Hannah Arendt - Annette Vowinckel - E-Book

Hannah Arendt E-Book

Annette Vowinckel

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Beschreibung

Hannah Arendt ist eine der bedeutendsten und populärsten Philosophinnen überhaupt: Ihre Untersuchungen über den Zusammenhang von Totalitarismus und Antisemitismus und die drei Kategorien menschlicher Aktivität "Arbeit"? "Herstellen" und "Handeln" zeigen sie als eine der einflussreichsten gesellschafts- und politikwissenschaftlichen Theoretikerinnen. Für die zweite Auflage wurde der Band vollständig überarbeitet und auf den neuesten Stand der Forschung gebracht. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.

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Annette Vowinckel

Hannah Arendt

Reclam

2., durchgesehene und ergänzte Auflage

Alle Rechte vorbehalten

© 2015 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

Umschlagabbildung: Hannah Arendt, 1944. – © akg-images / picture-alliance / Fred Stein

Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen.

Made in Germany 2015

RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken

der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-960868-6

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-019354-9

www.reclam.de

[5] Inhalt

Ein Leben zwischen Politik und Philosophie

Augustinus, Rahel Varnhagen und die Liebe

Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft

Antisemitismus

Imperialismus

Totale Herrschaft

Das Werk in seiner Zeit

Die Einsamkeit der Ideologie und die Pluralität der Welt

Vita activa: Eine Handlungstheorie

Arbeiten, Herstellen, Handeln

Das Private, das Politische und die Gesellschaft

Das Werk aus der Perspektive des 21.Jahrhunderts

Sein als Erscheinung oder: Die Performativität des Handelns

Ein kleiner und ein großer Eklat

Reflections on Little Rock

Eichmann in Jerusalem

Die Eichmann-Kontroverse

Über die Revolution

Historische Notwendigkeit und freies Handeln

Anmerkungen zur Rezeptionsgeschichte

Nachdenken über Deutschland

»… und die Wahrheit selbst sei Gott empfohlen!« – Biografische Schriften über Freunde und Wahlverwandte

Vita contemplativa: Vom Leben des Geistes

Denken

Wollen

Urteilen

Anstelle eines Nachworts: Denken und Handeln in finsteren Zeiten

Anmerkungen

Kommentierte Bibliografie

Siglenverzeichnis

Schlüsselbegriffe

Zeittafel

[7] Ein Leben zwischen Politik und Philosophie

Hannah Arendt (1906–1975) war studierte Philosophin, doch lehnte sie es ab, als Philosophin bezeichnet zu werden. Ihrem Selbstverständnis nach beschäftigte sie sich mit politischer Theorie, die sich naturgemäß nicht mit der Philosophie vertrage. Seit dem Prozess gegen Sokrates, erklärte sie, habe sich das Denken vom Handeln und das Handeln vom Denken verabschiedet. Während das Denken auf der Suche nach der einen Wahrheit gewesen sei, habe das Handeln nur auf der Grundlage der Akzeptanz vielfältiger Meinungen funktionieren können; während das Denken stets ein Dialog des Einzelnen mit sich selbst sei, sei das Handeln auf den Dialog der vielen angewiesen.

Gleichwohl arbeitete Arendt auch in ihren politisch-theoretischen Schriften stets mit philosophischen Begriffen und Konzepten. In ihrem Prozessbericht über Eichmann in Jerusalem bezog sie sich auf Kants Begriff der Urteilskraft, an der es dem Angeklagten Arendt zufolge mangelte, in ihrem Buch über den Totalitarismus beklagte sie den von totalitären Regimen unternommenen Versuch, die Pluralität als Grundbedingung menschlicher Existenz abzuschaffen, und ihre biografischen Schriften sind samt und sonders Plädoyers dafür, die Idee von der einen und einzigen Wahrheit zugunsten der Meinungsvielfalt und des Dialogs zu opfern.

