Die Kosmotekten - Peter Scheerer - E-Book

Die Kosmotekten E-Book

Peter Scheerer

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Beschreibung

Der Polizist Vincent Kemper verbringt eine Nacht mit der mysteriösen Loonie, die wenig später in Verdacht gerät, für den Tod mehrerer Politiker und Wirtschaftsbosse verantwortlich zu sein. Da Loonie trotz härtester Verhörmethoden nichts preisgibt, wird Kemper beauftragt, ihr Vertrauen zu gewinnen und das Rätsel ihrer Identität zu lösen. Seine Ermittlungen erweisen sich nicht nur als extrem gefährlich, sondern führen ihn überdies auf die Spuren unsichtbarer Mächte, die seit Jahrtausenden den Lauf der Welt bestimmen. Was als Cop-Thriller im Noir-Stil beginnt, entwickelt sich im Lauf der Handlung zu einer phantastischen Saga, die den Horizont der Ausgangssituation weit hinter sich lässt. Wer Vergnügen an spannenden Geschichten findet, die sich ungeniert über Genre-Grenzen hinwegsetzen, könnte an diesem Roman seine Freude haben.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

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EPILOG

Impressum

© Peter Scheerer 2011

Covergestaltung und Satz: frey-d-sign

Cover-Illustrationen: 123rf

Prolog

Dies ist die Geschichte von Vince Kemper, der das Leben eines Durchschnittsmenschen des einundzwanzigsten Jahrhunderts führte – bis ihm eines Tages die Welt um die Ohren flog, aber da steckte er schon bis über beide Ohren in der Sache drin. Schnee von gestern, werden nun einige von euch behaupten. Doch erstaunlicherweise hat sich bis jetzt noch niemand die Mühe gemacht, die verschlungenen Details zu beleuchten, deren Zusammenwirken die Welt, wie wir sie heute kennen, hervorgebracht hat. Aus diesem Grunde richte ich mich mit diesem Manuskript vor allem an jene, die einen Blick hinter die geläufigen Interpretationen unserer Evolution werfen möchten.

Mir ist bewusst, dass meine Schrift viele Skeptiker auf den Plan rufen wird. Kritische Geister, denen es unvorstellbar erscheint, dass die Menschen tatsächlich einmal »arbeiten« mussten, um am Leben zu bleiben. Dass sie »krank« werden und daran »sterben« konnten. Und dass ihre Geschicke von »Eliten« gelenkt wurden, die sich durch gezielte Lügen, falsche Versprechungen und andere inhumane Praktiken eine Macht verschafften, welche sie rücksichtslos zu ihrem eigenen Vorteil einsetzten. Doch war diese Entwicklung nicht ausschließlich das Werk der Menschen. Da hatten noch andere Kräfte ihre Finger im Spiel. Kräfte, welche die Menschheit heute noch in ihrem unbarmherzigen Würgegriff gepackt hielten – wäre nicht einer gekommen, um ihnen ein für allemal das Handwerk zu legen.

Von ihm handelt diese Geschichte.

1

Vince Kemper erwachte von einem akustischen Cocktail aus schriller Mädchenstimme, urweltlichem Gebrüll und knirschenden Geräuschen, unterlegt mit hämmernden Synthesizerarpeggios. Auf einem der Überwachungsmonitore lief ein Anime-Porno: Ein schuppiger Koloss mit einem lächerlich winzigen Kopf, das Gesicht hinter einer starren, weißen Babymaske verborgen, fiel über eine geflügelte Elfe her, die sich mit einem blitzenden Krummsäbel ihrer nackten Haut wehrte. Kemper wusste, wer für die Störung verantwortlich war: Sein Kollege Brodski schaute während seiner Schicht pausenlos diesen Schrott an.

Doch Brodskis Stuhl war leer.

Kemper stand mit einem gemurmelten Fluch vom Sofa auf und schlurfte zum Arbeitsbereich des abgedunkelten Apartments hinüber. Dort kauerte Brodski unter dem Tisch und versuchte, den winzigen Stecker der Kopfhörereinheit in die richtige Buchse einzustöpseln.

»Tut mir Leid, Kemp. Hab wohl mit dem Fuß das Kabel rausgerissen. Gleich wird’s wieder leise.«

»Ist schon das dritte Mal jetzt. Leg dir endlich einen drahtlosen Kopfhörer zu.«

»Du weißt, dass das nicht erlaubt ist. Zu unsicher, jeder kann sich einklinken…«

»Als ob sich jemand für das Zeug interessieren würde, das du dir reinziehst.«

Kemper rief das Bedienfenster des Videospielers auf und schaltete das grelle Spektakel auf stumm. Kehrte aufs Sofa zurück, zog die muffige Wolldecke über seine Schultern und versuchte, wieder einzuschlafen. Kaum hatte er sich hingelegt, begann sein Magen zu brennen. Das kam von dem Fraß, den er seit Wochen verputzte: labbrige Burger, ranzige Pommes und undefinierbare asiatische Snacks. Im 23. Bezirk war genießbares Essen eine Rarität.

»Mach den geilen Clown fertig, Schätzchen!«, feuerte Brodski, zurückgekehrt aus dem Reich obskurer Steckverbindungen, die bedrängte Elfe an. »Sonst bist du nämlich dran, hehe!«

Kemper drehte sich auf den Rücken, die Magenschmerzen ließen nach. Er starrte an die Zimmerdecke und erstellte im Kopf eine Liste von Begründungen für einen Versetzungsantrag. Als Seiteneinsteiger standen ihm nicht viele Türen offen. Sein momentaner Status war der eines Infanteristen, seine Aufgabe die Überwachung verdächtiger Subjekte. Und dabei war er noch ein Privilegierter: Curt »Big Boy« Carlsson, auf den man sein Team angesetzt hatte, war der dickste Fisch, den die Unterwelt zu bieten hatte.

Curt Carlsson – ein ausgekochter Gangster, der es über den Handel mit Drogen, Informationen, Waffen und Menschen nach ganz oben geschafft hatte. Ein erbarmungsloser Killer, auf dessen Konto mehrere hundert, wenn nicht tausende Morde gingen. Ein Showmaster, der es verstand, sich in der Öffentlichkeit zu inszenieren, ohne selbst in Erscheinung zu treten. Die Medien behandelten ihn wie einen Prominenten. Er gab Pressekonferenzen an geheimen Orten, schrieb Artikel über die Ästhetik des Bösen und anderes aufgeblasenes Zeug. Die Intellektuellen liebten ihn dafür. Die Jugend hielt ihn für einen Popstar. Auf der Straße sprach man seinen Namen mit einem Unterton von Ehrfurcht aus.

Carlssons Festung lag im 23. Bezirk, einer der heruntergekommensten Ecken der Stadt. Im Grunde diente ihm das ganze Viertel als Unterschlupf. Hier war er aufgewachsen, hier hatte er seine verbrecherische Laufbahn angetreten, hier kannte er jeden Pflasterstein, jede Ritze im Asphalt. Seine Leute hatten die Umgebung seines Hauptquartiers so gut abgesichert, dass es äußerst riskant war, ihn aus unmittelbarer Nähe zu beschatten. Weshalb das schäbige Loch, in dem Kemper und Brodski Dienst schoben, fast zwei Kilometer von Carlssons Residenz entfernt lag – einen Steinwurf jenseits der unsichtbaren Linie, die sein Revier vom Rest der Stadt trennte.

Dass sie überhaupt Informationen aus Carlssons Hauptquartier erhielten, war einer Software zu verdanken, die in Kapselform von einem Hubschrauber abgefeuert wurde und sich an ihrem Ziel, einem Laternenmasten oder einer Mauer beispielsweise, in einen unsichtbaren Film verwandelte, der rund um die Uhr Bild- und Tonaufzeichnungen sendete. Die Daten hätte man ohne Umstände direkt an die Zentrale weiterleiten können (was zweifelsohne auch geschah), doch wollte man auf die Beobachter vor Ort nicht verzichten. Kemper hegte den Verdacht, dass deren Anwesenheit einen eher symbolischen Zweck verfolgte. Denn obwohl inzwischen Beweise gegen den Big Boy vorlagen, die ihm hundert Mal lebenslänglich eingebracht hätten, ließ man ihn weiter seinen Geschäften nachgehen. Das mochte daran liegen, dass Carlssons unsichtbare Krakenarme nicht nur die Straße kontrollierten, sondern bis zu den Ebenen von Politik und Wirtschaft emporreichten. Für Kemper stand fest, dass generell kein ernsthaftes Interesse daran bestand, den Big Boy aus dem Verkehr zu ziehen.

Brodski lachte auf und klatschte in die Hände. »Wahnsinn! Wer denkt sich nur so einen Müll aus! O Mann, ich liebe diese Scheißfilme!«

Kemper schloss die Augen und betete still: Lieber Gott, lass mich bitte einschlafen. Lass mich endlich diese schreckliche Pizza verdauen und sorge dafür, dass ich davon keinen Dünnschiss bekomme. Ach ja, und schaffe mir so bald wie möglich diesen Brodski vom Hals.

Er glaubte nicht an den Lieben Gott, doch das Gebet zeigte bis zu einem gewissen Grad Wirkung. Das Sodbrennen ebbte ab und Kemper wurde sehr, sehr müde. Er schlief ein und träumte von einer schemenhaften Gestalt, der er durch verwinkelte, von bernsteinfarbigem Halblicht erfüllte Räume folgte. Er war geradezu besessen von dem Drang, dieser Gestalt gegenüberzutreten und ihr ins Gesicht zu blicken. Doch egal, wie er es anstellte – er bekam sie immer nur von hinten zu sehen. Dabei hatte er nicht den Eindruck, dass sie vor ihm flüchtete. Die Verfolgungsjagd glich mehr einem Spiel, dessen Regeln er noch nicht gelernt hatte. Und der Unbekannte schien sich einen Jux daraus zu machen, ihn an der Nase herumzuführen, was Kemper in ein Wechselbad aus Wut und Frustration stürzte.

