Grund zur Hoffnung - Jane Goodall - E-Book

Grund zur Hoffnung E-Book

Jane Goodall

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Beschreibung

Jane Goodall ist eine der großen Forscherpersönlichkeiten unserer Zeit. Über dreißig Jahre hinweg beobachtete sie das Leben von freilebenden Schimpansen in Gombe, Tansania. Ihre Erkenntnisse haben die Verhaltensforschung revolutioniert und die Einstellung des Menschen zur Natur verändert. Umweltzerstörung und die Grausamkeit und Ungerechtigkeit in der Welt sind für Jane Goodall Anstoß zum Handeln, nicht Grund zur Resignation. »Grund zur Hoffnung« ist Essenz und Leitmotiv ihres Lebens. In dieser erstmals zur Jahrtausendwende veröffentlichten Zwischenbilanz vereint Jane Goodall auf nachhaltig berührende Weise Weisheit und Weitblick.

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JANE GOODALLGrund zur Hoffnung

Buch

Jane Goodall engagiert sich ein Leben lang über alle Grenzen hinweg für den Schutz von Natur und Umwelt. Immer wieder wurde sie gefragt, wie es denn möglich sei, so friedvoll, ruhig und zuversichtlich zu wirken angesichts von schwindendem Lebensraum für frei lebende Tiere, angesichts von Umweltzerstörung und Klimaveränderung und angesichts wachsender Armut in vielen Ländern der Welt. Mit der vorliegenden Autobiographie beantwortet sie diese Frage. Naturzerstörung, Grausamkeit und Ungerechtigkeit in der Welt sind für sie Anstoß zum Handeln, nicht Grund zur Resignation. »Grund zur Hoffnung« ist Essenz und Leitmotiv ihres Lebens. In dieser erstmals zur Jahrtausendwende veröffentlichten Zwischenbilanz vereint Jane Goodall auf nachhaltig berührende Weise Weisheit und Weitblick.

Autorin

Jane Goodall, geboren am 3. April 1934 in England, reiste 1957 nach Afrika und arbeitete als Verhaltensforscherin im Gombe-Nationalpark, Tansania. Parallel hierzu studierte sie Ethnologie. Ihr Studium schloss sie 1965 in Cambridge mit der Doktorwürde ab. Jane Goodall war an mehreren Forschungsprojekten beteiligt, ist Inhaberin berühmter Lehrstühle und erhielt viele Preise und Orden, darunter die Auszeichnung Dame »CBE« (»Commander of the British Empire«) und die »Medaille der National Geographic Society«. Sie hat Bücher über Verhaltensforschung und Kinderbücher geschrieben, die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden. Als Initiatorin von »Roots & Shoots«, einem Programm für den internationalen Umwelt- und Artenschutz, begeistert sie insbesondere Kinder und Jugendliche in zahlreichen Ländern für ein ökologisches Engagement.

Außerdem von Jane Goodall im ProgrammDas Buch der Hoffnung (zus. mit Douglas Abrams)

Jane Goodall

Phillip Berman

Grund zur Hoffnung

Autobiographie

Aus dem Englischen von Erika Ifang

Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel

»Reason for Hope« bei Warner Books, New York.

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Vollständige Taschenbuchausgabe November 2021

Copyright © 1999 der Originalausgabe:Jane Goodall und Phillip Berman

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe© 1999 Riemann Verlag, München

Copyright © 2021 dieser Ausgabe: Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: UNO Werbeagentur, MünchenUmschlagfoto: Michael Neugebauer Redaktion: Gerhard Juckoff Fachliche Beratung: Peter Chr. HammelsbeckSatz: Satzwerk Huber, GermeringISBN 978-3-641-26827-5V002

www.goldmann-verlag.de

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Für Vanne, Judy und meine ganze wunderbare Familie und im herzlichen Gedenken an Danny, Derek, Louis, Rusty und David Greybeard

Inhalt

An meine Leser

Einleitung

1 Die Anfänge

2 Wegbereitung

3 Afrika

4 Gombe

5 In der Abgeschiedenheit

6 Ein Jahrzehnt der Veränderungen

7 Die Vertreibung aus dem Paradies

8 Die Wurzeln des Bösen

9 Vorformen des Krieges

10 Mitgefühl und Liebe

11 Tod

12 Heilung

13 Die moralische Evolution

14 Auf der Straße nach Damaskus

15 Hoffnung

16 Jenseits des Holocaust

17 Das Ende am Anfang

Danksagung

Das Jane Goodall Institut

An meine Leser

1984 fragte mich Phillip Berman, ob ich vielleicht einen Essay zu einem Buch mit dem Titel The Courage of Conviction (»Der Mut zur Überzeugung«) beitragen könnte, das er herausgeben wollte. Es war ein schwieriges Unterfangen, aber ich tat mein Bestes.

Zwölf Jahre später trat Phillip mit einer neuen Idee an mich heran. Ob ich nicht mit ihm zusammen ein Buch schreiben wollte, das die verschiedenen Gedanken meines Essays vertiefen würde? Ich antwortete ihm, daß ich keine Zeit dazu hätte, woraufhin er den Vorschlag machte, es könnte doch die Form eines Gesprächs haben – Fragen eines Theologen an eine Anthropologin. Ich brauchte nur meine Antworten zu redigieren.

Irgendwie kamen wir mit der Zeit von der ursprünglichen Idee ab. Was als ausführliches »Interview« geplant war, sollte nun eine persönlichere Note bekommen und meine »spirituelle Autobiographie« werden, für die ich nicht nur tief in meiner Vergangenheit nachgraben, sondern auch meine Gegenwart und Zukunft überdenken mußte. Das waren völlig andere Voraussetzungen, und ich wußte genau, daß ich in diesem Fall sehr viel Zeit zum Nachdenken und Schreiben brauchen würde.

Zu Anfang interviewte mich Phillip in Amerika, in meinem Heimatort in England und in Tansania, dort sowohl in Daressalam als auch in Gombe. Außerdem führte er Gespräche mit vielen Menschen, die eine wichtige Rolle in meinem Leben gespielt hatten. Dann begab er sich an die schwierige Arbeit, all die Tonbänder abzuhören, zu sortieren und in eine chronologische Ordnung zu bringen.

Dieses Buch zu schreiben war eine mühevolle Aufgabe, die mich in gewisser Weise jedoch auch herausforderte. Vielleicht ist das eine jener Chancen im Leben, dachte ich, die man ergreifen oder ungenutzt verstreichen lassen kann, je nach Wunsch.

Mit Phillips Konzept und seiner Fassung unserer Gespräche machte ich mich an die Arbeit. Hätte ich von Anfang an gewußt, wieviel Zeit das Schreiben in Anspruch nehmen würde und wie schmerzlich manchmal das damit verbundene Forschen in meiner Seele sein würde, hätte ich wahrscheinlich aufgegeben. Meine gesamte Zeit zu Hause in Bournemouth ging dabei drauf – dem einzigen ruhigen Ort, den ich zum Schreiben habe, da ich nahezu 300 Tage im Jahr auf Vortragsreisen bin. Ich arbeitete bis spät in die Nacht hinein, stand morgens früh auf und schob alles beiseite, was nicht von äußerster Dringlichkeit war. Trotzdem brauchte ich erheblich länger, als ich gedacht hatte. Danke, Vanne, daß du auf so viele kostbare Stunden verzichtet hast, die wir eigentlich gemeinsam hätten verbringen sollen!