Es ist ihre Präferenz für das perspektivische Denken und eine von Pluralität bestimmte Welt, die Arendt gegen die einsame Welt des Philosophen setzte, und es ist die Einsicht, dass Geschichte nicht von Philosophenkönigen, sondern von den Zufällen und von der Willkür der handelnden Menschen gelenkt wird, die sie zu einer politischen Denkerin par excellence machten. Arendts frühe Abkehr von der Philosophie und die gleichzeitige Hinwendung zur politischen Theorie und zur [8] Geschichtsschreibung ist indes kaum nachvollziehbar ohne Kenntnis ihrer Lebensgeschichte, die Ernest Gellner (1925–1995) einmal als Parabel der Moderne beschrieben hat: »If Hannah Arendt had not existed it would most certainly be necessary to invent her. Her life is a parable, not just of our age, but of several centuries of European thought and experience.«1(Auf Deutsch: Wenn Hannah Arendt nicht existiert hätte, hätte man sie erfinden müssen. Ihr Leben ist nicht nur eine Parabel unseres Zeitalters, sondern mehrerer Jahrhunderte europäischen Denkens und Handelns.)

1906 in Hannover geboren, verbrachte Arendt ihre Kindheit und Jugend in Königsberg, wo sie ein altsprachliches Gymnasium besuchte. Schon früh las sie die Werke der großen Philosophen, die im elterlichen Bücherschrank standen. Nach eigener Auskunft hatte sie im Alter von vierzehn Jahren bereits Kant gelesen, später Kierkegaard und Karl Jaspers’ Psychologie der Weltanschauungen. Nachdem sie als Achtzehnjährige wegen Anstiftung zum Unterrichtsboykott der Schule verwiesen worden war und das Abitur als externe Schülerin hatte ablegen müssen, nahm sie das Studium der Philosophie, des Griechischen und – obwohl sie selbst aus einer jüdischen Familie stammte – der protestantischen Theologie an der Universität Marburg auf. Das Interesse für die Theologie ergab sich aus einer frühen Kierkegaard-Lektüre, während ihr Interesse an Philosophie quasi einem existenziellen Grundbedürfnis entsprang: »Da können Sie fragen: Warum haben Sie Kant gelesen? Irgendwie war es für mich die Frage: entweder kann ich Philosophie studieren oder ich gehe ins Wasser sozusagen.«2

Bereits im ersten Semester besuchte Arendt die Seminare von Martin Heidegger (1889–1976), den sie als »heimlichen König« im Reich des Denkens bezeichnete.3 Schon bald bahnte sich eine Affäre zwischen Heidegger und seiner Studentin an – eine Affäre, die streng geheim gehalten werden musste, da [9] Heidegger verheiratet war und zwei Söhne hatte. 1926 ging Arendt, um den amourösen Verwicklungen zu entkommen, nach Heidelberg zu Karl Jaspers (1883–1969), bei dem sie 1929 mit einer Dissertation über den Liebesbegriff bei Augustinus promovierte. Zwar hatte sie sich infolge ihrer Affäre mit Heidegger gezwungen gesehen, Marburg zu verlassen, doch trug ihr diese Affäre auch das Privileg ein, die Entstehung von Heideggers Hauptwerk, Sein und Zeit, aus allernächster Nähe verfolgen zu können. Obwohl Arendt sich in den folgenden Jahren aufgrund der politischen Entwicklungen in Deutschland ostentativ von der Philosophie und von Martin Heidegger als Person distanzierte, hinterließ die Lektüre von Sein und Zeit nachhaltige Spuren, die sich in all ihren Werken finden lassen.

Ebenfalls 1929 heiratete Arendt den Philosophen Günther Stern (1902–1992) – der sich später Günther Anders nannte – und nahm die Arbeit an einer Habilitationsschrift über die deutsche Romantik auf. Als sie auf Hinweis ihrer Freundin Anne Mendelssohn, einer Nachfahrin des jüdischen Aufklärers Moses Mendelssohn, den Nachlass der Dichterin Rahel Varnhagen (1771–1833) in der Berliner Staatsbibliothek entdeckte, änderte sie ihre Pläne und begann, eine Biografie der Dichterin zu schreiben. Am Abschluss des Verfahrens hinderte sie jedoch die nationalsozialistische Machtübernahme, die Arendt nach kurzer Inhaftierung dazu bewegte, gemeinsam mit ihrer Mutter nach Paris zu flüchten. Günther Stern folgte ihnen nach Paris, allerdings hatte sich das Ehepaar schon in Berlin auseinandergelebt und ließ sich bald wieder scheiden.

