Haltung ist Stärke - Sabine Leutheusser-Schnarrenberger - E-Book

Haltung ist Stärke E-Book

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

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Beschreibung

Mit Kopf und Herz: Wie Politik auch sein kann

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger steht mutig und unbeugsam für ihre Überzeugungen ein. Ihre Entscheidung als Ministerin im Kabinett Kohl zurückzutreten, weil sie den ‚Großen Lauschangriff‘ ablehnte, brachte ihr über alle Parteien hinaus und in der Bevölkerung höchsten Respekt. Dreizehn Jahre später kehrte sie zurück und setzte an der Seite von Angela Merkel ihren Kampf für die Freiheitsrechte fort. Mit Leidenschaft, einem langen Atmen, Humor und unbedingter Sachbezogenheit zeigt Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Qualitäten, über die Politiker heute selten verfügen und die von den Wählern vermisst werden.

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Seitenzahl: 208

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Sabine

Leutheusser-

Schnarrenberger

Haltung ist Stärke

Was auf dem Spiel steht

Unter Mitarbeit von Gunna Wendt

Kösel

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Copyright © 2017 Kösel-Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: Weiss Werkstatt, München

Umschlagmotiv: Susanne Krauss, Grafing b. München

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-20235-4V001

www.koesel.de

Für Till und Sara, die in Zukunft unsere Demokratie verteidigen werden.

Inhalt

Prolog

Selbstverständlich politisch

Eine Familie mit Standpunkten

Über sich selbst lachen

Begeisterung statt Berufung

Frühe Prägungen

Frauenpower

Unbedingt: der Beruf zur finanziellen Unabhängigkeit

Angela Merkel – Politikerin mit Mut und Weitsicht

Es steht viel auf dem Spiel

Demokratie – der Kampf lohnt sich

Der Große Lauschangriff und die Folgen

Jeanne d’Arc und Madame No

Die zerschützte Freiheit

Das Recht auf Privatsphäre

Selbstbestimmt im digitalen Zeitalter

Wofür ich stehe

Leitwerte statt Dumpfheit

Verfassungspatriotismus für gesellschaftlichen Zusammenhalt

Quellen und weiterführende Literatur

Bildnachweis

Prolog

»Frau Leutheusser-Schnarrenberger, Sie sind doch damals aus freien Stücken zurückgetreten – wegen eines Themas, nicht wegen einer Verfehlung oder eines Skandals.« Oft beginnen meine Gespräche mit Bürgerinnen und Bürgern mit diesen Worten. Schließlich waren und sind die meisten Rücktritte von Politikern anders motiviert. »Ich fand es sehr gut, dass Sie damals so konsequent zu Ihrer Haltung gestanden sind«, heißt es weiter, und dann folgt die Frage: »Ja, aber was war damals eigentlich der Grund?«

Im Mittelpunkt des Interesses steht also meistens nicht zuerst das Thema, sondern eine Ministerin, die zurücktritt, weil sie mit der Entscheidung der eigenen Partei nicht einverstanden ist, einer Partei, die Koalitionspartnerin ist und mitregiert. Eine Ministerin, die sich bestimmten Überzeugungen und Werten verpflichtet fühlt, zu diesen steht und nicht um jeden Preis an ihrem Amt klebt – das ist das, was vor allem in Erinnerung geblieben ist. Das ist das, was in der Politik die Ausnahme ist. Das ist das, was die Menschen von Politikern erwarten: standfest und nicht beliebig sein, Haltung und damit Berechenbarkeit bewahren.

Am 14. Dezember 1995 wurde das Ergebnis des Mitgliederentscheids der FDP zum sogenannten Großen Lauschangriff, des ersten Mitgliederentscheids überhaupt in der Geschichte der FDP, bekannt gegeben. Dieser Tag ist für mich heute sehr weit weg, 22 Jahre, und doch zugleich gegenwärtig. Es war ein tiefer Einschnitt in meiner politischen Karriere, die bis dahin sehr steil verlaufen war: 1990 in den ersten gesamtdeutschen Bundestag gewählt, 1992 zur Justizministerin ernannt – ja, und dann 1996 der Rücktritt. Gleichzeitig wird mir bewusst, dass die hinter dem Großen Lauschangriff stehenden politischen Streitpunkte bis heute dieselben geblieben sind: Welchen Stellenwert haben Freiheitsrechte angesichts organisierter krimineller und terroristischer Gefahren? Wie wird das Spannungsfeld zwischen Freiheit und Sicherheit aufgelöst, immer zugunsten der inneren Sicherheit? Und was muss, soll, darf man an Freiheitsrechten für angeblich mehr Sicherheit aufgeben?

