Halbschatten - Uwe Timm - E-Book

Halbschatten E-Book

Uwe Timm

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Beschreibung

Eine junge Fliegerin, Marga von Etzdorf, erschießt sich im Mai 1933 in Aleppo, Syrien, nach einer Bruchlandung. Sie ist 25 Jahre alt. Ihr Grab liegt auf dem Berliner Invalidenfriedhof. Was hat sie hier, zwischen den Toten der preußischen Militärgeschichte, NS-Größen und zivilen Opfern der letzten Kriegstage, zu suchen? Gibt es eine Erklärung für ihren gewaltsamen Tod? Der Stadtführer, der Uwe Timms Erzähler über den Invalidenfriedhof geleitet, weist auf beunruhigende Nachbarschaften hin. Hier liegt nicht nur Scharnhorst, der Held der Befreiungskriege, sondern auch Heydrich, der Organisator des Holocaust, neben namenlosen Opfern aus dem Mai '45. Die Toten beginnen zu reden, sich zu erklären, zu rechtfertigen. Unter den Stimmen, die zu dem Erzähler sprechen, ist auch die Marga von Etzdorfs.Auf einem ihrer spektakulären Langstreckenflüge hatte sie in Japan den jungen Diplomaten und ehemaligen Jagdflieger Christian von Dahlem kennengelernt und mit ihm eine ungewöhnliche Nacht verbracht – eine Nacht des Erzählens. Zusammen in einem Zimmer, aber getrennt durch einen Vorhang, waren die beiden sich fern und gewährten einander doch Nähe. In einem Augenblick innerer Preisgabe erzählen sie sich ihre Leben.Dieses Oratorium des Schreckens und der Liebe, in dessen Mittelpunkt Marga und von Dahlem stehen – eine unbedingte Liebe und ein Verrat –, beschwört zugleich die Dämonen und Engel der Geschichte und erzählt von Haltungen und Sichtweisen, von denen die deutsche Geschichte geprägt und gezeichnet ist. Vielstimmig und vielschichtig, gedanken- und anspielungsreich, klug und bewegend begibt sich dieser Roman auf ein Terrain, wo sich die Gewalt der Geschichte, der Zufall und das individuelle Schicksal begegnen, einander bestätigen, aber auch widersprechen – für den, der zu hören vermag.

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Seitenzahl: 293

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Uwe Timm

Halbschatten

Roman

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Uwe Timm

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

MottoHalbschattenNachschrift
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ALONSO:

 

I long

To hear the story of your life, which must

Take the ear strangely.

William Shakespeare, The Tempest

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Ein Gebirge, aufgetürmt, schroffe Felsen, blaugrau, der eingeschnittene, zum Gipfel führende Weg, ein helles Braun, auf dem Weg ein Büffel, den ein Mann reitet, die Beine seitlich herabhängend. Alt ist der Mann, mit einem grauen langen Bart. Beide, der Mann und der Büffel, blicken in das Tal. Auf mittlerer Höhe Bäume, Kiefern, die Kronen heben sich von dem abendroten Himmel ab. Dort die Wolken, zarte, den Himmel verschleiernde Wolken. Es ist ein Bild der Ruhe, ein wenig bewegt von einem Licht, das von außen hereindringt.

 

Wie kompakt das Weiß von hier aus wirkt, und wie das Weiß, je näher es kommt, zerfasert, durchsichtiger wird. Und jedes Mal wieder stellt sich diese Unruhe ein, beim Eintauchen in das ziellose Grau, in dem sich schnell das Gefühl für Höhe und Tiefe, für oben und unten verliert. Feuchtigkeit, sichtlose Kühle, dann, langsam, wird das Grau heller, und plötzlich dieses Blau der Tiefe.

 

Der Kanal, die Steinböschung, zertretenes Gras, ein Weg, asphaltiert, dahinter der kleine, gärtnerisch gepflegte Bereich, alte Grabsteine, viele durch Einschüsse und Bombensplitter beschädigt, weiter hinten Wildnis, Unkraut, hohes Gras, Disteln. Früher war der Friedhof militärisches Sperrgebiet. Die Mauer, die Ost und West teilte, verlief am Ufer des Kanals. Hinter der Mauer waren die Grabsteine für ein freies Schussfeld entfernt und ein Sandstreifen aufgeschüttet worden, sorgfältig geharkt wie in einer japanischen Tempelanlage. Die Spuren sollten Flüchtende verraten. Einige der umgeworfenen Grabplatten waren mit Holzplanken bedeckt worden, hier patrouillierten die Grenzsoldaten, Kommandorufe, graue Uniformen, Stahlhelme, Karabinerhaken, ein leises metallisches Klappern, Schäferhunde, keine Blumen, keine Büsche, hinter denen sich jemand hätte verstecken können, so sah es aus, zerstört und wüst, als wäre der Krieg erst vor Tagen zu Ende gegangen. Dann fiel die Mauer, sagt der Stadtführer, und nach der Vereinigung von Ost und West war auch dieser Friedhof wieder zugänglich.

