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Heinrich von Kleist (1777-1811) war einer der größten Dichter deutscher Sprache, dem jedoch zu Lebzeiten die ehrgeizig erstrebte Anerkennung versagt blieb. In diesem Band wird geschildert, wie es Kleist gelang, aus den Nöten seiner unglücklichen Existenz ein Werk zu destillieren, das an beunruhigender Faszination bis heute ohne Vergleich ist. Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.
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Seitenzahl: 210
Veröffentlichungsjahr: 2016
Hans-Georg Schede
Heinrich von Kleist
Ihr Verlagsname
Heinrich von Kleist (1777-1811) war einer der größten Dichter deutscher Sprache, dem jedoch zu Lebzeiten die ehrgeizig erstrebte Anerkennung versagt blieb. In diesem Band wird geschildert, wie es Kleist gelang, aus den Nöten seiner unglücklichen Existenz ein Werk zu destillieren, das an beunruhigender Faszination bis heute ohne Vergleich ist.
Hans-Georg Schede, geboren 1968, studierte in Freiburg Neuere Deutsche Literatur, Anglistik und Mediävistik. Seither Buchredakteur und freier Autor.
Heinrich von Kleist wurde im Oktober 1777 geboren und starb im November 1811 von eigener Hand. Er wurde nur 34 Jahre alt. Sein Leben ist keine Erfolgsgeschichte. Doch seine persönlichen Schwierigkeiten und Niederlagen bilden das Erfahrungsfundament eines Werkes, das an beunruhigender Faszination in der deutschen Literatur bis heute ohne Vergleich ist. Wem alles glückt, der wird um die Chance gebracht, sich in der Krise selbst zu begegnen. Er lebt an der Oberfläche seines Erfolgs und bleibt sich letztlich fremd. In Kleists Dramen und Erzählungen hingegen gerät die Hauptfigur zumeist in eine Lage, in der ihr gleichsam der Boden unter den Füßen weggerissen wird, in der mit einem Mal ihre ganze Existenz auf dem Spiel steht. Diese verzweifelte Situation bietet ihr jedoch die Möglichkeit, sich zu bewähren, Größe zu zeigen, und dadurch zu einer neuen, zu ihrer eigentlichen Identität zu finden. Als die Marquise von O…. von ihrem Vater verstoßen wird und gegen seinen Befehl nicht allein, sondern mit ihren Kindern (sie ist eine junge Witwe) das elterliche Haus verlässt, heißt es: Durch diese schöne Anstrengung mit sich selbst bekannt gemacht, hob sie sich plötzlich, wie an ihrer eigenen Hand, aus der ganzen Tiefe, in welche das Schicksal sie herabgestürzt hatte, empor.[1] Dieser Satz steht paradigmatisch für die innere Entwicklung der meisten Hauptfiguren Kleists, der jeweils eigene Lebenskrisen des Autors als Muster zugrunde liegen.
In Kleists Werken sind es oft äußere Umstände, die solche Lebenskrisen herbeiführen. In Kleists Leben scheinen diese Krisen hingegen vielfach aus seiner Persönlichkeitsstruktur resultiert zu haben, aus seiner Kompromisslosigkeit, seinem unüberwindlichen Widerwillen, sich für fremde Zwecke einspannen zu lassen. Kleist wollte ganz aus sich selbst heraus sein persönliches Glück gewinnen. Seine außerordentliche Veranlagung zum Unglücklichsein ist nur die Kehrseite dieses Wunsches – denn die modernen Lebensverhältnisse, die sich zu Kleists Lebzeiten auszubilden beginnen, scheinen dem Einzelnen zwar bisher ungekannte Möglichkeiten zu eröffnen, sein Leben selbst zu gestalten, unterwerfen ihn aber zugleich einer neuen und umfassenderen Form der Sozialdisziplinierung. Eine zunehmend engmaschig verwaltete Welt und die sich allgemein durchsetzenden, am materiellen Wohlstand orientierten Maßstäbe bürgerlicher Leistungsethik sorgen dafür, dass derjenige, der sich eigene, abweichende Ziele setzt, schnell zum Außenseiter wird. Dieses Dilemma ist grundlegend für Kleists Leben.
