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In der Wissenschaft und im öffentlichen Geschichtsbewusstsein ist Gustav Stresemann eine Ikone der deutschen und europäischen Zeitgeschichte. Dank neuen Archivwissens und nach umfangreichen Vorarbeiten hat der renommierte Historiker Karl Heinrich Pohl dieses Charakterbild ergänzt und kritisch korrigiert. In seinem profunden Werk begegnet der Leser der Persönlichkeit eines genialen Grenzgängers zwischen von Ehrgeiz getriebenem Wirtschaftsmanagement im Königreich Sachsen und vom Tod jäh abgebrochener Verständigungspolitik von Weltgeltung. Eine Pflichtlektüre zum Verständnis der deutschen Geschichte.Zu diesem Titel gibt es digitales Zusatzmaterial:
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Seitenzahl: 664
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Karl Heinrich Pohl
Gustav Stresemann
Biografie eines Grenzgängers
Vandenhoeck & Ruprecht
Mit 18 Abbildungen, 2 Grafiken und 1 Tabelle
Umschlagabbildung: Gustav Stresemann mit seiner Ehefrau vor einem Brunnen, um 1925. © akg-images / Imagno
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-647-99696-7
Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de
© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, 37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A.www.v-r.deAlle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.
Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de
Inhalt
Einleitung
1. Ein Leben
Autobiografie als Komposition
Gustav Stresemann und seine Physiognomie
Ein kranker Mann
Der Redner
2. Der Wille zum Aufstieg
Kulturelles Kapital: Inszenierung als Bildungsbürger
Der Lyriker Gustav Stresemann
Freundschaften und Männerbünde
Der bürgerliche Wertehimmel: »Juden« und Frauen
3. Ökonomisches und soziales Kapital
Dichte Beschreibung I: Stresemann und Dresden im Jahre 1903
Der sächsische Syndikus: Die Erfindung des Verbandes Sächsischer Industrieller
Der Sozialpolitiker
Beruf und Vermögen
4. Politisches Kapital
Eine Partei wird neu erfunden: Die Nationalliberalen in Sachsen
Am Ziel? Inszenierung als liberaler Wirtschaftsbürger: Die Tagungen der Industrieverbände in Dresden
5. Ein Leben im Umbruch
Der »Held« an der »Heimatfront«
Revolution und »Neuanfang«
6. Politik in Deutschland und Europa
Inszenierung als Krisenmanager: Die Rede im Reichstag am 17. April 1923
Die Zerstörung des »linksrepublikanischen Projektes« in Sachsen
Dichte Beschreibung II: Die Politik von Locarno
Die Rolle der Wirtschaft und die Stresemann’sche Frankreichpolitik
Der Vertrag von Locarno, die IRG und die Rolle Polens
Der Verständigungspolitiker und sein Doppelleben: Pabst, Orgesch, Wilhelm und Co.
»… und wollte ein Bürger sein«: Liberalismus, Kultur, Nation, Krieg und Demokratie
7. Nachleben
8. Schluss: Der »Grenzgänger«
Zeittafel
Abkürzungen
Quellen- und Literaturverzeichnis
Benutzte Archive
Gedruckte Quellen
Literatur
Bildnachweis
Personenregister
Einleitung
Warum sollte man noch eine weitere Biografie über Gustav Stresemann schreiben? Das positive Bild von ihm scheint doch längst, nahezu unzerstörbar, in Stein gemeißelt zu sein. Er ist seit langem in der Walhalla der großen Deutschen angekommen, stellt ein unangreifbares historisches Monument dar. Er scheint bekannt, erforscht und höchst geschätzt zu sein. Was ist dem noch hinzuzufügen?
Der Streit, ob er ein unbelehrbarer Monarchist geblieben sei oder sich zum geläuterten Republikaner entwickelt habe, ist längst vergessen.1 Sein ehrliches Engagement für die parlamentarische Demokratie der Weimarer Republik wird in Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit kaum noch bezweifelt.2 Man ist sich einig, dass er einen beeindruckenden Weg vom Berliner »Kneipenmilieu« zum deutschen Reichskanzler gegangen ist. Dabei habe er sich ständig weiter entwickelt, sei menschlich gereift, nachdem er durch Höhen und Tiefen (vor allem im Ersten Weltkrieg und in der Revolution von 1918/19) gegangen sei. Auf diese Weise wandelte sich der ehemals eingefleischte Monarchist in vorbildlicher Weise erst zu einem Republikaner aus Vernunft, dann aus Überzeugung und schließlich sogar mit dem Herzen.
Er entwickelte sich zum entscheidenden Mitgestalter des neuen demokratischen Staates, in Innen- und Außenpolitik, wurde zum genialen Kopf der Deutschen Volkspartei, die er (fast) zu einer Stütze der Republik formte. Er prägte als einer der wichtigsten Parlamentarier der Zeit die politische Kultur und hat, so die dominierende Meinung, als jüngster Kanzler die Republik im Jahre 1923 in ihrer Existenz gerettet. Die folgenden Jahre bis 1929 (in denen er immer als Außenminister die Republik vertrat) tragen in fast allen wissenschaftlichen und publizistischen Publikationen den Namen »Ära Stresemann«.
Aber damit nicht genug. Er leitete auch die Verständigung Deutschlands mit Frankreich ein, integrierte den Weimarer Staat mit dem Pakt von Locarno und dem Eintritt Deutschlands in den Völkerbund als gleichberechtigten Partner in die Gemeinschaft der Völker – und das gegen erheblichen innen- und außenpolitischen Widerstand. Die Verleihung des Friedensnobelpreises im Jahr 1926 war daher geradezu folgerichtig der verdiente Lohn. Sein früher Tod im Jahr 1929 bedeutete nicht nur für Familie und Freunde, sondern auch für die Republik und ganz Europa einen schweren Verlust. »Weimars größter Staatsmann« und ein großer Europäer war viel zu früh gestorben3.