Die Mehrheit der Parteimitglieder – die Wahlbeteiligung war mit 43% gering – befürwortete am 14. Dezember 1995 einen Kurswechsel in der Politik und sprach sich für das elektronische Abhören in Wohnungen aus. Nach der FDP-Präsidiumssitzung, auf der das Ergebnis mitgeteilt wurde, ging ich sofort ins Ministerium und ließ eine Pressekonferenz ansetzen, um meinen Rücktritt anzukündigen. Als ich meine sorgfältig formulierte Rücktrittserklärung als Pressestatement im Ministerium vortrug – vor einem so großen Journalistenaufgebot, wie ich es in meiner gesamten politischen Tätigkeit nicht erlebt hatte –, war ich von der Richtigkeit meiner Entscheidung überzeugt und dennoch emotional sehr bewegt.

Das Ergebnis des Mitgliederentscheids zum Großen Lauschangriff stellte einen Tiefpunkt und Paradigmenwechsel in der Bürgerrechtspolitik der FDP dar. Dieser erste Mitgliederentscheid in der Geschichte der Partei war letztendlich als Instrument eigens dazu eingeführt worden, ein Streitthema in der CDU/CSU/FDP-Koalition abzuräumen, um sich öffentlichkeitswirksam wieder angeblich wichtigeren, die Bürgerinnen und Bürger stärker interessierenden Themen zuwenden zu können. Eine Fehleinschätzung, wenn man an das Wahlergebnis 1998 denkt, mit dem das Ende der 16-jährigen Kanzlerschaft Helmut Kohls und der Koalitionsregierung besiegelt wurde.

Berechenbarkeit als oberstes Gebot

Auch wenn mich diese Entscheidung sehr beschäftigt und berührt hat, habe ich an meiner eigenen Haltung nie, zu keinem Zeitpunkt gezweifelt. Inhaltlich bin ich mit mir immer im Reinen gewesen.

Ich bin seitdem erst recht überzeugt davon, dass das Verhalten eines Politikers in der inhaltlichen Ausrichtung berechenbar sein muss. Nur dann kann das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in Politiker und damit auch in die Politik gewonnen werden. Das bedeutet für mich konkret, meine eigene Haltung zu leben, nicht für einen billigen Deal aufzugeben, meine Wertüberzeugungen zu vermitteln und zu ihnen zu stehen – gerade in kritischen Situationen. Gerade dann, wenn die zu einer Demokratie gehörenden Auseinandersetzungen um die richtigen Antworten auf Gefährdungen und Veränderungen geführt und dabei unterschiedliche Interessen beachtet werden müssen.

Politiker, die ständig lavieren, taktieren, biegsam ihre Meinung den jeweiligen Gegebenheiten anpassen und dafür auch immer wieder neue Gründe, eine Begründung finden, kappen die notwendige Bindung zwischen Bürgern und Politikern. Ohne sie geht jedoch die unverzichtbare Basis für unsere Demokratie – immerhin bei allen Mängeln die beste Regierungsform, die es gibt und für die wir immer wieder einstehen und kämpfen müssen – verloren.

Freiheit ist nicht selbstverständlich

Gerade heute steht so viel auf dem Spiel. Die Freiheit wird als selbstverständlich konsumiert, aber nicht bewusst gelebt und nicht wirklich wertgeschätzt. Angst greift nach jüngsten Umfragen zunehmend in der Bevölkerung um sich und verändert damit das Wertesystem. Mehr Sicherheit vor jeder Form von Gefahren und eine damit verbundene Erwartungshaltung an den Staat gehen einher mit der nicht immer klar ausgesprochenen Haltung, dass die Freiheit ja sowieso gegeben sei und eben später wieder priorisiert werden könne. Dass einmal verloren gegangene Freiheitsentfaltung und Freiheitsrechte auch in späteren sonnigen Zeiten nicht wieder hergestellt werden, lehrt die Geschichte. Denken wir nur an die Notstandsgesetzgebung und die rechtsstaatlichen Einschränkungen nach dem RAF-Terror.