Über gemeinsame Bekannte lernte Arendt in Paris ihren zweiten Ehemann Heinrich Blücher (1899–1970) kennen, der als Kommunist ebenfalls nach Frankreich geflüchtet war. Beide wurden nach dem Einmarsch der deutschen Truppen interniert, konnten aber dem Lager entkommen und trafen sich bei Freunden in Südfrankreich wieder, von wo aus sie mit [10] amerikanischen Notvisa nach New York ausreisten. Bald fand Arendt eine Stelle als Lektorin im New Yorker Schocken-Verlag und übernahm dort die Verantwortung für die Edition der Werke Franz Kafkas. Später arbeitete sie für die Jewish Cultural Reconstruction, in deren Auftrag sie 1949 erstmals wieder nach Europa reiste, um Listen erhalten gebliebener jüdischer Kulturgüter zu erstellen.

In diesen Jahren schrieb Arendt mehrere Aufsätze für akademische Zeitschriften und Kolumnen für die deutschsprachige Emigrantenzeitschrift Der Aufbau, bevor sie 1951 ihr erstes großes Werk unter dem Titel The Origins of Totalitarianism in englischer Sprache veröffentlichte (dt.: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 1955). Im selben Jahr nahm sie die amerikanische Staatsbürgerschaft an. Es folgten mehrere Lehraufträge, unter anderem in Princeton und Berkeley, bevor Arendt eine Professur an der University of Chicago und später an der New Yorker New School for Social Research annahm. Sie starb am 4. Dezember 1975 in ihrer New Yorker Wohnung, kurz nachdem sie die Arbeit an einer Vorlesungsreihe über das Urteilen aufgenommen hatte.

Während Arendts Werke in der politischen Theorie und der Geschichtswissenschaft unmittelbar nach Erscheinen kontrovers diskutiert wurden, ließ die Rezeption durch die akademische Philosophie noch einige Zeit auf sich warten. Erst nach der Veröffentlichung von Elisabeth Young-Bruehls umfangreicher Biografie im Jahr 19804 setzte eine Arendt-Renaissance ein, zunächst in den Vereinigten Staaten, dann in Deutschland und schließlich in Frankreich. Ihren Höhepunkt in Deutschland erreichte sie kurz nach dem Fall der Berliner Mauer – wobei die abenteuerliche Lebensgeschichte vermutlich dazu beitrug, das Interesse eines breiten Publikums für Arendts Leben und Werk zu wecken. Obwohl sich Jürgen Habermas (geb.1929) mit seiner Theorie des kommunikativen [11] Handelns bereits in den siebziger Jahren auf Hannah Arendt bezogen hatte, fand sie erst jetzt auch bei der deutschen Linken Beachtung, der sie wegen des in der Schrift Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft angestellten Vergleichs der nationalsozialistischen mit der stalinistischen Ideologie als Antikommunistin gegolten hatte.

Nun aber wurde das Buch sehr breit rezipiert. Arendts Ansatz wurde als Alternative zu den von der Linken traditionell favorisierten Faschismustheorien wiederentdeckt und Arendt als Person rehabilitiert. Seither ist in Deutschland eine verstärkte Auseinandersetzung mit ihrem Werk zu verzeichnen, verbunden mit einer großen Bereitschaft, die Autorin als moralische Autorität anzuerkennen. Nicht nur wies sie den Weg für die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit, sie zeigte gleichzeitig auch Alternativen zum ideologischen Marxismus auf. Dass man es bei ihr nicht mit einer Amerikanerin im Dienste eines Reeducation-Programms zu tun hatte, sondern mit einer Exildeutschen, die Goethe, Schiller und Kant gelesen hatte, trug ein Übriges zu der posthumen Erfolgsgeschichte bei.

Seither sind so gut wie alle Aspekte ihres Werks gründlich untersucht worden, wobei neben den philosophischen Kernfragen vor allem ihre persönliche Beziehung zu Martin Heidegger im Zentrum der Aufmerksamkeit stand. In der vorliegenden Einführung wird diese Beziehung – von der zu Arendts Lebzeiten niemand außer ihren engsten Vertrauten und Heideggers Ehefrau Elfride etwas wusste – jedoch nur dort eine Rolle spielen, wo sich Heideggersches Gedankengut in Arendts Werken wiederfindet beziehungsweise weiterentwickelt wird. Dies gilt vor allem im Hinblick auf die phänomenologische Methode, die möglicherweise das stärkste gemeinsame Charakteristikum aller Werke darstellt. Im negativen Sinn hat Heidegger das Arendtsche Werk aber auch im Hinblick auf die Frage nach [12] dem Antagonismus von Politik und Philosophie geprägt: Wiederholt nannte Arendt ihn als Beispiel für einen Philosophen, der in der Abgeschiedenheit des Denkens den Sinn für Pluralität und Diskursivität als Grundbedingungen des menschlichen Miteinanders verloren hatte.