Der Traum endete so verschwommen, wie er angefangen hatte, und entließ ihn in die leeren, schwarzen Hallen des Tiefschlafs. Als er später in der Nacht mit einer vollen Blase erneut aufwachte und zur Toilette wankte, saß Brodski immer noch Schenkel klopfend vor dem Monitor.

2

Kempers Schicht endete am späten Nachmittag. Er rüttelte Brodski wach, der sich auf dem Sofa zu einem schnarchenden Knäuel zusammengerollt hatte, und trat den Weg zur Bahnstation an. Gewohnheitsmäßig achtete er darauf, einen resignierten Eindruck zu verbreiten. Ein ausgemusterter, dem Alkohol zugeneigter Mittvierziger, der sich mit seinem Kumpel eine schäbige Wohnung teilte und gelegentlich der einen oder anderen anspruchslosen Arbeit nachging, erregte im 23. keine Aufmerksamkeit.

Ein schwarz-weiß gemusterter Vogel stieß von einem Gebäude herab und flatterte für einige Augenblicke vor Kemper her, stieß eine Sequenz unmelodischer Laute aus. Was eine Elster in dieser durch und durch urbanen Umgebung zu suchen hatte, war ihm ein Rätsel: Weit und breit kein Baum, keine Hecke oder eine Grünanlage. Der gefiederte kleine Kerl musste sich gründlich verirrt haben.

In der U-Bahn ergatterte er einen Sitzplatz, auf dem er teilnahmslos vor sich hindöste, bis ihm ein dunkelhäutiger Bursche in einer Armeejacke, das struppige schwarze Haar mit einer roten Bandana im Zaum gehalten, eine mindestens fünfzehn Zentimeter lange Messerklinge unter die Nase hielt und ihn über seine Zukunftspläne aufklärte.

»Nicht dass ich das gern tun würde, überhaupt nicht. Aber ich brauch noch ein bisschen Kohle, bevor ich mich durchs Portal verpisse. Hab mich fest entschieden, weil hier isses für mich gelaufen.«

»Ich würde mal Stütze beantragen«, meinte Kemper. »Immer noch besser, als irgendwohin zu gehen, wo vielleicht gar nichts ist.«

»Stütze? Bekomm ich keine, weil ich keinen Job annehme. Sagen sie. Dabei gibt es weit und breit keinen verdammten Job! Dann is da noch so ’ne Schickse, die hat’n Kind von mir. Die beiden kann ich doch nicht ohne alles sitzen lassen, wenn ich die Fliege mache, oder wie siehst du das?«

Kemper drückte ihm einen zerknautschen Schein in die Hand. Der Messermann dankte mit einem freundlichen Lächeln und hielt nach einem neuen Opfer Ausschau. Dank seiner Ausbildung hätte Kemper ihn mühelos überwältigen können, aber im Zug wimmelte es von Leuten aus dem 23. Bezirk, er durfte seine Tarnung nicht aufs Spiel setzen.

Am Haltepunkt Neue Peripherie 7 stieg er aus und fuhr mit der Rolltreppe zu dem weitläufigen Platz am Fuß seines Habitats hinauf. Neue Peripherie, meist NP abgekürzt, bezeichnete ein groß angelegtes Bauprojekt aus himmelstrebenden Wohninseln, die man in ringförmiger Anordnung um das Stadtzentrum hochgezogen hatte. Als er den Job beim City Security Team bekommen hatte, war ihm eine Wohneinheit im Containerhochhaus Nr. 7 zugeteilt worden. Zwar wurde ihm immer noch flau bei dem Gedanken, dass sein Heim zweiundsiebzig Stockwerke hoch über dem Boden lag. Doch wenn er nach fünf Tagen Dauereinsatz von seinem Beobachtungsposten zurückkehrte, fand er es manchmal durchaus behaglich.

Vor dem Aufzug zu seinem Wohnsegment war eine Menschenmenge an einer Absperrung versammelt. Das Lichtergewirr von Polizei- und Rettungsfahrzeugen huschte über die Flanken des Gebäudes. Kemper mischte sich unter die Leute und erfuhr, dass die Liftkabine abgestürzt war. Siebzig zerquetschte Menschen mussten geborgen und abtransportiert werden. Die schwerste Panne, seit private Investoren die Wohnanlage übernommen und das Budget für Wartungsarbeiten um fünfundneunzig Prozent gekürzt hatten.

Auch die beiden verbleibenden Lifts an dieser Seite des Gebäudes waren durch die Absperrungen unzugänglich gemacht worden. Vor den Aufzugröhren auf der anderen Seite herrschte ruppiges Gedränge. Kemper graute davor, in das Gewühl einzutauchen und in schwindelnder Höhe auf einem der windigen, von schaulustigen Hausbewohnern verstopften Steige den Komplex zu umrunden. Er kehrte in den unterirdischen Bahnhof zurück und fuhr mit dem nächsten Zug zurück in Richtung City.

Normalerweise mied er die Innenstadt, denn die allgegenwärtigen Leuchtreklamen, die haushohen Videoscreens und animierten Holografien schlugen ihm aufs Gemüt. Die meisten Lokalitäten kamen für ihn sowieso nicht infrage. Da gab es Bars, in denen kein Wort gesprochen werden durfte, neben Clubs, in denen Dirty Talk Pflicht war. Restaurants für Hunde und improvisiertes Rülps- und Furz-Cabaret mit Lachgarantie für Gehirnamputierte, Schuppen für Nackt-Karaoke und puritanisch eingerichtete Fastfood-Filialen, in denen zu jeder vollen Stunde eine Schnellversion der Heiligen Messe abgehalten wurde.

Zudem verfolgte einen auf Schritt und Tritt die unvermeidliche Propaganda für die Zweite Welt: Idyllische Flussauen, Fachwerkdörfer, Windmühlen, ein Fesselballon über einer verschneiten Gebirgskette. Männer in weißen Hemden und Kniebundhosen, die mit vereinten Kräften einen Mast aufrichteten. Eine glückliche, mit üppiger Kinderschar gesegnete Familie beim Frühstück auf der Veranda eines rustikalen Holzbungalows.

Kemper verstand nicht, warum so viele Menschen auf diesen Blödsinn hereinfielen. Vielleicht, weil sie keinen anderen Ausweg sahen aus dem lückenlos bevormundeten Dasein, das einem drohte, wenn man erst einmal an den Rand der Gesellschaft gespült worden war.

Er entschied sich für einen Abstecher ins Ginger Whale. Dort hatte er schon mal einen Abend in gepflegter Langeweile verbracht, ohne sein Budget übermäßig zu strapazieren. Ein bescheidener Laden mit freundlicher Bedienung, einer kleinen Batterie Spielekonsolen und Retro-Beschallung – Rocksongs, so alt wie die Sünde, und dazwischen ein paar neuere Titel, die nicht übermäßig weh taten. Er setzte sich an die Theke, bestellte ein Bier und folgte ohne Interesse der stumm geschalteten Übertragung eines Fußballturniers auf dem Bildschirm am Ende des Lokals.

Seine Gedanken wanderten ziellos umher, von Brodski über das Monstrum Carlsson und der Frage, wie er seinen Versetzungsantrag formulieren würde, bis hin zu dem Horrorspektakel, das vor wenigen Stunden an der NP 7 stattgefunden haben musste. Ihm wurde schlecht, wenn er nur daran dachte. Einmal war er zusammen mit drei Dutzend Leuten stundenlang auf Höhe des vierundfünfzigsten Stockwerks festgesessen. An jenem Tag hatte er seine Dienstwaffe dabei gehabt. Als seine Mitgefangenen einer nach dem anderen in Panik gerieten, war er kurz davor gewesen, um sich zu schießen.

Jemand setzte sich auf den freien Hocker neben ihm. Eine dunkelhaarige junge Frau, kurzer weißer Lackmantel, lange Beine in schwarzen Strümpfen, weiße Lackstiefel. Unter ihrer zerzausten Fransenfrisur hatte sie klare Gesichtszüge mit einer hohen Stirn, einer präzisen Nase und leuchtend grünen Augen. Ihre Haut war von einem stumpfen Braun mit einem Stich ins Graue, was sie auf den ersten Blick ungesund aussehen ließ. Bei genauerem Hinsehen jedoch wirkte es geheimnisvoll, als wäre sie von hauchfeinen Schatten umsponnen.

»Hi«, sagte sie.

»Hallo«, brummte er.

»Du siehst aus, als würdest du dich zu Tode amüsieren.«

»Ich sehe immer so aus.«

Sie winkte dem Barkeeper und bestellte ein Bier, rückte ein kleines Stück näher an Kemper heran.

»Damit das klar ist – ich ziehe nicht herum und spreche irgendwelche Typen an. Wir wissen ja, wohin das führt, nicht wahr? Aber bei dir habe ich das Gefühl, wir könnten uns etwas zu sagen haben.«

Er musterte sie reserviert. Ja, sie war verdammt hübsch. Es gab eine Menge verdammt hübscher Frauen, die nicht alle Tassen im Schrank hatten.

»Wir können gerne ein bisschen schweigen«, fuhr sie fort. »Miteinander schweigen kann auch sehr schön sein.«

»Ich weiß nicht, ob ich der Richtige bin, um deine Einsamkeit zu vertreiben.«

»Wer spricht von Einsamkeit? Ich bin gern allein, mir fehlt es an nichts. Doch dann gibt es diese ganz speziellen Tage… da beginnt es in mir zu wühlen und ich fange an, mir Fragen zu stellen. Fragen, auf die es vielleicht keine Antworten gibt.«

»Dann stellst du wahrscheinlich die falschen Fragen«, meinte er.