Ein Mann um die fünfzig, hager, das Haar schon grau, ein schmales Gesicht, asketische Falten um Mund und Nase. Ein langer, zerschlissener, auf Taille gearbeiteter Mantel, grau, der ihm ein militärisches Aussehen gibt. Schnallenschuhe. Nein, bei genauem Hinsehen sind es modische, hellbraune Halbschuhe, die nicht zu dem grauen Mantel passen und für diesen nasskalten Novembertag viel zu leicht sind. Ein später Nachmittag, der mit dem vom Kanal hochziehenden Dunst schon Abend wird. An der hinteren, die Straße begrenzenden Friedhofsmauer geht gebückt eine Gestalt umher. Der schnarrende Ruf einer Elster. Zwei, drei kleine Kerzen brennen auf dem Friedhof. Allerseelen. Ein schönes altes Wort, aber die hier Versammelten sind meist Protestanten, sagt der Graue, und Konfessionen spielen bei einem aufgelassenen Friedhof sowieso keine Rolle mehr. Dort das Flämmchen hat jemand auf den Grabstein von Mölders gestellt, einem der wenigen Katholiken hier. Oberst und Jagdflieger im Zweiten Weltkrieg, 101 Abschüsse, wie es so schön heißt. Er zeigt mit den wie zu einem Stab zusammengerollten Manuskriptseiten auf eine große Marmorplatte. Und da hinten, an der Mauer, steht noch so ein Licht. Viele der Namen kann man schon nicht mehr lesen. Wenn sie nicht im Krieg zerstört wurden, hat der Regen die Steine ausgewaschen, oder sie sind vom Wurzelgeflecht aufgesprengt worden. Alles schon weit weg. Seit fünfzig Jahren wird hier niemand mehr bestattet. Der Graue hustet, und man sieht ihm an, er friert. Es war eine Führung, allein für mich. Er war mir als Kenner dieses Ortes empfohlen worden. Man hatte mir seine Telefonnummer gegeben, ich hatte ihn angerufen, und er hatte, nach einem kurzen Zögern, zugesagt.

An diesem Ort, sagt er, liegt die deutsche, liegt die preußische Geschichte begraben, jedenfalls die militärische. Scharnhorst liegt hier und andere Generäle, Admiräle, Obristen, Majore, bekannte Jagdflieger, damals die Helden der Luft, Richthofen, Udet, Mölders, und unter all diesen Männern, diesen Militärs, liegt eine Frau. Sehen Sie den Grabstein, er ist neu gesetzt worden, der alte war zu Ende des Kriegs zerstört oder später entfernt worden, ein Granitbrocken, ein Findling. Der Flug ist das Leben wert. 1907 geboren, 1933 gestorben. Marga v. Etzdorf. Eine Fliegerin, eine der ersten in Deutschland.

Ja, sage ich, sie sei der Grund, warum ich hierhergekommen bin. Ich hatte vermutet, sie sei abgestürzt, las dann aber, sie habe sich nach einer Bruchlandung in Syrien, in Aleppo, erschossen. Das weckte meine Neugier. Eine Frau, eine Fünfundzwanzigjährige, erschießt sich nicht wegen einer Bruchlandung, dachte ich. Richtig, sagt der Graue, er habe weitergeforscht, habe nach frühen Filmausschnitten und Fotos gesucht, nach Berichten über ihre Flüge, die sie nach Marokko und Japan geführt hatten. Sensationelle Unternehmungen, damals, sie wurde bewundert und gefeiert. Er habe die wenigen noch lebenden Zeitzeugen befragt, und ein merkwürdiger Zufall habe ihm ein Zigarettenetui in die Hände gespielt. Das Etui hat einen gewissen Anteil an ihrer Geschichte.

Glatt und doch schwer liegt das Silber in der Hand. Der Deckel ist durch einen darin sitzenden Messingsplitter leicht verbeult. An einer Stelle hat der Splitter den Deckel mit seiner Spitze leicht durchschlagen. Man könnte denken, er sei kunstgerecht eingelötet worden. Hier, auf der Rückseite, sehen Sie, sind die Initialen zweier Namen eingraviert: M.v.E. und Ch.v.D. und in kursiver Schrift Isobare.

Auf den Fotos erscheint sie, trägt sie Kleider oder Rock und Bluse, schlank, fast zerbrechlich, in Hosen und in der Pilotenkluft wirkt sie eher kräftig. Auch zwei Filmausschnitte habe er gefunden, sagt der Graue, natürlich stumm. Sie steht in einem Kleid vor ihrem Flugzeug, der Wind weht ihr das kurz geschnittene Haar ins Gesicht. Sie lacht, neigt den Kopf, streicht mit einer langsamen Bewegung das Haar hinter das Ohr. In der anderen Szene sitzt sie auf einer Bank im Freien. Sie trägt Hosen und eine Pilotenjacke aus Leder mit Strickbündchen am Handgelenk. Sie redet und raucht, und man sieht ihr an, es ist kein automatisches Tun, sondern ein Genuss, wie sie mit zierlichen Bewegungen das Etui öffnet, eine zweite Zigarette herausnimmt und anzündet.

In einem Radiointerview aus den frühen Dreißigerjahren fragt der Reporter sie, was denn ihr Traum vom Fliegen sei.

Die Schwerelosigkeit, hört man sie in einem sphärischen Rauschen antworten. Und sei es nur für den Moment, wenn man in einer Parabel fliegt. Ich singe jedes Mal, wenn die Maschine mich in den Himmel reißt. Ich singe, obwohl ich mich selbst durch den Lärm des Motors gar nicht hören kann. Ich spüre die Luft, den Fahrtwind, wenn auch durch den Windschirm gebrochen.

Das Interview, sagt der Graue, hat sie kurz vor ihrem Flug nach Japan gegeben, 1931, am 18. August ist sie von Berlin Tempelhof gestartet. Sie flog zunächst eine lange Schleife nach Nordwesten, um dann nach Osten einzudrehen, unter ihr die Stadt, der Dom, das Schloss, der Reichstag, dort, das Blitzen, das war der Engel auf der Siegessäule, in einer leichten Rechtskurve drehte sie nach Süden auf den Kurs ein, die Spree, darin glänzend die Sonne. Sie war ruhig, ein wenig müde, erschöpft von den letzten Tagen, von all den Besorgungen, den Abschieden, den Gesprächen, den Feiern. Die Route führt über Polen, über die Sowjetunion, über China. Die Genehmigung für den Überflug Russlands, der Sowjetunion, hatte sich verzögert, inzwischen war die Engländerin schon seit Tagen in Richtung Japan unterwegs. Wer, und darauf wurden Wetten gesetzt, würde als erste Frau Japan erreichen? Die Engländerin Amy Johnson oder sie, Marga v. Etzdorf? Warschau, Moskau, Sibirien. Stunden, Tage im Flugzeug. Provinzflughäfen, zu denen die Shell-Kompanie Benzinfässer hatte transportieren lassen. Es war auch ein Werbeflug für den deutschen Flugzeughersteller Junkers und für die Firma Shell.