Nachdem ich meinen Rücktritt bekannt gegeben hatte, galt es noch einiges durchzustehen, bis die Amtsübergabe an meinen Nachfolger stattfand. Als ich im Januar 1996 die Entlassungsurkunde von Bundespräsident Richard von Weizsäcker erhielt, war das ein weiterer unvergesslicher hochemotionaler Moment. Aber es gab für mich nie einen Zeitpunkt, an dem ich fürchtete, in ein tiefes Loch zu fallen, aus dem ich nicht mehr herausfinden würde. Damals hätte ich mir natürlich nicht träumen lassen, dass mich meine Partei 13 Jahre später noch einmal fragen würde, ob ich Bundesjustizministerin werden wollte. Und erst recht nicht, dass ich einmal als erste und einzige Ministerin in der Geschichte der Bundesrepublik nach meinem Rücktritt wieder das gleiche Amt bekleiden würde.

Selbstverständlich politisch

Eine Familie mit Standpunkten

Politikerin bereits mit der Muttermilch? Nein, so eine Frühberufene bin ich nicht. Ich habe auch nicht schon in jungen Jahren gedanklich an Ministertüren gerüttelt und sowieso alles besser als die Politiker gewusst. Aber unpolitisch war ich auch nicht. Ich stamme aus einem sehr politischen Elternhaus. Mein Vater, Dr. Horst Leutheusser, ein engagierter Rechtsanwalt und Notar, war als CDU-Kommunalpolitiker in meiner Heimatstadt Minden aktiv. Er war dort Mitglied im Stadtrat, eine Zeit lang Stellvertreter eines sozialdemokratischen Bürgermeisters und hat sich mit ihm zum Wohle der Stadt gut verstanden. Deshalb sind wir – meine beiden Schwestern und ich – schon sehr früh mit praktischer Politik in Berührung gekommen. Als Kinder haben wir im Kommunalwahlkampf die Wahlbriefe meines Vaters eingetütet. Damals noch mit ganz einfachen Methoden, das war ja in den 1960er-Jahren. Ich weiß es noch wie heute – das vergesse ich nie –, wie wir mit Weizenkleie die Briefe zugeklebt haben. Meine Mutter hatte den Klebstoff angerührt und dann saßen wir abends zu viert um den Esstisch herum: meine beiden Schwestern, meine Mutter und ich. Wir falteten die Briefbögen, steckten sie in die Umschläge, klebten sie zu und brachten sie zur Post. Auf diese Weise waren wir schon früh direkt am Kommunalwahlkampf beteiligt. Und ich hatte früh gelernt, dass die direkte Ansprache die beste ist, denn die Briefe waren persönlich unterschrieben und adressiert, keine Massenwurfsendung.

Meine Mutter, meine Schwestern Ruth und Christa und ich (v.l.n.r.), 1956

Politik spielte also bereits in meiner Jugend eine selbstverständliche Rolle. Klar, dass bei uns zu Hause viele politische Gespräche geführt wurden. Mein Vater war sehr darauf bedacht, uns mit aktuellen politischen Themen zu konfrontieren. Da er beruflich stark eingespannt war, geschah das meistens sonntags beim Frühstück oder beim Mittagessen. Zunächst einmal ging es natürlich um das Kommunale, was mich und wohl generell junge Menschen nicht gerade fasziniert hat. Aber ob die Schule umgebaut, der Schulhof verkleinert, das öffentliche Schwimmbad renoviert wird oder ob es ein neues Verkehrsmittel zur Schule gibt, sodass man nicht mehr lange Strecken zu Fuß zurücklegen muss, das sind natürlich Dinge, die nicht ganz ohne Belang sind und dann irgendwann zwangsläufig doch interessant werden. Seit über 12 Jahren bin ich engagierte Kommunalpolitikerin im Kreistag in Starnberg.