»Darüber sollte ich mal nachdenken – aber nicht heute! Denn heute hat es mich besonders schlimm erwischt. Seit Stunden treibe ich durch die Straßen wie ein weißes Blatt Papier, das darauf hofft, jemand möge seine Unterschrift darauf hinterlassen. Ich brenne vor Sehnsucht nach einer verwandten Seele. Vielleicht bist du meine letzte Rettung.«

»Ich habe nicht vor, heute noch jemanden zu retten.«

Sie lächelte, als hätte er etwas besonders Nettes gesagt. Ihre Zähne waren gelblich und ein wenig unregelmäßig. Irgendwie passte das zu ihr.

Der Barkeeper servierte das Bier und die Fremde präsentierte Kemper ihr Glas, um mit ihm anzustoßen.

»Ich bin Loonie«, sagte sie.

»Vince.«

»Ein Sieger also.«

»Du kannst Latein?«

»Ein bisschen.« Sie grinste. »Das Meiste habe ich aber vergessen.«

Er blickte zuerst auf seine Hände und dann auf das Fußballspiel. Ein verregneter Nachmittag in Stavanger fiel ihm ein, wo er sich mit einem ständig herumalbernden Engländer eine Wohnung geteilt hatte. Er hatte ihn auf einer der Newcastle-Fähren kennen gelernt, wo sie fürs Catering zuständig gewesen waren: Sandwiches und heiße Würstchen als Unterlage für Hochprozentiges. An jenem Nachmittag waren zwei Freundinnen des Engländers zu Besuch gekommen, eine Blonde und eine Dunkelhaarige – die Loonie zwar nicht unbedingt ähnlich gesehen hatte, aber das eine oder andere Merkmal hatte sie mit ihr gemeinsam. Etwa diese unverblümte und gleichzeitig verschlüsselte Art, sich auszudrücken.

Sie hatten Musik gehört, einen Haufen Gras weggekifft und viel getrunken, waren schließlich zu viert auf dem Bett des Engländers gelegen und hatten bis tief in die Nacht gequatscht. Der Sex war wie eine tropische Regenwolke über ihnen gehangen, doch die ständigen Ergüsse aus persönlichen Lebensphilosophien, bizarren Episoden aus der Vergangenheit und Plänen für eine strahlende Zukunft hatten jede unmittelbare erotische Regung im Keim erstickt. Erst als die Dunkelhaarige spontan ein Bad genommen hatte, war ein wenig Kitzel in die Sache gekommen. Dann hatte ihn die Blonde aufgefordert, mit ihr loszuziehen, um Pizza und Hamburger zu besorgen. Sie hatte den Lift angehalten und sich in einer Eruption von leidenschaftlicher Körperlichkeit an ihn rangeschmissen, dass ihm die Luft weggeblieben war. Blöderweise war er so bedröhnt gewesen, dass er nicht mal die Hälfte des unerwarteten Exzesses mitbekommen hatte.

Auch der restliche Abend war durch die Abflussgitter seiner Wahrnehmung getropft. Wenige Tage später hatte der Engländer auf einer Bohrinsel angeheuert und die Wohnung gekündigt. Kemper war ans andere Ende der Fährverbindung umgesiedelt, nach England. Die beiden Mädchen hatte er nie wieder gesehen.

»Du langweilst dich«, stellte Loonie fest.

»Würde ich mich langweilen, läge es nicht an dir.«

»Langeweile ist heutzutage ein Zeichen von Lebendigkeit und Kultur«, behauptete sie. »Wer keine Langeweile empfindet in dieser abgestorbenen Welt, ist schon so gut wie tot.«

Kemper wurde hellhörig: Offene Gesellschaftskritik war tabu. Man galt schnell als Querulant oder Versager, wenn man im falschen Moment eine negative Meinung äußerte. Dagegen gab es zwar kein Gesetz, doch konnte es passieren, dass du deinen Job los warst, ehe du bis drei gezählt hattest. Inklusive eines entsprechenden Vermerks in deinem amtlichen Führungszeugnis.

»Dieses düstere Gesicht steht dir nicht. Du bist ein fescher Kerl, Vince. Solltest hin und wieder ein Lächeln riskieren. Oder hältst du es nicht aus, wenn jemand zurücklächelt?«

»Ich wette, diese Nummer ziehst du jeden Abend ein paar Mal ab. Bis irgend so eine verkrachte Existenz in deinen Tentakeln hängen bleibt.«

»Ich habe dir gesagt, dass ich so etwas nicht mache.«

Er zuckte mit den Schultern. Sie blickte auf den Bildschirm, auf dem kleine Männchen in bunten Trikots zu sehen waren, die hinter einem Ball herrannten, miteinander zusammenstießen und sich auf dem giftgrünen Kunstrasen überschlugen.

Kemper betrachtete Loonie von der Seite. Unter dem Mantel trug sie ein dünnes braunes Top, das mit der Farbe ihrer Haut verschmolz. Er glaubte zu wissen, wie sich ihre Haut anfühlte. Weich, samtig, und ein klein wenig klebrig.

»Hast du je daran gedacht, durchs Portal zu gehen?«, fragte sie.

»Nenne mir einen vernünftigen Grund.«

»Dort drüben soll alles viel besser sein als hier.«

Das hörte sich nach Gesinnungsschnüffelei an. Denn wer mit dem Gedanken spielte, in die Zweite Welt auszuwandern, hatte vor den Anforderungen der Gesellschaft bereits resigniert. Solange einer wie er ohne zu fragen seine Arbeit verrichtete, wurde er als nützlicher Idiot geduldet in dem feudalen Szenario, das den Mächtigen und Vermögenden vorschwebte. Ein Szenario aus politischen Schiebereien, manipulierten Aktienkursen und raffgierigen Konzernen, die den Kuchen untereinander aufteilten. Wer kein Geld zum Ausgeben hatte, auf staatliche Unterstützung angewiesen war oder Gedanken hegte, die der offiziellen Schreibweise entgegenliefen, kam in diesem Modell nicht vor. War man obendrein nicht gewillt, auf den Schlachtfeldern in Südamerika, Asien und Afrika die Interessen der freien Welt zu vertreten, sollte man verdammt noch mal seine Koffer packen und den nächsten Zug nach Morgenland nehmen.

»Ich glaube den ganzen Quatsch nicht, der über dieses angebliche Paradies verbreitet wird«, sagte Kemper. »Wenn es dort so wunderbar ist, wie man uns glauben machen will – warum sind dann all die Bonzen noch da?«

»Warum sollten sie auch fortgehen? Die haben es hier schließlich gut, oder?«

»Es existieren keine Beweise, dass die Zweite Welt besser ist als unsere. Diese Leute, die angeblich ihrer alten Heimat einen Besuch abstatten und von ihrem wunderbaren Leben auf der anderen Seite schwärmen, haben alle das gleiche falsche Grinsen im Gesicht. Und sie reden alle das gleiche aalglatte Zeug. Das ist inszenierte Scheiße, nichts weiter.«

»Aber wenn es dort wirklich so gut ist, wie es heißt?«

Kemper seufzte und trank einen Schluck. Den Blick auf das Fußballspiel gerichtet, sagte er: »Egal, wohin sie gehen – es kommt immer einer zurück, weil ihm etwas stinkt. Oder weil er Heimweh hat. So einem würde ich vielleicht glauben. Aber diese Leute scheint es entweder nicht zu geben, oder man versteckt sie vor uns.«

»Es gibt noch eine andere Möglichkeit«, meinte Loonie.

Er sah sie stirnrunzelnd an. Ihr Gesichtsausdruck war nicht zu deuten.

»Welche?«, fragte er.

»Dass man nicht zurückkehren kann.«

»So eine Schweinerei traue ich ihnen dann doch nicht zu.«

Aber er traute es ihnen zu. Den Politikern, den Wissenschaftlern, den Wirtschaftsbossen. Dass sie das lästige Gesindel ein für allemal aus der Welt schaffen wollten. Die unzufriedenen, ungebildeten, unnützen Massen, die es durchzufüttern galt. Die auf irgendwelchen Rechten bestanden, nur weil sie mal jemand auf einen Fetzen Papier geschrieben hatte.

Loonie blickte ihm in die Augen. »Hast du es dir schon mal angesehen?«

Er blinzelte verunsichert. »Das Portal? Nein.«

»Der Bahnhof ist nur ein paar Blocks entfernt. Und mit dem Expresszug ist es gerade mal eine halbe Stunde. Wollen wir?«

»Und dann?«

»Kein und dann. Nur ein kleiner Ausflug mit der Bahn. Ich wette, so etwas Spontanes hast du schon lange nicht mehr gemacht.«

3

Der Morgenland Express ruhte mit summenden Aggregaten auf seiner Magnetschiene. Morgenland – so hatte man die kleine Stadt getauft, die rings um das Portal aus dem Boden gestampft worden war. Forschungslabors, Verwaltungsgebäude, paranoid abgesicherte Hochsicherheitstrakte, billige und doch saubere Hotels, repräsentative Niederlassungen aller an dem Unternehmen beteiligten Technologiefirmen, Wohnblocks für die Angestellten und Bungalows mit Swimmingpool für die Bosse. Dank der massiven Propaganda konnte fast jedes Kind einen Grundriss der Anlage zeichnen, der Lego-Bausatz von Morgenland war ein Verkaufsschlager.

Loonie löste ein Sparticket für zwei Personen, Nachttarif. Kemper organisierte einen Snack, frittierte Rohkost, japanisch inspiriert. Sie schlenderten am silbrigen Leib des Zuges entlang, bis sie sich Loonie für ein leeres Abteil am hinteren Ende entschied.

»Du warst also schon mal dort?«, fragte er, auf einem halbgaren Zucchinistäbchen kauend.

Sie nickte. »Es zieht mich immer wieder hin. Man kann das Ende der Welt ahnen, das fasziniert mich.«

»Das Ende der Welt. Das würde gut passen.«

»Ich habe nicht vor, hinüberzugehen«, betonte sie. »Dafür habe ich hier noch zu vieles vor.«

»Zum Beispiel?«

Loonie zwinkerte irritiert, als hätte sie schon wieder vergessen, was sie einen Augenblick vorher gesagt hatte.