Viele Umstände von Kleists Biographie liegen, allem Forscherfleiß zum Trotz, nach wie vor im Dunkeln und werden sich wohl auch nicht mehr erhellen lassen. Nicht nur über Kindheit und Jugend, sondern auch über manche Phase seines späteren Lebens fehlen verlässliche Informationen. Diese unzulängliche Quellenlage ist selbst bereits sprechend: Sie zeigt, dass Kleists Bedeutung zu seinen Lebzeiten nur von wenigen Menschen erkannt wurde und dass man sich gerade nach seinem skandalumwitterten Tod lediglich unter Vorbehalten zu ihm bekannte. Nur ein Bruchteil der von Kleist vermutlich geschriebenen Briefe ist überliefert. Beispielsweise ist die gesamte Korrespondenz mit Leopold von Kleist, dem einzigen Bruder, verloren. Andere wichtige Briefpartner wie die Halbschwester Ulrike, die zeitweilige Verlobte Wilhelmine von Zenge und die angeheiratete Verwandte Marie von Kleist haben es für nötig befunden, die an sie gerichteten Briefe Kleists einer Vorzensur zu unterwerfen oder auch ganz zu unterdrücken – zahlreiche dieser Briefe sind nur in Abschriften oder bruchstückhaften Druckfassungen bekannt. Offenbar enthielten sie vieles, was den Empfängerinnen nicht für die Öffentlichkeit geeignet zu sein schien.
Immerhin sind rund 230 Briefe Kleists überliefert. Dagegen haben sich nur etwa zwei Dutzend Briefe an Kleist erhalten. Das liegt daran, dass Kleist nach seiner Kindheit nie mehr einen festen Lebensmittelpunkt hatte, dass seine Existenz immer provisorisch blieb. Nie ergab sich die Gelegenheit, persönliche Habe anzuhäufen und ein privates Archiv anzulegen. Immer wieder erfolgte ein neuer Aufbruch, mit leichtem Gepäck.
Kleists erhaltene Briefe sind von hohem Aussagewert, auch wenn sie wenig über die Entstehungsgeschichte seiner Werke verraten; jedoch geben sie, bei allen Stilisierungen und Rollenmustern, wesentliche Aufschlüsse über die Struktur seiner Persönlichkeit. Daher wird im Verlauf der Darstellung immer wieder aus ihnen zitiert.
Bernd Heinrich Wilhelm von Kleist kam vermutlich am 10. Oktober 1777 in Frankfurt an der Oder zur Welt. Er war das fünfte Kind und zugleich der erste Sohn von Joachim Friedrich von Kleist. Dieser hatte nach dem Tod seines Vaters ein zuvor begonnenes Studium in Frankfurt an der Oder abgebrochen und war in die preußische Armee eingetreten. Die Militärlaufbahn hatte in der Familie Tradition. Bis zu Heinrichs Geburt konnten die Kleists sechzehn preußische Generäle und zwei Feldmarschälle vorweisen. 1806, im Jahr der Niederlage gegen Napoleon, gehörten fünfzig Mitglieder der Familie der Armee an.
Kleists Vater brachte es als Offizier weniger weit als viele seiner Vor- und Nachfahren. Erst 1767, im Alter von 39 Jahren, erhielt er den Befehl über eine Kompanie.[2] Seine späte Heirat im Jahr 1769 mag mit seinen verzögerten Beförderungen zusammenhängen. Seine Frau, Caroline Louise von Wulffen, war zum Zeitpunkt der Eheschließung mit vierzehn Jahren noch ein Mädchen. 1772 wurde die erste Tochter Wilhelmine geboren, zwei Jahre später folgte die Geburt der zweiten Tochter Ulrike, an deren Folgen Caroline Louise starb.
Kurz nach dem Verlust seiner Frau heiratete Joachim Friedrich von Kleist erneut. Im Gegensatz zu Caroline Louise brachte die achtundzwanzigjährige Juliane Ulrike von Pannwitz kein Vermögen mit in die Ehe. Aus dieser zweiten Verbindung gingen fünf Kinder hervor: Friederike (geboren 1775), Auguste (1776), Heinrich (1777), Leopold (1780) sowie Juliane (1784).