Die Quellenlage gibt ebenfalls kaum Anlass für neue Studien.4 Materialien, die das gegenwärtige positive Bild ergänzen oder ihm widersprechen könnten, scheinen nicht zu existieren. Angesichts der über 60.000 Blätter allein im Nachlass Stresemanns (und den zusätzlichen Quellen, die durch seinen Sohn Wolfgang Stresemann der Forschung zur Verfügung gestellt wurden), den Unmassen von Akten seiner amtlichen sowie seiner eigenen regen publizistischen Tätigkeit, scheint das wohl auch nicht nötig zu sein.5 Stresemann ist offenbar bis in die letzten Regungen seines Wesens bekannt, sein privates Leben scheint ebenfalls nahezu vollständig ausgeleuchtet zu sein. Warum also eine weitere Biografie? Gibt es neue Befunde, neue Ansätze oder neue Perspektiven? Ja, es gibt sie!6
Das Übermaß an Kenntnissen, die scheinbare Sicherheit im Urteil, die nahezu übereinstimmenden Ergebnisse der Forschung, die einheitlich positive Bewertung von Mensch und Politik, eine solche Konstellation lädt zu einer Dekonstruktion geradezu ein, bietet eine Reihe bisher (noch) nicht genutzter Chancen. Eine neue, kritische Biografie kann auf die bisher erarbeiteten Forschungsergebnisse aufbauen, muss jedoch den scheinbar gradlinigen (und erfolgreichen) Weg des Bierverlegersohns zum Friedensnobelpreisträger nicht noch einmal chronologisch nachzeichnen.
Sie kann stattdessen auf einer empirisch gesicherten Basis experimentieren und bislang nicht verfolgte konzeptionell-methodische Ansätze aufnehmen. Sie kann kulturgeschichtliche Methoden verwenden, um das gängige Bild über Stresemann zu bereichern, zu erweitern oder infrage zu stellen. Sie kann konstruktivistische Ansätze und Ideen stärker nutzen, um auf diese Weise das offensichtlich nicht zu erschütternde Bild vom »guten« Stresemann aufzubrechen und zu dekonstruieren. Sie kann darüber hinaus gezielt intensive Interpretationen und dichte Beschreibungen7 verwenden, weitere Tätigkeitsfelder (etwa Wirtschafts- und Sozialpolitik, Kultur) noch intensiver erschließen und andere, neue Quellen(-sorten) einbeziehen, um so eine noch stärkere Verdichtung zu ermöglichen und Dekonstruktionen zu erleichtern.8
Eine neue Biografie kann schließlich auch verschiedene zeitliche Perspektiven für die Interpretation berücksichtigen, um auf diese Weise eine besondere Tiefenschärfe in der Analyse zu erreichen. Sie kann zeitübergreifende Aspekte herauskristallisieren, um so ein gleichzeitiges Vor- und Rückwärts oder aber einen permanenten Stillstand in Stresemanns Leben besser zu erkennen und damit die klassische Chronologie zu überwinden. Sie kann auf diese Weise ein bislang noch weitgehend unbekanntes Bild von Stresemann konstruieren.
Bislang konstruierten die meisten Biografien einen »zielgerichteten« Verlauf im Leben Stresemanns, einen scheinbar geraden Weg mit allerlei Verästelungen, aber doch ein Leben mit einer deutlichen Kontinuität, mit einem auf ein Ende hin ausgerichteten, in sich sinnvollen Ablauf. Den krönenden Abschluss dieses erfolgreichen Lebens stellten die mittleren Jahre der Weimarer Republik dar, die Mutation Stresemanns zum Demokraten, seine erfolgreiche Verständigungspolitik in Europa und schließlich die letzten Jahre bis zu seinem frühen Tod. Diese Biografie verfährt jedoch anders. Sie wählt für das Leben Stresemanns ein neues Modell der Beschreibung, in Anlehnung vor allem an die Überlegungen von Pierre Bourdieu, Niklas Luhmann und Henning Luther. Sie will damit in eine neue Dimension biografischer Konstruktion vorstoßen.
»Biografien sind«, so schlägt Niklas Luhmann vor, »eine Kette von Zufällen, die sich zu etwas organisieren, das dann allmählich weniger beweglich wird«.9 Es gibt insofern keine eindimensionale, gradlinige und sinnvolle, durch bewusstes eigenes Zutun entstandene Linie im Leben eines Menschen, die man auf ihren (eigentlichen) Sinn und ihr Ziel hin entschlüsseln und in diesem Sinne konstruieren könnte. Eine mögliche Kontinuität im Leben eines Menschen bestehe, so Luhmann, höchstens »in der Sensibilität für Zufälle«10 – mehr nicht. Folgt man dieser Auffassung so könnte es keinen sinnvollen Pfad in Stresemanns Leben geben. Die Konsequenz aus Luhmanns These hieße, nach einem »roten Faden« gar nicht erst zu suchen.
In Stresemanns Leben müssten dann die vielen Facetten und Aspekte im Einzelnen und jeweils für sich analysiert werden, ohne die Chance (aber auch den Wunsch) auf eine sinnvolle Einbindung in ein Ganzes, eben weil es diesen Sinn und dieses Ganze gar nicht gibt. Nur auf diese Weise könne man, so Luhmann, und mit ihm Pierre Bourdieu, der »biographischen Falle«11, der Konstruktion eines scheinbar stringenten und in sich stimmigen Lebensweges entgehen, der bis heute noch fast jede Stresemannbiografie erlegen ist.12
Allerdings kann ein Leben ohne Sinn wohl kaum eine Vorlage für eine Biografie sein. Sie wäre nicht nur schwer lesbar, sondern ein solcher Ansatz widerspräche auch dem narrativen Modell, dem die Geschichtswissenschaft insgesamt und damit jede wissenschaftliche Biografie verpflichtet ist. Ein solches Verfahren wäre vor allem mit der allgemeinen menschlichen Erfahrung von tatsächlich gelebtem Leben nicht kompatibel.13
Diesen scheinbaren Widerspruch gilt es also in der neuen Biografie zu überwinden. Es werden Möglichkeiten gesucht, der »biografischen Falle« zu entgehen und trotzdem eine strukturierte und lesbare Biografie zu schreiben, Stresemanns Leben eine Form zu geben, ohne (nur) die klassische Chronologie zu bemühen und gegenläufige Aspekte und vor allem das Element der Zufälligkeit zu vernachlässigen.
Drei verschiedene Ansätze, werden im Folgenden knapp vorgestellt, die jeweils auf eine eigene Art versuchen, den Wunsch nach »Konstruktion« und »Sinn« in einem Leben zugleich mit dem Element der »Unordnung«, des »Zufalls« und der »Sinnlosigkeit« zu verbinden, also auch Kontingenz zu berücksichtigen. Aus diesen drei Ansätzen wird die methodische Grundlage für diese Biografie Stresemanns erarbeitet.