Doch jetzt ist das Buch fertig, die Fotos sind zusammengestellt, und wir haben uns auf einen Titel geeinigt. An einigen Stellen dieses Buches finden sich kurze Texte, die ich fast wortwörtlich meinen anderen Büchern entnommen habe. Der Grund dafür ist der, daß ich bei dem Bemühen, meine Gedanken auf bestmögliche Weise in Worte zu fassen oder besonders bedeutsame Ereignisse zu beschreiben, oft feststellte, daß meine ursprünglichen Formulierungen die treffendsten waren und sind.

Mai 1999 Jane Goodall

Dieses Foto hat Michio Hoshina aufgenommen, als er Gombe zur Planung einer größeren Fotodokumentation besuchte. Tragischerweise wurde er in Rußland von einem Bären getötet, bevor er seinen Traum verwirklichen konnte.

Einleitung

Vor vielen Jahren, im Frühling 1974, habe ich einmal die Kathedrale Notre Dame in Paris besucht. Zu meinem Glück waren kaum Leute dort, und es war besinnlich und still drinnen. Ich betrachtete in stummer Ehrfurcht die große Fensterrose, die in der Morgensonne leuchtete. Auf einmal füllte sich die Kathedrale mit unglaublichem Klang: mit herrlichem Orgelspiel für eine Hochzeit, die in einem fernen Teil der Kirche stattfand. Bachs Toccata und Fuge in D-Moll. Das Vorspiel habe ich immer schon geliebt, aber in der Kathedrale erfüllte die Musik die ganze Weite, und es kam mir vor, als durchdringe sie mich und ergreife Besitz von mir. Es war, als ob die Musik selbst lebendig wäre.

In diesem Augenblick, diesem plötzlich gewonnenen Stückchen Ewigkeit, war ich der Verzückung näher, als es je wieder geschah, der Verzückung des Mystikers. Undenkbar, daß die zufälligen Wirbelbewegungen urzeitlicher Staubpartikel bis hin zu jenem Punkt in der Zeit geführt hatten: über das Hinaufwachsen der Kathedrale gen Himmel; die kollektive Vision, den gemeinsamen Glauben ihrer Erbauer; das Erscheinen Bachs, eines Gehirns – seines Gehirns –, das Wahrheit in Musik umsetzte; bis hin zur Fähigkeit eines Geistes, der wie der meine in jenem Augenblick das ganze unerbittliche Fortschreiten der Evolution im Bruchteil einer Sekunde zu erfassen vermochte! Da ich nicht glauben kann, daß in alledem bloßer Zufall waltet, muß ich vom Anti-Zufall ausgehen. Ich muß an eine bestimmende Urkraft im Universum glauben, mit anderen Worten: an Gott.

Als Wissenschaftlerin bin ich gehalten, logisch und empirisch zu denken, statt mich von Intuitionen oder spirituellen Erfahrungen leiten zu lassen. Als ich Anfang der 60er Jahre an der Universität von Cambridge studierte, waren die meisten Wissenschaftler und Studenten des Fachs Zoologie Agnostiker oder gar Atheisten, soweit ich das beurteilen konnte. Diejenigen, die an Gott glaubten, behielten es für sich.

Glücklicherweise waren meine religiösen und sittlichen Überzeugungen zu dem Zeitpunkt, als ich nach Cambridge kam, bereits durch die ersten 27 Jahre meines Lebens gefestigt. Ich ließ mich von der vorherrschenden Meinung nicht beeinflussen. Ich glaubte an die spirituelle Macht, die ich als Christin Gott nannte. Doch als ich älter wurde und andere Religionen kennenlernte, kam ich schließlich zu der Überzeugung, daß es nur den einen Gott gibt mit verschiedenen Namen: Allah, Tao, Schöpfer usw. Für mich war Gott der große Geist, »in dem wir leben, weben und sind«. Es hat Zeiten in meinem Leben gegeben, in denen ich wankend wurde in meiner Überzeugung, in denen ich die Existenz Gottes anzweifelte oder sogar verleugnete. Und es hat Zeiten gegeben, in denen ich schier daran verzweifelt bin, ob wir Menschen uns je wieder aus dem ökologischen und sozialen Dilemma befreien können, das wir uns und anderen Lebensformen auf dieser Erde beschert haben. Wie kommt es, daß der Mensch so destruktiv ist? So selbstsüchtig und habgierig, bisweilen sogar durch und durch schlecht? In solchen Momenten habe ich das Empfinden, daß die Enstehung des Lebens auf der Erde keinen tieferen Sinn haben kann. Und wenn sie keinen tieferen Sinn hat, stimmt dann nicht der Ausspruch eines angeödeten New Yorker Skinheads, daß die Menschheit lediglich eine »evolutionäre Panne« sei?

Aber solche Phasen des Zweifelns waren relativ selten. Ausgelöst wurden sie durch die verschiedensten Umstände: den Krebstod meines zweiten Ehemannes; den ausbrechenden Haß zwischen den Stämmen im kleinen Land Burundi und das, was mir in diesem Zusammenhang über Folter und Massenmord zu Ohren kam und mich an die unaussprechlichen Greueltaten des Holocaust erinnerte; das Kidnapping von vier meiner Studenten im Gombe-Nationalpark in Tansania, mit dem ein Lösegeld erpreßt werden sollte. Wie, fragte ich mich dann immer, wie soll ich angesichts solchen Leidens, solchen Hasses, solcher Zerstörung an eine göttliche Vorsehung glauben? Immerhin, irgendwie habe ich jene Phasen des Zweifelns immer überwunden; im allgemeinen blicke ich optimistisch in die Zukunft. Heute gibt es jedoch viele Menschen, die jeden Glauben und jede Hoffnung verloren haben, ob an Gott oder an das Schicksal der Menschheit.

Seit 1986 bin ich fast ununterbrochen auf Reisen. Ich bin unterwegs, um Spenden zu sammeln für die verschiedenen Naturschutz- und Aufklärungsprojekte des Jane-Goodall-Instituts und um möglichst vielen Menschen eine Botschaft zu übermitteln, die ich für ungemein wichtig halte. Eine Botschaft, die das Wesen von uns Menschen und unsere Beziehungen zu den anderen Tieren betrifft, mit denen wir uns diesen Planeten teilen. Und eine Botschaft der Hoffnung – der Hoffnung auf eine Zukunft des Lebens auf unserer Erde. Diese Reisen sind sehr anstrengend. Vor kurzem habe ich zum Beispiel während einer von vielen ähnlichen Reisen in sieben Wochen 27 Städte in Nordamerika besucht, habe insgesamt 32mal ein Flugzeug bestiegen und wieder verlassen (an Bord habe ich stets versucht, die Berge von Papier aufzuarbeiten, die sich immer höher häuften) und 71 Vorträge gehalten, bei denen ich 32 500 Menschen direkt ansprechen konnte. Außerdem habe ich 170 Interviews gegeben und an zahllosen geschäftlichen Treffen, Arbeitsessen und Diners teilgenommen – selbst das Frühstück war oft mit eingeplant. Mein Terminplan ist auf allen Vortragsreisen ähnlich gedrängt.

Eine Sache mindert immer meine Freude daran, auf meinen Reisen neuen Menschen zu begegnen. Ich leide an einer peinlichen, auf kuriose Weise demütigenden neurologischen Störung namens Prosopagnosia, das heißt, ich habe Schwierigkeiten, Gesichter wiederzuerkennen. Ich hatte immer gedacht, das liege an einer gewissen geistigen Trägheit, und mich verzweifelt bemüht, mir die Gesichter der Leute einzuprägen, die ich kennenlernte, damit ich sie am nächsten Tag wiedererkennen konnte. Keine Probleme machten mir Menschen mit offensichtlichen physischen Merkmalen – einer ungewöhnlichen Gesichtsform, einer Adlernase, außerordentlicher Schönheit oder Häßlichkeit. In allen anderen Fällen jedoch versagte ich kläglich. Manchmal merkte ich, daß es die Leute verstimmte, wenn ich sie nicht sofort erkannte – mich verstimmte es allemal. Und da es mir so peinlich war, behielt ich es für mich.