Mein Vater war begeisterter FAZ-Leser. Auf der Titelseite – das hat sich bis heute nicht geändert – gibt es die Kommentare zu den aktuellen Ereignissen, hintergründig und pointiert. Diese interessierten ihn am meisten, und die wollte er mit uns besprechen. Da war ich ungefähr 15 und meine ältere Schwester 17 – also in einem Alter, in dem man selbst Zeitung liest, Radio hört, die Nachrichten im Fernsehen anschaut und in der Schule über Politik redet. Meinem Vater war es ein großes Anliegen, politische Themen aufzuwerfen, zu diskutieren und mit Hintergrundwissen zu versehen. »Postfaktisch« wäre für ihn nie vorstellbar gewesen. Natürlich dominierte er die Diskussion, denn er hatte durch intensives Zeitungsstudium, Buchlektüre und viel Erfahrung fundiertes Wissen. Wir hatten naturgemäß in diesem Alter eine gewisse innere Abwehrhaltung. Ich kann mich daran erinnern, dass er die Gespräche immer dozierend begann – er wusste einfach sehr viel. Wenn wir dann widersprachen oder nachfragten, beharrte er jedoch nicht stur auf seinem Standpunkt, sondern ließ sich auf uns ein und fragte nach, warum wir etwas so oder so sahen. Es war also keineswegs der Fall, dass er uns nur belehrte, im Gegenteil: Er forderte uns, ließ uns nicht in Ruhe, sondern verlangte Begründungen. Er wollte wissen, was und wie wir dachten. Mit Schweigen oder Ausweichen gab er sich nicht zufrieden. Wir sollten uns äußern und lernen, unsere Meinung auch in der Kontroverse nachhaltig zu vertreten. Dazu provozierte er uns regelrecht.

Insofern waren diese ein, zwei Stunden zu Hause beim sonntäglichen Frühstück oder Mittagessen für uns zwar nicht immer eine Freude, aber wir spürten, dass sie wichtig waren. Und vor allem, dass wir ihm wichtig waren. Wir lernten etwas dazu und wir wurden ernst genommen, manchmal auch angeregt, uns mit dem betreffenden Themenkomplex näher zu befassen. Aber selbst wenn das nicht der Fall war, versetzten uns die Diskussionen doch in die Lage, Dinge anders wahrzunehmen und den Blick zu erweitern. Das ging uns allen dreien so.

Aber um die Idylle nicht zu überzeichnen: Manchmal hat uns der Polittalk auch gelangweilt. Viel mehr hat uns beschäftigt, wie lange wir abends mit unseren jeweiligen Freundinnen und Freunden wegbleiben konnten.

Mein Vater hatte unbestritten ein großes Sendungsbewusstsein. Letztlich wollte er uns Kinder wohl von seinen eher konservativen Auffassungen überzeugen, aber eben mit Argumenten, nicht autoritär. Ihm und den Gesprächen zu Hause am Esstisch verdanke ich das frühe Interesse für Politik und die Lust, sich kämpferisch für die Sache einzusetzen, aber bestimmt hat damals niemand – weder er noch ich – daran gedacht, dass daraus einmal eine Phase von 23 Jahren aktiver Politik für mich werden würde.

Familientradition Jura

Für eines hat mich mein Vater aber früh begeistern können, das meinen gesamten Berufsweg und auch viele Weichenstellungen in der Berufspolitik geprägt hat: Er hat mich mit seiner Begeisterung für die Juristerei angesteckt. Da haben die familiären »Juristengene« durchgeschlagen. Mein Vater stammte aus Gotha in Thüringen und wurde nach seinem Jurastudium in Prag und Würzburg Rechtsanwalt und Notar in Minden. Sein Vater, mein Großvater, war auch Jurist in Gotha und Landrat. Mein Urgroßvater und mein Ururgroßvater waren ebenfalls Juristen – in unserer Familie herrscht also eine lange juristische Tradition: Ich bin jetzt in der fünften Generation Juristin.

Mein Urgroßvater, der 1945 in Weimar verstorbene Geheime Reichsrat und Staatsminister Dr. Richard Leutheusser, war Mitbegründer der Deutschen Volkspartei (DVP) und deren Abgeordneter im Weimarer Reichstag. Das war die Partei, die 1918 unter der Führung Gustav Stresemanns aus der nationalliberalen Partei des Kaiserreichs hervorging und die der Republik und ihrer Verfassung zunächst skeptisch bis ablehnend gegenüberstand. Später war sie dann ein wichtiges Mitglied der Weimarer Koalition unter sozialdemokratischer Führung. Doch im Zuge der Weltwirtschaftskrise wurde sie Ende der 1920er-Jahre schließlich bedeutungslos.