Ein erster Ansatz lehnt sich an biologisch-psychologische Überlegungen an, die von einer gewissermaßen »normalen« menschlichen Entwicklung vom Kind hin zum Erwachsenen ausgehen. Der Maßstab und zugleich das Strukturmerkmal für Stresemanns Leben wäre dann der Grad, in dem er diesem Idealtypus des heranwachsenden und schließlich erwachsenen Menschen nahegekommen ist, inwieweit er sich diesem zumindest annähern konnte. Dieser konstruierte Idealtypus ist allerdings nicht als zeitübergreifende Konstante zu verstehen, sondern muss jeweils historisiert werden.
Der zweite Ansatz orientiert sich an der sozialen Akzeptanz, richtet sich auf das soziale Feld, in dem jeder Mensch lebt und agiert. Hier dient als Leitlinie, inwieweit Stresemann es erreichte, sich in diesem Feld zu etablieren, sich dort angemessen zu verhalten und zugleich von der Umgebung entsprechend akzeptiert zu werden. Man könnte dann von einer gewissen inneren und äußeren Harmonie im Sinne eines gelungenen Lebens sprechen, wenn beide, Stresemann und seine Umwelt, dieses positive Gefühl teilten.
Ein dritter Ansatz, eng verbunden mit dem zweiten, besteht darin, den von Stresemann immer wieder unterstrichenen und ihn sein Leben lang beherrschenden Wunsch als Leitlinie und Maßstab zu nehmen, seine soziale kleinbürgerliche Schicht zu verlassen, den Aufstieg zu schaffen, nach »oben« zu kommen und ein ökonomisch, sozial, kulturell und politisch geachteter Bürger in einer bürgerlichen Gesellschaft zu werden. Der Kampf um und die Annäherung an dieses Ziel (das sich bei Stresemann weitgehend an der Gesellschaft des Kaiserreiches orientierte) wäre ein wichtiges Merkmal für die Konstruktion seines Lebens.
Grundsätzlich scheint es sinnvoll und möglich, sich bei einer Biografie an den Entwicklungsgängen eines als idealtypisch konstruierten Menschenlebens zu orientieren. Dieses verläuft in der Regel von der Geburt über die Phasen Kindheit, Jugendlichkeit, Erwachsensein bis hin zu Alter und Tod.14 Neben den biologischen Faktoren, die dieses Leben bestimmen, kann man ihm mehr oder weniger genau psychische und soziale Entwicklungen sowie bestimmte Dispositionen zuschreiben, die für die jeweiligen Perioden in der Psychologie, aber auch im jeweiligen allgemeinen gesellschaftlichen Empfinden, als angemessen und spezifisch gelten.15
Es werden dabei also Kategorien verwendet, die einem jeweils akzeptierten Wertekonzept entsprechen, partiell stabil sind, sich aber im Laufe der Zeit ändern können. Von dem Typus »erwachsener Mensch« wird etwa erwartet, dass er, im Vollbesitz der körperlichen und geistigen Kräfte, sein Leben selbstständig nach eigenen Vorstellungen gestaltet, ein relativ stabiles Bild von der Welt besitzt und von der Rolle, die er darin einnehmen könnte. Diese Vorstellung kann dynamisch sein, aber sie schwankt in der Regel nicht mehr beliebig, verändert sich nur noch selten grundsätzlich. Zu einem solchen Zustand gehörte, dass der Mensch sich mit den gegebenen Umständen angemessen auseinandersetzt, sie reflektiert, sich mit ihnen arrangiert und dass er bereit ist, die Umstände anzunehmen oder aber sich gegen sie zu wehren.16
Das Modell geht ferner davon aus, dass die Akzeptanz von Werten und Normen mit einem gewissen Reifegrad nicht mehr beliebig variiert, sondern diese in einem langen Prozess erarbeitet, gefunden und dann als leitend übernommen werden. Die Werte und Normen werden daher nur in Ausnahmefällen und nur noch unter besonderen Umständen noch einmal geändert. Zu den idealtypischen Attributen gehören etwa Verantwortungsbewusstsein gegenüber sich selber und der Familie, aber auch gegenüber dem Beruf und der Gesellschaft, sowie die Fähigkeit, einen eigenen Lebensstil finden und nach innen und außen hin behaupten zu können.17
Zu fragen wäre daher, inwieweit Stresemann in seinem Leben diesem Idealtypus nahe gekommen ist und ob ihm das nur partiell oder zeitweilig gelang. Wichtig wäre zu wissen, zu welchem Zeitpunkt oder in welcher Periode, in welchem Bereich (politisch, ökonomisch, kulturell, persönlich usw.) das geschah. Passten diese Perioden zugleich in seinen äußeren (gesundheitlichen, politischen, ökonomischen, familiären) Lebensweg?
Vor allem wäre zu untersuchen, welches die ihn begleitenden, tragenden Werte, die – einmal ausgeprägt – kaum noch zu verändernden Dispositionen waren. Gab es grundsätzliche Defizite, vielleicht zeitliche Verschiebungen, Dissonanzen, Rückschritte oder gar absolute Leerstellen?18 Kann man möglicherweise gravierende gesellschaftliche (aber auch persönliche) Brüche feststellen, die Stresemann zu bewältigen hatte und die in dieses eher auf Kontinuität gebaute Bild vom Menschen nicht recht einzuordnen sind?
Es gibt zweifellos gesellschaftliche Maßstäbe und Rahmenbedingungen, in die jeder Mensch eingebunden ist. Auf Stresemann und sein Leben bezogen, wäre also zu untersuchen, in wieweit Stresemann den gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Normen und Ansprüchen genügen konnte.19 Entsprach sein Leben dem Ideal einer bürgerlichen Welt des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts oder aber (und aus welchen Gründen) nicht? Gab es unterschiedliche Normen, die sich im Laufe der Geschichte oder in Stresemanns Leben maßgeblich veränderten? Wie ging Stresemann damit um und gab es deutliche Dissonanzen?
Demgegenüber standen die gesellschaftlichen Erwartungen: Was forderte(n) die jeweilige(n) Gesellschaft(en) von ihm, als Aufsteiger, als Familienvater, als Bürger, als Politiker, als Wirtschaftspolitiker und Unternehmer? Inwieweit (wann und wann nicht?) erfüllte Stresemann diese Ansprüche?20 Fand er sich in diesem komplexen Feld der von ihm erwarteten flexiblen Rollen zurecht oder sprengte er sie? Welche Folgen hatte das im gesellschaftlichen Kontext und was bedeutet das für Stresemann selber? Konnte er die eigene Lebensweise mit den äußeren Erwartungen in Einklang bringen?