Was macht man auf einem so langen Flug?

Ich lese, sagt sie. Ein Buch, einen Band Gedichte. Heinrich Heine. Eichendorff. Gedichtzeilen lassen sich besser überblicken. Ist die Luft ruhig, löse ich Kreuzworträtsel. Hin und wieder ein Blick hinunter, flaches braunes Land, dann Grün, unterschiedlich, vom hellen bis zum tiefsten Dunkelgrün, ein endloser Waldteppich, der Sumpfurwald in der Taiga, dann wieder Steppe, eine kleine grüne Insel, ein paar Bäume, Steppe, wieder Wald, ein paar Häuser an der Bahnlinie, eine Station, in der Nähe ein Sägewerk. Die Arbeiter blicken nicht hoch. Wahrscheinlich ist der Lärm der Sägemaschinen lauter als mein Fluggeräusch. Dahinter eine weite Fläche, darin das Band, hin und wieder aufglänzend, der Eisenbahnschienen.

Und sonst?

Ich schreibe Tagebuch und Postkarten an Freunde. So vergeht die Zeit. Sechs, sieben Stunden. Tag für Tag. Landen, tanken, etwas schlafen, morgens starten. Die Russen sind überaus freundlich und hilfsbereit, nach sechs Tagen kommt die chinesische Grenze, und die Stadt vor mir müsste, wenn ich nicht stark vom Kurs abgekommen bin, Chailar sein. Ich drücke die Maschine hinunter, suche ein freies Feld. Die Stadt war schon einige Male angeflogen worden, aber niemand hatte mir genaue Auskunft geben können. Unter mir die Altstadt, Haus an Haus, aber nirgendwo ein Platz, auf dem ich hätte landen können. Ich drücke die Maschine noch weiter hinunter, überfliege jetzt tief die Häuser, die schmalen Straßen, die Gassen, die Pagodendächer. Menschen stehen unten und blicken hoch, Rikschas, Fahrräder, und plötzlich ganz deutlich hier oben, in dreißig Meter Höhe, der Geruch der Garküchen. Dann entdecke ich ein kleines Feld, auf dem dicht gedrängt Menschen stehen. Ich fliege eine Schleife und noch eine, um den Neugierigen klarzumachen, dass ich Platz für die Landung brauche. Endlich drängen Polizisten und Soldaten die Menschenmenge zurück. Noch eine Schleife, ich gehe hinunter und setze auf. Sofort laufen die Chinesen auf die Maschine zu. Und dann der Schreck, fast wären die Vordersten in den sich noch drehenden Propeller gedrängt worden. Jetzt, ohne den Motorenlärm, ist das Geschrei zu hören, der Jubel. Ich steige aus dem Cockpit. Zwei Chinesen strecken mir ihre Hände entgegen, um mir von der Tragfläche zu helfen. Sonderbar, es ist eine Begrüßung, als hätte man seit Tagen auf mich gewartet. Erst nach und nach verstand ich, was der chinesische Kaufmann, der etwas Englisch konnte, mir sagt. Die Chinesen halten mich für die Engländerin Amy Johnson, meine Konkurrentin auf diesem Wettflug nach Japan. Die war vor etlichen Tagen hier gelandet, und man glaubte, sie sei jetzt auf dem Rückflug. Sogar Benzin war in Fässern für sie bereitgestellt worden.

Amy Johnson war also vor mir in Japan angekommen. Meine Enttäuschung war unbeschreiblich. Ich hatte plötzlich eine Vorstellung davon, wie Scott zumute gewesen sein musste, als er den Südpol erreichte und dort in dem grenzenlosen Weiß die norwegische Fahne sah. Auch die von Amundsen für Scott zurückgelassenen Handschuhe waren, wenn auch gut gemeint, der blanke Hohn. In meinem Fall kam noch dieser Irrwitz hinzu, dass ich für die Engländerin gehalten wurde, die man hier doch erst vor wenigen Tagen gesehen hatte. Im ersten Moment dachte ich, das alles sei nur ein Scherz. Aber dafür war die Begeisterung der Chinesen, wie soll ich sagen, zu ernsthaft. Entweder sahen wir uns, die Engländerin und ich, zum Verwechseln ähnlich. Oder aber der hier noch ungewohnte Anblick von Europäerinnen ließ uns so ähnlich erscheinen, wie auch für uns auf den ersten Blick Chinesen schwer unterscheidbar sind.

Ich bin nicht Miss Johnson, habe ich gesagt und den chinesischen Kaufmann gebeten, das zu übersetzen. Niemand wollte hören.

Ich habe in Französisch und Englisch auf die Leute eingeredet. Alle lachten umso lauter, klatschten begeistert.

I am not Miss Johnson.

Sie lachen. Sie nicken. Ein lustiges Völkchen. Mir blieb nichts übrig, als in dem für die Engländerin vorgesehenen Haus zu übernachten und immer wieder zu betonen, ich sei nicht die Engländerin.

 

Noch Jahre später, sagt Miller, wurde von den Chinesen der Stadt dieses: Ei eem not Miis Johnsooon als Begrüßungsform für die Engländer benutzt.

 

Unsinn. Das ist einer dieser Späße von Miller, der immer alles verdreht und aufbauscht. Er wusste, wie er mich zum Lachen bringen konnte. Ich habe mit kaum jemandem so viel und so oft gelacht wie mit ihm, sagt sie.

 

Wer ist dieser Miller, frage ich den Grauen.

Der liegt da hinten, an der Ziegelmauer, mit anderen zusammen. Kein Einzelgrab. Ein Schauspieler. Ein Stimmenimitator, heute würde man wohl sagen Entertainer. Auf jeden Fall einer vom fahrenden Volk. Wir werden ihn noch oft genug hören.

