an leiten Sie sämtliche Aktionen der Eingreifkommandos. Natürlich ist damit eine nicht unerhebliche Gehaltserhöhung verbunden.«

»Zeigen Sie den Pappnasen, wo es lang geht«, sagte Leonhard. »Das Dreckszeug muss aus der Stadt verschwinden. Je eher, desto besser.«

»Das sehe ich genauso«, versicherte Donnie.

»Die Medien setzen uns unter Druck«, sagte Viktoria Hermes. Ihr Stimme hatte einen elitären, näselnden Klang, der in Donnies Ohren antrainiert wirkte. »Sie verteufeln Quantit, versetzen die Bevölkerung in Angst. Nicht zuletzt deshalb brauchen wir Erfolge, Erfolge und nochmals Erfolge.«

»Quantit unterhöhlt die Demokratie«, fügte Leonhard hinzu. »Es bringt eine Parallelgesellschaft hervor, die sich einen Dreck um unsere Werte schert.«

»Ich übernehme den Job«, sagte Donnie. »Aber wenn es sich einrichten lässt, möchte ich meine alte Truppe weiterhin behalten.«

»Kein Problem!« Trafalgar nickte optimistisch in die Runde. »Never change a winning team! Doch werden Sie den anderen Kommandos von nun an auf die Finger schauen und sie ordentlich zurechtstutzen, wenn Sie auf Nachlässigkeiten stoßen.«

»Das stemmen Sie doch, oder?«, fragte Leonhard.

»Ich denke schon«, antwortete Donnie.

»Basieren Ihre Erfolge wirklich nur auf den Resultaten der Scannerfahndung?«, wollte Hermes wissen. »Oder sind auch Informanten im Spiel?«

Donnie schüttelte den Kopf. »Wir arbeiten nicht mit Spitzeln. Weil die Quantit-Szene nicht mit den üblichen Drogenmilieus vergleichbar ist. Quantit-User bilden eine Art esoterische Gemeinschaft. Sie konsumieren in der Regel keine anderen Drogen. Die einzige Schnittstelle zur Szene ergibt sich beim Erwerb der Substanz.«

»Wie beurteilen Sie die Chance, an die Hintermänner des Geschäfts ranzukommen?«

»Im Moment eher gering. Die Anlaufstellen für den Erwerb von Quantit wechseln ständig. Beim ersten direkten Kontakt wird lediglich ein Codewort vereinbart. Später setzen sich die Verkäufer mit den Usern in Verbindung und nehmen die Bestellung auf.«

»Die Fakten sind uns bekannt«, sagte Leonhard. »Aber da Sie nun mal an vorderster Front mitmischen, sind Ihnen doch bestimmt Schwachstellen im System aufgefallen.«

Donnie unterdrückte eine schroffe, verneinende Geste. Er beließ es bei einer abwägenden Kopfbewegung. »Dafür müssten wir eine Anzahl User unter Beobachtung stellen, statt sie umgehend aus dem Verkehr zu ziehen. Die Methode, nach der wir vorgehen, mag effektiv erscheinen. Aber an die Drahtzieher des Geschäfts kommen wir auf diese Weise nicht heran. Wir sollten…«

»Ausgeschlossen«, fiel ihm Trafalgar ins Wort. »Sie wissen, was die Wissenschaft herausgefunden hat: Dass Quantit aus einem Parallelkosmos stammt. Niemand kann beurteilen, ob und wie es sich in Zukunft weiter verändern wird. Deshalb muss das Zeug ausnahmslos eingesammelt werden. Die Erfahrung mit der Omega-Droge und den Rattenlöchern, die sie hervorgerufen hat, sollte uns eine Lehre sein.«

»Vor zehn Jahren hat eine konzertierte Aktion dafür gesorgt, dass Omega von der Straße verschwand«, erwiderte Donnie. »Der Erfolg beruhte auf einer groß angelegten Erfassung von Daten…«

»Durchgeführt von einer Firma, deren Verstrickung mit der Drogenszene bis heute nicht geklärt ist.« Trafalgar schüttelte entschieden den Kopf. »Wir sollten die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen, sondern aus ihnen lernen. Das ist Ihnen doch klar, Donnie?«

»Ich sehe ein, dass mein Vorschlag nicht gründlich durchdacht war«, sagte Donnie.