Mehr oder weniger durch Zufall stellte sich vor kurzem bei einem Gespräch mit einem Freund heraus, daß er unter dem gleichen Problem leidet. Ich konnte es kaum glauben. Dann erfuhr ich, daß meine Schwester Judy diese Schwäche ebenfalls kannte. Vielleicht erging es auch anderen so. Ich schrieb an den bekannten Neurologen Dr. Oliver Sacks. Ob er je von einer so seltsamen Störung gehört hätte? Er hatte nicht nur davon gehört – auch er litt darunter! Was in seiner Situation viel schlimmer war als bei mir. Er schickte mir eine Schrift mit dem Titel »Entwicklungsbedingte Gedächtnisstörung: Gesichter und Muster« von Christine Temple.

Selbst seit ich weiß, daß ich keine Schuldgefühle zu haben brauche, ist es trotzdem noch schwer, damit fertig zu werden – ich kann ja nicht herumspazieren und allen Leuten, die ich kennenlerne, sagen, daß ich bei der nächsten Begegnung wahrscheinlich keine Ahnung habe, wer sie sind! Oder vielleicht doch? Es ist demütigend, denn die meisten Leute glauben einfach, ich hätte nur eine raffinierte Ausrede dafür gefunden, daß ich sie nicht wiedererkenne, sie mir also letztendlich völlig gleichgültig sind – und schon sind sie verletzt. Ich muß irgendwie mit dem Problem zurechtkommen – normalerweise tue ich also so, als würde ich alle und jeden kennen! Obwohl auch das Peinlichkeiten mit sich bringt, ist es längst nicht so schlimm wie andersherum.

Die Leute (ob ich sie erkenne oder nicht!) fragen mich immer, wo ich all die Energie zu meiner Arbeit hernehme. Sie sagen auch, ich würde so friedvoll wirken. Wie ich bloß so friedvoll sein könnte, fragen sie. Ob ich meditieren würde. Ob ich religiös wäre. Ob ich beten würde. Woher ich meine Energie hätte. Vor allem aber fragen sie, wie ich angesichts der ökologischen Zerstörungen und des menschlichen Elends, angesichts von Überbevölkerung und Überkonsum, angesichts von Umweltverschmutzung, Entwaldung, Versteppung, Armut und Hunger, Grausamkeit, Haß, Habgier, Gewalt und Krieg so optimistisch sein kann. Glaubt sie an das, was sie sagt? scheinen sie sich zu fragen. Was mag sie tief in ihrem Innern wirklich denken? Was ist ihre Lebensphilosophie? Aus welcher geheimnisvollen Quelle schöpft sie ihren Optimismus, ihre Hoffnung?

Diese Fragen sind der einzige Grund, warum ich dieses Buch geschrieben habe, denn die Antworten darauf könnten nützlich sein. Es hat viel Selbstbesinnung erfordert, hat Abschnitte meines Lebens wiedererweckt, an die ich eigentlich nicht erinnert werden wollte, und mir viel Schmerz bereitet. Aber ich habe mich bemüht, aufrichtig zu schreiben – warum hätte ich sonst überhaupt ans Werk gehen sollen? Wenn Sie, lieber Leser und liebe Leserin, meinen persönlichen Betrachtungen, meiner Überzeugung auch nur irgend etwas abgewinnen können, das Ihnen auf Ihrem eigenen Weg weiterhilft, dann ist meine Mühe nicht umsonst gewesen.

1

Die Anfänge

Dies ist die Geschichte einer Reise, der Reise eines Menschen, meiner Reise über 65 Jahre Erdenzeit hinweg. Eine Geschichte fängt üblicherweise am Anfang an. Aber wo ist der Anfang? Ist es der Augenblick, in dem ich in einem Londoner Krankenhaus mit der schönen Häßlichkeit eines neugeborenen Menschenkindes das Licht der Welt erblickte? Der erste Atemzug, den ich tat, um meinen Schmerz und meine Empörung über die erzwungene Ausstoßung aus dem Mutterleib herauszuschreien? Oder müssen wir früher beginnen mit dem dunklen, feuchten, geheimnisvollen Ort, an dem es ein einziges winziges, sich schlängelndes Samenfädchen, eins von Millionen, schaffte, in ein kleines Ei vorzudringen, das fruchtbare Ei, das wie durch Zauberhand biologisch in ein Baby umgewandelt wurde? Doch auch das ist eigentlich nicht der Anfang. Denn die Erbanlagen, die meine Eltern an mich weitergaben, sind vor langer, langer Zeit entstanden. Und die ererbten Eigenschaften sind von den Menschen und Ereignissen meiner frühen Kindheit geprägt worden: dem Charakter und der Position meiner Eltern, dem Land, in dem ich geboren wurde, und der Zeit, in der ich aufgewachsen bin. Sollte die Geschichte also mit meinen Eltern beginnen, mit den geschichtlichen und gesellschaftlichen Ereignissen, die das Europa der 30er Jahre formten und einen Hitler, einen Churchill und einen Stalin hervorbrachten? Oder müssen wir vielleicht zum ersten wirklich menschlichen Geschöpf zurückgehen, dessen Eltern Affenmenschen waren, und weiter zurück zu dem ersten warmblütigen Säugetier und noch weiter zurück durch die Nebelschleier unbekannter Zeiten bis dahin, wo das erste Fünkchen Leben auf dem Planeten Erde erschienen ist – als Folge göttlicher Vorsehung oder eines kosmischen Zufalls? Dort könnte meine Geschichte beginnen und die seltsame Bahn verfolgen, die das Leben genommen hat, von den Würmern über die Affen bis hin zu dem Geist, der über Gott nachsinnen und versuchen kann, das Leben auf der Erde und jenseits der Sterne zu verstehen.

Aber ich habe nicht vor, mich so tiefgehend mit der Evolution zu befassen. Ich will sie nur von meinem eigenen Blickwinkel aus streifen: von dem Augenblick an, in dem ich mit den fossilen Knochen alter Geschöpfe in Händen in der Savanne der Serengeti stand, bis zu dem Augenblick, in dem ich einem Schimpansen in die Augen schaute und sah, daß eine denkende, urteilsfähige Persönlichkeit meinen Blick erwiderte. Vielleicht glauben Sie gar nicht an die Evolution, und das ist ganz in Ordnung. Wie wir Menschen das geworden sind, was wir jetzt sind, ist relativ unwichtig im Vergleich zu der Frage, wie wir jetzt handeln müßten, um aus dem Dilemma herauszukommen, das wir uns selbst geschaffen haben. Wie sollten wir als denkende Wesen, die über Gott nachsinnen können, mit unseren Mitgeschöpfen, mit den anderen Lebensformen auf dieser Welt umgehen? Wo liegt unsere menschliche Verantwortung? Und welches Schicksal erwartet den Menschen am Ende? Für diesen Zweck dürfte es reichen, einfach mit dem Zeitpunkt zu beginnen, an dem ich meinen ersten Atemzug tat und mein Gesicht in Falten legte, um meinen ersten Schrei von mir zu geben – mit dem 3. April 1934.