In diesem Zusammenhang spielt Stresemanns soziale und kulturelle Platzierung, also der Lebenskontext, dem er entstammte, eine entscheidende Rolle. Damit ist der dritte Ansatz, der erstrebte soziale Aufstieg angesprochen, der in vielem mit dem zweiten verknüpft ist und der in dieser Biografie einen breiten Raum einnimmt.21
Stresemanns Leben wurde vor allem dadurch geprägt, dass er, so die These dieser Biografie, die gesellschaftliche, politische, kulturelle und ökonomische Position, in die er hinein geboren wurde, ablehnte und diese schon sehr früh verlassen wollte. Er schätzte durchaus die Arbeit und die Arbeiter, auch den unteren Mittelstand. Es gab bei ihm insofern keinen Dünkel oder Hochmut. Trotzdem aber ging es ihm darum, das kleinbürgerliche Milieu seiner Familie zu verlassen. Daran arbeitete er seit seiner Schulzeit; das prägte ihn und sein Leben.22
Der gewünschte Milieuwechsel zwang ihn jedoch, in einer ihm unbekannten neuen Umgebung zu agieren, sich in neuen Lebensumständen zu bewegen, die für ihn von seiner frühen Sozialisation her ungewohnt und unbekannt waren, in denen er aber nun (vielleicht?) tief verunsichert sein Leben persönlich, aber zugleich auch sozial verträglich gestalten musste. Für diese besondere Lage bietet sich der Topos des »Grenzgängers« an.23 Sein Leben lang musste Stresemann an seine Grenzen gehen, an Grenzen agieren und zugleich Grenzen überschreiten.
Es schien ihm nach relativ kurzer Zeit zwar zu gelingen, in einem neuen, gehobenen Milieu, unter erfolgreichen Politikern, Geschäftsleuten und Bildungsbürgern zu leben. Zu diesem Milieu gehörte er selber aber (noch) nicht ganz, würde wahrscheinlich nie völlig dazu gehören, was er mit scharfer Witterung erkannte. Er fühlte sich insofern fast immer unsicher, wie sehr er sich zeit seines Lebens bemühte, sattelfest (vielleicht auch besonders angepasst?) zu sein.24 Ständig musste er an sich arbeiten, konnte sich nirgendwo »zu Hause« fühlen. Ein in sich stabiles und ruhendes, ungefährdetes Leben zu führen, war für ihn daher nicht einfach; er sah immer die Gefahr, als Außenseiter verlacht oder ausgeschlossen zu werden. Diese Situation machte ihn zugleich stark vom Urteil anderer abhängig. Das war sicherlich kein Leben im Sinne des Idealtypus von Henning Luther.25
Die Frage ist daher, wie Stresemann mit dieser tiefen Unsicherheit umging. Zwar gab es im Kaiserreich und der Weimarer Republik auch andere Aufsteiger, die mit ähnlichen Problemen zu kämpfen hatten. Insofern steht Stresemann paradigmatisch für eine ganze Kohorte von jungen Männern.26 Ähnlich wie ihm ging es z. B. den Aufsteigern aus der Arbeiterklasse, die in der Weimarer Republik plötzlich Minister wurden. Diese konnten sich jedoch, das war ihr Vorteil gegenüber Stresemann, in ihren neuen Positionen in ein festes sozialdemokratisches Milieu eingebunden fühlen, das ihnen Halt gab. Stresemann hingegen gehörte keinem stabilen sozialmoralischen Milieu an.
Zu analysieren wäre allerdings, ob diese Existenz, diese ständige Sensibilität und das dauernde Zweifeln an sich selbst, aber auch an anderen, nur eine Schwäche war oder aber ob sie nicht zugleich eine Stärke sein konnte, ob sie Stresemann vielleicht einen besonders scharfen Blick, nämlich die Sicht »von außen«, verlieh. War sie vielleicht immer beides, Stärke und Schwäche? Bildete der permanente Wunsch, die alte Existenz abzulegen oder zu überwinden, endlich in der neuen Existenz »angekommen« zu sein, vielleicht (trotz der Argumente Luhmanns und Bourdieus) einen »roten Faden« in seinem Leben, einen Anhaltspunkt für seine Biografie?
In jedem Fall: Das Ziel, den gesellschaftlichen und ökonomischen Aufstieg zu schaffen und ein geachteter und glücklicher Bürger in einer von ihm als bürgerlich definierten Gesellschaft zu werden, hat sein Leben wohl stärker als jeder andere Faktor bestimmt.27 Er hoffte, dies im privaten Bereich, in der Öffentlichkeit, in seinem ökonomischen und politischen Wirken und auch in seiner Arbeit zu erreichen. Sein ganzes Leben kann man daher unter dem Satz zusammenfassen: »Ein Mann will nach oben und ein geachteter Bürger werden«.28
Dabei ist zugleich von großer Bedeutung, was Stresemann jeweils unter »oben« und »Bürgertum« verstand, welche konkreten Utopien er etwa mit dem Begriff Bürgertum verband, ob es das Bürgertum in der kaiserlichen Gesellschaft oder aber ein liberales Bürgertum in einer parlamentarischen Demokratie war, ob es politisch offen nach »links« oder eher nach »rechts« sein sollte und nicht zuletzt, ob Stresemann im Laufe der Zeit vielleicht in seinen Vorstellungen schwankte.29
In diesem Kontext führen die Theorien von Pierre Bourdieu weiter, die sich u. a. um die Begriffe Habitus, soziales Feld, Kapital und Klasse ranken. Mit Kapital ist bei Bourdieu die Verfügungsgewalt über bestimmte Ressourcen gemeint. Zu diesen gehört als erstes ökonomisches Kapital im Sinne von Verfügungsgewalt über Geld und andere ökonomische Mittel. Es ist zugleich eine wichtige Basis für den Erwerb anderer Kapitalsorten. Hier ist etwa das soziale Kapital zu nennen, also die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. Schließlich, und für den Weg Stresemanns besonders wichtig, sind sowohl das kulturelle, also das »Bildungskapital« als auch das »symbolische Kapital«, das die Chance bezeichnet, soziales Prestige und soziale Anerkennung zu gewinnen.