Leitfaden der vorliegenden Einführung ist die Frage nach dem Verhältnis von Politik und Philosophie, die Arendt bereits früh beschäftigte und die sich als Subtext durch alle nach der Rahel-Biografie verfassten Schriften hindurchzieht. Dabei erscheint die frühe Abkehr von der Philosophie und die verstärkte Auseinandersetzung mit politischen Fragen vordergründig als Reaktion auf die nationalsozialistische Machtübernahme. Wie Arendt später in einem Interview erklärte, stand dieser Paradigmenwechsel in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Verhalten vieler deutscher Akademiker, mit denen sie sich bis dahin eng verbunden gefühlt hatte: »Man denkt heute oft, daß der Schock der deutschen Juden 1933 sich damit erklärt, daß Hitler die Macht ergriff. Nun, was mich und Menschen meiner Generation betrifft, kann ich sagen, daß das ein kurioses Mißverständnis ist. […] Das Problem, das persönliche Problem war doch nicht etwa, was unsere Feinde taten, sondern was unsere Freunde taten. […] Ich lebte in einem intellektuellen Milieu, ich kannte aber auch andere Menschen, und ich konnte feststellen, daß unter den Intellektuellen die Gleichschaltung sozusagen die Regel war. Aber unter den anderen nicht. Und das hab’ ich nie vergessen. Ich ging aus Deutschland, beherrscht von der Vorstellung – natürlich immer etwas übertreibend –: Nie wieder! Ich rühre nie wieder irgendeine intellektuelle Geschichte an.«5

In einer 1954 gehaltenen Vorlesung über Philosophy and Politics reichte sie eine fundierte Begründung für ihre »Wende« nach. Hier verwies sie auf die historische Trennung der Philosophie von der Politik infolge des Todesurteils gegen Sokrates.6[13] Gegenstand der Philosophie sei seither die Wahrheitsfindung, während Politik als bloßer Austausch von Meinungen gelte, die mit großer Geschwindigkeit auftauchen, um dann ebenso schnell wieder zu verschwinden. Fortan hätten die Philosophen gemeint, es könne nur eine einzige Wahrheit geben, die in den vielfältigen, perspektivisch bedingten und stets variablen Meinungen der Politiker qua Definition nicht enthalten sein könne. Der Philosoph meide seither den öffentlichen Austausch und ziehe sich auf den Dialog mit sich selbst zurück. Der Politiker hingegen sei nicht handlungsfähig ohne Öffentlichkeit, ohne die Anwesenheit von anderen, mit denen er seine Argumente austauschen, die er überzeugen oder von denen er sich überzeugen lassen kann.

Der Pluralität als Grundbedingung menschlichen Lebens nicht Rechnung getragen, sie gar als Defizit – nämlich als Nährboden für die Entstehung »bloßer« Meinungen – behandelt zu haben ist Arendt zufolge das größte Defizit der abendländischen Philosophie. Die einzige Ausnahme sei Immanuel Kant (1724–1804), der in der Kritik der Urteilskraft wiederholt darauf verweist, dass das Urteilen nur auf der Grundlage einer »erweiterten Denkungsart« funktionieren könne. Als solche bezeichnet er das Bemühen, die Welt nicht nur mit den eigenen Augen zu sehen, sondern sie sich auch aus der Perspektive anderer vorzustellen.

Die Beschreibung des Antagonismus von Politik und Philosophie, von Meinung und Wahrheit verbindet Arendt mit der Beschreibung eines zweiten Problems, das die Geschichte der Philosophie seit Platon maßgeblich bestimmt hat. Es ist die Frage nach der Differenz von Sein und Erscheinung, die Platon bekanntlich mit einer Zwei-Welten-Theorie beantwortet hat: Alles, was existiert, ist Abbild einer unter der bloßen Erscheinung liegenden Idee, die nur als geistige zu verstehen und die allein wahrhaftig ist: Alles sinnlich Wahrnehmbare ist, im [14] Unterschied zur Idee, abhängig von der Wahrnehmung; die Wahrnehmung aber ist perspektivisch und kann keinen Anspruch auf Wahrheit geltend machen.