»Ach, dies und das«, murmelte sie. »Im Moment habe ich keine konkreten Pläne.«

Er hielt ihr die Tüte hin. Sie fischte mit spitzen Fingern einen Zwiebelring heraus.

»Was machst du so, Loonie? Wenn du dich nicht gerade in Kneipen herumtreibst und verkorkste Typen zu einer Zugfahrt überredest?«

»Ich schlage mich durch. Ich glaube, darin bin ich ziemlich gut.«

Der Wagon ruckelte kaum merklich. Die Lichter des Bahnhofs glitten am Fenster vorbei. Eine Minute später jagte der Morgenland Express wie ein Pfeil durch die Nacht, ließ das glimmernde Diadem des Stadtzentrums hinter sich zurück .

»Gelegenheitsnutte?«, fragte Kemper.

»Fändest du das abstoßend?«

»Ich bin bloß neugierig.«

»Dann frag weiter.«

»Also gut: Woher kommst du?«

»Wahrscheinlich aus einem der ärmeren Vorstadtbezirke. Gescheiterte Schullaufbahn, Drogenkarriere, am Wochenende Abhängen mit den falschen Leuten, hin und wieder eine Gruppenvergewaltigung. Würde das zu mir passen?«

Kemper blickte aus dem Fenster, Nachtkonturen flitzten vorbei. Es war keine gute Idee gewesen, mit Loonie diesen Trip zu unternehmen. Ihr Gespräch würde in vernebeltem Geschwafel versanden, er würde zu spät ins Bett kommen und bei der Besprechung am nächsten Morgen kaum die Augen aufhalten können. Zumindest wusste er jetzt, dass sie kein Spitzel war. Dafür ging sie nicht raffiniert genug vor.

Loonie zog die Beine an, machte es sich auf der Sitzbank gemütlich und gähnte.

»Weißt du, was schön wäre, Vince? Wenn du mich, sagen wir mal, aufregend fändest. Aufregend, sexy und begehrenswert.«

Er schaute sie überrascht an. »Musst du dir das nicht den ganzen Tag anhören?«

»Verstehe. Du willst mich nicht mit Standardsprüchen abspeisen.«

»Warte mal – natürlich finde ich dich…«

»Nein, sag es nicht. Es reicht, dass du bei mir bist. Mir geht’s gut bei dir. Das ist mehr, als ich mir wünschen könnte.«

»Warum werde ich das Gefühl nicht los, dass du dich über mich lustig machst?«

Sie winkte mit einer schlaffen Handbewegung ab. »Dein Problem. Ich werde jetzt ein bisschen schlafen. Du weckst mich doch, wenn wir da sind?«

4

Das Display über dem Durchgang zum benachbarten Abteil kündigte Morgenland an. Kemper berührte Loonies Schulter und schüttelte sie vorsichtig. Loonie murmelte etwas Unverständliches, blinzelte und setzte sich auf.

»Du bist noch da«, stellte sie fest.

»Wo hätte ich hingehen sollen?«

»Weiß nicht. Vielleicht habe ich geträumt.«

Der Bahnsteig wurde von Propagandaholos der Umsiedlungsbehörde flankiert. Außer Kemper und Loonie stiegen nur wenige Leute aus. Spätheimkehrer, die in Morgenland lebten und arbeiteten und den Abend in der City verbracht hatten, sowie eine Familie – Mann, Frau, zwei Kinder, mit einer Menge Gepäck.

Loonie schien mit einem Mal von neuer Energie erfüllt. Sie hakte sich bei Kemper ein und zwang ihm ein ungemütlich flottes Tempo auf. Als sie an der Familie vorbeizogen, wandte sich der Mann ihnen zu.

»He, ihr beiden, ihr habt ja gar nichts dabei! Na klar, ihr habt ja auch keine Kinder. Ich würde auch gern mal wieder nur mit Handgepäck verreisen…«

»Thomas!«, unterbrach ihn die Frau in mahnendem Tonfall.

»Es ist uns nicht leicht gefallen, alles aufzugeben«, redete der Mann weiter. Er war in den Dreißigern, enorm groß und breitschultrig, sein Rücken von Resignation und schwerer körperlicher Arbeit gekrümmt. »Aber ich hab’s satt, Tag und Nacht zu schuften, nur damit es doch nicht für ein anständiges Leben reicht. Dann lieber gleich von vorne anfangen, nicht wahr, oder wie seht ihr das?«

»Wir wollen uns hier nur ein bisschen umsehen«, sagte Loonie.

»Ach so… dann seid ihr gar keine… o, ’tschuldigung…«

»Thomas!«, schaltete sich die Frau erneut ein.

»Tja, wir sind ein bisschen früh dran«, fuhr der Mann fort. »Eigentlich sind wir erst in einer Woche an der Reihe. Aber wir mussten aus der Wohnung raus, und das Hotel hier ist nicht teurer als ’ne Absteige in der Stadt, nur viel besser. Ein sauberes Hotel, das gönnst du dir nur ein paar Mal im Leben. Schon allein das ist es doch wert, oder?«

Die Lokomotive stieß ein heiseres Pfeifen aus und der Zug nahm mit einem gespenstischen Rauschen Fahrt auf. Loonie bugsierte Kemper an der Übersiedlerfamilie vorbei. Sie ignorierte die Treppe, die zur Shuttle-Station hinunterführte, und sprang in die niedrige, struppige Vegetation, die hinter dem Ende des Bahnsteigs begann.

Sie kletterten auf einen kleinen Hügel aus Bauschutt, der von Gräsern, Brennnesseln, Spitzwegerich und anderem Grünzeug erobert worden war. Von dort aus ließ sich das hell beleuchtete Areal von Morgenland mit seinen geometrisch angeordneten Gebäudekomplexen gut überblicken. Aus dem Zentrum der Anlage ragte wie eine Kathedrale das eiförmige Gebilde, dessen Mauern das Portal beherbergten.

Loonie setzte sich ins Gras und starrte auf die Anlage. Kemper setzte sich zu ihr. Ihm verlangte nach einem Bier. Im Zug hätte es Bier gegeben, zu einem unerschwinglichen Preis.

»Sieht gar nicht mal übel aus«, brach er das Schweigen. »Utopisch, wie ein Weltraumbahnhof oder so.«

»Ich glaube, sie haben das Tor absichtlich wie ein großes Raumschiff gebaut«, meinte sie. »In gewisser Weise ist es ja auch eines.«

Kemper riss einen trockenen Grashalm ab, steckte ihn zwischen die Zähne. Die ganze Situation war absurd. Da saß er mitten in der Nacht mit einem fremden Mädchen auf diesem Haufen Schutt und glotzte ein Ding an, das jeden Tag Tausende Menschen schluckte, um sie an einem unbekannten Ort wieder auszuspucken. An einem Ort, der vielleicht nicht einmal auf einer Sternenkarte zu finden war.

»Was denkst du, wie es auf der anderen Seite aussieht?«, fragte Loonie.

»Wahrscheinlich genauso beschissen wie hier.«

Sie musterte ihn aufmerksam. »Beschissen… das ist sehr allgemein formuliert. Ich empfinde diese Welt als unvollständig. Kommt es dir nicht auch manchmal so vor, als würde uns ein wesentlicher Teil von ihr vorenthalten?«

»Ja, und zwar von den Zombies in den Palästen und Chefetagen. Und wir sehen ihnen seit Generationen dabei zu, wie sie die Karre an die Wand fahren, ohne ihnen einen Strich durch die Rechnung zu machen. Wir leben genau in der Welt, die wir verdient haben.«

»Du siehst das so fatalistisch. Die Kraft der Gedanken kann alles verändern. Es muss nicht so sein, wie es ist. Es könnte alles ganz anders sein.«

»Es vergeht kein Tag, an dem ich mir nicht vorstelle, wie es sein könnte. Bis jetzt habe ich noch keine Veränderung festgestellt.«

Sie strich Haar aus ihrer Stirn. Ihre Augen leuchteten wie Sterne.

»Ach, Vince. Du kannst dir vorstellen, was du willst. Aber solange du nicht in deinem Herzen daran glaubst, wird alles beim alten bleiben.«

Auf dem Bahnsteigende am Fuß des kleinen Hügels blitzte eine Taschenlampe auf. Ein Hund knurrte.

»He, ihr da oben! Kommt sofort da runter, habt ihr verstanden?«

»Patrouille«, zischte Loonie. »Das könnte unangenehm werden.«

Kemper fischte seinen Ausweis aus der Jacke und stieg den Hügel hinunter.

»Schön langsam, Freundchen. Und die Arme vom Körper abspreizen, verstanden?«

»Vince Kemper vom City Security Team. Kein Grund zur Aufregung, meine Herren.«

Sie waren zu zweit. Junge Männer in schwarzen Uniformen, ausgerüstet mit Schlagstöcken, Handschellen, Tasern und großkalibrigen automatischen Waffen. Die Gesichter zu Masken des Misstrauens und entschlossenen Grimms verkniffen. Sie studierten Kempers Ausweiskarte, zogen sie durch den ID-Scanner. Der Schäferhund spähte mit gespitzten Ohren zu Loonie hinauf.

»Das CST hat hier keine Befugnisse«, stellte einer der beiden Wachmänner fest.

»Ich bin privat hier«, sagte Kemper. »Wollte mir dieses Wunderding mal aus der Nähe ansehen.«

»Es gibt Führungen«, belehrte ihn der zweite Wachmann. »Täglich um elf und um drei.«

»Danke. Da werde ich wohl mal vorbeischauen.«

»Wer ist die andere Person?«, schnarrte Wachmann Nummer eins.