Alle Kapitalsorten sind prinzipiell von gleichem Wert und unter bestimmten Umständen untereinander austauschbar. Ökonomisches Kapital kann gegebenenfalls in soziales Kapital und dieses wiederum in kulturelles Kapital transferiert werden. Das ist aber (gerade was kulturelles Kapital angeht) nicht einfach, manchmal unmöglich. Die Bemühungen der jeweiligen (alten) Kapitalbesitzer zielen in der Regel darauf ab, sich abzugrenzen und den Zugang zu der eigenen Gruppe zu erschweren. Der Kampf um die Aufnahme in eines dieser Milieus ist daher langwierig, womöglich schmerzhaft – und das Ziel wird unter Umständen nie erreicht. Damit musste sich Stresemann zeit seines Lebens auseinandersetzen.
Erst alle Kapitalsorten zusammen ordnen deren Besitzer ins »soziale Feld« ein. Dieses hat nach Bourdieu gewissermaßen eine »doppelte Existenz«. Es ist zum einen in den Köpfen vorhanden und zum anderen in der Realität. In diesem Kontext ist der Begriff des Habitus von großer Bedeutung. Der Habitus eines Menschen, also ein Ensemble von früh und langfristig erworbenen Dispositionen, beeinflusst seine Wahrnehmungen und strukturiert sie zugleich entscheidend. Er hilft zur Orientierung in der bestehenden konkreten Welt, ist allerdings jeweils durch gewisse Denkschemata geprägt (Normen, ästhetische Maßstäbe, Geschmacksfragen u. ä.). Er »präformiert« dadurch die Handlungen der Menschen in einem bestimmten Sinne.30
Der jeweilige Habitus ist jedoch nicht angeboren, sondern wird durch die Sozialisation ausgebildet, ist dadurch gewissermaßen in »Fleisch und Blut« übergegangen. Er ist »ein Stück verinnerlichter Gesellschaft, deren Strukturen durch Sozialisation einverleibt werden. Er leitet die Akteure zu Praxisstrategien an […]«31. Auf Stresemann und sein Leben bezogen heißt das: Stresemann wollte sein (kleinbürgerliches) Milieu aus dem er stammte verlassen und in ein neues bürgerliches Milieu eintauchen, musste damit aber auch den entsprechenden Habitus erwerben.
Um als gleichwertiger Bürger unter Bürgern bestehen zu können, reichten Vermögen und Besitz sowie politische Geltung, die Stresemann recht bald besitzen sollte, jedoch nicht aus. Nicht nur im Deutschland des frühen 20. Jahrhunderts waren »kulturelles Kapital« und der entsprechende bürgerliche Habitus nötig, um wirklich »dazu« zu gehören, also u. a. der Besitz von Bildung und Wissen, von Geschmack und ästhetischer Urteilskraft, aber auch von formalen Bildungstiteln oder Kunstwerken. Wichtig ist hierbei, wie erwähnt, dass Habitus und internalisiertes kulturelles Kapital, also die auf einem relativ dauerhaften, fest verankerten Ensemble kultivierter Dispositionen basierende Fähigkeit, sich in der »feinen Gesellschaft« angemessen zu bewegen, einen lang andauernden Verinnerlichungsprozess voraussetzen. Gerade hier aber besaß Stresemann erhebliche Defizite.
Berücksichtigt man diese Überlegungen passt das Leben Stresemanns statt auf eine gerade Linie eher in ein Feld, in dem Bourdieu in seinen Theorien die Menschen und ihr Leben positioniert.32 Dort finden Zeit, Raum und agierendes Subjekt nahezu gleichwertig Platz. Dieses Feld ist allerdings nicht hermetisch nach außen abgeschlossen, sondern es ist permeabel. Es ruht, oder aber bewegt sich, in einem Umfeld, das seinerseits auf das Feld und die Akteure, die darin soziale Positionen besetzen, zurückwirkt, aber auch von ihm beeinflusst wird, und zwar in allen Bereichen menschlichen Lebens. Stresemanns Leben ist dann, folgt man diesem Bild, in ein Geflecht von Bezügen, Phasen und Entwicklungen auf verschiedenen Ebenen eingebunden.
Diese Biografie richtet Stresemanns Leben nicht erneut nach seinem politisch erfolgreichem und in vielem scheinbar geradlinig verlaufenem Leben aus. Sie räumt der kulturellen und zugleich der ökonomischen Komponente einen gleich wichtigen Rang ein, sie reflektiert über seinen Habitus, über dessen mögliche Veränderung und beachtet das soziale Feld, in dem Stresemann jeweils agierte. Sie würdigt zudem parallel verlaufende Lebensaspekte und -bereiche jeweils für sich und stellt sie nicht von vornherein in einen sinnstiftenden Zusammenhang. Sie versucht dem Zufall einen angemessenen Platz einzuräumen.
Die Faktoren, die das Leben Stresemanns beeinflusst haben, sollen daher nicht durchgängig an sinnvollen Handlungsabläufen oder politischen (Aufwärts-)Bewegungen abgelesen werden, sondern als latent in den meisten seiner Tätigkeiten und Lebensäußerungen wirkende Momente. Es können also Augenblicke sein, in denen Stresemann selber fühlte, am Ziel seiner Wünsche zu sein. Es müssen vor allem nicht immer die bekannten »großen Ereignisse« sein. In solchen (Glücks-)Momenten träfe dann idealtypisch das »Erwachsenwerden« zusammen mit einer inneren Übereinstimmung und Zufriedenheit, sowie der äußeren sozialen Integration und Anerkennung.33
Bestimmte, feststellbare Abfolgen (etwa in Politik und Ökonomie) können insofern nicht automatisch als notwendige Stufen auf einem geraden Weg nach »oben« interpretiert werden. Genauso bedeutend sind vielmehr auch »absteigende Linien« oder aber scheinbar ziel- und sinnlos verlaufende, nur schwer einzuordnende Ereignisse und Ereignisketten, die quer zu den anderen Dimensionen angesiedelt sind und nichts miteinander zu tun zu haben scheinen.
Die Analyse Stresemanns aus der Perspektive eines Arztes etwa zeigt sein Leben als ein gesundheitliches Auf und Ab, mit einer eindeutigen langfristigen Tendenz zu einem vorhersehbaren frühen Ende.34 Dieser Abstiegstendenz steht der anscheinend unaufhaltsame politische Erfolg gegenüber. Die Konsequenz daraus kann nur lauten: Beides, den immer drohenden Tod, also den gesundheitlichen Abstieg, und die anscheinend unaufhaltsame politische Karriere, also den Aufstieg, gleichermaßen zu würdigen und beide dann (eventuell) miteinander zu verbinden.
Die Biografie versucht, diesem Ansatz in Aufbau, Struktur und Stil zu entsprechen. Sie wird unabhängig von den zu untersuchenden Inhalten, durch Quereinschübe, Passagen »dichter Beschreibung«, durch strukturorientierte Kapitel, durch umfangreiche Bild- und Textinterpretationen, ja auch konkrete Quelleninterpretationen geprägt und aufgelockert. Das »geradlinige Bild« wird also so oft wie möglich durch die Art der Darstellung gebrochen, die versucht sich in Stil und Formen dem hier favorisierten biografischen, eben nicht unilinearen Ansatz anzupassen. Bei einer solchen Art von »Collage« steht dann die Interpretation von Stresemanns Gedichten neben seiner Krankengeschichte, verbindet sich die Analyse seiner Stimme mit der Untersuchung seiner Beziehungskreise. Vor allem: Kultur, Ökonomie und Politik stehen gleichwertig nebeneinander – und sind doch multiperspektivisch miteinander verbunden.35
Die bisherige Stresemannliteratur konzentriert sich vor allem auf den Politiker, und zwar den Weimarer Politiker: So nimmt etwa in der wegweisenden Biografie von Jonathan Wright die Tätigkeit Stresemanns in Sachsen, zeitlich immerhin fast die Hälfte seiner aktiven beruflichen und politischen Laufbahn, gerade einmal 16 von 666 Seiten ein. Das ist eine deutliche Unverhältnismäßigkeit. Zu fragen ist jedoch, ob zu dieser frühen Zeit wirklich nicht mehr zu sagen ist, ob ein solcher Ansatz tatsächlich dem gesamten Leben Stresemanns (und nicht nur dem nach außen glänzenden kurzen Politikerleben in der Weimarer Republik) gerecht wird.
Im Gegensatz zu einer solchen weimarlastigen Konstruktion stellt die »sächsische Periode« jedoch, und das ist ein zentraler Aspekt dieser Biografie, einen immens wichtigen Teil seines Lebens dar, nicht nur, was die zeitliche Dauer angeht, sondern auch wegen der Bedeutung für die Gestaltung seines Lebens und der Ausbildung seiner Grundüberzeugungen in den verschiedensten Bereichen.
Zweifel wirft auch die gegenwärtige Deutung Stresemanns als vorbildlich demokratisch-republikanischen Staatsmannes auf, die kaum Ambivalenzen zulässt. Erst war Stresemann Monarchist, dann gewandelter Republikaner. An dieser Erkenntnis wird nicht (mehr) gerüttelt. Warum aber, so wäre zu fragen, gibt es diese Scheu vor der Ambivalenz und warum kein konsequentes Nebeneinander des Ungleichzeitigen, des scheinbar Unvereinbaren? Zweifellos gab es ein Arrangement Stresemanns mit der Weimarer Demokratie. Mehr aber war es nicht, was ihn an Weimar band. Im System des Kaiserreiches hingegen hatte er einen unvergleichlichen Aufstieg erlebt, hatte Erfolge mit seiner Reformpolitik gehabt.
Er hatte das System geliebt – und liebte es noch nach der Revolution von 1918/19. Stresemann akzeptierte zwar die Republik, sein Herz aber schlug monarchisch, und zwar sein Leben lang. Er dienerte lieber vor dem Kronprinzen als dass er einer weiteren Stärkung radikal-demokratischer Politik zugestimmt hätte. Für eine konsequente Demokratisierung von Staat und Gesellschaft hätte er aber ein »brennender Demokrat« sein müssen. Das aber war er bis zu seinem Tode nie. Das ist zu problematisieren.
Ähnliche Ambivalenzen wirft Stresemanns unverhohlener Hang zum Militärischen auf. Das Militär stand für Stresemann in seinem Wert immer vor einer funktionierenden Demokratie. Dieser heimlichen Liebe war er auch in Weimar treu, trotz ihrer antidemokratischen Vorstellungen.
Stresemann war aber nicht nur ein Politiker, sondern zugleich auch ein Ökonom, ein Lobbyist. Er wurde recht bald ein reicher Mann. Diesen wichtigen Aspekt seines Lebens gilt es ebenfalls angemessen zu berücksichtigen. Er besaß umfangreiches ökonomisches Kapital im Sinne Bourdieus, vor allem in seiner sächsischen Zeit. Zu fragen aber wäre, wie er reich wurde und wie er sich dabei fühlte, was ihm ökonomische Macht bedeutete, wie er damit umging, wozu er sie verwendete und ob er damit vor allem soziales und kulturelles Kapital eintauschen wollte. In der Standardliteratur gibt es auf diese Fragen nur beiläufige Antworten.
Die enge, auf die Politik fokussierte Konstruktion gilt es also zu überwinden, zugunsten einer Gleichberechtigung der drei Sphären Ökonomie, Kultur und Politik. Folgt man diesem Ansatz, wird etwa im Bereich der Ökonomie ein raffinierter und erfolgreicher Geschäftsmann sichtbar, der häufig, nicht immer, an den Grenzen der Legalität operierte und Politik und Geschäft glänzend miteinander zu verbinden verstand, um auf dieser Basis Bürger unter Bürgern zu werden. Wer den sächsischen Syndikus Stresemann nicht genau analysiert, der wird wenig von dem Weimarer Politiker Stresemann verstehen.
Mit dem kulturellen Aspekt des bürgerlichen Lebens setzte sich Stresemann sehr intensiv auseinander, weil er ihm von seiner Herkunft her besonders fremd war. Er bedeutet ihm viel, vielleicht sogar mehr als die politischen und ökonomischen Erfolge. Er versuchte sich daher als Dichter, Schriftsteller und Literaturkenner, bis an sein Lebensende. Nur wer Stresemann hier ernst nimmt, seine literarischen Erzeugnisse genau analysiert, seine Inszenierungen als Bildungsbürger beachtet und als wichtigen Teil seines Selbst- und Weltbildes anerkennt, nur wer seinen Wunsch ernst nimmt, kulturell »dazu« zu gehören, kann die ganze Breite seines Lebens wenigstens ansatzweise ausleuchten.
Zum Kulturbürger Stresemann gehört, sein Leben auch unter geschlechtergeschichtlichen Aspekten zu würdigen: Stresemann, ein eher weicher Mann, nicht auf den ersten Blick sympathisch wirkend, anscheinend glücklich verheiratet, Vater in einer Musterfamilie.36 Das war das eine. Zugleich ist aber der Wunsch ständig virulent nach Geborgenheit außerhalb der Familie, entweder in der deutschen »Volksgemeinschaft« oder aber in echten »Männergesellschaften«. Man denke nur an die Burschenschaften, die »Dresdner Liedertafel« oder die Freimaurer.
Wenn er aber Männergesellschaften so heiß liebte: Wie musste er sich in der Weimarer Republik fühlen, wenn er als Ungedienter ausgestoßen blieb aus den Kreisen der »Krieger« des Ersten Weltkrieges, an dem er eben nicht aktiv an der Front teilgenommen hatte? Vielleicht speist sich aus dieser unerfüllten Sehnsucht seine starke Affinität zu »rechten« Männern und zum Militär, auch in der Weimarer Republik. Inwieweit prägte das seine Politik?
In dieses Ensemble von bürgerlichen Werten gehört u. a. sein Frauenbild. Trotz aller Liberalität im wirtschaftlichen und politischen Bereich: Über 30 Jahre hinweg, und das nahezu kontinuierlich, im Gegensatz zu manch anderer seiner politischen Vorstellungen, favorisierte Stresemann ein Frauenbild, das aus dem Bürgertum des 19. Jahrhunderts stammte und in dem die moderne emanzipierte Frau kaum einen Platz besaß. Auch das ist eine mögliche Konstante in seinem Leben. Noch in der Weimarer Republik reproduzierte er zumindest verbal (alte) bürgerliche Normen und Werte. Sein praktisch gelebtes Frauenbild zeigt hingegen ein deutliches Spannungsverhältnis zwischen Modernität, Reformfreude und tiefstem Konservativismus, ein Spannungsverhältnis, das auf anderen Stresemann’schen Wirkungsfeldern ebenfalls prägend war.37
Das Leben Stresemanns ist also viel bunter, vielgestaltiger und vor allem weniger folgerichtig verlaufen, als es bisher beschrieben wurde. Es gibt eine Fülle unbekannter Facetten, die unberücksichtigt geblieben sind, weil sie bislang nicht notwendig waren, um das gängige, einen zielgerichteten Lebenslauf konstruierende Bild zu stützen. Sie sind aber ebenso wichtig, wie die bekannten Seiten Stresemanns. Genau darum aber geht es in dieser Biografie: Sie will dieses scheinbar in sich feste Bild aufbrechen, es dekonstruieren und neue Sichtweisen hinzufügen.
1Seit dem Jahr 2002 erschienen drei neue Biografien: Wright, Stresemann; Kolb, Stresemann und Birkelund. Vgl. dazu Pohl: New Literature.
2Vorzügliche Zusammenfassung dieser Position durch Krüger, Zur europäischen Dimension.
3So Jonathan Wright als Titel seiner Biografie, Wright, Stresemann. Zur Darstellung Stresemanns als Europäer vgl. u. a.: Duchhardt.
4Der Nachlass Stresemanns befindet sich seit Mitte der 1950er Jahre im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes (PA AA) in Berlin. Er ist (fast) komplett verfilmt, leicht erwerbbar und steht der Forschung ohne jede Einschränkung zur Verfügung.
5Vgl. dazu schon sehr früh Walsdorff, Bibliographie.
6Vgl. dazu Pohl, Überlegungen zu einer neuen Biographie; ders., A German Bürger und ders., Zur Konstruktion einer neuen Biographie.
7Mit dem von Clifford Geertz eingeführten Begriff »dichte Beschreibung« meine ich hier entweder eine verdichtete Beobachtung und Darstellung kommunaler Ereignisse in einem sehr begrenzten Zeitraum (Dresden 1903) oder aber eine Komprimierung von Forschungsergebnissen bezogen auf ein konkretes politisches Problemfeld (Politik von Locarno); vgl. Geertz; Kaschuba, S. 252 f.
8Zum Stand der biografischen Forschung zuletzt Harders; Etzemüller; Lässig, Biography in Modern History und Dieselbe: Die historische Biographie. Interessante Anregungen von Volker Ullrich in Ullrich.
9Luhmann, Short Cuts, S. 32; vgl. S. 16 »Eine Biographie ist eine Sammlung von Zufällen, das Kontinuierliche besteht in der Sensibilität für Zufälle.«
10Ebd., S. 16.
11Bourdieu, Die biographische Illusion.
12Vgl. etwa Kolb, Stresemann, S. 6 ff.
13Luther, Identität und Fragment.
14Vgl. in diesem Zusammenhang die verschiedenen Studien von Erikson, der diesem Aspekt eine besondere Beachtung geschenkt hat. Erikson, Identität; ders., Lebensgeschichte und historischer Augenblick.
15Vgl. dazu den psychohistorischen Ansatz von Peter Loewenberg: Loewenberg, Decoding the Past.
16Luther, Identität und Fragment.
17Erikson, Identität, S. 114 ff. Im Gegensatz zu Erikson wird hier aber kein bindendes Raster gesucht. Es geht vielmehr nur um eine Folie, auf der sich das Leben Stresemanns ausbreitete, die aber in manchem durchaus diffus und unscharf sein kann.
18Luther, Identität und Fragment, S. 160–182.
19Zu diesem Kontext vor allem Pierre Bourdieu in seinem Gesamtwerk. Zur Einführung: Schwingel.
20Zur gesamten Problematik der Außenleitung vgl. schon Riesman.
21Dieser Aspekt spielt in der bisherigen Biografik kaum eine Rolle. Eine Ausnahme bildet die Biografie von Koszyk, Stresemann, der diesen Ansatz jedoch nicht systematisch verfolgt.
22So zuletzt Birkelund, S. 19 ff.
23Pohl, Überlegungen zu einer neuen Biographie.
24Hierfür gibt es eine Fülle von Belegen. So kann man etwa seine Liebe für den Bierkeller (und nicht das elegante Weinrestaurant), den Wunsch, unter »einfachen Leuten« zu sein (Mitgliedschaft im Sängerbund), unter diesem Gesichtspunkt würdigen. Gleiches gilt für die volkstümliche Dichtung und seine Vorliebe für das Volkslied.
25Luther, Identität und Fragment.
26Vgl. hierzu etwa Dowe u. a. Beispiele von erfolgreichen Frauenkohorten in dieser Zeit gibt es kaum.