Dieses Auseinanderfallen von Sein und Erscheinen steht für Arendt in zeitlichem wie auch kausalem Zusammenhang mit dem Auseinanderfallen von Wahrheit und Meinung, von Philosophie und Politik: Die Wahrheit des Philosophen ist wirklich und ewig, während die Meinung des Politikers nur erscheint und bald wieder verschwindet. Vor diesem Hintergrund erscheint Arendts Gesamtwerk als ein Versuch, die von Platon erdachte Zweiteilung der Welt zu überwinden, Pluralität und Perspektivität als genuin menschliche Bedingungen und Begabungen zu rehabilitieren und Sein und Erscheinung wieder in eins zu setzen.

So erklärte sie in ihrem Spätwerk Vom Leben des Geistes ohne Umschweife, sie versuche, »die Metaphysik und die Philosophie mit allen ihren Kategorien, wie wir sie seit ihren Anfängen in Griechenland bis auf den heutigen Tag kennen, zu demontieren« (LG1 207); doch hatte sie längst gezeigt, dass auch das »trostlose Ungefähr«, das als akzidentiell und partikular, als willkürlich und perspektivisch erscheinende Treiben der Menschen im öffentlichen Raum Gegenstand des Philosophierens sein kann und soll. Mehr noch: Zum eigentlichen Gegenstand der Philosophie erhob sie Begriffe und Konzepte wie Natalität und Pluralität, Perspektivität als Bedingung für eine »erweiterte Denkungsart«, Spontaneität als die Fähigkeit, »eine Reihe von vorn anzufangen« (Kant), Performativität als Modus, in dem alles Handeln stattfindet, das Angewiesensein der Menschen auf die Erde als Lebensraum und die Körperlichkeit der menschlichen Existenz.

Wenn auch Arendt die Möglichkeit einer politischen Philosophie bestritt, so gehört sie doch selbst zu denen, die – im Anschluss an die Husserlsche und Heideggersche [15] Phänomenologie und Existenzphilosophie – mit ihren Schriften die Grundlagen für eine mögliche Philosophie des Politischen gelegt haben.

Die Anordnung der folgenden Kapitel entspricht der Chronologie des Gesamtwerks. Nicht berücksichtigt wird die Korrespondenz, die Arendt teilweise über Jahrzehnte hinweg kontinuierlich pflegte, wobei vor allem der Briefwechsel mit Karl Jaspers als Lektüre zu empfehlen ist.7 Auch die »Denktagebücher«, eine Reihe von neunundzwanzig Notizbüchern mit handschriftlichen Einträgen aus den Jahren 1950 bis 1973, werden im Rahmen dieser Einführung nicht behandelt. Bei diesen Notizen handelt es sich überwiegend um fragmentarische Aufzeichnungen und Zitate, die zwar die Entstehungsgeschichten der Monografien erhellen, selten aber ganz neue Gedanken enthalten. Der Schwerpunkt der Darstellung liegt auf den für die Frage nach dem Verhältnis von Politik und Philosophie maßgeblichen Texten, wobei neben den Monografien in Ausnahmefällen auch kleinere Essays beziehungsweise Aufsatzsammlungen berücksichtigt werden (Reflections on Little Rock, Menschen in finsteren Zeiten).

[16] Augustinus, Rahel Varnhagen und die Liebe

1929 promovierte Arendt mit einer Arbeit über den Liebesbegriff bei Augustinus, die im selben Jahr im Berliner Springer-Verlag erschien. Bei dieser neunzig Seiten umfassenden Schrift handelt es sich um eine in weiten Teilen phänomenologische Studie, die sich in Stil und Duktus stark an Heideggers Sein und Zeit anlehnt. Über mehrere Zeilen sich erstreckende lateinische Augustinus-Zitate erschweren die Lektüre der Dissertation, in der Arendt noch nicht zu dem für ihr späteres Werk typischen Erzählstil gefunden hatte.

Formal ist die Arbeit in drei Abschnitte unterteilt. Im ersten Teil behandelt Arendt die begehrende Liebe (amor qua appetitus), im zweiten das Verhältnis von Mensch und Gott (creator und creatura) und im dritten das Leben in der Gemeinschaft (vita socialis). In allen drei Teilen versucht sie, unsystematische und einander widersprechende Aspekte des Werks auf ein gemeinsames Fundament zurückzuführen, wobei sie weder nur Widersprüche aufdecken noch das gemeinsame Fundament für in sich widerspruchsfrei erklären will. Vielmehr geht es ihr darum, die »Uneinheitlichkeit des Ganzen« (LA 3) hervorzuheben.