Das Haus, in dem Kleist und seine Geschwister ihre Kindheit verbrachten, stand neben dem des Stadtkommandanten, in unmittelbarer Nachbarschaft der Marienkirche. Erst 1788 war der Vater in der Lage, es zu kaufen. Teile des Hauses wurden untervermietet, wohl vor allem an Händler, die dreimal im Jahr zu der seinerzeit größten preußischen Gewerbemesse in Frankfurt an der Oder zusammenströmten.
Ins Jahr 1783 – Heinrich von Kleist war sechs Jahre alt – fällt ein für die Persönlichkeit des Vaters offenbar charakteristisches Ereignis. Friedrich II. (der Große) teilte dem Major von Kleist anlässlich einer Truppeninspektion mit, dass er sich keine Hoffnungen auf eine weitere Beförderung zu machen brauche, weil er seinen Dienst nicht mit ausreichendem Eifer erfülle. Kleists Vater nahm diese Demütigung nicht hin. Er schrieb dem König, dass dieser zwar über sein Leben, nicht aber über seine Ehre verfügen könne, welche er gekränkt habe. Deshalb bitte er um seinen Abschied. Weswegen es letztlich doch nicht zu diesem Schritt kam, ist ungeklärt. Der König scheint sich entschieden zu haben, die mutige Antwort seines Offiziers auf sich beruhen zu lassen. Gleichwohl machte er seine Ankündigung wahr. Kleists Vater blieb «der am längsten dienende Offizier in Majorsrang in der gesamten preußischen Armee»[3].
Ob die Kinder von dem Konflikt des Vaters mit dem König erfuhren, ist ungewiss. Zweifellos aber ist viel von der Haltung des Vaters auf Heinrich von Kleist übergegangen, dessen Entschlossenheit zur Selbstbehauptung freilich noch radikaler war.
«Als ich diesmal in Potsdam war, waren zwar die Prinzen, besonders der jüngere, sehr freundlich gegen mich, aber der König war es nicht – u wenn er meiner nicht bedarf, so bedarf ich seiner noch weit weniger. Denn mir mögte es nicht schwer werden, einen andern König zu finden, ihm aber, sich andere Unterthanen aufzusuchen./Am Hofe theilt man die Menschen ein, wie ehemals die Chemiker die Metalle, nämlich in solche, die sich dehnen u strecken lassen, u in solche, die dies nicht thun – Die ersten, werden dann fleißig mit dem Hammer der Wilkühr geklopft, die andern aber, wie die Halbmetalle, als unbrauchbar verworfen.»
Kleist an seine Halbschwester Ulrike am 25. November 1800 (SWB 4, S. 168)
Über Heinrich von Kleists Kindheit ist so gut wie nichts bekannt. Seinen ersten Unterricht erhielt er gemeinsam mit dem ein Jahr älteren Cousin Carl von Pannwitz, der bei der Familie wohnte, durch einen Privatlehrer, den Theologen und späteren Rektor der Frankfurter Bürgerschule Christian Ernst Martini. Jahrzehnte später beschrieb Martini seinen ehemaligen Schüler als einen «nicht zu dämpfende[n] Feuergeist, der Exaltation selbst bei Geringfügigkeiten anheimfallend, unstet, aber […] mit einer bewundernswerten Auffassungs-Gabe ausgerüstet»[4]. Für Kleist blieb Martini lange Zeit offenbar eine der wichtigsten Bezugs- und Vertrauenspersonen.
Wie intensiv war seine Beziehung zum Vater und zur Mutter? Wie viel Liebe und Geborgenheit erfuhr Kleist von seinen Eltern? Kleist war das fünfte Kind der Familie – wenn auch als erster Sohn in der herausgehobenen Rolle des Stammhalters; seine Mutter hatte bis Ende 1777 in drei Jahren drei Kinder zur Welt gebracht und war vermutlich schonungsbedürftig; das nächste Kind, Leopold, folgte erst zweieinhalb Jahre nach Heinrichs Geburt. Falls dieser, wie manche Kleist-Biographen vermutet haben, in seiner frühen Kindheit die Wohltat allgegenwärtiger elterlicher Liebe entbehren musste, so teilte er diese Erfahrung doch mit den meisten seiner Standesgenossen und überhaupt mit der Mehrzahl der Menschen im 18. Jahrhundert. Später scheint es nicht an Zuwendung gefehlt zu haben. In dem ersten erhaltenen Brief, den der fünfzehnjährige Kleist wenige Wochen nach dem Tod der Mutter an deren Schwester Auguste Helene von Massow schickte, spricht er von seiner verlorne[n] zärtliche[n] Mutter[5]. An seine Familie fühlte sich Kleist zeitlebens gebunden, ungeachtet aller Vorbehalte, mit denen die Verwandten seinen Lebensweg verfolgten. Das deutet auf die Erfahrung eines starken familiären Zusammenhalts während seiner Kindheit und Jugend.
Die geistigen Einflüsse, denen Kleist über die Vermittlung des Vaters als Kind ausgesetzt war, weisen in die Richtung aufklärerischer Menschenliebe. Der Chef der Frankfurter Garnison, bei dem der Vater als Stabsoffizier im benachbarten Kommandantenhaus täglich zu Mittag speiste, war der noch junge Prinz Leopold, ein Neffe Friedrichs des Großen. Leopold von Braunschweig war bildungsbeflissen – 1775 hatte Lessing ihn auf seiner Reise nach Italien begleitet – und philanthropisch gesinnt. Ebenfalls in unmittelbarer Nachbarschaft wohnte der Universitätsdozent für Theologie Josias Friedrich Christian Löffler, der zudem als Superintendent die Oberaufsicht über das Bildungswesen ausübte und in der Marienkirche als Prediger wirkte. Seine Vorstellungen, wie sich Christentum und aufgeklärte Vernunft miteinander verbinden ließen, stimmten in vieler Hinsicht mit dem überein, was als Gedankengut der Aufklärung ohnehin in der Luft lag. Jesus als sittlich und moralisch hochstehender Mensch stand im Mittelpunkt seiner Theologie. Auch Sokrates galt ihm – als antiker Aufklärer und durch seine Bereitschaft, für seine Überzeugungen mit dem eigenen Leben einzustehen – als Muster eines vorbildlichen Menschen. Zudem trat Löffler für lebenslanges Lernen ein, denn nur durch die «Freiheit des Geistes» gelange der Mensch «zu einer höheren Stufe der Vollkommenheit».[6] Solche Ideen sind offenbar bis zum Nachbarskind gedrungen und haben dessen geistige Entwicklung tief geprägt. In seinem 1799 am Ende der Militärjahre als Standortbestimmung und persönliches Credo verfassten Aufsatz, den sichern Weg des Glücks zu finden und ungestört – auch unter den größten Drangsalen des Lebens, ihn zu genießen! feiert Kleist Jesus und Sokrates als große erhabne Menschen, die sich der Gottheit – also nicht mehr einem personal gedachten Gott, sondern der Idee des Göttlichen, dem höchsten Ideal – angenähert hätten.
Gegenüber Wilhelmine von Zenge erklärt Kleist am 22. März 1801, er habe «schon als Knabe (mich dünkt am Rhein durch eine Schrift von Wieland) mir den Gedanken angeeignet, daß die Vervollkommnung der Zweck der Schöpfung wäre. […] Aus diesen Gedanken bildete sichso nach u nach eine eigne Religion,u das Bestreben, nie auf einen Augenblick hieniden still zu stehen, u immer unaufhörlich einem höhere Grade von Bildung entgegen-zuschreiten, ward bald das einzige Princip meiner Thätigkeit. Bildung schien mir das einzige Ziel, das des Bestrebens, Wahrheit der einzige Reichthum, der des Besitzes würdig ist.»
(SWB 4, S. 204)
Anfang 1788, im Alter von zehn Jahren, wurde Heinrich von Kleist zusammen mit zwei älteren Cousins im 80 Kilometer entfernten Berlin in die Privatpension des hugenottischen Predigers Samuel Henri Catel gegeben. Wahrscheinlich wurde er in der Privatschule von Catels Schwager Frédéric Guillaume Hauchecorne sowie am Collège Français unterrichtet. Die Beherrschung der französischen Sprache, die Aneignung französischer Bildung und Lebensart gehörten damals zum Erziehungsprogramm der preußischen Adelssöhne. Diese Phase von Kleists Ausbildung fand jedoch – wohl durch den Tod des Vaters – bereits nach wenigen Monaten ein jähes Ende. Lediglich für fünf Monate, von Januar bis Mai 1788, ist Kleists Anwesenheit in Berlin belegt. Vermutlich wurde er bald nach dem unerwarteten Todesfall, auch aus finanziellen Gründen, nach Frankfurt zurückgeholt.
Joachim Friedrich von Kleist starb, sechzigjährig, am 18. Juni 1788. Bereits am folgenden Tag wandte sich Kleists Mutter mit der Bitte um eine Pension an den König, nunmehr Friedrich Wilhelm II. Dieser ließ drei Tage später antworten, dass er «jetzt die gebethene Pension nicht bewilligen» könne, weil die für diesen Zweck bestimmten Fonds erschöpft seien «und sich dermahlen keine Vacance ereignet hat».[7] Auch der Versuch der Mutter, ihren ältesten Sohn in der preußischen Militärakademie unterzubringen, scheiterte. Zu allem Unglück wurde das Testament des Vaters, das juristisch nicht einwandfrei formuliert war, vom Frankfurter Stadtgericht angefochten. Zu diesem Schritt kam es offenbar erst ein Jahr nach dem Tode Joachim Friedrich von Kleists. Das Verfahren endete 1790 mit einem Vergleich zwischen Juliane Ulrike von Kleist und dem amtlichen Vormund ihrer Kinder, dem Justizkommissar George David Friedrich Dames, der fortan das Erbe der Kinder bis zu deren Volljährigkeit verwaltete.
Während der vier Jahre, die auf den Tod des Vaters folgten, liegt Kleists Leben gänzlich im Dunkeln. Wahrscheinlich verbrachte er diese Zeit in Frankfurt bei der Familie. Möglicherweise erhielt er wiederum Unterricht von Christian Ernst Martini. Mit vierzehn Jahren wurde Kleist schließlich als Gefreiter-Korporal ins preußische Regiment Garde[8] aufgenommen, das in Potsdam stationiert war. Kurz nach seinem Eintritt in die Armee wurde er am 20. Juni 1792 in der Frankfurter Garnisonskirche konfirmiert.[9]
Das stehende, aus den Mitteln des Staates finanzierte Heer war eine militärgeschichtliche Neuerung des 17. Jahrhunderts. Zuvor hatten die Fürsten ihre Konflikte mit Hilfe von Kriegsherren ausgefochten, die im Stil freier Unternehmer Soldatenhaufen bildeten und ihre Dienste meistbietend verkauften. Das änderte sich mit Ablauf des Dreißigjährigen Krieges. Fortan diente das Berufsheer den Fürsten als wichtigste Machtbasis ihrer absolutistischen Regime. Der Aufstieg Brandenburgs zum Königreich Preußen, zur jüngsten der europäischen Großmächte, war eng mit dieser Entwicklung verbunden. Bereits am Ende der Regierungszeit des «Soldatenkönigs» Friedrich Wilhelm I., 1740, hatte das stehende Heer eine Stärke von 83000 Mann erreicht. Preußen war damit die viertstärkste europäische Militärmacht, während es von der Fläche her nur an zehnter und hinsichtlich seiner Bevölkerungszahl sogar nur an dreizehnter Stelle stand. 86 Prozent der Staatseinnahmen flossen in die Finanzierung der Armee. 1786, im Todesjahr Friedrichs des Großen, betrug der entsprechende Anteil – bei deutlich gestiegenen Einnahmen – immerhin noch 76 Prozent. Diese Quote blieb bis 1806, dem Jahr des preußischen Zusammenbruchs, nahezu konstant.
Auch die preußische Verwaltung, die damals noch mit geringem Personal auskam, diente hauptsächlich dem Zweck, für die Erhaltung der Armee zu sorgen. Angesichts des gewaltigen Menschenbedarfs mussten deren Reihen durch ausländische Söldner aufgefüllt werden, die ohne loyale Bindungen an den Staat waren, für den sie in den Kampf zogen.[10] Gegenüber dem neuartigen Volksheer der Französischen Revolution gerieten die Fürstenarmeen daher von vornherein in einen taktischen Nachteil, denn sie konnten nur in geschlossenen Schlachtordnungen operieren. Andernfalls wäre ein Teil der Truppe sofort desertiert. Auch die Funktionstüchtigkeit der Armee, in die Kleist im Sommer 1792 eintrat, beruhte darauf, dass die Soldaten ihre Offiziere mehr fürchteten als den Tod auf dem Schlachtfeld.
In der Armee galten großzügige Urlaubsregelungen. Selbst die einfachen Soldaten blieben in Friedenszeiten den größeren Teil des Jahres über freigestellt, um daheim ihre Felder zu bewirtschaften oder die ihres Gutsherrn, der aufgrund des preußischen Kantonalsystems oft auch ihr militärischer Vorgesetzter war. Kleist verbrachte, nachdem er zuvor wohl einige Monate in den Dienst und ins Waffenhandwerk eingeführt worden war, den Winter 1792 wiederum bei der Familie in Frankfurt. Am 3. Februar 1793 starb die Mutter im Alter von 46 Jahren «nach einem achttägigen Krankenlager, durch ein Entzündungsfieber», wie es in der Todesanzeige in der Berliner «Vossischen Zeitung» heißt.[11] Um den Haushalt und die Erziehung der jüngeren Geschwister kümmerte sich von nun an die verwitwete Tante Auguste Helene von Massow, eine um zehn Jahre ältere Schwester der Mutter.
Im März reiste Kleist zu seiner Einheit, die im Dezember nach Frankfurt am Main verlegt worden war, um sich von dort aus am Rheinfeldzug der preußischen Armee gegen die französischen Revolutionstruppen zu beteiligen. Auf dem Weg besuchte er in Gotha den Generalsuperintendenten Löffler, dessen Lehren einst so stark auf ihn gewirkt hatten.
Seit Mitte 1789 regierte in Frankreich die Revolution. Zwei Jahre später, im August 1791, erfolgte die Antwort der alten Mächte. Der österreichische Kaiser und der preußische König drohten in der gemeinsamen Deklaration von Pillnitz, militärisch gegen das revolutionäre Frankreich vorzugehen. Die Drohkulissen verschärften sich, und Anfang 1792 gewannen in Frankreich die Befürworter eines Krieges die Oberhand. Am 20. April erklärte Frankreich Österreich den Krieg. Daraufhin trat Preußen als Verbündeter Österreichs ebenfalls in den Krieg ein. Dieser erste Koalitionskrieg begann mit Erfolgen der Alliierten. Die militärische Wende brachte die sogenannte Kanonade von Valmy am 20. September, die Goethe im Gefolge des Herzogs Carl August von Sachsen-Weimar miterlebte und mit dem berühmten Satz kommentierte: «Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus.»[12]
Im Oktober nahm die französische Armee unter General Custine Speyer, Worms und – kampflos – die Festung Mainz ein. Sympathisanten der Revolution, an ihrer Spitze Georg Forster, gründeten dort eine «Gesellschaft der Freunde der Freiheit und Gleichheit», die rasch zum rheinischen Zentrum der deutschen revolutionären Bewegung wurde. Im November setzte Custine für die von den Franzosen kontrollierten Gebiete am Rhein eine neue Verwaltung ein, die antifeudale Reformen einleitete.
Anfang April 1793 erschienen die Alliierten auf dem Plan. Sie belagerten Mainz, bis sich die Stadt Ende Juli ergab. An dieser Belagerung nahm Kleist mit seinem Regiment teil. Was für Eindrücke er dabei empfing, inwieweit er über die politischen Zusammenhänge informiert war, ob er eine Ahnung von der Bedeutung des geschichtlichen Augenblicks entwickelte, kann nur vermutet werden. Die Bemerkung in seinem ersten erhaltenen Brief an die Tante, die Franzosen oder vielmehr das Räubergesindel würden jezt aller wärts geklopft, spricht eher dagegen.[13] Im Übrigen scheint Kleist in den Wochen der Belagerung viel Zeit für sich gehabt zu haben – Zeit, um die Natur auf sich wirken zu lassen, Zeit für erste intensive Begegnungen mit der Literatur und Zeit für Freundschaften; so jedenfalls erinnerte er sich neun Jahre später in einem schwärmerischen Brief, nachdem er auf dem Weg nach Paris die Schauplätze seiner ersten Kriegserlebnisse wieder aufgesucht hatte.[14]
Die Lektüre der frühen Schriften Christoph Martin Wielands bestärkte Kleist in dem durch Löffler vermittelten optimistischen Glauben, dass der Einzelne stetig an seiner eigenen Vervollkommnung arbeiten könne. Im Ziel dieser Vervollkommnung liege das persönliche Glück des Menschen. Wer sich ganz diesem Ziel verschrieb, schien sich unabhängig von den äußeren Verhältnissen zu machen. Diese Vorstellung kommt auch in dem 1793 geschriebenen Gedicht Der höhere Frieden zum Ausdruck, das, wenngleich noch ganz konventionell in Sprache und Bildhaftigkeit, Aufschluss über Kleists innere Einstellung zu dieser Zeit gibt.[15] Es sieht so aus, als habe er schon bald nach seinem Eintritt in die Armee begonnen, sich gegen die militärische Realität von stumpfer Unterordnung und gezielter Unterdrückung aller Individualität durch mechanischen Drill, von Zerstörung und Blutvergießen abzuschotten. Nach der Kapitulation von Mainz hatte Kleists Bataillon im August und September an weiteren Gefechten bei Kettrich und Pirmasens sowie Ende November an der Schlacht bei Kaiserslautern teilgenommen. Kleists Plädoyer für den höheren Frieden beruhte, auch wenn es wie aus zweiter Hand wirkt, auf der unmittelbaren Erfahrung des Krieges.
Am 28. Januar 1794 wurde Kleist zum Portepée-Fähnrich befördert. Das ganze Jahr über wechselte das Bataillon, den strategischen Erfordernissen des Kriegsverlaufs entsprechend, immer wieder das Quartier. In der zweiten Jahreshälfte wurde es jedoch in keine größeren Gefechte mehr verwickelt.
Ende Februar 1795 schrieb Kleist aus dem Quartier in Eschborn bei Frankfurt an seine Halbschwester Ulrike: Gebe uns der Himmel nur Frieden, um die Zeit, die wir hier so unmoralisch tödten, mit menschenfreundlicheren Thaten bezahlen zu können![16] Seine Hoffnung bezog sich auf die Verhandlungen über einen Separatfrieden, die Preußen inzwischen mit Frankreich aufgenommen hatte. In Polen war es im Vorjahr zu einem Aufstand gegen die zweite Teilung des Landes gekommen, die Russland und Preußen 1793 untereinander ausgemacht hatten. Die Erhebung konnte nur mit Mühe niedergeschlagen werden. Preußen war vorübergehend sowohl im Westen wie auch im Osten militärisch gebunden. Ungeachtet seiner Bündnispflicht gegenüber Österreich und dem Reich unterzeichnete es daher im April 1795 den Frieden von Basel und zog sich für die nächsten zehn Jahre in die Neutralität zurück. Die erste Koalition gegen Frankreich war zerbrochen. Das Lager der alten Mächte blieb durch das Ausscheren Preußens dauerhaft geschwächt. In den Folgejahren vollzog sich der Aufstieg Napoleons, der zur französischen Hegemonie über Europa führte.
Kurz nach dem Friedensschluss, im Mai 1795, wurde Kleist zum wirklichen Fähnrich befördert. Sein Regiment kehrte nach Potsdam zurück. Dort knüpfte Kleist Freundschaften, von denen die meisten bis zu seinem Tod hielten. Die beiden engsten Freunde wurden Otto August Rühle von Lilienstern und Ernst von Pfuel. Rühle trat im Dezember 1795 mit fünfzehn Jahren in Kleists Bataillon ein. Im Frühjahr 1797, kurz nach Kleists Beförderung zum Sekondeleutnant, kam Pfuel mit siebzehn Jahren zum Infanterieregiment Nr. 18 nach Potsdam. Beide brachten es weit. Ernst von Pfuel wurde 1815, nach dem Sieg der Alliierten über Napoleon, Stadtkommandant von Paris und im Revolutionsjahr 1848 zunächst Gouverneur von Berlin und anschließend für kurze Zeit preußischer Ministerpräsident und Kriegsminister. Er starb 1866 im Alter von 86 Jahren. Rühle gehörte 1813 zum Generalstab Blüchers, wurde 1822 Chef des Großen Generalstabs und 1844 Generalinspekteur des Militärerziehungs- und -bildungswesens. Drei Jahre später starb er mit 67 Jahren.