Foto: N. Rillstone

Im Alter von achtzehn Monaten mit Jubilee

Im Lauf der Jahre bin ich Menschen begegnet und in Ereignisse hineingezogen worden, die einen ungemein starken Einfluß auf mich hatten, die mich abgeschliffen haben, mir größte Freuden beschert haben, mich in tiefste Trauer und Qual gestürzt und mich das Lachen gelehrt haben, besonders über mich selbst. Mit anderen Worten: Meine Lebenserfahrungen und die Menschen, mit denen ich sie geteilt habe, sind meine Lehrmeister gewesen. Bisweilen habe ich mich gefühlt wie ein hilfloses Stück Treibholz, eben noch gestrandet in einem ruhigen Brackwasser, das nichts von mir wußte und dem es egal war, daß ich da war, und gleich darauf hinausgetrieben und von einem gefühllosen Meer umhergeschleudert. Ein andermal hatte ich das Gefühl, von starken Strömungen blindlings unter Wasser gerissen zu werden und kurz vor dem Ende zu sein. Trotz allem: Wenn ich auf mein Leben zurückschaue, auf die Höhen und Tiefen, auf Verzweiflung und Freude, glaube ich, daß es einem generellen Plan folgte, obwohl ich sicher oft vom »rechten« Kurs abgekommen bin. Ich habe mich jedoch nie wirklich verirrt. Mir scheint es jetzt so, als sei das kleine Stückchen Treibholz von einem unsichtbaren, unfaßbaren Wind stets auf einem ganz bestimmten Kurs gehalten worden, ob durch sanften Druck oder heftige Stöße. Das kleine Stückchen Treibholz, das ich war und bin.

Zweifellos haben mich die Erziehung, die Familie, in die ich hineingeboren wurde, und die Ereignisse, die sich in meiner Kinderwelt abspielten, zu der Person geprägt, die ich werden sollte. Meine Schwester Judy (die auf den Tag genau 4 Jahre jünger ist als ich) und ich wuchsen in einer Atmosphäre auf, die sanft durchdrungen war von christlichen Moralvorstellungen. Frömmigkeit wurde uns nie von unseren Eltern eingetrichtert, wir wurden nie zum Kirchgang gezwungen und sprachen auch nie ein Tischgebet vor den Mahlzeiten (außer in der Schule). Aber wir wurden angehalten, ein Nachtgebet zu sprechen, und knieten dabei neben dem Bett. Von Anfang an wurde uns die Bedeutung menschlicher Werte wie Mut, Ehrlichkeit, Mitgefühl und Toleranz nahegebracht.

Wie die meisten Kinder vor Anbruch des Fernseh- und Computerzeitalters war ich für mein Leben gern draußen, spielte in den versteckten Winkeln des Gartens und lernte die Natur kennen. Ich wurde in meiner Liebe zu allem Lebendigen bestärkt, so daß ich bereits in frühester Kindheit jenes Staunen und jene Ehrfurcht entwickeln konnte, durch die eine spirituelle Bewußtheit gefördert wird. Wir waren keineswegs wohlhabend, aber Geld spielte keine große Rolle. Es machte nichts, daß wir uns kein Auto, ja nicht einmal Fahrräder leisten konnten oder teure Ferien im Ausland. Wir hatten satt zu essen, genügend Kleidung und wuchsen in Liebe mit viel Lachen und Spaß auf. Im Grunde erlebte ich die beste Art von Kindheit: Da jeder Pfennig zählte, waren Extras wie Eiskrem, eine Reise mit dem Zug oder ein Kinobesuch ein aufregender Hochgenuß, der geschätzt wurde und in Erinnerung blieb. Wenn doch nur jeder mit einer solchen Kindheit, mit einer solchen Familie gesegnet wäre! Ich glaube, dann sähe es anders aus in unserer Welt.

Wenn ich auf die 65 Jahre meines Lebens bis heute zurückblicke, scheint es mir, als habe sich alles genau richtig gefügt. Ich hatte eine Mutter, die meine Leidenschaft für Tiere und Pflanzen nicht nur tolerierte, sondern mich darin unterstützte und die mich, was noch wichtiger war, an mich selbst zu glauben lehrte. Von heute aus gesehen führte alles auf ganz natürliche Weise zu jener magischen Einladung 1957 nach Afrika, wo ich Dr. Louis Leakey kennenlernen durfte, der mich auf den Weg nach Gombe zu den Schimpansen brachte. Ich habe wirklich außerordentliches Glück gehabt – obwohl meine Mutter Vanne immer sagt, Glück sei nur eine Seite der Medaille. Sie war immer der Überzeugung – wie ihre eigene Mutter auch –, daß Erfolg harter Arbeit und Entschlossenheit zu verdanken ist und daß, wenn wir versagen, »der Fehler nicht in unseren Sternen liegt, sondern in uns selbst und unserer Hörigkeit«. Ich bin davon überzeugt, daß das stimmt. Trotzdem, obgleich ich mein Leben lang schwer gearbeitet habe – wer will schon hörig sein, wenn es sich umgehen läßt! –, muß ich gestehen, daß die »Sterne« offenbar doch auch mitgemischt haben. Schließlich habe ich (soweit ich weiß) nichts dazugetan, in diese wunderbare Familie geboren zu werden. Und dann gab es noch Jubilee, ein Geschenk meines Vaters Mortimer »Mort« Goodall an mich, als ich eben etwas über ein Jahr alt war. Jubilee war ein großer Plüschschimpanse, der zur Feier des ersten im Londoner Zoo geborenen Schimpansen entstanden war. Die Freundinnen meiner Mutter fanden dieses Spielzeug grauenhaft und unkten, es würde mich in Angst und Schrecken versetzen und ich würde Alpträume davon bekommen. Aber Jubilee wurde sofort mein Lieblingsbesitz und begleitete mich bei fast all meinen Kindheitsabenteuern. Das alte Plüschtier ist heute noch da, nahezu kahl von all den Liebesbeweisen im Lauf der Zeit, und sitzt meistens in meinem Schlafzimmer in dem Haus in England, in dem ich aufgewachsen bin.

Schon immer war ich völlig fasziniert von Tieren aller Art. Dabei bin ich mitten im Herzen Londons geboren, wo es nur Hunde und Katzen, Spatzen, Tauben und ein paar Insekten in dem kleinen Garten gab, den wir uns mit den anderen Bewohnern unseres Mietshauses teilten. Selbst als wir in ein Haus am Stadtrand umzogen, von wo aus mein Vater jeden Tag zu seinem Ingenieurbüro in der Innenstadt pendelte, blieb die Natur auf Teerstraßen, Häuser und säuberlich gepflegte Gärten beschränkt.

Meine Mutter, die jetzt 94 Jahre alt ist, hat immer gern davon erzählt, wie ich schon als Kleinkind von Tieren fasziniert war und mich für deren Wohlergehen eingesetzt habe. Besonders gern erzählt sie, wie ich im zarten Alter von anderthalb Jahren eine Handvoll Regenwürmer im Londoner Garten auflas und mit ins Bett nahm.

»Jane«, hatte sie mit starrem Blick auf das Wurmgeringel gesagt, »wenn du sie hierbehältst, sterben sie. Sie brauchen die Erde.«

Da habe ich eiligst die Würmer wieder eingesammelt und sie in den Garten zurückgebracht.