»Bei meiner Begleiterin handelt es sich um eine Informantin«, erklärte Kemper in gedämpftem Tonfall. »Weil ich sie in einer internen Angelegenheit befragen muss, habe ich eine Umgebung gewählt, in der weder das CST noch eine der ihm angeschlossenen Behörden unmittelbare Befugnisse haben. Abgesehen davon befinden wir uns eindeutig außerhalb der Sicherheitszone.«

»Es gibt ’ne Menge anderer Plätze, wo Sie das durchziehen können«, bemerkte Wachmann Nummer zwei. »Sicherheitszone hin oder her. Alles, was uns hier draußen auffällt, ist zuallererst mal verdächtig.«

Wachmann Nummer eins warf einen letzten Blick auf Kempers Karte und gab sie ihm zurück. »Der nächste Zug geht in einer knappen Stunde. Sorgen Sie dafür, dass Sie die Befragung bis dahin abgeschlossen haben.«

Die Patrouille machte kehrt, um den Bahnsteig zu inspizieren. Der Hund marschierte voraus, die Nase dicht über dem Boden. Kemper stieg zu Loonie auf den kleinen Hügel zurück.

»Die haben dich schon mal aufgegriffen?«, fragte er.

Sie nickte. »Mein Ausweis war nicht in Ordnung. Eine von den vielen Nummern hat nicht zu den anderen gepasst. Ich habe die Nacht in einer Zelle verbracht. Dort drüben, in dem flachen Bau neben der Einfahrt. Am nächsten Tag durfte ich wieder gehen. Ich musste zur Einwohnerbehörde, dort haben sie meinen Ausweis erneuert.«

»Kommt hin und wieder vor, dass mit einem Ausweis etwas nicht stimmt.«

»Du hast die Wachleute ziemlich schnell überzeugen können…«

»Ja, das war relativ einfach.«

»Ich habe geahnt, dass du bei der Polizei bist.«

»Ich kann’s nicht ändern.«

»Ich hab kein Problem damit. Und sonst? Hast du eine Frau? Oder eine Freundin?«

Er schüttelte den Kopf.

»Was spricht dann noch dagegen, dass wir die restliche Nacht miteinander verbringen?«

»Es ist spät«, sagte er. »Und ich muss früh raus.«

Sie löste einen Mörtelbrocken aus dem Boden und warf ihn in die Wiese, die sich unterhalb des Hügels erstreckte. Nahe bei dem eiförmigen Gebilde stieg ein Hubschrauber auf und steuerte mit blinkenden Lichtern auf den zartvioletten Schimmer zu, den die City an den Himmel warf.

»Ich habe lange nicht mehr näher mit einer Frau zu tun gehabt«, fuhr Kemper fort. »Vielleicht komme ich mir deshalb wie ein Holzklotz neben dir vor. Ich weiß nicht mal, worüber ich mit dir reden soll.«

»Ich finde, bis jetzt funktioniert es ziemlich gut.«

»Vielleicht sollten wir erst mal herausfinden, ob wir überhaupt miteinander auskommen.«

»Du weißt genau, dass wir uns nie wiedersehen werden.«

»So ist das also. Du bist die einsame Jägerin der Nacht, die ungreifbare Schöne mit dem Geheimnis. Und ich bin der ahnungslose Blödmann, der in deinen Händen zu Wachs zerfließt. Da spiele ich nicht mit.«

Sie ließ sich mit einem Seufzen nach hinten kippen und schlug die Hände vors Gesicht. »Ich weiß nicht, warum ich das gerade gesagt habe. Das ist mir einfach so rausgerutscht.«

»Es ist deine Masche.«

»Ich bin wohl ziemlich verkorkst. Aber das bist du schließlich auch, oder? Von daher könnte es schon passen mit uns.«

Er zupfte einen weiteren Grashalm aus, um darauf herumzukauen. Wünschte den Zug herbei, um endlich in die Stadt zurückkehren und Loonie loswerden zu können. Doch eine kleine Stimme in seinem Ohr versuchte ihn davon zu überzeugen, dass er das gar nicht so unbedingt wollte.

5

Auf der Rückfahrt unternahmen sie mehrere Anläufe, ihr Gespräch wieder aufzunehmen. Obwohl nicht viel dabei herauskam, begann Kemper sich in Loonies Gesellschaft zu entspannen. Tausend Dinge gingen ihm durch den Kopf, streiften seine Gedanken und sanken wieder auf den Grund seines Bewusstseins hinab. Obwohl da auch viel Unangenehmes ans Licht strebte – zahllose Demütigungen und Ängste, Enttäuschungen und Versagen, die ganze Palette menschlicher Frustrationen –, empfand er einen stillen Reichtum, der wie ein neues Organ in seiner Mitte pulsierte.

Er überlegte, wann er sich zum letzten Mal so lebendig gefühlt hatte. Nicht, dass er den Drang verspürt hätte, die ganze Welt oder auch nur Loonie zu umarmen. Dafür war sein Zustand zu leise, zu sehr nach innen gerichtet. Es ging ihm gut, er war einverstanden mit sich selbst und seine alltäglichen Probleme schienen auf einen fernen Planeten ausgewandert zu sein. Allein Loonies Gesellschaft dafür verantwortlich zu machen, wäre ihm zu simpel gewesen.

Sie stiegen aus dem Zug, bummelten ohne Eile den Bahnsteig entlang. Kemper berührte unabsichtlich Loonies Hand. Ihre kühlen Finger schlossen sich wie selbstverständlich um seine.

»Es sind nur sieben Stationen mit der U-Bahn«, sagte er. »Wir müssen nicht mal umsteigen.«

Sie lächelte scheu und blickte zu Boden. »Sieben Stationen, siebzig Stationen – mir egal. Und wenn es siebentausend wären.«

Er wollte sie darauf vorbereiten, dass mit ihm in dieser Nacht nicht mehr viel anzufangen war. Dass er einfach nur für eine Stunde oder zwei seine ausgeglichene, heitere Stimmung mit ihr teilen wollte, die wie ein funkelnder Halbedelstein aus dem grauen Einerlei seines Alltags hervorleuchtete. Doch er hielt den Mund, wollte kein banales Zeug von sich geben.

Als er ihr gemeinsames Spiegelbild in den Schaufenstern eines geschlossenen Imbissstandes entdeckte, mochte er, was er sah. Obwohl er unrasiert war und dieselben schäbigen Klamotten trug, in denen er tagelang Dienst geschoben hatte, sah er mit Loonie an seiner Seite besser aus als sonst.

Der Zugang zu den U-Bahnen war wegen eines Unfalls gesperrt. Loonie entschied, dass sie ein Taxi nehmen würden. Kempers Einwand, das sei viel zu teuer, ließ sie nicht gelten. Sie würde für die Fahrt aufkommen, das ginge schon in Ordnung.

Sie nahmen die Rolltreppe zur Oberfläche. Der Taxistand vor dem Bahnhof war leer. Sie warteten, schweigend und immer noch Hand in Hand, Loonie den Blick geradeaus gerichtet. Kemper fragte sich, was in ihr vorgehen mochte. Ob überhaupt etwas in ihr vorging. Ruhte sie tatsächlich so tief in sich, wie es den Anschein erweckte? Oder war das nur eine besondere Form von Autismus?

Ein Taxi raste viel zu schnell heran, stoppte mit quietschenden Reifen. Kemper wollte den verhinderten Rennfahrer durchwinken, Loonie drängte ihn zum Einsteigen.

Der Fahrer, ein bulliger Typ mit Wollmütze, grinste ihn im Innenspiegel dreist an.

»Scharfe Braut haben Sie da! «

»Schauen Sie nach vorn und halten Sie den Mund.«

»Nicht aufregen, Mann. Sollte ein Kompliment sein.« Der Fahrer drehte den Innenspiegel, damit er Loonie betrachten konnte. »Ich wette, die kann prima blasen. Bei den Lippen…«

»Schnauze, oder wir steigen sofort aus.«

»Bestimmt mag sie die total versauten Sachen. Ich kann ihr ansehen, dass sie drauf steht.«

Kemper setzte zu einer Erwiderung an. Loonie drückte seinen Arm, während sie den Blick des Fahrers im Spiegel mit eisiger Gelassenheit erwiderte.

»Soll er doch quatschen, was er will. Der ist auch nicht verrückter als die meisten anderen.«

Kemper gab sich Mühe, seine Wut im Zaum zu halten. Doch Loonie hatte recht, der Typ war nur ein schräger Vogel unter vielen. Vollgepumpt mit billigen Medikamenten, um seine Sechzigstunden-Schicht durchzustehen. Hatte vielleicht einen Stall voll Kinder zu versorgen, oder eine kranke Frau, mit der schon lange nichts mehr lief.

»Mag sein, dass ich ein bisschen verrückt bin«, sagte der Fahrer. »Ihr habt ja keinen Schimmer, was für Irre bei mir einsteigen, Tag für Tag, Nacht für Nacht. Das färbt ab, da mach ich mir keine falschen Illusionen! Aber manchmal steigt auch jemand ein, mit dem sich gut auskommen lässt. So wie der Typ kürzlich, der mir diesen Deal angeboten hat. Der ist ständig geil, und er hat Geld. Der lässt sich den Spaß echt was kosten, und für mich springt dabei mehr raus als bei ’ner Ganztagesschicht.«

»Falsche Adresse«, schnarrte Kemper.

»Ihr werdet nicht glauben, wie viele darauf einsteigen«, fuhr der Mann fort. »Geht’s einem schlecht, nimmt man eben mit, was geht. Natürlich hat die Sache auch einen klitzekleinen Haken. Der Typ ist manchmal ziemlich hart drauf. Dem rutscht schon mal die Hand aus und so. Aber umgebracht hat er bis jetzt noch niemand. Und was sind schon ein schon ein paar blaue Flecken gegen ein großzügiges Taschengeld? Also ich würde meiner Liebsten auf alle Fälle gut zureden, damit sie’s macht. Nur dass sie mit ihren drei Zentnern nicht ganz ins Beuteschema von diesem Typ passt…«

»Sind Sie jetzt fertig?«, fragte Kemper.