Die einzige Definition der Liebe, die sich unmittelbar aus den Quellen gewinnen lässt, ist die des amor im Sinne von appetitus (Trachten, Streben). Dieser appetitus richtet sich auf etwas Bestimmtes und erlischt mit dem Erlangen des begehrten Objekts – es sei denn, dieses droht wieder verlorenzu- gehen. Neben dem appetitus beschreibt Augustinus zwei weitere Formen der Liebe, nämlich caritas (liebendes Verehren, Nächstenliebe) und cupiditas (sinnliche Liebe), die sich allein im Hinblick auf ihr Objekt voneinander unterscheiden. Während cupiditas nach Vergänglichem strebt und deshalb (wie appetitus) im Moment der Erfüllung bereits von [17] Verlustangst überschattet wird, strebt caritas nach dem Ewigen.

Diese drei Formen der Liebe (amor, appetitus, caritas) ergreifen die ganze Existenz des Menschen, und der Begehrende »ist […] nur noch im Begehren« (LA 18). Eine vierte Form, die ordnende Liebe (ordinata dilectio), bezeichnet hingegen den ordnenden Bezug zu sich selbst und zur Welt, die so geliebt wird, als wäre der Liebende »nicht in der Welt, sondern wäre der Ordnende« (LA 28). Aus ihr nährt sich die Nächstenliebe, sofern der Nächste als jemand erfahren wird, der den gleichen Platz in der geordneten Welt hat und im gleichen Verhältnis zu Gott steht wie der Liebende.

In seiner Rückbezogenheit auf den göttlichen Ursprung sieht der Mensch sich als abhängiges Geschöpf, wie er sich auch im liebenden Begehren als abhängig erfährt. Während es sich bei dieser Liebe zu Gott um eine Form von appetitus handelt, dessen (unerreichbares) Ziel es ist, sich Gott mimetisch anzuverwandeln (vgl.LA 56), artikuliert sich die Liebe zur Welt eher als concupiscencia, als heftiges Verlangen danach, Teil des irdischen Geschehens zu sein, das vor dem Beginn der eigenen Existenz schon da war und auch nach dem Tod noch sein wird.

Im dritten und letzten Teil des Buches untersucht Arendt die vita socialis, deren Sinn laut Augustinus in der Nächstenliebe liegt; mit ihrer Hilfe wird »das Miteinander der Menschen in der Gemeinschaft […] aus einem notwendigen und selbstverständlichen zu einem frei ergriffenen und für den Einzelnen verbindlichen« (LA 80). Während die civitas terrena auf eine sündige Vergangenheit gegründet ist, in der die Menschen aufeinander angewiesen sind, gilt in der civitas dei, dem Gottesstaat, das Prinzip der Nächstenliebe. Der Mensch ist Mensch, weil er von anderen geliebt wird und dadurch Anerkennung als Einzelner findet. Die Frage nach der Bedeutung [18] von Pluralität und Meinungsvielfalt, die Arendt in den nachfolgenden Jahrzehnten so sehr beschäftigte, wird hier zwar ganz vorsichtig angeschnitten, doch hat sie noch nicht die Dimension einer grundsätzlichen Frage nach dem Verhältnis von Wahrheit und Meinung, von Politik und Philosophie erlangt.

Die Lektüre von Arendts Augustinus-Buch wird dadurch erschwert, dass die darin getroffenen begrifflichen Unterscheidungen von Augustinus selbst nicht konsequent durchgehalten wurden. Infolgedessen fällt es mitunter schwer, zwischen dem Liebesbegriff von Augustinus und dem Liebesbegriff von Hannah Arendt zu unterscheiden. Nicht nur erscheint ihre Interpretation als Versuch, Heideggersche Phänomenologie und Terminologie der Augustinus-Lektüre überzustülpen, sondern auch als Versuch, die eigene Agonie nach dem Scheitern der Liebesbeziehung zu Heidegger zu überwinden – eine Strategie, die auch in Arendts Habilitationsschrift über Rahel Varnhagen deutlich zum Tragen kommt.