Bald darauf besuchten wir Freunde, die ein Haus an der wilden Felsküste von Cornwall besaßen. Als wir zum Strand hinuntergingen, war ich gefesselt von den meerwassergefüllten Tümpeln, in denen es von Lebewesen nur so wimmelte. Niemand bemerkte, daß die Muscheln und Schneckenhäuser, die ich in meinem Eimer nach Hause trug, lebendig waren. Als meine Mutter später in mein Zimmer kam, krochen überall kleine knallgelbe Meeresschnecken herum – auf dem Fußboden, an den Wänden, hinter dem Kleiderschrank. Sie erklärte mir, daß die Schnecken nur im Meer leben könnten, sonst würden sie sterben. Daraufhin muß ich geradezu hysterisch geworden sein. Alle im Haus, so erzählte Vanne, mußten alles stehen- und liegenlassen und mir helfen, die Schnecken wieder einzusammeln, damit sie schnell zum Meer zurückgebracht werden konnten.

Eine Anekdote ist besonders häufig erzählt worden, weil sie zeigt, daß ich offenbar schon mit vier Jahren das Zeug zu einer echten Naturkundlerin hatte. Meine Mutter und ich besuchten meine Großmutter väterlicherseits, Mrs. Nutt (ich nannte sie Danny, weil ich »Granny« nicht aussprechen konnte), auf dem Bauernhof der Familie. Mir fiel unter anderem die Aufgabe zu, die Eier aus dem Hühnerstall zu holen. Im Lauf der Zeit dort wurde ich immer nachdenklicher. Wo war bei einer Henne eine Öffnung, die groß genug gewesen wäre, um ein Ei herauszulassen? Anscheinend erklärte es mir niemand zufriedenstellend, so daß ich beschlossen haben muß, es selbst herauszufinden. Ich folgte einer Henne in einen der kleinen hölzernen Hühnerställe, aber als ich hinter ihr her kroch, kreischte sie natürlich in größtem Entsetzen und flüchtete eilends. Daraufhin dachte ich in meinem vierjährigen Sinn, daß ich wohl vor ihr im Stall sein müßte. Also kroch ich in den nächsten Hühnerstall und wartete hoffnungsvoll darauf, daß eine Henne kommen und ein Ei legen würde. Ich harrte aus, still in eine Ecke geduckt, mit etwas Stroh getarnt, und wartete. Schließlich kam eine Henne hereinspaziert, scharrte im Stroh und ließ sich auf ihrem selbstgemachten Nest direkt vor mir nieder. Ich muß vollkommen still gewesen sein, denn sonst hätte sie sicher die Störung bemerkt. Plötzlich erhob sie sich ein wenig, und ich sah, wie etwas rundes Weißes langsam aus den Federn zwischen ihren Beinen hervorkam. Mit einem Plopp! landete das Ei im Stroh. Die Henne gluckste erfreut, schüttelte das Gefieder, stupste das Ei ein bißchen mit dem Schnabel hin und her und ging. Es ist erstaunlich, wie lebhaft mir die ganze Szene im Gedächtnis geblieben ist.

Voller Begeisterung quetschte ich mich aus dem Stall und rannte ins Haus. Es war fast dunkel, ich muß also etwa vier Stunden in dem engen, muffigen Hühnerstall gehockt haben. Natürlich hatte ich überhaupt nicht bedacht, daß niemand gewußt hatte, wo ich steckte, und die ganze Familie mich suchte. Man hatte mich sogar bei der Polizei vermißt gemeldet! Meine Mutter, die mich immer noch suchte, sah plötzlich mich aufgeregtes kleines Mädchen zum Haus rennen, und trotz der Sorgen, die sie sich gemacht hatte, schalt sie mich nicht aus. Sie bemerkte, daß meine Augen leuchteten, setzte sich zu mir und hörte sich an, wie ein Huhn ein Ei legte und was für ein Wunder es war, als das Ei schließlich aufs Stroh fiel.

Bestimmt hatte ich großes Glück, eine solche Mutter zu haben – die so weise war, meine Liebe zu allem Lebendigen und meinen leidenschaftlichen Wissensdrang zu nähren und zu fördern. Das Wichtigste war ihre Denkweise, daß wir Kinder immer versuchen sollten, unser Bestes zu geben. Wie wäre ich wohl geworden, frage ich mich manchmal, wenn ich in einem Haus aufgewachsen wäre, in dem jedes Unternehmen durch eine strenge, unsinnige Disziplin im Keim erstickt worden wäre? Oder in einer Atmosphäre zu großer Nachsicht, in einem Haushalt, in dem keine Regeln aufgestellt und keine Grenzen gezogen wurden? Meine Mutter hatte einen klaren Begriff von der Bedeutung der Disziplin, aber sie erklärte uns immer, warum manche Dinge streng verboten waren. Vor allem jedoch bemühte sie sich immer um Fairneß und Unzweideutigkeit.

Als ich fünf und meine kleine Schwester Judy ein Jahr alt war, zogen wir nach Frankreich. Mein Vater wünschte, daß wir schon als Kinder fließend Französisch sprechen lernten. Das sollte jedoch nichts werden, denn ein paar Monate nach unserem Umzug besetzte Hitler die Tschechoslowakei, ein Vorstoß, der zum Zweiten Weltkrieg führen sollte. Die Rückkehr nach England wurde beschlossen, und da wir unser Haus in London verkauft hatten, zogen wir zu Großmutter Danny in das alte Bauernhaus, in dem mein Vater aufgewachsen war. Es lag in Kent, war aus grauen Bruchsteinen erbaut und umgeben von Wiesen, auf denen Kühe und Schafe weideten. Ich war leidenschaftlich gern dort. Auf dem zum Hof gehörigen Gelände befanden sich die Ruinen einer Burg, in der König Heinrich VIII. eine seiner Gattinnen gefangengehalten hatte, zusammengefallene Grausteinbrocken voller Spinnen und Fledermäusen. Im Haus selbst roch es immer schwach nach den Petroleumlampen, die abends entzündet wurden, denn es gab keinen Strom. Noch jetzt, über sechzig Jahre später, entführt mich der Geruch von Petroleumlampen stets in diese zauberische Zeit. Sie währte allerdings nicht lange. Der Schrecken des Krieges kam immer näher, und da meine Mutter wußte, daß mein Vater sich bei der ersten Gelegenheit zum Militär melden würde, zog sie mit Judy und mir zu ihrer eigenen Mutter nach The Birches in Bournemouth, einem 1872 im viktorianischen Stil erbauten roten Backsteinhaus, das nur wenige Gehminuten von der Küste des Ärmelkanals entfernt liegt.

Am 3. September 1939 war es soweit: England erklärte Deutschland den Krieg. Ich war damals erst fünfeinhalb Jahre alt, trotzdem erinnere ich mich daran. Die ganze Familie war im Salon versammelt. Die Atmosphäre war gespannt, alle lauschten auf die Nachrichten über Funk; nach der Kriegserklärung trat Stille ein. Natürlich wußte ich nicht, was los war, aber diese Stille, dieser Eindruck kommenden Unheils, wirkte beängstigend auf mich. Noch heute, über ein halbes Jahrhundert später, greift es mir beim Läuten der Glocke von Big Ben, das damals stets den BBC-Nachrichten vorausging, eiskalt ans Herz.

Wie erwartet, meldete sich mein Vater sofort freiwillig, und so wurde The Birches (der »Birkenhof«) meine neue Heimat. Dort, an der Südküste Englands, sollte ich den Rest meiner Kindheit und meine Jugend verbringen. Das heißgeliebte Haus ist noch immer mein Heim, mein Zufluchtsort, wenn ich in England bin. Dort schreibe ich an diesem Buch.