27Zum Bürgertum im Kaiserreich und in der Weimarer Republik zusammenfassend Lundgreen; ferner A. Schulz, Lebenswelt und Kultur.
28Ein Teil dieses Satzes wurde bereits von Hans Fallada in einem berühmten Roman aus den 20er Jahren verwendet.
29Zum Bürgertum als kulturelles Phänomen, u. a. Hettling u. Hoffmann.
30Schmuhl, S. 134 ff.; danach die folgenden Gedanken.
31Reichardt, S. 73 ff.; danach die folgenden Gedanken.
32Vgl. dazu nur Bourdieu, Sozialer Raum und »Klassen«.
33Solche sehr ins Persönliche gehende Aspekte sind immer schwer zu beantworten. Im Falle Stresemann gilt dies in besonderem Maße, da als Material für eine solche Analyse vor allem sein eigener Nachlass infrage kommt. Es ist aber nahezu unmöglich, die gesuchten Aspekte aus solchen Quellen heraus zu präparieren, ohne dass der Biograf dabei den Suggestionen des Nachlasses und den Intentionen des Nachlassers erliegt. Daher wird diese Biografie nicht nur die von Stresemann selber (von ihm für die Nachwelt präparierte) Eigendeutung in seinem Nachlass, sondern auch andere Quellen außerhalb seiner Eigendarstellungen analysieren, Quellen, die von der Forschung bisher häufig nicht genutzt wurden. Das Paradebeispiel für eine solche (unnötige) Selbstbeschränkung ist Birkelund, der keinerlei Quellen jenseits des Nachlasses und des Auswärtigen Amtes genutzt hat.
34Vgl. hierzu vorläufig die knappen Mitteilungen des ihn zuletzt behandelnden Arztes, Zondek, Auf festem Fuße.
35Die Biografie berücksichtigt zugleich verschiedene gesellschaftliche Felder, etwa sein engeres Umfeld, also die ihm nahe stehenden Kreise (Familie und Freunde), das weitere Umfeld, also die allgemeine Sozialgruppe, der er zugehörte (das Kleinbürgertum) oder der er sich zuzuordnen wünschte (das Bürgertum) und sein berufliches Umfeld (Industrie), die Nation und die Politik (die er als Abgeordneter und handelnder Politiker repräsentierte) und schließlich die »deutsche Volksgemeinschaft«, die er liebte und nach der er strebte.
36Vgl. dazu nur W. Stresemann, Mein Vater.
37Bezeichnend hierfür sein Brief an seine Parteigenossin Frau Dr. Bünger vom 11.2.1928, PA AA Berlin, NL Stresemann 228, in dem er sich ausführlich zur Frauenbewegung und über die Rolle der Frau in der Gesellschaft äußerte. Vgl. dazu das Unterkapitel: »Der bürgerliche Wertehimmel«.
1. Ein Leben
»Meine Eltern heirateten am 20. Oktober 1903. Die Trauung wurde in der Ende des 19. Jahrhunderts erbauten Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche vollzogen. Es folgte ein höchst opulentes Essen im »Englischen Haus« der Restauration A. Huster, Mohrenstraße 49.[…] [Das Hochzeitsmahl] bestand aus fünf Gängen, bei denen man jeweils die Wahl hatte zwischen Geflügelsuppe oder Kraftbrühe, Steinbutt oder Rheinlachs, Rinderfilet oder Hammelrücken, Hummer oder Gänseleberpastete, Fasan oder Rehrücken, und natürlich fehlten das obligatorische Gemüse, Salate und eingelegte Früchte nicht. Das kulinarische Leistungsvermögen unserer Vorfahren muss sehr groß gewesen sein. Denn nun folgten auch noch »Verschiedene Eisspeisen in Figuren«, Käsebrötchen und Chesterkuchen sowie Früchte und Nachtisch. Zu trinken gab es Sherry, Portwein, deutsche und französische Weine aus den Jahrgängen 1891, ’92 und ’93. Auch ein Programm wurde dargeboten […], neben dem Tanz gab es einen Sketch ›Das erste Mittagessen‹ […]«.1
So oder so ähnlich könnte sie inszeniert worden sein, die Hochzeit von Dr. Gustav Stresemann und seiner Frau Käte, geborene Kleefeld, am 20. Oktober 1903 in Berlin. Eine fröhliche Hochzeit mit einem opulenten Mahl und guten Weinen, gefeiert von einer feinen Gesellschaft, mit Tanz und Spiel. Im Mittelpunkt: Gustav S., ein junger, aufstrebender, kluger, geliebter und liebenswerter Mann, und Käte Kleefeld, jetzt Frau Dr. Käte S., eine junge und schöne, zudem eine durchaus vermögende Frau.
Beschrieben wird hier das Bild eines gelungenen Festes, aufgezeichnet zur eigenen Erinnerung, aber zugleich zur Erinnerung für die Freunde, die Zeitgenossen und besonders für die Nachwelt.2 Nichts ist von möglichen Dissonanzen zu spüren, nichts von einem jungen, unsicheren Emporkömmling zu bemerken. Es dominieren gutbürgerliche Gediegenheit und Geselligkeit – und Freude. Fast scheint Sohn Wolfgang, der die Hochzeit seiner Eltern so liebevoll porträtierte, dabei gewesen zu sein, scheint die Wünsche des Vaters erahnt und in seiner Beschreibung wieder gegeben zu haben.3 Insofern stellt das Bild geradezu die Inkarnation eines schönen Familientraumes dar.
Abb. 1: Käte Stresemann (1883–1979) mit dem älteren Sohn Wolfgang (1904–1998)
Wolfgang Stresemann nutzte als Quellen für die Beschreibung allerdings nur mündliche Überlieferungen4, wenige Hinweise von Rudolf Schneider,5 dem alten Vertrauten Stresemanns, sowie ein Einladungsschreiben zur Hochzeit der Eltern. Die Hauptquelle dürften seine Eltern, und hier besonders Vater Gustav, gewesen sein.
Vieles bleibt daher offen. Warum fand die Hochzeit in Berlin statt und nicht in Stresemanns neuer Heimat Dresden, wo er sich gerade etabliert hatte? Wer waren die Gäste? Wer finanzierte die Feier?6 Wie verstanden sich die beiden Familien, die »Bierverleger« und die vermögenden, zum Protestantismus konvertierten jüdischen Kaufleute? Waren die Geschwister Stresemanns anwesend? Wie mochte sich etwa der alkoholkranke Bruder Richard angesichts der auserlesenen Weine verhalten?
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