Der Fahrer suchte Loonies Augen im Spiegel. »Ich finde, die Lady sollte das entscheiden.«

»Danke, kein Interesse«, antwortete Loonie.

»Dann habt ihr’s wohl wirklich nicht nötig. Meine Menschenkenntnis hat stark nachgelassen, scheint’s.«

Das Taxi war auf die zwölfspurige Ringstraße eingebogen, welche die einzelnen Projekte der Neuen Peripherie miteinander verband. Kemper forschte in Loonies Gesicht nach einer Regung, doch er fand nur stille Gleichmütigkeit, als ginge sie das alles nichts an.

6

Vor der Ringstraße führte eine ausladende Betontreppe zur Neuen Peripherie 7 hinauf. Der Hauptturm wurde immer noch von Polizei und Bergungsmannschaften belagert, kalkweißes Scheinwerferlicht brach sich an seinen kahlen Flanken.

Loonie brachte für die Szenerie kein Interesse auf. Kemper war froh, dass sie ihn nicht danach fragte. Ein Heraufbeschwören des Unglücks hätte nur das Gefühl verscheucht, das langsam zu ihm zurückkehrte. Er hoffte, dass es dieses Mal länger anhalten würde. Und dass es stark genug war, eine komplette Schicht im 23. Bezirk mit Brodski, der ständigen Langeweile und dem miserablen Essen zu überdauern.

Als sie auf seiner Etage aus dem Lift stiegen, trat Loonie ans Gitter und blickte auf die nächtliche Stadt hinaus, die sich wie ein zur Erde gefallener Sternennebel unter ihnen ausbreitete.

»So viele Menschen«, sagte sie. »So viele Leben, so viele Entscheidungen, Tag für Tag.«

»Die haben nichts zu entscheiden«, erwiderte er. »Das tun andere für sie. Leute, denen sie völlig egal sind.«

»Jeder hat die Wahl, auf welcher Seite er stehen will.«

»Du redest oberflächliches Zeug.«

Sie blickte ihn lauernd an. »Es ist keine Entscheidung, die mit roter Farbe an einer Wand verewigt wird. Man trifft sie irgendwann im Stillen, ganz nebenbei. Weil man tief drinnen begriffen hat, wer man wirklich ist.«

»Ich habe mich dafür entschieden, kein Arschloch zu sein. Ist es das, was du meinst?«

»Es trifft ziemlich genau, was ich meine.«

Kemper zuckte mit den Schultern. »Es war die leichteste Entscheidung meines Lebens. Deshalb wundere ich mich, wie viele Arschlöcher es auf der Welt gibt.«

»Vielleicht gehört mehr dazu. Vielleicht muss man ein Kind des Kosmos sein.«

Er wandte das Gesicht zur Seite, um sein amüsiertes Schmunzeln zu verbergen. »Sind wir das nicht alle?«

»Glaube mir – es gibt eine Menge totes Gewebe da draußen.«

Der scharfe Wind fuhr unter seine Jacke. Er zupfte Loonie am Ärmel und sie folgte ihm um das halbe Gebäude herum zu seiner Wohnung.

»Es ist eine Bruchbude«, warnte er sie, bevor er sie eintreten ließ.

»Es ist schön«, behauptete sie, zog ihren weißen Lackmantel aus und warf ihn über eine Stuhllehne. Unter den Trägern ihres Tops wölbten sich muskulöse Schultern. »Wo ist das Bad?«

Er wies auf den Durchgang neben der Küchenzeile. Als die Tür hinter Loonie zugefallen war, zog er die Schuhe aus und holte zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank.

Ein paar Minuten später kam Loonie, halb angezogen, aus dem Bad. Sie wies mit dem Kinn aufs Bett.

»Darf ich? Mir ist kalt…«

»Nur zu«, brummte Kemper.

Sie rollte sich unter der Decke ein. Kemper besetzte die Bettkante und hielt ihr das Bier hin. Loonies Hand kroch unter der Decke hervor und griff nach der Flasche.

»Ich mag dich«, sagte sie.

»Ich mag dich auch. Schade, dass wir uns nie wiedersehen werden…«

»Ich dachte, das hätten wir geklärt.«

»Es hat sich ziemlich überzeugend angehört.«

»Ein Reflex, Vince. Ich weiß nicht, ob du das verstehst – manchmal habe ich das Gefühl, als gehörte ich überhaupt nicht hierher. Als wäre mein Leben ein Traum, aus dem ich jeden Moment erwachen kann. Vielleicht gehe ich deshalb keine engeren Bindungen ein.«

»War das schon immer so?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe kein großes Vertrauen in meine Erinnerungen.«

Kemper blickte nachdenklich auf die Bierflasche. Loonie stupste ihn an.

»He, ich weiß, was du jetzt denkst. Aber ich hab’s nie mit den Drogen gehabt. Interessiert mich nicht. Absolut nicht.«

»Ich habe einen seltsamen Traum«, sagte er.

»Erzähle ihn mir.«

»Ich folge einer Gestalt durch ein dämmriges Labyrinth… Zimmer, Korridore, Hallen, alles irgendwie miteinander verbunden. Ich will dieser Gestalt unbedingt ins Gesicht sehen, aber es gelingt mir nicht.«

»Diese Gestalt, das bist du selbst«, behauptete sie.

»Im Ernst?«

»Wäre doch eine schlüssige Erklärung. Die Suche nach der eigenen Identität.«

»Was träumst du, wenn du träumst?«

»Ich träume nicht. Aber manchmal habe ich Visionen. Du bist mir auch schon mal in so einer Vision erschienen. Mehrmals sogar, glaube ich.«

»Das sagst du nur, weil du nett zu mir sein willst.«

Sie machte »hm« und trank aus der Flasche. Er trank ebenfalls und wartete, dass sie weiterredete.

»Es war mir nicht bewusst, als ich dich angesprochen habe«, sagte sie. »Du hast mich angelockt wie ein Leuchtfeuer, das war auch schon alles. Reden, ein bisschen Nähe tanken, vielleicht noch eine schnelle Nummer in einem Hauseingang… dann habe ich erkannt, dass du kein Ding bist. Sondern dass du eine kraftvolle Seele hast, die dich nährt und deinem Leben eine Richtung gibt.«

»Davon habe ich heute Abend zum ersten Mal etwas bemerkt«, murmelte er.

Sie blickte ihn aus ihren leuchtend grünen Augen an. Kinderaugen, dachte er. Rein und unschuldig, hellwach und forschend.

»Erzähle mehr von dir!«, forderte sie ihn auf.

»Das wäre wirklich nicht interessant.«

»Du bist Polizist. Bestimmt ein spannender Job.«

»Selbst wenn es so wäre, dürfte ich nicht darüber sprechen.«

»Und du hast wirklich keine Freundin?«

»Manchmal hätte ich gern eine. Aber es hat Vorteile, allein zu sein.«

»Soll ich dir sagen, warum du so tickst? Weil du weißt, dass sich dein Leben irgendwann so stark verändern wird, dass alle Brücken hinter dir einstürzen.«

»Ich habe schon öfter die Brücken hinter mir abgebrochen«, sagte er. »Aufgewachsen bin ich in einem Vorort, nicht weit von hier. Jetzt hat er keinen Namen mehr, er gehört zum 11. Bezirk. Das war eine nette Gegend mit Grünanlagen und schönen, alten Häusern, bevor die Spekulanten jeden Quadratmeter mit Wohnsilos und Bürokasernen zugepflastert haben. Mit sechzehn bin ich ins Ausland gegangen. Schweden, Norwegen, England… immer dorthin, wo es gerade Jobs gab. Damals wurden noch nicht so viele Kriege geführt, deshalb haben sie mich nicht eingezogen und ich konnte gehen, wohin ich wollte. Erst als meine Mutter starb, bin ich zurückgekommen.«

»Woran ist sie gestorben?«

Kemper verkniff unwillkürlich das Gesicht. Das Thema verunsicherte ihn, er hatte bis zu diesem Tag praktisch mit niemand darüber gesprochen. Mütter starben, Väter auch, und eines Tages folgten ihnen die Kinder. Das war nichts, worüber es viele Worte zu verlieren gab. Aber jedes Mal, wenn er an seine Mutter dachte, verspürte er ein drückendes Gewicht auf seiner Brust. Und er ahnte, dass die Sache noch lange nicht ausgestanden war.

»Eines Tages lag sie tot in der Küche«, sagte er. »Ihr Körper hatte aufgehört zu funktionieren, von einem Moment auf den anderen.«

»Das ist furchtbar. Und dein Vater?«

»Er konnte nicht mehr arbeiten. Ihr Tod hat ihm das Herz gebrochen. Es tut mir weh, ihn verfallen zu sehen. Er war ein großer, gut aussehender Bursche. Kraftstrotzend und selbstsicher. Jetzt dämmert er in einem Pflegeheim vor sich hin, einmal im Monat besuche ich ihn. Ich wünschte, ich könnte mich mehr um ihn kümmern. Auch wenn das vermutlich nichts ändern würde. Jedenfalls nicht für ihn.«

»Hast du deine Mutter geliebt?«

Er machte eine ratlose Geste. »Sie war meine Mutter.«

»Entschuldige bitte. Das war eine dumme Frage.« Loonie gab ihm ihre Flasche. »Ich trinke das nicht aus. Wollen wir uns hinlegen? Ich glaube, ich bin jetzt wirklich müde.«

Kemper stellte die Flaschen auf den Boden und streckte sich auf dem Bett aus. Loonie tastete nach seiner Hand.

»Gute Nacht, Vince. Schlaf gut, und schöne Träume.«

Aber er lag noch lange wach und starrte an die Zimmerdecke. Von der Unfallstelle drangen Lautsprecherstimmen und das Kreischen von verwundetem Metall herauf. Geräusche wie aus dem Jenseits, drohend und unheilvoll.

7

Kemper war nicht überrascht, als er morgens allein in seinem Bett lag. So ein klammheimlicher Abgang passte zu Loonie, damit hatte er gerechnet. Dennoch war er enttäuscht, denn insgeheim hatte er gehofft, neben ihr aufzuwachen. Es gehörte zu den besseren Dingen im Leben, neben einer Frau aufzuwachen, die man gern hatte.

Er versuchte herauszufinden, ob das Gefühl noch da war. Konzentrierte sich auf die kostbare Wärme in seinem Herzen und rang mit der Versuchung, liegen zu bleiben und diese Wärme zu spüren, sie zu behüten und an nichts anderes zu denken.

Er schlug die Decke zurück und streckte sich. In einer knappen Stunde war die Routinebesprechung bei der Einsatzleitung angesetzt. Übernächtigt wie er war, würde das in eine Tortur ausarten. Auch in ausgeschlafenem Zustand hatte er Mühe, bei diesen Terminen nicht einzunicken.

Aus dem Augenwinkel nahm er einen kleinen Gegenstand wahr, der auf der Matratze lag. Eine dünne, schmucklose Kette. Sie war ihm an Loonie nicht aufgefallen; vielleicht hatte sie sie am Fuß getragen.

Er hob die Kette auf, betrachtete sie aus der Nähe. Sie war nicht gerissen. Möglich, dass Loonie sie absichtlich zurückgelassen hatte.

Er hielt nicht viel von solchen Gesten. Eine klare Aussage, die keine Interpretation erforderte, wäre ihm lieber gewesen. Dennoch freute er sich über das kleine Andenken und schob es in die Hosentasche, als er nach einer eiligen Tasse geschmacksneutralen Instant-Kaffees das Apartment verließ.

Es war ein frischer, windiger Tag mit einem fahlblauen Himmel, an dem eine gleichgültige Sonne ihre Bahn zog. Kemper hätte gerne einen ausgedehnten Spaziergang gemacht, zum Beispiel an der Ringstraße entlang, um dann an einem Kiosk einen Imbiss zu nehmen oder ein ruhiges Plätzchen zu suchen und den Leuten zuzusehen, vielleicht auch den Hunden oder Vögeln. Er fand das merkwürdig, denn dafür hatte er sich noch nie interessiert.

Während er auf die U-Bahn wartete, beobachtete er die Infoscreens, auf denen zwischen schnell geschnittenen Werbeclips die neuesten Nachrichten präsentiert wurden. Unter der Überschrift TAXI IN DEN TOD erschien das Portrait eines feisten, kahlköpfigen Mannes in den Dreißigern. Derselbe Taxifahrer, der Loonie und ihn vergangene Nacht zur Neuen Peripherie 7 gebracht hatte. Gegen zwei Uhr Morgens war er mit seinem Wagen zuerst durch die Leitplanke und Sekundenbruchteile später durch das Sicherheitsgitter einer Brücke gerast, um fünfzig Meter weiter unten in den Fluss zu stürzen.

Kemper verfiel in Nachdenklichkeit. Klar, der Bursche war ein Kotzbrocken gewesen. Aber nicht mal so einem wünschte man, dass er auf derart jämmerliche Weise verrecken musste.

• • •

Er schaffte es gerade noch rechtzeitig zur Besprechung. Wählte einen Platz in der spärlich besetzten ersten Reihe in der Hoffnung, die Nähe zum Rednerpult würde ihn am Einschlafen hindern. Kneifel, sein unmittelbarer Vorgesetzter, war ein begnadeter Langweiler, der es schaffte, auch den brisantesten Themen die Aura des Belanglosen anzuheften.

»Es sind neue Hinweise aufgetaucht, dass Big Boy über unsere Observierungsmaßnahmen informiert ist«, erklärte Kneifel in seiner dünnen, trockenen Stimme. »Daher arbeiten wir im Moment an einer Umstrukturierung des Systems. Das heißt im Klartext, dass die in seinem Umfeld operierenden Einheiten nach und nach ausgetauscht und an neue Stützpunkte verlegt werden.«

Kemper horchte auf. Das konnte eine baldige Versetzung bedeuten, ohne dass er sich darum kümmern musste. Wenn er zum richtigen Zeitpunkt einen Antrag auf Fortbildung stellte, schaffte er vielleicht sogar den Sprung zum Personen- oder Objektschutz. Dann ging es nur noch darum, den Carlsson-Job und seine schwer erträgliche Begleiterscheinung Brodski bis zum Schluss mit Würde zu ertragen.

Er blickte um sich, doch außer ihm zeigte sich niemand von Kneifels Ankündigung beeindruckt. Sieben Männer und vier Frauen, die aufmerksames Interesse heuchelten, während ihre Augen vom unterdrückten Gähnen feucht glänzten.

»Big Boys Organisation befindet sich nach wie vor in stetem Wandel«, fuhr Kneifel fort und fummelte an der Fernbedienung herum, die den Beamer an der Rückseite des fensterlosen Versammlungsraumes in Gang setzte. »Folgende Gesichter können Sie mit dem heutigen Tag aus Ihrem Gedächtnis löschen, da Ihnen ihre Besitzer in dieser Welt nicht mehr begegnen werden.«

Kemper waren die meisten Konterfeis, die auf die Wand projiziert wurden, unbekannt. Er hörte nur mit einem Ohr zu, als Kneifel seine knappen Kommentare zu der Vorführung lieferte.

»…in Ungnade gefallen und liquidiert… bei einer Schießerei getötet… angeblich durchs Portal gegangen…« – allgemeines verhaltenes Gelächter – »…seit einem halben Jahr spurlos verschwunden… hat sich ins Ausland abgesetzt und wurde an einem Strand in Bali angeschwemmt…«

»Da nimmt uns jemand die ganze Arbeit ab!«, rief einer hinter Kempers Rücken.

»Schön wär’s«, entgegnete Kneifel. »So, und als nächstes präsentiere ich Ihnen die Nachrücker.«

»Eines verstehe ich nicht«, meldete sich eine füllige Blondine zu Wort, die zwei Stühle von Kemper entfernt saß. »Wir kennen seine Organisation inzwischen mindestens genau so gut wie Carlsson selbst. Wann schnappen wir uns den Burschen endlich?«

»Diese Frage höre ich nicht zum ersten Mal«, erwiderte Kneifel bedächtig und widmete der Blonden ein starres Lächeln, das sein schmales, ledriges Gesicht in eine satyrhafte Maske verwandelte. »Und die Antwort ist jedes Mal dieselbe: Wir wissen noch lange nicht alles über Big Boy und sein Imperium. Es gibt eine Menge Verzweigungen, denen wir noch gründlich nachgehen müssen. Verzweigungen, die in die unterschiedlichsten Milieus führen. Eine Eliminierung macht schließlich erst dann Sinn, wenn wir in der Lage sind, das gesamte Krebsgeschwür auszubrennen. Sonst würde es binnen kürzester Zeit nachwachsen. Repräsentiert durch eine Vielzahl neuer Protagonisten, deren Netzwerke wir genauso akribisch durchleuchten müssten wie das des Big Boy. Wir müssten sozusagen von vorne anfangen, Sie verstehen?«

Kneifel stellte die Nachrücker in Carlssons Netzwerk vor. Die sahen auch nicht anders aus als ihre Vorgänger. Kemper versuchte, sich ihre Gesichter und Namen einzuprägen, denn die Observierungsteams durften sich keine Notizen machen, weder manuell noch digital. Mit der Begründung, dass schon ein kleiner Taschendiebstahl das Aus für die ganze Aktion bedeuten konnte.

Nach der Versammlung schloss sich Kemper den anderen an, die in loser Formation zur Kantine trotteten. Die Blondine gesellte sich zu ihm. Sein Gedächtnis spuckte ihren Namen aus: Bergmann. Sie gehörte zu einem Team, das die Rückseite von Carlssons Unterschlupf im Visier hatte.

»Ich möchte deine Meinung hören, Kemper«, sprach sie ihn an. »Wie erklärst du dir, dass Carlsson so gut über uns Bescheid weiß?«

»Dafür habe ich wahrscheinlich dieselbe Erklärung wie du«, sagte er.

»Du meinst also auch, dass das Team von seinen Leuten infiltriert ist?«

»So würde ich es nicht ausdrücken. Aber er hat wohl seine Quellen.«

»Hast du schon mal darüber nachgedacht, welche Konsequenzen das für uns hat?«

»Dazu fällt mir eine Menge ein. Zum Beispiel, dass er uns jederzeit aus dem Weg schaffen könnte, sollte ihm unsere Anwesenheit lästig werden.«

Sie blickte ihn scharf von der Seite an. »Mit anderen Worten: Wir werden verheizt. Oder wie siehst du das?«

Bergmann hörte sich an wie ein typischer Gesinnungsspitzel. Doch Kemper hatte keine Lust, auf seiner diesbezüglichen Paranoia herumzureiten. Nüchtern betrachtet gab es auch keinen Grund dazu. Falls die Jungs auf der Chefetage ernsthaft daran interessiert waren, wie er tickte, wussten sie es längst.

»Ich glaube nicht, dass er uns umlegen lässt«, meinte er und versuchte, möglichst gelassen zu klingen. »Warum sollte er auch? Carlsson muss nur ein einziges Telefongespräch führen, und schon werden wir von unseren Posten abgezogen.«

Bergmann hielt ihn am Arm fest, hinderte ihn am Weitergehen. »Ich muss mit dir reden Kemper. Ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden soll.«

»Was drückt dich, Bergmann?«

Sie blinzelte nervös. »Hast du jetzt Zeit? Meine Schicht beginnt erst in zwei Stunden.«

8

Schräg gegenüber vom CST-Hauptquartier, einem düsteren Koloss mit kastenförmigen Erkern und schroffen Staffelgiebeln, befand sich ein vegetarisches Imbisslokal, in dem Kemper schon etliche Male gegessen hatte, ohne sich anschließend vor Magenschmerzen zu krümmen. Bergmann kehrte den Stammgast heraus und empfahl ihm allerlei obskure Gerichte von der Tageskarte. Er ging auf Nummer sicher und wählte eine Frühlingsrolle und einen Sojasprossensalat.