Meine Großmutter mütterlicherseits, die ebenfalls bei allen Danny hieß, weil ich »Granny« nicht aussprechen konnte, war das unangefochtene Oberhaupt der großen Familie, die sich den Birkenhof teilte. Sie war eine starke, mit Selbstbeherrschung und einem eisernen Willen ausgestattete Viktorianerin, die mit höchster Autorität über uns herrschte und ein so großes Herz hatte, daß alle hungernden Kinder dieser Welt darin Platz gefunden hätten. Ihr Mann, ein Waliser, war Pfarrer der Congregational Church gewesen und schon vor meiner Geburt gestorben. Er war seinerzeit ein brillanter Gelehrter und im Besitz hoher theologischer Würden, die er an drei Universitäten erworben hatte – in Cardiff, Oxford und Yale. Danny, die ihn um mehr als dreißig Jahre überlebte, hatte all seine Briefe aufgehoben, mit rotem Band zusammengebunden, und las abends vor dem Schlafengehen darin. Außerdem zählte sie, wie sie uns sagte, allabendlich alles auf, womit sie gesegnet worden war, bis sie einschlief. Ihr war es schrecklich, ins Bett zu gehen, ohne vorher Frieden geschlossen zu haben mit allen um sie herum. Es kommt immer zu kleinen Reibereien und Streitigkeiten, wenn so viele Menschen zusammenleben, und die mußten vor der Schlafenszeit ausgeräumt sein. »Lasset die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen«, pflegte sie aus der Bibel zu zitieren. Und bis auf den heutigen Tag höre ich förmlich ihre Stimme, wenn ich eine Meinungsverschiedenheit mit einem Freund oder einer Freundin habe: »Wie schrecklich wäre dir zumute, wenn er (oder sie) sterben würde, ehe du die Sache geklärt hättest, ehe du um Verzeihung bitten konntest.« Ich glaube, darum klingen mir die Worte von Walter de la Mare so vertraut: »Sieh in deiner letzten Stunde, wie schön alle Dinge, zu jeder Stunde sind.«

Wir wohnten mit den beiden Schwestern meiner Mutter zusammen im Birkenhof: Olwen, die ich sofort in Olly umtaufte, und Audrey, die lieber mit ihrem Waliser Namen Gwyneth genannt werden wollte. An den meisten Wochenenden besuchte uns auch Onkel Eric, ihr älterer Bruder, der als Arzt in einem Londoner Krankenhaus tätig war. Gleich nach Beginn des Krieges nahmen wir noch zwei alleinstehende Frauen auf, die, wie viele andere auch, durch die Zerstörungen und das Chaos, das sich in Europa immer mehr ausbreitete, heimatlos geworden waren. An alle Haushalte erging die Bitte, Raum zu schaffen für diese unglücklichen Menschen. Und so kam es, daß der Birkenhof damals ein betriebsamer Ort war, an dem sich Menschen aller Art zusammenfanden. Wir lernten, gut miteinander auszukommen. Im Haus herrschte (und herrscht heute noch) eine herzliche Atmosphäre; es hatte einen ganz eigenen Charakter und war trotz der vielen Menschen von Frieden erfüllt. Am schönsten war der große Garten hinter dem Haus mit seinen vielen Bäumen, einer grünen Wiese und zahlreichen versteckten Plätzen im Gebüsch, wo natürlich Gnomen und Elfen hausten und im Mondschein tanzten. Meine Liebe zur Natur wurde durch meine Beobachtungen, wie die Vögel ihre Nester bauten, die Spinnen ihre Eierballen herumtrugen und die Eichhörnchen einander durch die Bäume jagten, immer stärker.

Meine Kindheitserinnerungen sind untrennbar verbunden mit Rusty, einer absolut liebenswerten schwarzen Promenadenmischung von Hund mit einem weißen Flecken auf der Brust. Er war mein ständiger Begleiter und hat mir unendlich viel vom wahren Wesen der Tiere vermittelt. Es gab noch andere Haustiere im Lauf der Zeit: nacheinander etliche Katzen, zwei Meerschweinchen, einen Goldhamster, mehrere Schildkröten unterschiedlicher Art sowie einen Kanarienvogel namens Peter, der zwar im Käfig schlief, tagsüber jedoch frei im Zimmer herumfliegen durfte. Eine Zeitlang besaßen Judy und ich auch jede eine eigene »Rennschnecke«, der wir jeweils eine Zahl aufs Haus gepinselt hatten. Wir hielten sie in einer mit einer Glasscheibe abgedeckten alten Holzkiste ohne Boden, die wir auf der Wiese immer ein Stück weiterrückten, so daß die Schnecken frische Löwenzahnblätter essen konnten.

In einem Teil des Gartens war hinter dichtem Gebüsch eine kleine Lichtung, auf der Judy und ich ein »Lager« für die Versammlungen unseres Clubs einrichteten, eines Clubs, der nur aus vier Mitgliedern bestand, nämlich uns beiden und unseren besten Freundinnen Sally und Susie Cary, die ihre Sommerferien immer bei uns verbrachten. Im Lager hatten wir eine alte Truhe, in der wir vier Henkelbecher, einen kleinen Vorrat an Kakao und Tee und einen Löffel aufbewahrten. Wir pflegten ein Feuer zu entzünden und in einer Blechdose, die wir auf vier Steinen über die Flammen stellten, Wasser zu kochen. Manchmal hielten wir auch mitternächtliche »Feste« dort ab mit Speisen, die wir uns von den Mahlzeiten aufgehoben hatten. In den Kriegsjahren war fast alles rationiert, und so gab es selten mehr als einen Keks oder einen Brotrest, den wir uns vom Munde abgespart hatten. Es war die Spannung, das heimliche Davonschleichen aus dem Haus, der geisterhafte Anblick der Wiesen und Bäume, die wir liebten. Das Gefühl, es geschafft zu haben, machte den Spaß aus, wenn wir solchermaßen die Regeln übertreten hatten, und nicht die armseligen Bröckchen, die wir für unser Fest gesammelt hatten. Nahrung ist mir bis heute vollkommen unwichtig.

Wie die meisten Kinder, die glücklich aufwachsen, hatte auch ich nie Grund, die religiösen Überzeugungen meiner Familie anzuzweifeln. Gab es Gott? Natürlich. Gott war für mich eine ebensolche Realität wie der Wind, der durch die Bäume in unserem Garten strich. Gott sorgte irgendwie für eine magische Welt voller aufregender Tiere und Menschen, die überwiegend freundlich und nett waren. Es war eine Zauberwelt für mich, erfüllt von Freude und Wundern, und ich fühlte mich ihr zugehörig.

Danny ging jeden Sonntag zur Kirche, und mindestens einer von uns begleitete sie stets. Auch Audrey versäumte keinen einzigen Gottesdienst, und Olly sang im Kirchenchor. Aber wir Kinder wurden nie gezwungen, sie zu begleiten, und wir gingen auch nicht zur Sonntagsschule. Allerdings achtete Danny darauf, daß sich unser Glaube nicht auf die animistische Verehrung der Natur und ihrer Fauna und Flora beschränkte. Sie glaubte fest an Gott den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist. Sie wollte, daß Judy und ich ihren Glauben teilten, weil er ihr so tröstlich erschien. Und so tat sie ihr Bestes, unser Leben mit der Moral und Weisheit der Christenlehre zu tränken. Die Regeln, die wir einhalten mußten, waren einfach die Zehn Gebote. Gelegentlich zitierte sie aus der Bibel ihren Lieblingsvers – den ich übernommen habe: »Wenn ich schwach bin, so bin ich stark.« Das hat mir durch die schwersten Zeiten meines Lebens geholfen. Irgendwie finden wir immer die Kraft, um einen Tag voller Kummer, Leid und Herzzerbrechen zu überstehen. Ich jedenfalls.