In meiner Familie wurde berichtet, mein Urgroßvater habe sich besonders für das Jugendstrafrecht und die Humanisierung des Jugendstrafvollzugs eingesetzt. Er betonte die Bedeutung der familiären Erziehung als Präventionselement. Leider weiß ich nur sehr wenig über ihn, eben nur das, was zu den innerfamiliären Erzählungen gehört. Sein Sohn, mein Großvater Dr. Louis Leutheusser, der mir hätte mehr berichten können, verstarb 1964. Damals war ich noch zu sehr mit mir selbst beschäftigt, zu jung und uninteressiert an der Familiengeschichte. Das bedaure ich heute manchmal, hätte er mir doch viel Erlebtes aus der damaligen Zeit berichten können. Geschichte durch einen Zeitzeugen gegenwärtig zu machen, kann prägender sein als Geschichtslektüre.

Mein Großvater gehörte zwar keiner Partei an, verstand sich aber als hochpolitischer Mensch. Als Verwaltungsjurist in der Weimarer Zeit war er zuerst Regierungsrat, dann Landrat in Gotha. 1933, nach der Machtergreifung Hitlers, wurde er in den sofortigen Ruhestand versetzt, weil er die vom Thüringischen Innenminister angeordnete Amtsenthebung aller sozialdemokratischen Bürgermeister öffentlich in einem Rundschreiben missbilligte und sich für deren gute Arbeit und Zusammenarbeit bedankte. Als er sich später auch noch weigerte, Mitglied des Nationalsozialistischen Versorgungswerks (NSV) zu werden, wurde er 1935 von der Thüringischen Regierung als »nationale Unzuverlässigkeit« und »gegen die Regierung Adolf Hitlers gerichtet« beurteilt, was zur sofortigen Entlassung aus dem Staatsdienst führte. Damit verbunden war der Verlust erworbener Pensionsansprüche und Arbeitslosigkeit. Doch 1939, als der Krieg begann, besann man sich seiner Erfahrung als Verwaltungsfachmann und verpflichtete ihn zum Dienst im Wehrbezirkskommando Gotha. Er war damals 62 Jahre alt und versah diesen Dienst bis zum Kriegsende. Nach dem Krieg als politisch Verfolgter anerkannt und rehabilitiert, setzte ihn die amerikanische Besatzungsmacht wieder in der Verwaltung Gothas ein.

Mit dieser politischen Haltung ist er für mich ein Vorbild. Ich habe ihn nur leider als junges Mädchen nicht so wahrgenommen. Da war er der ebenso strenge wie faire, gutmütige, zurückhaltende und – wie sein Lebensweg zeigt – bis ins hohe Alter gradlinige und zu sich stehende Großvater, aber nicht der Staatsbeamte, der seine Verpflichtung in dem Dienst am Staat sah und für den Staatsdienst kein Parteidienst war.

Er zog 1954 mit seiner Frau nach Minden, die beiden wohnten später bei uns nebenan. Heute geht mir immer mal wieder durch den Kopf, wie er sich damals gefühlt haben mag: Er war als Landrat eine Zeit lang eine wichtige Persönlichkeit im gesellschaftlichen Leben Gothas gewesen und dann der tiefe Absturz. Das muss ihn schwer getroffen, sein Ehrgefühl und sein Verständnis von einer parteifernen, neutralen Verwaltung verletzt haben. Als Kind hab ich ihn und seine Frau, meine Großmutter, einfach als Großeltern und Teil der Familie erlebt. Sie kamen fast jeden Sonntag zu uns zum Kaffeetrinken oder zum Abendessen. Ich erinnere mich gut daran, dass mein Großvater in unseren Gesprächen immer eine ganz eigene Sichtweise hatte, nachdenklich, nachfragend, große Zusammenhänge herstellend. Es war jedes Mal ein anderer, ein überraschender Blick auf das, worüber wir sprachen. Das hat mich beeindruckt. Nachhaltig.