An einem Tisch im hinteren Teil des kleinen Lokals kam Bergmann zur Sache. Sie blickte ihm ernst in die Augen und legte die Stirn in wulstige Querfalten.

»Ich möchte nicht, dass du Schwierigkeiten bekommst, Kemper. Wenn dir das Thema zu brenzlig ist, steh einfach auf und setz dich an einen anderen Tisch, okay?«

Er zerlegte seine dampfende Frühlingsrolle und nickte Bergmann aufmunternd zu. »Jetzt bin ich richtig gespannt. Schieß los, ich höre.«

»Auf der Weihnachtsfeier letztes Jahr hab ich was mit dem Chefentwickler von der Datenbeschaffung angefangen«, berichtete sie. »Eigentlich so ein typischer Technik-Nerd, aber charmant und auf seine Art schlitzohrig, auf alle Fälle ein guter Typ. Wir sehen uns ein paar Mal im Monat, dann reden wir natürlich auch über den Job. Seine Aufgabe ist es, neue Wege auszutüfteln, um den Datenverkehr von verdächtigen Personen auszuspionieren.

Vor ein paar Wochen hat er mir etwas total Verrücktes erzählt. Er hatte einen Server geknackt, über den Carlsson einen Teil seiner Kommunikation laufen lässt. Unter den Daten, die er dort abgeräumt hatte, befand sich eine Nachricht mit detaillierten Angaben über illegale Machenschaften von wichtigen Wirtschaftsbossen und Politikern. Und diese Nachricht kam direkt von Big Boy persönlich.«

»Das gehört zu Carlssons Geschäft«, erwiderte Kemper. »Oder was denkst du, warum er so unantastbar ist?«

»Es kommt noch besser«, kündigte Bergmann an und senkte ihre Stimme zu einem Raunen ab. »Der Empfänger der Nachricht war das City Security Team. Unser Verein steckt mit diesem Aas unter einer Decke!«

Kemper hielt inne, schüttelte ungläubig den Kopf. »Das ist ja ein Ding! Carlsson ist einer von uns. Jetzt macht alles auf einmal Sinn!«

»Was macht da bitteschön Sinn?«, fauchte sie ihn an.

»Big Boy ist der beste Informant, den sich das Team wünschen kann. Er hat seine Finger überall drin, hat jede Menge Verbindungen zu Politik, Wirtschaft und Unterwelt. Wir lassen ihn sein Ding durchziehen, dafür versorgt er uns mit Informationen.«

»Eine einzige Schweinerei ist das.«

»Schon möglich, aber im Grunde ist es eine gute Nachricht. Weil sie bestätigt, was ich schon lange vermute: Von Carlsson droht uns keine Gefahr. Genau genommen beschützen wir ihn, und das weiß er. Wir sind sein zweiter Abwehrring, zusätzlich zu seiner eigenen Mannschaft. Warum sollte er uns also auf die Abschussliste setzen?«

Bergmanns blaue Kulleraugen nahmen eine dunklere Färbung an. »Aber wir werden benutzt, Kemper! Benutzt und verarscht. Wir schlagen uns da draußen die Tage und Nächte um die Ohren wegen nichts!«

»Das macht es zu einem ganz normalen Job, wie viele andere auch.«

Sie ließ den Kopf hängen, blickte auf ihr unangetastetes Essen. »Ich hätte nicht gedacht, dass du so reagierst.«

»Ich bin nun mal kein Idealist«, sagte er. »Und ich bin auch nicht zum Team gekommen, weil ich Verbrecher jagen wollte. Ich brauchte einen Job. Okay, jetzt weiß ich endgültig, dass ich nur ein Statist bin in einem großen Spiel. Und wenn ich damit zu einem kleinen Teil dazu beitragen kann, dass ein paar von den Schweinen da oben für den Mist büßen müssen, den sie gebaut haben, soll’s mir recht sein.«

»Carlsson ist doch das größte Schwein! Jeden Tag sterben Menschen wegen ihm. Er…«

»Menschen?«, unterbrach er sie. »Das sind Killer, Dealer, Zuhälter, korrupte Typen. Natürlich ist er kein Heiliger, aber er geht auch nicht in eine Firma, setzt zehntausend Leute auf die Straße und kassiert eine fette Prämie dafür. Versteh mich nicht falsch – ich hege keine Sympathien für ihn. Ich finde, er ist ein Ungeheuer und gehört auf den Mond geschossen. Aber wenn es mit seiner Hilfe gelingt, bei den korrupten Eliten ein bisschen aufzuräumen, versöhnt mich das bis zu einem gewissen Grad mit meiner Arbeit.«

»Wach auf, Kemper! Niemand wird bei denen aufräumen. Es werden Informationen gesammelt, um den einen oder anderen Minister oder Wirtschaftsboss zu steuern, wenn es jemand anderem nützt. Aber keiner von denen muss jemals für seine Taten büßen. Kein Einziger.«

»Sollen sie sich nur gegenseitig die Hölle heiß machen. Es muss nicht immer jemand ins Kittchen wandern oder vor laufender Kamera hingerichtet werden, damit die Gerechtigkeit siegt.«

»Ich wünschte, ich könnte es genauso sehen«, sagte Bergmann und fischte eine Teigtasche von ihrem Teller.

»Wie denkt dein Freund von der Datenbeschaffung über die Sache?«

Sie schob die Samosa in ihren Mund und biss lustlos darauf herum. »Ich weiß es nicht, Kemper. Er ist verschwunden. Hat sich nicht mal von mir verabschiedet. Es gab keine Hinweise, dass er plante, unterzutauchen. Er hatte einen sicheren Job, eine tolle Wohnung… und auf einmal gibt er alles auf.«

»Glaubst du, jemand hat ihn aus dem Verkehr gezogen?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Bestimmt nicht wegen der Carlsson-Info. Schließlich hatte er nicht als Einziger Zugriff auf die Daten. Die waren zumindest für kurze Zeit der ganzen Abteilung zugänglich. Aber er ist so verdammt fit auf seinem Gebiet, dass es fast schon unheimlich ist. Er hat mir erzählt, dass er früher mal für den Konzern gearbeitet hätte, der die ganzen öffentlichen Überwachungssysteme entwickelt. Dort hatte er angeblich eine Stellung auf Lebenszeit, aber der Job hat ihn nicht ausgefüllt. Bobby ist ein Abenteurer, bei dem man nie genau weiß, was er als nächstes plant. Keine Ahnung, in welchen dunklen Kanälen er sonst noch herumgeschnüffelt hat. Und worauf er dort gestoßen ist.«

»Vielleicht hat er ein Doppelleben geführt und musste es plötzlich aufgeben«, vermutete Kemper. »Oder er musste Unterhaltszahlungen leisten, die ihm über den Kopf gewachsen sind.«

»Das könnte natürlich auch der Fall sein. Ich weiß ja fast nichts über ihn. Aber wenn ich es jemandem zutraue, so mir nichts, dir nichts aus seinem Leben auszusteigen und seine Spuren zu verwischen, dann Bobby. Das würde ich mir jedenfalls wünschen. Dass er freiwillig untergetaucht ist und nicht dazu gezwungen wurde.«

»Wie heißt er noch?«

»Geertz, Bobby Geertz. Schon mal von ihm gehört?«

Er schüttelte den Kopf. »Und jetzt, Bergmann? Ich stehe in der Organisation auf der gleichen Stufe wie du. Ich wüsste nicht, was ich für dich tun könnte.«

»Du hast bereits genug für mich getan«, sagte sie. »Danke fürs Zuhören, Kemper. Jetzt herrscht wieder ein bisschen Ordnung in meinem Kopf.«

9

Von der Bahnstation waren es nur wenige hundert Meter zum Beobachtungsstützpunkt. Müde schlurfte Kemper die Straße entlang. Seine Nacht mit Loonie erschien ihm so weit weg wie ein alter, verblasster Traum. Aber da war die Kette in seiner Hosentasche, sie machte die Erinnerung an den unerwarteten Gast in seinem Bett lebendig und brachte nicht nur seine stille Sehnsucht zurück, sondern auch das warme, zuversichtliche Gefühl.

Er betrat das enge Treppenhaus, das zu seinem Arbeitsplatz hinaufführte. Im ersten Stock wurde lautstark gebumst, in der Wohnung darüber schrien sie sich Gemeinheiten an den Kopf. Kemper sperrte die Tür zum Stützpunkt auf. Das miefige, verdunkelte Apartment war verlassen, Brodski nirgends zu sehen. Vielleicht war er unerlaubterweise draußen, um eine Portion Junkfood aufzutreiben. Brodski pflegte einen eher lässigen Umgang mit den Vorschriften.

Kemper warf seine Jacke aufs Sofa und ging zu dem Altar aus leuchtenden Monitoren, um nachzusehen, was es Neues gab. Der Hauptbildschirm zeigte ein Textsheet der Abteilung für berufliche Weiterbildung. Vorzeigeprolet Brodski schien ernsthaft daran zu arbeiten, seine Situation zu verbessern.

Nebenan rauschte die Wasserspülung. Die Tür zum Klo wurde geöffnet und Brodski kam raus.

»Kein Hentai heute?«, fragte Kemper.

Brodski stopfte sein Hemd in die Hose und trat neben ihn. »Wie du siehst, kümmere ich mich um meine Karriere. Und du solltest dir ebenfalls Gedanken um deine Zukunft machen. Unser Job wird sich eher früher als später erledigt haben, das steht so fest wie das Amen in der Kirche.«