Als Kind hatte ich überhaupt keine Lust, zur Schule zu gehen. Die Natur, die Tiere, der Zauber entlegener wilder, einsamer Orte, das war es, wovon ich träumte. In unserem Haus waren überall Bücherregale, und die Flut der Bücher ergoß sich auch auf den Boden. Wenn es naßkalt draußen war, kauerte ich mich in einem Sessel am Feuer zusammen und verlor mich in anderen Welten. Zu meiner Lieblingslektüre damals gehörten Dr. Dolittle und seine Tiere, Das Dschungelbuch und die wunderbaren Tarzanbücher von Edgar Rice Burroughs. Auch Der Wind in den Weiden liebte ich, und ich erinnere mich noch heute an das erhebende, mystische Erlebnis von Ratte und Maulwurf, als sie das vermißte Otterjunge zusammengerollt zwischen den Hufspalten des Hirtengottes Pan wiederfanden. Noch ein Buch schlug mich in seinen Bann: Hinter dem Nordwind, eine Geschichte mit viktorianischem Moralanspruch, die heute kein Kind mehr lesen würde. Der kleine Diamond, der Held des Buches, schlief auf dem Heuboden über dem alten Diamond, dem Droschkenpferd, auf das die Familie, die arm war, zu ihrem Lebensunterhalt angewiesen war. Der eisige Nordwind blies in Diamonds Heuboden hinein und erschien dem Jungen als schöne Frau, das eine Mal klein wie ein Glöckchen, das andere Mal groß wie eine Ulme. Dann nahm sie ihn mit auf Weltreise, in ihrem Windschatten sicher untergebracht in einem Nest, das sie ihm aus ihren wunderschönen langen, dicken Haaren bereitet hatte. Das Buch wirkte wie Zauber und Magie auf mich, es führte mir in Erzählform das menschliche Leid vor Augen und bereitete mich in gewisser Weise auf die echten Leiden des Krieges vor. Denn in Europa wütete der Krieg, und nur allzubald sollte er sich selbst im verschlafenen Bournemouth bemerkbar machen.

Immer öfter hörten wir das Dröhnen eines deutschen Flugzeugs und den Donner einer explodierenden Bombe. Wir hatten Glück, denn nichts kam so nah bei uns herunter, daß es Schaden angerichtet hätte. Aber die Fenster klirrten laut, und einige Scheiben bekamen Sprünge. Wie genau erinnere ich mich noch an das Heulen der Sirenen beim Fliegeralarm! Normalerweise gingen sie irgendwann nachts los, denn das war die Zeit, wenn die Bomber angeflogen kamen. Dann mußten wir aus dem Bett und uns in dem kleinen Luftschutzbunker zusammendrängen, den wir in unserem Haus installiert hatten in einem kleinen Zimmer, einer ehemaligen Mägdekammer, die noch heute »Bunker« genannt wird. Der »Bunker« war in Wirklichkeit nur ein niedriger Kasten mit Stahlabdekkung, etwa 1,50 mal 1,80 m groß und nur 1,20 m hoch.Tausende davon wurden an Haushalte vergeben, die in besonders gefährdeten Gebieten lagen. Dort mußten wir, oft zu sechs Erwachsenen und wir zwei Kinder, bis zur ersehnten »Entwarnung« ausharren.

Mit sieben Jahren war ich an Nachrichten von Kämpfen, Niederlagen und Siegen gewöhnt. Andeutungen in der Presse und im Radio von den unaussprechlichen Greueltaten, die an den Juden Europas verübt wurden, von den Grausamkeiten des Naziregimes im Namen Hitlers, öffneten uns die Augen dafür, wie inhuman sich der Mensch seinen Mitmenschen gegenüber verhalten kann. Obgleich mein Leben noch immer von Liebe und Sicherheit erfüllt war, kam mir allmählich zu Bewußtsein, daß es noch eine andere Welt gab, eine harte, bittere Welt des Leidens, des Todes und der menschlichen Grausamkeit. Wir gehörten zwar zu den Glücklicheren, denn wir waren weit entfernt vom Schrecken schwerer Bombenangriffe, aber trotzdem waren die Auswirkungen des Krieges auch für uns spürbar. Unser Vater war Soldat und weit weg irgendwo im Urwald von Singapur. Onkel Eric und Olly leisteten Dienst bei Luftangriffen und waren in dunkler Nacht unterwegs, sobald der Fliegeralarm ertönte. Audrey arbeitete als Landhelferin. Allabendlich mußten wir alles »verdunkeln«. Amerikanische Soldaten besetzten mit ihren Panzern die Straße, die am Birkenhof vorbeiführte. Einer von ihnen wurde ein guter Freund, aber dann wurde er mit seinem Regiment an die Front gerufen und fiel, wie so viele andere auch.

Im vierten Kriegssommer hätte es auch uns beinahe getroffen. Judy, ich und unsere besten Freundinnen Sally und Susie durften eine Ferienwoche ein paar Meilen entfernt an der Küste verbringen, wo man tatsächlich noch an den Sandstrand konnte. (England war auf eine mögliche deutsche Invasion vorbereitet, und deshalb war die Küste fast überall Meile um Meile mit Stacheldraht verbarrikadiert.) Eines Tages, unsere Mütter saßen im Sand und wir Kinder spielten, bestand Vanne plötzlich darauf, daß wir zu unserem kleinen Ferienhaus zurückwandern sollten, und zwar auf einem anderen Weg, der viel länger war als der Hinweg, so daß wir das Mittagessen verpassen würden. Sie ließ sich nicht davon abbringen. Zehn Minuten nach unserem Aufbruch, als wir gerade über ein paar Sanddünen kletterten, hörten wir das leise Motorengeräusch eines Flugzeugs in großer Höhe, mit Kurs Richtung Meer. Ich erinnere mich noch lebhaft daran, wie ich hochschaute und zwei winzige schwarze Objekte, aus dieser Entfernung nicht größer als Zigarren, aus dem Flugzeug in den tiefblauen Himmel fallen sah. Deutsche Bomber warfen ihre Bomben oft an der Küste ab, wenn sie sie nicht am vorgesehenen Ziel losgeworden waren. Das war sicherer, falls sie auf dem Heimweg auf unsere Flugabwehr trafen. Ich weiß noch, daß unsere Mütter uns nötigten, uns hinzulegen, und sich dann über uns legten. Mir ist noch genau das schreckliche Explosionsgeräusch in den Ohren, mit dem die Bomben auf die Erde aufschlugen. Eine der Bomben sprengte genau da einen tiefen Trichter in die Straße, wo wir uns ohne Vannes böse Vorahnung gerade befunden hätten.