Die Etzdorf ist dann in den nächsten Tagen von Korea über das Meer nach Japan geflogen. Es muss ein durch starke Böen verwackelter Flug gewesen sein. Sie können sich vorstellen, was das damals bedeutete, man flog ja frei in der Welt herum, es gab keinen Sprechfunk, kein Radar, nichts. Ein Motorschaden, ein kleiner Defekt in der Benzinleitung, was immer wieder vorkam, und sie wäre wie Ikarus ins Wasser gestürzt. Am Morgen war sie gestartet, erreichte nach 11 Tagen, in der Mittagszeit, Hiroshima. Den Flugplatz fand sie diesmal schnell, es war ein Exerzierplatz des japanischen Militärs, und er war korrekt mit zwei weißen Stoffbahnen gekennzeichnet, der Windsack hing an einer langen Bambusstange. Auch hier standen dicht gedrängt, aber diszipliniert und von einem Seil zurückgehalten, Hunderte Neugieriger.

Davor in einer Reihe das Empfangskomitee, Vertreter der Stadt, Militärs, Angehörige der Konsulate. Seitlich war die Militärkapelle aufgezogen. Etzdorf drehte die Maschine und rollte langsam vor die Militärkapelle, stellte die Zündung aus. Wieder erklang die englische Nationalhymne. Auch hier also wurde die Engländerin auf ihrem Rückflug erwartet. In der Gruppe der Europäer war ihr sofort der große schlanke Mann aufgefallen. Der weiße Anzug, die Krawatte in einem Preußischblau. Aber vor allem war es wohl dieses offene, ihr zugewandte Lachen.

 

Ich bin sicher, sagt Miller, sie hat Dahlem sofort in der Menge entdeckt. Der hob wie zur Entschuldigung die Hände, ging zur Kapelle, redete auf den Dirigenten ein. Daraufhin gab der ein Kommando, hektisches Notenwechseln, dann der Einsatz, die deutsche Nationalhymne, ungeprobt, wie man sofort hörte, sehr langsam, die Melodie zog sich wie Sirup. Dahlem ist dann zu ihr gegangen, hat sich vorgestellt, er sei deutscher Konsul. Er gratulierte ihr: Sie sei die erste Frau, die allein von Europa nach Japan geflogen ist. Und Amy, die Engländerin? Die sei zwar dank der geschickten englischen Propaganda hier überall als Siegerin gefeiert worden, tatsächlich aber war sie nicht allein, sondern mit ihrem Fluglehrer geflogen. Amy Johnsons Flug werde nicht gewertet. Und dann stellte Dahlem mich vor, Anton Miller, Schauspieler, der gerade in Japan gastiert. Ich habe ihr die Hand geküsst. Eine auffallend kleine Hand, eine Kinderhand, die nach Öl und Benzin roch, und da war ein Hauch von Parfum, Maiglöckchen oder Gardenien, einzigartig die Verbindung von Maschine und Boudoir. Die Haare trug sie kurz geschnitten. Alles an ihr erschien einfach, praktisch und mit sich selbst einverstanden. Ihr Gesicht braun gebrannt, bis auf die Stellen um die Augen, wo die Fliegerbrille gesessen hatte. Und ich dachte mir, die Liebe, die du bei ihr finden könntest, wäre gleichermaßen heiß und kühl. Wie sie da angeflogen kam, unglaublich. Zierlich war sie, strahlte aber eine große Energie aus. Einfach wunderbar dieser Anblick, wie sie über uns kreiste, wie sie die Maschine schräg legte, herunterzog, knapp über die Dächer auf den Platz zuflog, wie sie sanft aufsetzte, wie sie die Maschine vor der Menschenmenge zum Stehen brachte, wie sie aus dem Cockpit kletterte, dastand, vom Himmel kommend, da war sie nicht nur diese junge und schöne Frau, sondern an ihr war auch etwas von der beherrschenden Kraft, die diesen Flugapparat erst zu einem solchen macht. Die Japaner klatschten und brachen in Banzai-Rufe aus.

 

Dieser Miller ist ein Luftikus und ein Schwärmer. Er übertreibt gern, und er verklärt wie alle, die nie oder selten in einem Flugzeug gesessen haben, das Fliegen. Aber es ist immer lustig und leicht, mit ihm zusammen zu sein.

 

Nein, sagt Miller, es war genau so: Sie kam wie ein lärmender Engel vom Himmel. Von ihr ging eine erstaunliche Anziehung aus und gleichermaßen etwas Unbeschwertes, Leichtes. Das war der erste, überwältigende Eindruck, als sie hier einschwebte. Nicht Frau, nicht Mann, sie hatte etwas von einem mittelalterlichen Engel. Es lag vielleicht an der Jacke, gewiss an der Lederkappe, die einem Helm ähnelte, so einer mittelalterlichen Sturmhaube, aber vor allem lag es daran: Sie kam aus dem Himmel. Die Japaner um uns herum waren ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit außer sich, lachten, schrien, winkten und klatschten in die Hände. Währenddessen stand Dahlem da, die Hände in den Hosentaschen, sagte, na ja, ein Engel, dafür ist sie etwas waghalsig gelandet, hätte weiter vorn und etwas tiefer einfliegen müssen, auch wenn da eine Telegrafenleitung entlangführt. Ich sah sie und hatte nur einen Gedanken, ihr nahezukommen, sie zu gewinnen. Was heißt Gedanke, es war das Fleisch, das dachte. Aber dann kam Dahlem mit seinem Zimmer. Die Hotels in der Stadt waren ausgebucht, kein Zimmer war frei.