CDU, SPD, FDP, Grüne: alles in einer Familie

Es gibt aber noch mehr politikausübende Menschen in meiner Familie: Dr. Wolfgang Stammberger war der Schwiegersohn meiner Großtante väterlicherseits, also der angeheiratete Cousin meines Vaters. Er war seit Kriegsende Mitglied der bayerischen FDP, Mitbegründer und von 1946 bis 1948 Vorsitzender der bayerischen Jungdemokraten, der FDP-Jugendorganisation. Ab 1953 saß er als Abgeordneter im Bundestag und ab Herbst 1961 übte er für eine relativ kurze, aber politisch brisante Zeit das Amt des Bundesministers der Justiz im vierten und letzten Kabinett der Regierung des Kanzlers Konrad Adenauer aus. Nach nur neunmonatiger Amtszeit trat er im November 1962 in Zusammenhang mit der »Spiegel-Affäre« zurück, die der damalige Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß ausgelöst hatte. Wolfgang Stammberger stand seinem Kabinettskollegen Strauß und dessen Verstrickungen in die Affären um die Beschaffung von Schützenpanzern – vorsichtig gesagt – kritisch gegenüber. Dazu kam, dass Strauß ihn damals – seine Rechte als Justizressortchef verletzend – übergangen hatte.

Kurze Zeit nach seinem Rücktritt, im Juni 1964, verließ Wolfgang Stammberger die FDP und trat in die Coburger SPD ein. Von 1970 bis 1978 bekleidete er in seiner Heimatstadt das Amt des Oberbürgermeisters. Hier sehe ich eine gewisse Parallele zur Laufbahn meines Vaters. Er war ja auch Jurist und als Gründungsmitglied der CDU einige Jahre Stellvertretender Bürgermeister in der traditionell sozialdemokratisch regierten westfälischen Kleinstadt Minden.

Wenn ich dann weiter an einen jüngeren Cousin meines Vaters denke, an Helmut Leutheusser, ausnahmsweise kein Jurist, sondern Kaufmann und viele Jahre engagiertes Mitglied der bayerischen FDP, Kandidat für viele Mandate und gewählter Bürgermeister der kleinen Gemeinde Weißenbrunn in Oberfranken – dann ist die Einschätzung, aus einer politischen Familie zu stammen, doch ganz zutreffend und eine gewisse politische Affinität nicht von der Hand zu weisen. Aber nicht in dem Sinne, dass ich die Berufung oder den Ruf zur Parlamentarierin im Landtag oder Bundestag schon immer in mir gespürt hätte. Für mich stand mein Studium ganz klar im Vordergrund. Nach dem Abitur 1970 am Caroline-von-Humboldt-Gymnasium in Minden habe ich in Göttingen und Bielefeld Rechtswissenschaft studiert, 1978 mein zweites Staatsexamen abgelegt und bin kurz vorher in die FDP eingetreten. Da war ich 27.

Es war zwar nicht die Partei meines Vaters, aber das breite Spektrum an politischen Einstellungen in unserer Familie hat ihm dennoch behagt. Meine ältere Schwester war Mitglied der SPD, meine jüngere sympathisierte mit den Grünen, ich trat in die FDP ein. Wir haben unsere eigenen Haltungen entwickelt, und das hat meinem Vater gefallen, auch wenn er sich das aus seiner Sicht notwendige konservative Element in unserer Gesellschaft – zu dem unter anderem die Beibehaltung der Bundeswehr, das Abtreibungsverbot gehören – auch künftig in seiner Familie vertreten gewünscht hätte.

Später, als ich Ministerin war, hat mein Vater eine besondere Form der kommentierenden Stellungnahme zu der von mir vertretenen Rechts- und Justizpolitik gewählt: Er hat kritische Leserbriefe in der FAZ geschrieben zu Entscheidungen, die ich als Ministerin getroffen habe, mit denen er nicht einverstanden war. Nicht häufig, aber zu einzelnen Themen. Obwohl er stolz war auf seine Tochter, ließ er sich das öffentliche Kundtun der eigenen Meinung nicht nehmen. Das Abtreibungsrecht war so ein Thema, denn er war gegen die Fristenregelung und damit Teillegalisierung. Das andere Thema war die Bundeswehr und alles, was mit ihr zusammenhing. Er war der Meinung, jeder müsse dem Staat gegenüber eine Leistung erbringen, der Wehrdienst sei wichtig und das System der Bundeswehr funktioniere gut. Er sympathisierte deshalb auch mit einem sozialen Jahr. Außerdem hat er sich über die Bundesverfassungsgerichtsurteile zu dem Tucholsky-Zitat »Soldaten sind Mörder« geäußert, das, als Zitat verwandt, unter das Recht auf allgemeine Meinungsfreiheit fiel – gerade mit Blick auf die Rolle der Bundeswehr hat ihn das verärgert.