»Aber aus Ihrer Sicht durchaus gerechtfertigt«, meinte Leonhard mit einem müden Grinsen. »Lassen Sie sich von der physikalischen Tragweite der Angelegenheit nicht beirren. Machen Sie einfach so weiter wie bisher und bringen Sie die Einsatzkommandos auf Trab.«

»Das werde ich.«

Trafalgar ließ den Blick zwischen Donnie und Viktoria Hermes hin und her wandern. »Dann wäre da noch etwas, das wir kurz besprechen sollten…«

»Ich fürchte, das müsst ihr ohne mich regeln.« Leonhard stand auf, zog sein Anzugjackett straff. »In zehn Minuten habe ich eine wichtige Konferenz.«

»Nur eine rein interne Angelegenheit«, sagte Trafalgar. »Danke für Ihren Besuch, Staatsanwalt.«

Trafalgar wartete, bis die Tür hinter Leonhard zugefallen war. »Wir werden Ihr Kommando vorübergehend um eine weitere Person aufstocken«, richtete er sich an Donnie. »Es handelt sich um die Tochter von Direktorin Hermes. Sie strebt eine Karriere im höheren Polizeidienst an und wird an Ihrer Seite für einige Wochen Erfahrungen sammeln.«

»Sind Sie sicher, dass das eine gute Entscheidung ist?«, erwiderte Donnie. »Es kann ziemlich ungemütlich werden bei unseren Einsätzen.«

»Amber hat ihre Grundausbildung mit Bestnote abgeschlossen«, sagte Viktoria Hermes. »Sie weiß, worum es bei Ihrer Arbeit geht, und wird sich lückenlos in das Team einordnen.«

»Daran besteht für mich kein Zweifel, aber – nun ja, der Umgangston ist manchmal etwas rau. Und man bekommt hin und wieder unschöne Dinge zu sehen.«

Hermes lächelte nachsichtig. »Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Amber erwartet keine Sonderbehandlung. Sie ist ein hartgesottenes kleines Biest, das nicht leicht zu beeindrucken ist. Weder durch rüde Sprüche noch durch dramatische Situationen während eines Einsatzes.«

Trafalgar lehnte sich zurück und nickte Donnie optimistisch zu. »Damit wären Ihre Einwände wohl vom Tisch.«

»Absolut«, sagte Donnie. »Ich hoffe, Amber wird sich in unserem Team wohlfühlen.«

»Das wird sie«, versprach Hermes. »Meine Tochter ist extrem anpassungsfähig. Ganz sicher wird sie für Ihre Mannschaft eine Bereicherung darstellen.«

»Davon gehe ich aus. Kann ich jetzt zurück an die Arbeit?«

»Wir sind fertig«, antwortete Trafalgar. »Danke für Ihre Kooperation, Donnie. Wir sehen uns.«

Donnie ging raus auf den Flur. Trafalgar und Hermes blickten ihm schweigend nach. Hatten wohl noch etwas miteinander auszuhecken.

»Amber Hermes«, murmelte er. »Na großartig. Einfach nur großartig.«

– 7 –

Donnie gönnte sich ein kleines Budweiser und ein Käsesandwich unter der Glaskuppel des Megaheaven. Früher war er oft hier gewesen, hatte auch den einen oder anderen Deal in der gigantischen Mall abgewickelt. Er konnte sich noch gut an die holografischen Engel erinnern, die auf dem Dach ihre überdimensionalen Einkaufstaschen geschwenkt hatten. Die hatte man irgendwann abgeschaltet, um Energie zu sparen. Jetzt bot das ’heaven, einst Flaggschiff des Einzelhandels in Alpha City, wenig mehr als einen Abglanz seines einstigen Glamours. Viele Geschäfte standen leer, und wo einst noble Boutiquen und exklusive Feinkostläden zahlungskräftige Kundschaft angelockt hatten, waren schäbige Discounter, virtuelle Peepshows und Absturzkneipen eingezogen.

Immerhin: Das Interieur des Bistros machte auf französisch. Thonetstühle und runde kleine Tische, über deren Oberfläche Werbebanner für Pernod und Marie Brizard liefen. Dazu alte Chansons aus der Berieselungsanlage: Je ne regrette rien…

Donnie betrachtete ohne Interesse die Scharen von Leuten, die zu den Rolltreppen strömten oder prall gefüllte Tüten zum Ausgang schleppten. Er ließ sich das Gespräch in Trafalgars Büro durch den Kopf gehen. Keine wirkliche Beförderung, resümierte er. Nur eine Erweiterung seines Aufgabenfeldes. Immerhin mit einer Gehaltserhöhung verbunden. Allein das war schon eine kleine Sensation. Und ein guter Grund, mit Echo einen draufzumachen.

Echo… wann hatte er sie das letzte Mal gesehen? Vor einer Woche, vor zwei Wochen? Oft dachte er tagelang nicht an sie, bis ihn aus heiterem Himmel das Bedürfnis überwältigte, sie zu treffen. Dabei spielte Sex keine große Rolle. Wenn sie miteinander schliefen, dann eher aus dem Grund, dass es irgendwie dazugehörte. Donnie kam das gelegen – er hatte nie verstanden, warum Sex für viele Menschen so wichtig war. Für guten Sex musste man die Birne frei haben. Keine Probleme, keine Ängste, keine belastenden Gedanken. Wer konnte das schon von sich sagen?

Mit Candy war das anders gewesen. Candy hatte ihn auf der Esplanade angesprochen. Sie war Studentin gewesen, Literaturwissenschaften oder etwas ähnliches, und ihr Anblick hatte ihn regelrecht umgehauen. Elfenhaft zart und irgendwie unschuldig in ihrem kurzen, blassgelben Sommerkleidchen, das kastanienbraune Haar im Nacken mit einer Klammer zusammengehalten. Die Augen von rätselhaftem Blaugrün, ihr Blick der eines neugierigen Teenagers, der seine Grenzen ausloten will.

Donnie hatte gesagt, er würde ihr nichts verkaufen. Sie solle die Finger von dem Zeug lassen. Sie wäre zu schade, zu wertvoll für den Scheiß. Er hatte wie ferngesteuert drauflos geplappert und doch die richtigen Worte gefunden, um sie zu erreichen. Candy hatte bis zum Ende seiner Tirade zugehört. Hatte mal die Stirn gerunzelt oder die Augen zusammengekniffen, dann wieder den Kopf geschüttelt und schnaubend ausgeatmet. Ein Eckensteher, der einem den Stoff ausreden wollte, den er verkaufte – das musste sie erst mal verarbeiten.

Er hatte Candy auf einen Kaffee eingeladen. Dann hatte sie geredet. Über die beiden Armleuchter, zwischen denen sie sich nicht entscheiden konnte. Und wie lächerlich ihr dies auf einmal erscheinen würde. Zu schade und zu wertvoll für diesen Scheiß – das hätte ihr die Augen geöffnet.

Während der folgenden Tage zeugten sie Jezebel. Donnie ging weiter seinen Drogengeschäften nach, bis der Erntetag neue Maßstäbe setzte. Bis dahin hatten sie eine gute Zeit gehabt, eine verdammt gute Zeit. Danach wurde es vorübergehend etwas eng, aber der Polizeijob hielt die kleine Familie weiterhin über Wasser.

Dann die Symptome, die Diagnose… ihm wurde immer noch schlecht, wenn er daran dachte.

Der Job hatte ihn für eine Weile abgelenkt. Auch dann noch, als Jez die ersten Dropouts bekommen hatte. Irgendwie würde er das schaffen, davon war er fest überzeugt gewesen. Als Morales über einen Mittelsmann an ihn herangetreten war, hatte er dies als Hoffnungsschimmer betrachtet. Dabei hätte er es besser wissen müssen. Er, der die Gesetze der Unterwelt genauer kannte als die meisten Polizisten in der Stadt. Und jetzt stand das nächste Problem vor der Tür. Es hörte auf den Namen Amber Hermes. Ausgerechnet die Tochter von Viktoria Hermes, der Leiterin der internen Koordination. Interne Koordination, das hörte sich nach einem stressigen Brotjob an. In diesem Fall jedoch bedeutete es Macht. Bei Viktoria Hermes liefen alle Fäden zusammen. Reguläre Polizei, die Quantit-Sonderkommandos und die Staatsanwaltschaft waren nur einige der Schnittstellen, in deren Zentrum sie saß wie die Spinne im Netz. Viktoria Hermes war eine der mächtigsten Personen von Alpha City. Wie würde sie eine überflüssige Schießerei in einer Quantit-Höhle beurteilen, wenn Töchterlein Amber ihr brühwarm davon berichtete? Und wie würde er unter den Augen einer wissbegierigen, karrieregeilen Person das Q abzweigen können, das Theo Morales von ihm erwartete?

Donnie hatte sein Team bereits über den Zuwachs informiert. Der Protest war nicht ausgeblieben. Niemand wollte einen Spitzel der Obrigkeit in den eigenen Reihen sehen. Zumal Donnie in den Augen seiner Leute durch die Beförderung ebenfalls zunehmend suspekt erschien.

Wieder war es Zummo gewesen, der mit seinen hausbackenen Weisheiten die Wogen geglättet hatte: »Wir machen einfach das, was wir immer machen, und verkneifen uns für ein paar Wochen sämtliche Arsch-Titten-Pimmel-Sprüche. Das ist doch nicht zu viel verlangt, oder?«

Er musste mit Echo reden. Sie konnte nicht nur gut zuhören, sie hatte auch immer Antworten, mit denen sich etwas anfangen ließ. Doch würde sie sich überhaupt freuen, ihn zu sehen? Bei ihr wusste man nie so genau, was in ihr vorging. Echo war ein Mysterium. Manchmal vergaß Donnie, wie sie aussah. Aber ihre Stimme konnte er jederzeit in seinem Ohr abrufen. Und die merkwürdigen Kommentare, die sie ohne ersichtlichen Zusammenhang von sich gab. Etwa: Gehe nicht in das braune Haus. Er hatte keine Ahnung gehabt, was sie damit meinte. Ein paar Tage später stehst du vor einem braunen Haus, das die Scannereinheit ausgespäht hat. Und du erinnerst dich an diese Worte. Du schickst deine Leute rein, bleibst aber selbst im Wagen. Keine Zwischenfälle. Doch was wäre geschehen, wenn…? Du hakst nach – und Echo kann sich nicht erinnern, von einem braunen Haus gesprochen zu haben.

»Bleiben Sie gelassen«, sagte eine Stimme hinter seinem Rücken. »Die Dinge geschehen so oder so, auf die eine oder andere Art. Kein Grund, sein Gehirn zu martern.«

Donnie drehte sich auf seinem Stuhl herum und musterte das Paar am Nebentisch. Ein blonder Typ mit einem zerknitterten Gesicht, das keine Rückschlüsse auf sein Alter zuließ. Eine junge Frau, fast noch ein Teenager, mit weit auseinander stehenden Augen und einer imposanten rotbraunen Lockenmähne.

»Ich steh nicht drauf, wenn andere meine Gedanken lesen«, sagte Donnie.

»Dann sollten Sie nicht so laut denken. Die Leute gucken schon.«

Donnie blickte um sich, kam sich wie ein Trottel vor.

»Ich weiß nicht, wie Sie das machen«, knurrte er den Blonden an. »Ich will es auch gar nicht wissen. Aber schnüffeln Sie verdammt noch mal nicht in meinem Kopf herum.«

»Niemand schnüffelt in Ihrem Kopf herum«, entgegnete der Fremde. »Ich sagte doch, Sie denken ziemlich laut. Übrigens bin ich nicht auf Quantit. Sie brauchen mich also nicht zu verhaften.«

»Und die anderen Leute hier?«, fragte Donnie. »Denken die auch so laut?«

»Gebrabbel. Lange nicht so präzise wie das, was von Ihnen kommt.«

»Ist das ein wissenschaftliches Experiment? In der Art, wie das in Princeton läuft, oder bei der Air Force?«

Der Blonde schüttelte den Kopf. Donnie fiel sein lässiger Designeranzug auf. Der aussah, als hätte er darin geschlafen.

Die junge Frau mit der rotbraunen Mähne richtete den Blick auf Donnie. Ihre Augen waren von unnatürlicher, platingrauer Farbe.

»Sie sind im Begriff, einen Weg zu beschreiten, den nur wenige vor Ihnen gegangen sind«, sagte sie mit einer melodiösen und doch eintönigen Stimme. »Das lässt sich an der strukturellen Verdichtung erkennen, die sich um Sie herum aufbaut.«

»Ich verstehe kein Wort«, entgegnete Donnie. »Was bezweckt ihr mit dieser Show? Wollt ihr mir Angst einjagen?«

»Sie sollten überhaupt keine Angst haben«, sagte das Mädchen. »Egal, was passiert. Je weniger Angst Sie empfinden, desto sicherer werden Sie auf Ihrem Weg vorankommen.«

»Mit anderen Worten«, fügte der Blonde hinzu, »scheren Sie sich einen Dreck um Regeln, Konventionen und Moral. Und um den ganzen anderen Scheiß. Die Welt, in der Sie leben, ist ein Konstrukt, das nur so lange funktioniert, wie man daran glaubt. Und nicht einmal dann. Das ist der eigentliche Witz dabei.«

»Quantit-Einsichten«, entgegnete Donnie. »So etwas bekomme ich von ungefähr jedem dritten User zu hören, den ich aus dem Verkehr ziehe.«

»Lassen wir diese verlorenen Seelen außen vor«, sagte der blonde Mann. »Die hängen in der Dualität ihres Daseins fest wie in einem Spinnennetz.«

»Wohingegen Sie anscheinend den Trick heraus haben. Sie irgendwo da oben, und unten die profane Welt mit ihren gepeinigten, ahnungsloses Kreaturen. Das muss sich grandios anfühlen.«

»Und wenn ich Ihnen sagen würde, dass Sie mit Ihrer Einschätzung gar nicht mal so weit daneben liegen?«

»Dann wären Sie nicht besser als die Freaks, die sich damals Omega eingeworfen haben.«

Der blonde Mann lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Donnie hatte das Gefühl, dass er das Gespräch nur widerwillig führte. Dass er eine lästige Pflicht erfüllte und seine Zeit lieber mit etwas anderem verbracht hätte.

»Ihr Instinkt hat Sie davon abgehalten, mit Omega zu dealen«, sagte der Fremde. »Obwohl die Angebote ziemlich verlockend waren.«

Donnie erinnerte sich: Er war diesem Mann schon mindestens einmal begegnet. Damals, als er an der Friedensesplanade seine Ware angeboten hatte. Und es stimmte, dass er einen großen Bogen um Omega gemacht hatte. Niemand hatte gewusst, woher der Stoff eigentlich kam. Was er wirklich mit einem machte, wenn man ihn erst einmal intus hatte. Bis überall in der Stadt die Rattenlöcher entstanden waren.

»Sie haben mal was bei mir gekauft«, sagte er.

Der Blonde lachte humorlos auf. »Ja, das habe ich. Mehrmals sogar. Sie waren ein kleiner Fisch, Nachfalter-Clan, nicht wahr? Aber Sie haben sich gut gehalten. Hatten eine Hand voll Promis am Haken, Ihre Diskretion wurde in gewissen Kreisen hoch geschätzt.«

»Falls Sie planen, mich wegen meiner Vergangenheit zu erpressen – bei mir gibt es nichts zu holen.«

»Es ist nicht Ihre Vergangenheit, die Sie angreifbar macht.«

Donnie schubste sein angebissenes Sandwich auf dem Teller herum. »Soll das eine Warnung sein?«

»Vor was sollte ich Sie warnen?«, erwiderte der Mann. »Wir haben kein persönliches Interesse an Ihnen. Meine liebe Freundin und ich…« Er strich sanft über die Schulter seiner jungen Begleiterin, die ihren rätselhaften Blick keine Sekunde von Donnie abgewendet hatte. »Wir wurden auf Sie aufmerksam, weil ihre Zukunft plötzlich in unsere Privatsphäre hinein geragt hat wie…«

»Wie ein Walpenis«, sagte das Mädchen und verzog keine Miene dabei.

»Wollen Sie mir sonst noch etwas derart Wesentliches mitteilen?«, fragte Donnie.

»Wir werden Sie weiter im Auge behalten«, sagte der Blonde. »Aber wir sind keine Schutzengel. Sie allein tragen die Verantwortung.«

»Verantwortung wofür?«

»Für die Scheiß-Welt, die Sie erschaffen haben.«

Donnie runzelte die Stirn. Wovon redete dieser Typ eigentlich?

»Ich denke, wir sollten dieses Gespräch auf der Stelle beenden«, sagte er schroff.

»Das hatten wir sowieso vor.«

Der Blonde stand auf und schlenderte auf den Ausgang zu. Seine Begleiterin kam um den Tisch herum und legte ihre Hand auf Donnies Schulter.

»Sie mag keinen Champagner«, raunte sie ihm zu. »Über einen trockenen französischen Roten wird sie sich mehr freuen.«

Donnie starrte auf sein leeres Bierglas. Sein Blick wanderte zum Nebentisch. Er war leer, bis auf ein paar verwelkte Blümchen in einem Perrier-Fläschchen. Dabei hatten gerade noch zwei Tassen auf dem Tisch gestanden. Eine kleine Espressotasse und eine größere für Milchkaffee.

Er blickte zum Ausgang, konnte das merkwürdige Paar jedoch nicht entdecken.

Gelassenheit. Strukturelle Verdichtung. Was noch? Ein trockener französischer Roter für Echo. Zumindest mit dieser Botschaft konnte er etwas anfangen.

– 8 –

Donnie erstand in einer der wenigen verbliebenen Weinhandlungen, die das Megaheaven noch beherbergte, eine Flasche roten Burgunder. Er rief zuhause an und fragte Jezebel, ob alles in Ordnung sei. Alles in Ordnung, sagte Jezebel. Er würde vielleicht über Nacht wegbleiben, sagte er. Kein Problem, sagte Jezebel.

Er rief bei Echo an, sie meldete sich nicht. Er sprach auf ihre Mailbox, schickte ihr eine Kurznachricht, kündigte seinen Besuch an. Und sah sich in Echos Wohnung sitzen, wie er die Flasche im Alleingang austrank.

Und wenn schon.

Er nahm die Monorail, stieg nach drei Stationen in den Bus um. Spürte Gedankenfragmenten nach, die um Leute mit telepathischen Fähigkeiten kreisten – Q-Junkies im fortgeschrittenen Stadium? Mutanten wie aus alten Science-Fiction-Filmen? Wer interessierte sich eigentlich noch für Sciene Fiction?