Bevor diese beiden vielseitig begabten und lebensfrohen Menschen in Kleists Leben traten, hatte sich sein erster Lerngenosse bereits aus dem Leben verabschiedet: Carl von Pannwitz erschoss sich am 10. Oktober 1795, an Kleists achtzehntem Geburtstag, auf dem Rückmarsch aus Polen «infolge hochgradiger Schwermut». Angeblich hatten Kleist und Pannwitz «schriftlich […] die Verabredung getroffen […], beide eines freiwilligen Todes zu sterben.»[17] Falls diese (unsichere) Überlieferung stimmt, ist es gut möglich, dass Kleist den Selbstmord des Cousins als an ihn adressierte Botschaft aufgefasst hat.
Wie Kleist die Nachricht aufnahm, ist nicht bekannt. Vorläufig überwog die Lust, zu leben und zu lernen. Zusammen mit dem drei Jahre jüngeren Rühle bemühte er sich, tiefer in die Mathematik und die Philosophie einzudringen. Diese beiden Disziplinen betrachtete er ganz im Geiste der Aufklärung als die beiden Grundfesten alles Wissens[18]. Unterstützung holten sich die beiden Autodidakten vom Konrektor der Großen Stadtschule in Potsdam, Dr. Heinrich Bauer, der ihre Ausarbeitungen kontrollierte.
Daneben schlossen sie sich mit zwei weiteren befreundeten Offizieren, Hartmann von Schlotheim und Carl von Gleißenberg, zu einem Bläserquartett zusammen. Kleist übernahm den Klarinettenpart. Offenbar brachte er es auf diesem Instrument zu einiger Meisterschaft, auch wenn die briefliche Äußerung von Clemens Brentano gegenüber Achim von Arnim drei Wochen nach Kleists Selbstmord, er habe «nie erfahren», dass Kleist «einer der größten Virtuosen auf der Flöte und dem Klarinett» gewesen sei, vermutlich eine der Übertreibungen ist, zu denen Brentano im Guten wie im Schlechten neigte.[19] Dass über Kleists musikalische Ausbildung nichts Verlässliches bekannt ist, ist symptomatisch. Viele Lebenszusammenhänge bleiben im Dunkeln.
Während seiner Militärzeit in Potsdam soll Kleist, seinem ersten Biographen Eduard von Bülow zufolge (1848), auch kleinere Tänze komponiert haben.[20] In einer Biographie über Rühle wird ferner berichtet, dass Kleist und seine Freunde – vermutlich im Jahr 1797 – «als reisende Musikanten» einen längeren «Ausflug in den Harz» unternahmen, dessen Kosten sie vollständig mit den Einnahmen deckten, die sie durch ihre Darbietungen erzielten.[21]
In das Jahr 1798 fällt Kleists erste Verliebtheit (sieht man einmal von den homoerotischen Zügen ab, die Kleists Männerfreundschaften aufweisen). Sie galt der drei Jahre älteren Louise von Linckersdorf, der ältesten Tochter des Generals Jakob von Linckersdorf. Kleist schrieb ihr ein Zitat aus Wielands «Gesicht unschuldiger Menschen» ins Stammbuch, in dem, Kleists persönlichem Ideal entsprechend, wiederum das Glück von «Geschöpfe[n]» gepriesen wird, «die in der Vollkommenheit unaufhörlich wachsen».[22] Sonderlich persönlich und gefühlvoll klingt die Passage nicht. Als Kleist sich zwei Jahre später in einem Brief an seine damalige Verlobte Wilhelmine von Zenge in wehmütigem Ton über seine einstige enge Vertrautheit mit Louise äußerte, übertrieb er wohl ein wenig, um Wilhelmine eifersüchtig zu machen.[23]