Er hat keinen Hehl daraus gemacht, dass er einigen Auffassungen der damaligen Justizministerin von 1992 bis 1996, also seiner eigenen Tochter, kritisch gegenüberstand. Er hat mir zwar seine Kommentare angekündigt, angenehm waren sie mir nicht. Das musste ja nun wirklich nicht sein. Für manch politischen Konkurrenten waren sie ein willkommener Anlass, zu lästern nach dem Motto: »Wenn Sie noch nicht mal den eigenen Vater überzeugen können …« Heute bin ich rückblickend milder in meiner Bewertung und kann die damaligen Befindlichkeiten nachvollziehen, zeigen sie doch sehr gut den Spannungsbogen und das Spektrum an Standpunkten in meiner Familie, und damit auch die Bandbreite der Auffassungen in der damaligen Gesellschaft.

Über sich selbst lachen

So ernst konnte die tägliche Situation gar nicht sein, dass in meiner Familie nicht auch viel gelacht wurde. Meine Mutter war ein fröhlicher Mensch, gesellig, mit einer optimistischen Grundeinstellung und der Fähigkeit, mit ihrer herzlichen Art die Menschen für sich einzunehmen. Sie brachte Lebendigkeit und Leben in den großen Leutheusser-Haushalt, Gäste waren herzlich willkommen, Freundinnen und später auch Freunde feierten gern bei uns. Sie kochte exzellent, war eine hervorragende Gastgeberin und außerdem dichterisch begabt, was sie bei verschiedenen Anlässen im Familien- und Freundeskreis unter Beweis stellte. Sie dichtete zu Geburtstagen, Hochzeiten, Jubiläen, und das sehr gekonnt und humorvoll – nicht nach dem Motto: Reim dich oder ich fress dich! Vielleicht habe ich von ihr das Interesse und die Faszination für das Kabarett geerbt. So sehr, dass ich mir eine Zeit lang sogar vorstellen konnte, es intensiver, ja vielleicht auch professionell zu betreiben.

Vom Kabarett in Minden zum »Kabarett« in Bonn

Ende der 1960er-/Anfang der 1970er-Jahre bekam ich die Gelegenheit, Mitglied der Mindener Stichlinge, des ältesten Amateurkabaretts in Deutschland, zu werden. 1966 gegründet entwickelten die Stichlinge, damals als ganz junge Truppe, ihre eigenen Formen des Protests. Birger Hausmann, der Spiritus Rector dieses regionalen Kabaretts, griff in erster Linie lokale Themen und Ereignisse auf. Lokale Possen gab und gibt es ja zu allen Zeiten genug. Überdies hatte er von Anfang an einen ausgeprägten politischen Anspruch – damals hätte man wahrscheinlich gesagt, er war ein bisschen Linker, heute würde man sagen, er gehört mitten in die Gesellschaft. Als ich ihn kennenlernte, Ende der 1960er-Jahre, sprach er mich an, fragte, ob ich Lust hätte, bei ihnen mitzumachen, und ich sagte sofort Ja. Leider war meine aktive Stichlings-Zeit nur relativ kurz, da ich Minden wegen des Studiums in Göttingen verließ.

Humor hat man, Kabarett lernt man. Beides hilft in der Politik und im alltäglichen Zusammenleben. Ich empfand das Kabarett in jeder Hinsicht als Bereicherung. Fähigkeiten zu entwickeln, die in der Schule nicht gefragt waren, negative Erlebnisse ironisch aufzuspießen und zu verarbeiten, kritisch, aber nicht verletzend zu sein und sich in ein Team einzufügen – das hat mich selbstständiger und selbstbewusster werden lassen.