Als der Krieg in Europa am 7. Mai 1945 endlich zu Ende ging, bestätigten sich die grauenvollen Gerüchte über die Todeslager der Nazis. Erste Fotos erschienen in den Zeitungen. Ich war damals elf Jahre alt, leicht zu beeindrucken und sehr phantasiebegabt. Obgleich die Familie mir die grauenerregenden Holocaustbilder gern erspart hätte, wurde ich nie davon abgehalten, die Zeitungen zu lesen, auch jetzt nicht. Die Fotos hatten eine tiefe Wirkung auf mein Leben. Ich konnte die Bilder der wandelnden Skelette mit den tiefeingesunkenen Augen und den fast ausdruckslosen Gesichtern nicht mehr loswerden. Ich mühte mich vergeblich, die körperlichen und geistigen Todesqualen zu begreifen, die diese Überlebenden und Hunderttausende, die umgekommen waren, durchgemacht haben mußten. Ich weiß noch, was für ein Schock es war, auf einem Foto Leichen übereinander aufgetürmt in einer riesigen Grube liegen zu sehen. Daß so etwas geschehen konnte, ergab keinen Sinn. Alles Böse, das im Menschen schlummerte, hatte sich freie Bahn gebrochen, all die Wertbegriffe von Güte, Anstand und Liebe, die man mir beigebracht hatte, waren mißachtet worden. Ich weiß noch, daß ich mich fragte, ob das wirklich wahr sein konnte, ob Menschen wirklich ihren Mitmenschen so etwas Entsetzliches antun konnten. Die spanische Inquisition und all die mittelalterlichen Foltermethoden, von denen ich gelesen hatte, kamen mir in den Sinn. Und das furchtbare Leid, das über die schwarzen Sklaven gebracht worden war. (Ich hatte einmal ein Bild von afrikanischen Galeerensklaven gesehen, zwischen deren Reihen ein brutal wirkender Aufseher mit einer Peitsche in der erhobenen Hand stand.) Zum ersten Mal in meinem Leben zweifelte ich am Wesen Gottes. Wenn Gott gut und allmächtig war, wie ich zu glauben erzogen worden war, wie konnte er dann zulassen, daß so viele unschuldige Menschen litten und starben? So konfrontierte mich der Holocaust mit der uralten Frage nach Gut und Böse. 1945 war diese Frage keine reine Theorie, sondern stellte ein reales Problem dar, mit dem wir uns auseinandersetzen mußten, desto schonungsloser, je mehr Horrorgeschichten bekannt wurden.

Ich merkte, daß die Dinge nicht so klar umrissen waren, wie es den Anschein gehabt hatte; das Leben war voller Doppeldeutigkeiten und Widersprüche. Der Holocaust erschütterte mich bis ins Mark. Fortan und bis heute hatte ich das zwingende Bedürfnis, Bücher über die Nazis und ihre Konzentrationslager zu lesen. Wie konnten sich Menschen nur so verhalten? Wie konnte jemand solche Qualen aushalten und überleben? Diese Fragen sind mir mein Leben lang nicht mehr aus dem Kopf gegangen.

2

Wegbereitung

Als ich zwölf Jahre alt war, ließen sich meine Eltern scheiden, aber Vanne, Judy und ich lebten weiter im Birkenhof. Da ich meinen Vater während der langen Kriegsjahre ohnehin selten gesehen hatte und dann auch nur ein paar Tage, immer wenn er Urlaub hatte, änderte sich für mich eigentlich nicht viel. Der Birkenhof war inzwischen seit sieben Jahren meine Heimat.

In der Schule strengte ich mich sehr an, denn das Lernen machte mir Freude, zumindest in den Fächern, die mich interessierten, wie englische Sprache und Literatur, Geschichte, Religion und Biologie. Außerdem las ich noch eine Menge zu Hause. Unter den Hunderten von Büchern im Birkenhof waren viele philosophische Werke, die meinem Großvater gehört hatten. Diese ehrwürdigen Bände, meist in schöner alter gotischer Schrift gedruckt, hatten es mir besonders angetan. Ebensogern, wie ich las, schrieb ich Geschichten und auch Gedichte, meist über die Natur und meine Lebensfreude. Am liebsten waren mir die Wochenenden und Schulferien, denn da konnte ich mit Rusty draußen auf den kieferbestandenen Sandhängen der Kliffküste herumstreifen. Im späten Frühling waren sie leuchtendgelb von blühenden Stechginsterbüschen, im Sommer brennend lila- und karminrot von Rhododendren. Es gab Eichhörnchen und alle Arten von Vögeln und Insekten. Wie ich die Freiheit genoß!

Ich werde nie vergessen, wie spannend es war, als ich eines Tages im Vorfrühling in der Heide auf den Felsklippen über dem Meer ein Wiesel Mäuse jagen sah. Oder den warmen Sommerabend, als ich einen Igel dabei beobachtete, wie er mit lautem Grunzen und Schnaufen seiner stacheligen Gefährtin den Hof machte. Oder den Zauber eines Spätsommernachmittags, an dem ich auf ein Eichhörnchen stieß, das Bucheckern sammelte und vergrub. Das war sein Proviant für die kurzen Pausen in seinem Winterschlaf. So war es jedenfalls vorgesehen. Aber ein Eichelhäher, der über ihm auf einem Ast saß, kam jedesmal, wenn es sorgsam etwas vergraben hatte, herabgeflogen und raubte den Vorrat. Die Szene wiederholte sich siebenmal; zweimal bemerkte das Eichhörnchen den Diebstahl sogar, setzte sein vergebliches Tun jedoch trotzdem mit unvermindertem Eifer fort. Ein andermal erhaschte ich einen Blick auf den rostroten Pelz eines Fuchses, ging seiner Spur im Januarschnee nach und sah, daß er ohne Erfolg ein Kaninchen gejagt hatte.

Obwohl ich es sehr genoß, mit Rusty allein zu sein, war ich keineswegs menschenscheu, sondern zog auch ab und zu mit Freundinnen los – Gemeinschaftsschulen gab es damals noch nicht, ich war auf einer reinen Mädchenschule. Ich habe nicht mehr genau im Kopf, welche Spiele wir draußen in den Küstenbergen oder am Strand spielten. Wir hielten gern Mutproben ab und ließen uns dabei auch auf relativ gefährliche Unternehmungen ein, etwa über einen Steilhang zu klettern. Dabei hätte sich einmal beinahe eine Tragödie ereignet. Ein Mädchen kam ins Rutschen und löste dabei eine kleine Sandlawine aus, die den steilen Hang hinabstürzte. Das Mädchen erstarrte. Sie rutschte zwar nicht weiter ab, wagte aber nicht mehr, sich zu bewegen, und es dauerte unserem Empfinden nach Stunden, bis wir sie zum nächsten Schritt überreden konnten. Dieses Erlebnis kühlte unseren Mut etwas ab, so daß wir fortan nicht mehr ganz so tollkühn waren. All das war natürlich, ohne daß ich es ahnen konnte, ein hervorragendes Training für meinen späteren Aufenthalt im afrikanischen Gombe.

Onkel Eric, Audrey, Danny, Jane, Olly und Judy

An den meisten Samstagen besuchte ich eine Reitschule auf dem Lande, deren Besitzerin die bemerkenswerte Selina Bush war, genannt Bushel. Vanne konnte Reitstunden einmal die Woche nicht bezahlen. Darum säuberte ich Sättel und Zaumzeug, mistete die Ställe aus und half auf dem Hof, und ich war so fleißig und mit solcher Begeisterung bei der Sache, daß ich oft mit einem Gratisritt belohnt wurde. Die meisten von Bushels Tieren waren kleine, ausdauernde New-Forest-Pferde, Nachkommen der wildlebenden Herden im nahegelegenen Wald, die als Fohlen eingefangen worden waren. Auf ihnen erlernte ich nach und nach die Reitkunst. Eines Tages wurde mir zu meinem größten Entzücken gestattet, ein Turnierpferd zu reiten. Manchmal nahm ich an Springturnieren im Rahmen örtlicher Geschicklichkeitswettbewerbe für Reiter teil. Und einmal erhielt ich eine Einladung zur Jagd. Zur Fuchsjagd. Toll! Das hieß, daß ich mit den Jägern in ihren roten Uniformen reiten durfte. Es würden hohe Hecken und Zäune zu überwinden sein, und das Jagdhorn würde erschallen. Das wichtigste aber war, daß Bushel meine Reitkünste offenbar für gut genug ansah, um mir diese Chance zu geben. Ich brannte zwar darauf, mich zu beweisen, hatte jedoch auch ein wenig Angst, Bushel vielleicht zu enttäuschen.