 

Dahlem wohnte bei einem mit ihm befreundeten Japaner. Es gab in dem Haus für den Besuch diesen einen Raum, den Dahlem einige Tage zuvor bezogen hatte. Kein gewöhnliches Zimmer, eher eine kleine Halle. Eines dieser alten hölzernen, in einem kleinen Park gelegenen Häuser. Dahlem bot ihr sein Zimmer an, sagte, er würde draußen auf dem Gang schlafen, einem überdachten, mit Zedernholz belegten Gang, der so kunstvoll angelegt war, dass, ging man darüber, eine sanfte Melodie erklang, einem Vogelzwitschern gleich. Jeder Tritt verriet so nicht nur den Dieb, sondern auch den Liebhaber. Es hilft übrigens auch nichts, wenn man die Schuhe auszieht, was man ja überall in Japan macht, sagte Dahlem und lachte.

 

Ich war überrascht von der Größe und von der Leere des Raumes, sagt sie. Eine Matte lag am Boden, davor stand ein bemalter Paravent, und an der einen Wand hing ein Bogen. Ein gut zwei Meter großer Bogen, asymmetrisch, zwei Drittel der Bogenlänge lagen über dem Griff, ein Drittel darunter. Ein Daikyu, erklärte er, ein Bogen, der es dem Schützen erlaubt, die Pfeile sowohl kniend als auch vom Sattel aus abzuschießen. Am Boden stand ein Köcher mit mehreren gefiederten Pfeilen, blaurot und grüngelb. Ein Pfeil hatte eine runde Spitze aus Elfenbein, darin einen Schlitz. Ein Pfeil, der in der Luft einen schrillen Pfeifton abgibt – das Signal für den Angriff. An der anderen Wand hing eine Schriftrolle, ein Gedicht, das Dahlem mir übersetzte.

Astwerk

Zusammengetragen und verbunden:

Eine Reisighütte.

Aufgelöst: wie zuvor.

Wieder die Wildnis.

Er bot nochmals an, draußen auf dem Gang zu schlafen.

Nein, auf keinen Fall.

Und als er weiter darauf bestand, habe ich gesagt, jede Bewegung auf dem Holz würde mich am Schlafen hindern. Und zu verlangen, er dürfe sich nicht bewegen, sei doch wohl etwas zu viel des Guten. Er lachte und machte den Vorschlag, den Raum durch einen Vorhang abzuteilen. Ich zögerte einen Moment und sagte dann, gut.

 

Der Gedanke, mit ihm den Raum zu teilen, wird ihr nicht so unangenehm gewesen sein, glaube ich, sagt Miller. Sie war ja ganz praktisch angezogen, kein Kleid, musste sich also nichts über den Kopf ziehen, nichts fallen lassen, konnte sich in den Hosen, in der Pilotenjacke, in der Bluse ins Bett legen. Sie hatte nur den Waschbeutel dabei, alles andere war noch in ihrer Maschine.

 

Ich hörte ihn reden, er sprach mit zwei Bediensteten, er sprach Japanisch, und er sprach es schnell und offensichtlich geläufig. Eine zweite Matte und eine grauweiße Tuchbahn wurden gebracht. Die beiden Frauen spannten sie als einen gut sieben Meter langen, bis zum Boden reichenden Vorhang quer durch den Raum. Die im Hintergrund hängenden Petroleumlampen zeichneten die hin- und hergehenden Aufwärterinnen als Schatten auf dem Stoff ab. Wenn sie näher an den Vorhang traten, wurden ihre Umrisse deutlicher. Das Licht der Lampen war von einem dunklen Gelb, leicht braunfleckig, wie die Früchte am Baum, der im Garten stand. Langsam verlor es sich an das Dunkle. Draußen war ein starker Wind aufgekommen, und das Rauschen der Bäume war wie das Brechen von Wellen, und leise, sehr sacht, schwankten die Lampen.

Ich dachte an den nächsten Morgen und den Flug nach Tokio. Es war, als hätte er meine Gedanken erraten, denn ich hörte ihn sagen, der Start morgen wird nicht leicht sein.

Ich weiß, die Bremse anziehen, kräftig Gas geben, damit die Maschine hinten hochkommt, und dann diagonal zum Platz starten.

Ja, sagte er, wahrscheinlich nach Nordwest. In dieser Jahreszeit hält der Westwind sicherlich auch morgen noch an. Beim Abheben die Maschine kurz vor den Telegrafenleitungen kräftig hochziehen, dann etwas abfallen. Aber das wissen Sie ja. Beim Landen haben Sie die Leitungen sehr elegant überflogen.

Er meinte damit natürlich knapp. Das war für mich die Überraschung, er war auch Flieger. Jagdflieger im Krieg gewesen, hatte einen Dreidecker geflogen, eine Fokker. Er wird dir beim Anwerfen des Motors helfen, sagte ich mir. Allein, dass er da sein würde, war beruhigend. Ich schaffe das.

Bleiben Sie noch länger hier?

In zwei Tagen komme ich nach Tokio, mit der Eisenbahn.

Sie können mit mir fliegen, und ich schicke meine Sachen mit der Bahn.

Das geht nicht. Leider. Ich habe hier noch zu tun.

Ich wollte ihn fragen, was, verbot es mir aber.

Sein Schatten war anfangs nur ungefähr zu sehen, wenn er sich im Raum bewegte. Jetzt saß er wahrscheinlich auf der Matte, denn in dem Raum gab es weder einen Stuhl noch einen Sessel. Aus dieser Richtung kam seine Stimme und fragte, ob es mich störe, wenn er eine Zigarette rauche.

Nein, natürlich nicht. Ich rauche auch.

Mögen Sie eine Zigarette?

Gern.

Er schob ein silbernes Zigarettenetui unter der Stoffbahn durch. Ein flaches silbernes Etui, glatt, mit einer schmalen Lorbeerbordüre. Auf der Rückseite ein Monogramm. Ch.v.D. Die andere Seite war an einer Stelle etwas eingedrückt, ein Messingsplitter hatte sich hineingebohrt.

Ich zündete mir eine Zigarette an und schob Etui und Feuerzeug zurück. Kurz berühren sich unsere Hände. Das Geräusch seines Feuerzeugs, der Lichtschein, der Schatten seines Kopfes auf dem Vorhang. Der Schatten seiner Stimme.

Was ist das für ein Splitter in dem Etui?

Ein Andenken, sagt er, von einem Luftkampf.

In dem folgenden langen Schweigen ist nur der Wind zu hören. Sacht bewegt sich der Vorhang im Luftzug. Ich wollte ihn fragen, ob man – ich hätte man gesagt – sich nicht noch etwas zusammensetzen könne, um einander beim Reden zu sehen, aber dann spürte ich, es ist besser, ihn nur zu hören. Ich mochte seine Stimme. Auch sonst, er gefiel mir auf den ersten Blick, groß, schlank, mittelblondes gescheiteltes Haar. Aufrecht, aber nicht steif, ruhige sanfte Bewegungen. Ich dachte zuerst, er sei Amerikaner, so wie er unter den anderen Europäern und Japanern dastand, die Hände in den Hosentaschen.

Wir hatten auf dem Gut der Großeltern einmal einen amerikanischen Gast. Eine Sensation auf dem Land, wo schon jeder aus Berlin wie aus einer anderen Welt zu kommen schien. Der junge Amerikaner war in einem Kabriolett vorgefahren. Er machte eine Europareise. Und hatte, als er das Gutshaus sah, einfach angehalten. Er sprach sehr gut Deutsch und auch Französisch. Das war mir aufgefallen, ich war fünfzehn Jahre alt, wie selbstverständlich dieser Amerikaner sich bewegte, wie freundlich, wie lässig. Er gab keiner der Frauen einen Handkuss, machte keine eckigen Verbeugungen, klappte nicht die Hacken zusammen. Stand in der Halle, in dieser großen Halle mit den Geweihen an den Wänden, stand da, die linke Hand in der Hosentasche. Die Großeltern luden ihn ein, es dämmerte schon, zu bleiben.

Es war ein so unterhaltsames, unangestrengtes Abendessen, wie ich kein anderes aus meiner Kindheit und Jugend in Erinnerung behalten habe. Dieser junge Mann war tatsächlich eine Erscheinung wie aus einer anderen Welt. Meine Schwester und ich konnten, nachdem wir zu Bett gegangen waren, nicht schlafen. Besonders meine Schwester beschäftigte die Frage, ob der Amerikaner eine Freundin hatte. Ich sagte, du hast dich in ihn verliebt. Sie behauptete dasselbe von mir. Und wie aus einem Mund sagten wir: so ein Quatsch. Ich habe nach seiner Abreise noch Wochen, ja Monate gehofft, dass er eines Tages wieder vor der Tür steht. Natürlich kam er nicht.

Der Großvater sagte, na ja, die Haltung, die ist etwas, wie soll ich sagen, salopp, aber sonst war der Amerikaner wirklich nett.

Es war eben diese Haltung, die mir so sehr gefiel, wie er dastand, ein wenig den Kopf zur Seite geneigt, eine Hand in der Hosentasche, und rauchte, eine beiläufige Bewegung, nichts Gieriges, etwas, das zu seinem Sprechen, zu seinem Nachdenken zu gehören schien.

Seinetwegen habe ich das Rauchen angefangen. Wir, meine Schwester und ich, haben heimlich im Wald geraucht und die Bewegungen des Amerikaners nachgeahmt, so wie er die Zigarette hielt, wie er sie zum Mund führte, wie er ausatmete, und vor allem das, wie er die Zigarette dann in der Hand hielt, als habe er sie vergessen, Gesten, die jetzt, rauche ich, auch meine sind.

Ich hörte Dahlem hinter dem Vorhang lachen und ihn sagen, ja, das sind die Rauchsignale unserer geheimen Wünsche.

 

Ferne Stimmen und das Lachen einer Frau, das jäh abbrach. Der Ruf eines Nachtvogels. Ein Knistern, so als ob er nebenan etwas in Papier einwickele. Plötzliche Stille. Um das Schweigen zu brechen, fragte ich, wie er zur Fliegerei gekommen sei.

Nach geraumer Zeit, als müsse er überlegen, ob er darauf eine Antwort geben könne oder wolle, sagte er, es war der Dreck, es waren die Ratten, der weiße Schlamm, Kalkschlamm, die Läuse. Er habe in einem Schützengraben gesessen, im Herbst 1917, in der Champagne, gute drei Meter tief, und durch den Erdspalt nach oben in den Himmel geblickt, dort tauchten hin und wieder Flieger auf, deutsche, englische, französische, die kreisten umeinander, hin und wieder stießen sie zu, drehten ab, zogen hoch, um wieder umeinander zu kreisen, wie Adler, habe er gedacht. Manchmal, für Sekunden, blitzte das Metall in der Sonne auf. Etwas sehr romantisch die Sicht, dieser Blick von unten, zugegeben. Das sei der Anstoß gewesen, sich freiwillig zu melden. Gehindert habe ihn daran auch nicht, dass immer wieder einmal eine der Maschinen getroffen aus dem Himmel stürzte. Die Wahrscheinlichkeit, im Schützengraben oder bei einem Sturmangriff zu fallen, sei nicht geringer, eher größer gewesen. Aber das sei nicht der Grund für seinen Entschluss gewesen. Als Fähnrich der Infanterie habe er von Motoren keine Ahnung gehabt. Maschinen und Motoren interessierten ihn nicht. Er habe überlebt, nicht durch Können, durch Zufall. Was uns zustößt, ist nicht notwendiger als unsere Geburt. Damit beginnt das Spiel, unser Spiel mit dem Zufallenden, woraus wir werden, was wir sind. Übrigens sei er nur genommen worden, weil er einen Kopfstand habe machen können. Zu viele hatten sich freiwillig gemeldet, um aus dem Dreck herauszukommen. Zu der Zeit kamen noch die meisten Flieger von der Kavallerie. Flieger sind die Ritter der Lüfte. Er kam nicht von der Kavallerie. Er war Infanterist. Gleichgewicht halten, das lernt man nur bei der Kavallerie, hieß es. Und man saß auf dem Pferd höher, also dem Himmel näher. Schwindelfrei müsse man sein. Keine Höhenangst. Und man müsse lenken können. Darum die Vergleichbarkeit von Pferd und Flugzeug. Eine alberne Vorstellung. Er habe sich, als man im Begriff war, ihn abzulehnen, in dem Musterungsbüro einen Stuhl genommen und habe auf dem Stuhl einen Kopfstand gemacht. War, mit dem Kopf nach unten, einfach so im Raum stehen geblieben, bis einer der Musterungsoffiziere sagte, das reicht. Er war genommen worden. Im Hinausgehen hatte dann noch einer der Offiziere gesagt, Sie könnten auch zum Zirkus gehen, mit der Nummer.

 

Dieses ruhige, unaufgeregte Reden hat mir gefallen, wie er von sich sprach, ein wenig ironisch und alles etwas relativierend, verkleinernd. Ich kann mich nicht entsinnen, eine Stimme gehört zu haben, die mir ähnlich gefallen hat, die so in mir war, körperlich, eine spürbare Wärme auslöste, mich öffnete. Eine sich in der Mittellage haltende Stimme, ein wenig norddeutsch eingefärbt, die langen Vokale nasal gesprochen. Seine Stimme aus dem dunklen Raum, der nur durch zwei Lampen erleuchtet wurde, Lampen, die ein stilles Licht gaben. Ich sah, was ich so nicht zuvor gesehen hatte, die Aura einer Lampe, den schattenhaften Umriss des sich im Dunklen verlierenden Paravents. Vorn war noch die Berglandschaft zu erkennen mit diesem Alten, Bärtigen, der auf einem Büffel ritt. Dahlem sagte, es sei die Dämmerung, in der die Dinge aus sich heraustreten, sie werden sie selbst. Nicht das grelle Licht, die Sonne, vor der man sich hier auch im Freien durch Schirme zu schützen suche, sondern dieser Moment vom Übergang der grellen Deutlichkeit der Dinge ins Dunkel, aus dem sie hervortreten, in das sie wie das Vergessen auch wieder versinken.

Aber können die Dinge im Dunklen vergehen? Bleiben sie nicht als Gegenstände bestehen?

Als interessenlose sind sie nichts, sagte er.

Hm.

 

Dahlem hatte das Glück der guten Erscheinung. Er steht für die Ungerechtigkeit der Natur, sagt Miller. Er fiel auf. Insbesondere hier in Japan. Blondes Haar, blaugraue Augen. Die Japanerinnen waren wild nach ihm. Sind wahrscheinlich nicht mit dem christlichabendländisch schlechten Gewissen bepackt, das ihnen die Lust zu einem kleinen schüchternen Keuchen zusammenpresst.

 

Andere Länder, andere Sitten.

Na, da sind die Sitten doch überall gleich, sagt eine tiefe Stimme und lacht.

 

Diese Stimme, wer ist das?

Udet. Hier. Er wird immer noch gepflegt. Mit Tannengrün im Winter abgedeckt. Hin und wieder Blumen. Kerzen. Und dann natürlich die sogenannten Kameradschaften. Kränze mit dem Eisernen Kreuz. Ernst Udet. Von ihm gehört?

Ja. War Jagdflieger. Erster Weltkrieg. Später bei den Nazis General. Hat sich erschossen.

Aha, Sie kennen sich aus. Der spricht also noch zu Ihnen. Die meisten anderen, die ich hier führe, gehen taub und dumm über diesen Ort. Natürlich werden die Stimmen mit der Zeit immer leiser. Viele kann man kaum noch verstehen, und die meisten sind längst verstummt. Aber die Stimme von Udet ist noch recht deutlich. Dieser Saufaus. Zwischen den Kriegen war er Kunstflieger. Wohl der berühmteste. Konnte ein Taschentuch mit der Flügelspitze von der Rollbahn aufheben. Dann Generalflugzeugmeister und Generaloberst. Ja, er hat sich später erschossen.

Gibt es viele Selbstmörder unter Fliegern?

Nein, nicht signifikant. Auch nicht mehr als unter Schauspielern. Es sei denn, man rechnet die Abstürze aus Fahrlässigkeit hinzu.

 

Was machte Dahlem in Japan?

Er reiste mit einem Diplomatenpass, ein Konsul mit besonderen Aufgaben.

Mit welchen Aufgaben?

Er war aus China zurückgekommen. In geheimer Mission.

 

Und sie, was wollte sie dort?

 

Sie flog für Deutschland, sagt die Stimme eines jungen Mannes. War doch die Zeit der Erniedrigung. Deutschland am Boden. Systemzeit. Die Quasselbude, der Reichstag. Et cetera pp.

 

Dieses Gebrabbel, wer ist das?

Maikowski. Liegt nicht weit entfernt von der Etzdorf. Sein Grab ist eingeebnet. Hans Eberhard Maikowski, SA-Sturmführer. Berüchtigter Schläger. Hat in den Zwanzigern einen SA-Sturm geleitet, den ältesten Berliner SA-Sturm. Verzeichnete stolz 33 Morde an Oppositionellen. Von seinen Kumpanen liebevoll Hanne Maiko genannt. Und, in deren Sprache, ein Blutzeuge. Am 30. Januar 1933, Hitler war Reichskanzler geworden, wurde Maikowski bei einer Schlägerei mit Kommunisten erschossen. Vielleicht waren es auch seine eigenen Leute. Man wollte ihn loswerden. Er war ein besonders harter Rabauke und wusste zu viel. Redet jetzt, was er immer geredet hat. Und dieses Et cetera pp hat er irgendwo aufgeschnappt. Krauses Zeug, bildungsbemüht, obwohl er die so sehr hasste, die Schreiberlinge.

Da spielt jemand Violine.

Ja, warten Sie, können Sie gleich noch deutlicher hören.

 

Schandvertrag von Versailles. Den Unsrigen in Übersee Mut machen. Marga v. Etzdorf fliegt für Deutschland. Graf Luckner segelt für Deutschland, Kapitän Kircheiss dito. Deutschland am Boden. Kriegsschuld. Et cetera pp.

 

Das alles ist Gewölle, sagt der Graue. Wie Brocken würgt er das heraus. Wird aber leiser. Wen interessiert das noch? Sagt Ihnen das noch etwas: Systemzeit? Oder der Graf Luckner?

Ja. Erzählungen. Sehr fern. Der Graf war im Ersten Weltkrieg auf Kaperfahrt mit einer Bark. Seeadler. Und er konnte Fünfmarkstücke mit den Fingern verbiegen.

Welcher Jahrgang sind Sie?

1940 geboren.

Was für ein Ballast, sagt der Graue. Was für ein Gerümpel tragen Sie da noch mit sich herum. Für Ihren Jahrgang eher ungewöhnlich. Die meisten, die mich begleiten, sind, wie gesagt, ratlos. Das hier sagt ihnen immer weniger und den Jüngeren gar nichts mehr.

Der Graue hustet und nimmt eine Pastille. Das Manna der Heiseren, sagt er, die Emser Pastille.

Er bleibt stehen vor einem Baum, einer Eiche, in der noch das vertrocknete Laub des Sommers hängt. Das Schnarren der Elster, die vorbeistreicht und sich auf das gusseiserne Gitter einer Grabumfassung setzt.

Die Elster, eine der verwandelten Töchter des Pieros, sagt der Graue. Mögen Sie eine Pastille?

Danke.

Emser Pastillen hat schon Bismarck gelutscht, sagt eine spröde Stimme und dann noch etwas.

Was hat er gesagt? Man versteht ihn schlecht.

Ja, hat auch den Mund voll Erde.

 

Sie flog für Deutschland.

 

Quark, sagt Miller. Sie flog gern. Basta. Sie war eine andere, wenn sie flog. Eine Verwandlung fand statt. Muss man sich vorstellen, im Abendkleid, hochhackige Schlangenlederschuhe, rot lackierte Fingernägel, und dann in Monteurskluft, ölverschmiert.

 

Ja, die Frau fiel aus dem Rahmen, sagt der Saufaus. Ganz selbstständig. Konnte Zündkerzen auswechseln oder Kolben ausbauen. Reinigte Benzinleitungen. Und vor allem – sie konnte fliegen. Kein Unterschied zu den Männern. Schneidig, eine ausgezeichnete Fliegerin. War die erste Pilotin, Copilotin, bei der Lufthansa. Hatte übrigens eine sehr schöne Stimme. Konnte wunderbar singen. Und ihr Fliegen: tipptopp. Soll mir keiner etwas erzählen. Ich weiß es. Hab mal Kunstfliegen mit ihr gemacht. Müssen gar nicht so dreckig lachen, da hinten. Sie war eine Diana.

Was heißt das?

Na ja, hatte etwas Distanziertes, nicht schroff, freundlich, aber doch recht deutlich auf Abstand. Sah nicht so mädchenhaft, so weich aus wie die Elly Beinhorn, ihre Konkurrentin. In die Elly war ich verknallt, bis über den Mützenrand.

Und?

Nichts. Bei der nicht. War nichts zu machen. Anders mit der Antonie Strassmann, ja, auch eine gute Pilotin. Mit der war was, ein paar Wochen, eine Liaison, würde man wohl sagen. Machte das, wozu sie Lust hatte. Tolle Frau. Kümmerte sich einen Dreck um das, was geredet wurde, was gute Sitte war, was der Spießer dachte.

Und sie, die Etzdorf?

Marga. Ja, na ja. War interessant, leicht slawische Züge, breite Wangenknochen, dunkle Augen. Etwas Jungfräuliches ging von ihr aus. Kein Missverständnis, nichts Jungferliches. Und wie gesagt, eine schöne Stimme. Immer ganz elegant angezogen, wenn sie nicht gerade vom Fliegen kam. Hab es natürlich auch bei ihr versucht. War nix. Kam nicht ran. Konnte bei ihr nicht landen. Du korest mich nicht. Haha.

Man hört Sie nur undeutlich.

Das hat andere Gründe. Wollte mich erst ins Herz schießen, dachte dann aber an all die Frauen, die wunderbaren, hab dann am Kopf angesetzt.

 

Bei der Erprobung eines neuen Flugzeugtyps abgestürzt. Sein alter Kamerad Reichsmarschall Göring ließ diese Lüge verbreiten. Udet wurde nicht öffentlich aufgebahrt. Nach einem Absturz sieht man ja nicht mehr so gut aus, hieß es. Tatsächlich aber sollte man nicht sehen, dass er sich erschossen hatte. Verbittert über seine braunen Spießgesellen. Von denen haben sich einige auch hier niedergelassen.

Jetzt ist es sehr deutlich, das Geigenspiel.

Der Tod mit seiner Fiedel.

Aber nein, das ist doch Mozart, sanft, man kann sagen, beseelt gespielt. Der erste Satz aus dem Violinkonzert Nr. 1.

 

Die Abendgesellschaft war hinausgegangen, sagt Miller, Sektgläser in den Händen, eben noch in Unterhaltungen vertieft, Lachen, Rufe, und da begann er zu spielen, Mozart. So hatte ich ihn noch nie gesehen. Die sonst so harten, kantigen Gesichtszüge weich, im Gesicht eine in sich versunkene Hingabe. Wir standen, und niemand wagte zu reden, wagte auch nur aus dem Glas zu trinken. Er spielte, und hin und wieder blitzte es auf, das silbern gestickte dreifache Eichenlaub am Kragenspiegel.

Das ist er, der Erfinder der Gegnerkartei. Eine Kartei gegen den inneren Schweinehund. Gegen den nationalen Feind. In der Kartei, in der sie alle versammelt sind, die Feinde, aber auch brave Parteigenossen und auch die Gäste dieser Abendgesellschaft.