Das Kabarett bot mehrere Dinge, die ich mochte: zusammen mit anderen etwas erarbeiten, Rollen einstudieren, Themen zuspitzen, durch Übertreibung zu Erkenntnissen zu kommen. Es gefiel mir sehr gut, damals in meinem vorberufspolitischen Leben nach meiner gerade beendeten Schulzeit. Ich war zwar keine Hauptakteurin, aber das Kabarett hat mein Interesse an Politik eindeutig befördert, und ich bin überzeugt, dass mir diese Erfahrung später zugutegekommen ist. Auch wenn ich während meiner Zeit als Berufspolitikerin nicht als Kabarettistin aufgetreten bin, war ich als Zuhörerin und Zuschauerin eine treue Begleiterin der Stichlinge bis vor Kurzem zu ihrem 50. Jubiläum.

Die Mindener Stichlinge waren in ihren Anfängen nicht so etabliert, dass sie die Stadtpolitiker oder auch die damaligen Landes- und Bundespolitiker in Verlegenheit bringen konnten. Es war beileibe nicht so, dass diese in größter Sorge waren und überlegten, wie sie – heute würde man sagen, mit einem Tweet – auf die Sticheleien reagieren sollten. So weit ging es nicht, aber trotzdem war die CDU damals nicht glücklich mit unserem Kabarett. Wir waren eben stichelig und setzten immer wieder kleine, aber feine und wirksame Pointen. Ich habe leider nur in wenigen Aufführungen mitgewirkt, marginale Auftritte gehabt und keine Hauptrolle gespielt. Damals war der Rahmen noch so klein und die Räumlichkeiten im Jugendzentrum begrenzt.

Heute denke ich oft, dass es zwischen Kabarett und Politik einige Gemeinsamkeiten gibt. Kabarettisten bringen – wie Politiker es sollten – die Dinge auf den Punkt, überspitzen sie und schaffen damit auch Realität. Dieser Realitätsbezug tut Politikern gut, fehlt aber manchmal. Politik liefert dem Kabarett sehr viele Vorlagen. Manchmal empfinde ich Politik selbst als Kabarett – ungewollt: Da gibt es Aussagen und Forderungen, die man nicht ernst nehmen kann, sondern die eher die Frage aufwerfen: Wo bitte ist hier der Realitätsbezug? Ich erinnere mich noch an die Forderung eines Bundestagsabgeordneten, dass die Bundesregierung Mallorca kaufen sollte. Das wäre einem Kabarettisten nicht eingefallen.

Jedenfalls möchte ich die Zeit bei den Mindener Stichlingen auf keinen Fall missen, auch wenn ich mich letztendlich für das professionelle politische »Kabarett« in Bonn und später in Berlin entschieden habe. Die Grundeinstellung, die politische Verantwortung sehr ernst, aber nicht alles in der Politik ernst zu nehmen, habe ich mir als Amateurkabarettistin angeeignet.

Zukunftsvision: »die Gemeinschaft aller fröhlich’ Narren«

Am Rosenmontag 2016 wurde mir der Kitzinger Schlappmaulorden verliehen – eine Ehrung, die die Kitzinger Karnevalsgesellschaft seit 1989 vornimmt und die mich besonders gefreut hat. Vom Elferrat des Vereins ausgezeichnet werden Personen der Zeitgeschichte, die mit einer »gar trefflich lockeren Zunge« ein »schlagkräftiges Wort zu führen« verstehen. Unter den bisherigen Preisträgern befinden sich eine Reihe von Politikern, zum Beispiel Hans-Dietrich Genscher, Helmut Kohl, Gregor Gysi und Claudia Roth. In meiner Rede zur Verleihung des Schlappmaulordens fragte ich mich zuerst, womit ich die Auszeichnung verdient hätte:

»Warum, so frag’ ich mich in vollem Ernst, / bin gerade ich zum Schlappmaul auserkoren? / Ist es Ehre oder war es Posse, / mich dieses Ordens würdig zu befinden?«

Es bot sich die Gelegenheit, mit kabarettistischen Spitzen auf aktuelle brennende Probleme und auf eine unverantwortliche Politik zu zielen, die mehr und mehr die Konsequenzen ihrer Handlungsweise außer Acht zu lassen scheint. Denn wie Ängste geschürt werden und die Bevölkerung derartig verunsichert wird, dass sie meint, sich selbst schützen zu müssen, ist unverantwortlich: