Hermann Göring - Andreas Molitor - E-Book

Hermann Göring E-Book

Andreas Molitor

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Beschreibung

Hermann Göring (1893 - 1946), Reichsminister für Luftfahrt und zweiter Mann hinter Hitler, hat wie keine andere NS-Größe Ämter und Machtbefugnisse angehäuft. Andreas Molitor erzählt das Leben eines Machthungrigen, der Gegner kaltblütig ausschaltete, am Holocaust mitwirkte und – von Hitler kaltgestellt – ein bizarres Luxusleben führte. In szenischen Nahaufnahmen und analytisch auf dem aktuellen Diskussionsstand entsteht die fesselnde Biografie eines Skrupellosen, der sich allen Erklärungen zu entziehen scheint.

Durch Görings Leben zieht sich wie ein roter Faden das Streben nach Macht und Geltung, von der Kindheit bis zur Verurteilung beim Nürnberger Kriegsverbrechertribunal und dem Selbstmord in der Gefängniszelle. Seine Grenzen findet Görings Machthunger nur bei Adolf Hitler. Ihm ist er devot ergeben. Nachdem Göring als Oberbefehlshaber der Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg versagt hat und Hitler ihm seine Gunst entzieht, zieht er sich auf seinen Landsitz Carinhall zurück, wo ihm Kunstraub, Jagdleidenschaft und dekadenter Luxus weit wichtiger sind als die Angriffe alliierter Bomber. Der pompöse Lebensstil hat zu beschönigenden Deutungen der Rolle Görings im Nationalsozialismus verführt. Andreas Molitor zeigt, dass der selbsternannte «Mann der Tat» mit der «Entjudung der deutschen Wirtschaft» den wirtschaftlichen und sozialen Niedergang der deutschen Juden besiegelt und bei der Vorbereitung des Holocaust eine Hauptrolle gespielt hat.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Titel

Andreas Molitor

Hermann Göring

Macht und Exzess

Eine Biografie

C.H.Beck

Übersicht

Cover

Inhalt

Textbeginn

Inhalt

Titel

Inhalt

Macht und Mythos

1. Ein finsteres Verlies

«Grausam bin ich nie gewesen»

Heute hier, morgen fort

Eine tiefe, dunkle Leere

2. Der Fleischwolf, von oben betrachtet

Flugzeug gegen Flugzeug, Mann gegen Mann

«Dann fühle ich mich wie ein kleiner Gott»

Fliegen. Kämpfen. Töten

Breitbeinig mit Geschwaderstock

3. Ein Mann der Tat

In der Gummizelle

Vom Revoluzzer zum Revolutionär

Die Münchener Hanswurstiade

Hitlers Hausmeier

Ein finsteres Ränkespiel

4. Hermann fürs Grobe

«Hier habe ich nur zu vernichten und auszurotten»

Labor der Gleichschaltung

«Ein dreckiges, homosexuelles Schwein!»

5. Der Wirtschaftsdiktator

Zeitreise ins Ruinenland

Unterm Tarnnetz

Machtkampf um die Wirtschaft

Kriegswirtschaft im Frieden

6. «Ich will meinen Namen sauber halten»

Wenn deutsche Waidgerechtigkeit Einzug hält

Schuld sind die Juden

«Ich möchte kein Jude in Deutschland sein»

«Wer sich jetzt am Juden rächt und einen Juden tötet …»

Blankovollmacht für den Massenmord

Lippenbekenntnisse im Angesicht des Galgens

7. Jenseits des Zenits

Der Intrigant geht leer aus

Ein Cranach für das Taufkind

Hitler will Österreich, Göring braucht Österreich

Wo ist die alte Brutalität?

Das Debakel von Dünkirchen

Eine wohlgehegte Legende

8. «… dann hungert nicht der Deutsche»

«Wie oft waren Sie über London?»

«Sie braucht nicht zu stürzen!»

Ein unheilvoller Satz

«Mein Gewissen ist Adolf Hitler»

Die Totenmesse

9. «Duell auf den Tod»

Sätze für die Ewigkeit

Ein Meister des moralischen Terrors

«Sie haben alles schwarz auf weiß»

Eine letzte trotzige Geste der Eitelkeit

Anhang

Dank

Hermann Göring Stationen 1893 bis 1946

Anmerkungen

Macht und Mythos

1. Ein finsteres Verlies

2. Der Fleischwolf, von oben betrachtet

3. Ein Mann der Tat

4. Hermann fürs Grobe

5. Der Wirtschaftsdiktator

6. «Ich will meinen Namen sauber halten»

7. Jenseits des Zenits

8. «… dann hungert nicht der Deutsche»

9.

«Duell auf den Tod»

Quellen, Literatur und Experteninterviews

Archivalische Quellen

Bayerisches Hauptstaatsarchiv (

BayHStA

)

Bundesarchiv

Bundesarchiv Freiburg

Deutsche Digitale Bibliothek

Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz

Institut für Zeitgeschichte (IfZ)

Landgericht Aachen

The National Archives and Records Administration, Washington, D. C.

Politisches Archiv des Auswärtigen Amts

Staatsarchiv Hamburg

Stadtarchiv Fürth

Stadtarchiv Rosenheim

Yad Vashem, The World Holocaust Remembrance Center

Nicht archivalische Quellen

Filme und Rundfunkbeiträge

Forschungsliteratur

Experteninterviews

Bildnachweis

Personenregister

Zum Buch

Vita

Impressum

Macht und Mythos

Als mein Vater noch lebte, habe ich mir manchmal vorgestellt, dass es bei meinen Eltern an der Haustür klingelt und ein Mann vor der Tür steht – Hermann Göring in seiner weißen Sommeruniform, mit umgeschnalltem Degen, den Reichsmarschallstab in der Rechten, den Pour le Mérite um den Hals und das EK I auf der Uniformjacke. Es war immer Göring, der dort stand. Hitler, Himmler oder Goebbels kamen nicht in Frage, weil mein Vater, ein tiefgläubiger Katholik und treuer CDU-Wähler, sie allesamt zutiefst verachtete.

Mit Göring war es anders. Lief eine Dokumentation über die NS-Zeit im Fernsehen und Göring war zu sehen, in einer seiner operettenhaften Aufmachungen oder in zünftiger Jägertracht, aufgeschwemmt und mit selbstgefälligem Gesichtsausdruck, sagte mein Vater meist nur: «Ach, der dicke Göring!» Doch es war keine Verachtung in seiner Stimme, sondern fast eine leise Ehrfurcht.

Wie würde mein Vater wohl reagieren, wenn er plötzlich Göring gegenüberstünde, habe ich mich damals gefragt. Vielleicht hätte er sogar vorschriftsmäßig militärisch gegrüßt. Göring wäre dabei aufgefallen, dass an der rechten Hand meines Vaters drei Finger fehlten. In meiner Vorstellung hätte mein Vater Göring auf jeden Fall hereingebeten – «Kommen Sie doch rein, Herr Reichsmarschall!» –, ihm das kleine Einfamilienhaus gezeigt, das Gemälde von Schmidt-Rottluff im Wohnzimmer, das leider nur ein preiswerter Öldruck war, den viel zu großen Garten, den Partyraum im Keller, in dem nie jemand feierte, und die Sauna, die nie jemand benutzte.

Im Mai 1943 meldet sich der Flakhelfer Matthias Molitor, nicht einmal siebzehn Jahre alt, freiwillig als Offiziersanwärter zur Luftwaffe. Ein Jahr später geht sein großer Wunsch in Erfüllung. Er wird – trotz «Mindergewicht» – dem nach Hermann Göring benannten und im westpreußischen Rippin[1] stationierten Fallschirm-Panzer-Ersatz- und Ausbildungsregiment zugeteilt. Eine Eliteeinheit. Görings junge Soldaten, kaum einer älter als neunzehn, sollen an der zusammenbrechenden Ostfront kämpfen und für Großdeutschland sterben. Er sei gern Soldat gewesen, erzählte mein Vater später. Er legte großen Wert darauf, dass er kein einfacher Landser war, sondern am linken Ärmel ein blaues Band trug, auf dem «Hermann Göring» stand. Wenn er den Namen aussprach, klang Stolz mit.

Vielleicht hat mein Vater dieses Plakat gesehen. Er meldete sich freiwillig zur Division Hermann Göring.

Am 25. November 1944 steht auf dem Dienstplan eine Granatwerferübung mit scharfer Munition. Mein Vater ist an der Reihe, legt die Munition in den Werfer. Er hat die Hände noch am Metall, als die Sprengladung im Rohr detoniert. Glühende Splitter schießen in alle Richtungen. Mein Vater überlebt, aber Metallsplitter reißen ihm sechs Finger ab, das linke Auge ist nicht zu retten.

Kein Feindkontakt, nur ein Unfall. Ein Rohrkrepierer. War es ein Materialfehler? Eine Fehlbedienung? Im Wehrmachtsbericht taucht der Vorfall nicht auf. Und in der Familie wurde später nie darüber gesprochen.

Als mein Vater im Lazarett aufwacht, ist es dunkel um ihn herum. Auch im rechten Auge stecken Metallsplitter, sechs Wochen lang ist er völlig blind, weiß nicht, ob er jemals wieder wird sehen können. Die Rotkreuzschwester muss ihm die geliebte Zigarette anzünden und zwischen die Lippen stecken. Er kann sie ja nicht halten mit den verbundenen Handstümpfen.

Nach der Entlassung aus dem Lazarett und kurzer amerikanischer Kriegsgefangenschaft in Norddeutschland traut er sich nicht gleich nach Hause. Erst kurz vor Weihnachten 1945 begibt er sich auf den Weg in die rheinische Heimat. Lange schleicht er in der Dunkelheit um das elterliche Haus herum, bevor er an die Tür klopft. Er sieht ja schlimm aus, das Gesicht immer noch schwarz und blau von den Splittern und den Verbrennungen. Die verstümmelten Hände versteckt er noch jahrelang in den Jackentaschen.

Mein Vater war schon fast zwanzig Jahre tot, als ich meiner Mutter im Jahr 2019 ein Magazin mit einem Text von mir schickte, das Ergebnis einer verstörenden Recherche. Die Schlagzeile lautete «Er war es».[2] Nach dem Tod meiner Mutter im Herbst 2024 fand ich die Zeitschrift beim Ausräumen der Wohnung. Sie hatte den Text nie gelesen. «Das kann ich nicht», hat sie einmal gesagt. «Er war es» bezog sich auf ihren Vater. Einen kleinen Mann, der plötzlich das Gefühl großer Macht verspürte – die Hermann Göring ihm verliehen hatte.

Am 3. März 1933, wenige Tage nach dem Reichstagsbrand, hält Göring in Frankfurt am Main eine Rede, die reichsweit im Radio übertragen wird. Er stachelt eine halbe Million SA-Männer zum Losschlagen gegen die Gegner des neuen Regimes an, vor allem gegen die verhassten Kommunisten. «Den Todeskampf, in dem ich euch die Faust in den Nacken setze», wütet Göring in Richtung der «Herren Kommunisten», den «führe ich mit denen da unten, das sind die Braunhemden!»[3]

Nach dieser Rede überziehen die Landsknechte mit der Hakenkreuzbinde am Arm das Land mit einer Welle von Verhaftungen und roher Gewalt. Auch mein Großvater, der arbeitslose Schlossermeister und SA-Truppführer Josef Mundt aus dem rheinischen Düren, folgt Görings Appell. Unter seinem Kommando verwandelt sich das Dürener SA-Heim in den kommenden Wochen und Monaten in eine Folterhöhle.

Mein Großvater ist nicht einer der Schergen, sondern deren Befehlshaber. Er bestimmt den Takt der Verhöre und der Folter, ihr Anfang und ihr Ende, er gibt das Kommando zum Zuschlagen. Das belegen die Akten eines Prozesses vor dem Aachener Schwurgericht kurz nach dem Krieg. «Die Verhafteten waren», so die Urteilsbegründung, «der Willkür und dem Terror des Angeklagten Mundt schutzlos preisgegeben.»

In den Zeugenaussagen heißt es immer wieder:

… befahl Mundt … … gab Mundt ein Zeichen … … hob Mundt die Hand …[4]

Zwei unheilvolle Berührungspunkte der Person Hermann Görings mit meiner Familiengeschichte. Beide werfen verstörende Fragen auf. Welches Bild hatte mein Vater von diesem Mann, dessen Name unauslöschlich mit der tiefsten Zäsur seines Lebens verbunden war: ein selbstsüchtiger Zyniker, der Menschen aus dem Weg räumen ließ, wenn sie ihm im Weg standen – und dem er trotzdem Respekt zollte? Und welche manipulative Kraft muss ein Redner entfalten, um einen braven Schlossermeister und Familienvater in einen sadistischen Folterknecht zu verwandeln?

Vor einigen Jahren habe ich mich zum ersten Mal mit Göring auseinandergesetzt, als Journalist. Thema war seine Rolle im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess. Nachdem ich den Mitschnitt der Verhandlung gehört und Zeitzeugenberichte gelesen hatte, war ich fassungslos, wie geschickt Göring die mitangeklagten Nationalsozialisten für seine Verteidigung einspannte – und wie dreist und selbstverständlich er, den Tod am Strang vor Augen, die untergegangene Diktatur vor der Weltöffentlichkeit ein letztes Mal hochleben ließ und selbst die Inhaftierung Zehntausender Gegner des Systems in Konzentrationslagern zur objektiven Notwendigkeit erhob.

Als ich mich etwas später mit Görings Kindheit und Jugend beschäftigte – einem bislang von Historikern kaum beachteten Thema –, begann ich zu erkennen, dass sich ein Bogen spannen lässt: von dem scheinbar wohlbehüteten, in Wirklichkeit aber seelisch vernachlässigten und immer wieder zu fremden Leuten abgeschobenen Fürther Privatschüler bis zu dem kalt-manipulativen, zu keiner echten Emotion fähigen Leitwolf der Kriegsverbrecher auf der Nürnberger Anklagebank. Und schließlich bis zum Selbstmord in der Gefängniszelle.

Das Göring-Bild in der Öffentlichkeit ist geprägt von Klischees – mehr als das jedes anderen führenden Nationalsozialisten. Göring, das freundliche Gesicht des Nationalsozialismus. Göring, der Morphinist. Göring, der nichts gegen Juden hat und vielleicht nicht mal ein «richtiger» Nationalsozialist ist. Der in Flitterwerk gewandete joviale Operettenmarschall. Der Eiserne. Diese Mythen erheben ihn zur einzig schillernden Figur in der Riege verbissener Ideologen, willfähriger Bürokraten, graumäusiger Karrieristen und steifer Militaristen. Sie alle präsentieren sich – mit Ausnahme Hitlers – in tristem Schwarz-Weiß, Göring dagegen in satten Farben.

Diese Folklore hat Göring geradezu kultiviert – und sichtlich genossen. Mit seinem breitbeinigen Lebenswandel, seinen Vorlieben und oft bizarren Auftritten, mit Bildern von erfolgreicher Hirschjagd oder Fotos mit Ehefrau und Töchterchen auf der Hollywoodschaukel steht er geradezu Modell für die ihn umgebenden Mythen. «Ich bin, was ich immer gewesen bin: der letzte Renaissance-Mensch», sagt er in Nürnberg.[5]

Doch das erklärt nichts – vor allem nicht, warum aus dem jungen Mann aus gutem Hause Nazi No. 2 werden konnte; ein Mensch, der über Leichen geht, wenn es seinen Zwecken dient. Der bereit ist, zwanzig oder dreißig Millionen Menschen dem Hungertod preiszugeben, und der mit seinen antisemitischen Verordnungen auf administrativem Weg den Pfad nach Auschwitz bereitet. Die Mythen verdecken das Manipulative, Berechnende und zutiefst Bösartige in Hermann Göring mit pittoresker Tünche; sie verklären und verharmlosen ihn.

Bei dem Versuch, Göring zu dechiffrieren, beim Entkleiden der Mythen, beim Entschlacken, Verdichten und Zuspitzen des vor mir liegenden Materials ging ich das eine oder andere Mal den – für mich selbstverständlichen, aber für viele Historiker sicherlich ungewöhnlichen – journalistischen Weg. Wo Quellen und Literatur nicht weiterhalfen und mein eigenes Wissen über Morphiumabhängigkeit, frühkindliche Bindungen, Intelligenzmessung, Rhetorik oder die Malerei der Renaissance lückenhaft blieb, habe ich Experten um Rat gefragt – Kinderpsychiater, Intelligenzforscher, Psychopharmakologen, Kunsthistoriker und Propagandaforscher. Es war eine schöne Erfahrung, dass die angesprochenen Wissenschaftler – die Besten ihres Fachs – ausnahmslos zugesagt und sich Zeit für intensive Gespräche genommen haben.

Aus der nationalsozialistischen Nomenklatura ist Göring der Einzige, der Hitler ersetzen könnte – und echte Sympathien in Teilen der Bevölkerung genießt. Düstere Figuren wie Goebbels, Himmler oder Heß dagegen sind nicht zustimmungsfähig. In der Riege der NS-Größen ist Göring zudem der «kompletteste Politiker»; nur er kann dank seines Fähigkeitsspektrums – er ist intelligent, wandlungsfähig, brutal, machtgierig, zielstrebig, intrigant, kommunikationsstark und volksnah – «auf der gesamten Klaviatur des politischen Systems seiner Zeit» spielen.[6] Allerdings ist er nicht immer Herr der Lage; er verzettelt sich, verbraucht sich und langweilt sich in der Vielzahl seiner Ämter und Posten. Außerdem zählt zu seinen größten Schwächen, dass er nicht der Fleißigste ist.

Die politische Biografie Hermann Görings ist ein Lehrstück über die Macht – wie man sie ins Auge fasst, erkämpft, verteidigt, missbraucht, verliert. «Ich habe alles getan, was irgendwie in meiner politischen Kraft gestanden hat, die nationalsozialistische Bewegung (…) unter allen Umständen an die Macht und zwar die alleinige Macht zu bringen», lautet einer der meistzitierten Sätze aus Görings Auftritt beim Nürnberger Tribunal.[7] Ähnlich populär ist die folgende Aussage: «Es war selbstverständlich für uns, daß, wenn wir einmal an die Macht kommen würden, wir entschlossen waren, diese Macht unter allen Umständen zu behalten.»[8]

Bei einer Erörterung, was «unter allen Umständen» heißen könnte, wäre Göring vermutlich mit Mao Zedong einer Meinung. «Die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen», definiert der chinesische Kommunistenführer 1938[9] – und ist damit völlig im Einklang mit dem berühmten Machtbegriff des großen Soziologen Max Weber. Danach entsteht Macht auch durch Gewalt – und kann somit auch aus Gewehrläufen kommen. «Oder aus den Knüppeln von SA-Männern», hätte Göring vielleicht hinzugefügt. Für Weber ist Macht «sozial amorph» und an keinerlei Bedingungen gebunden, weder politische noch moralische. Er definiert sie als «jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen».[10] Die Kunst, derartige Chancen zu nutzen, bringt Hermann Göring eine Zeitlang zur Vollendung.[11]

Die fast zweieinhalb Jahrzehnte zwischen 1922 – in diesem Jahr begegnet Göring zum ersten Mal Adolf Hitler – und seinem Tod 1946 belegen allerdings auch eins: Trotz all seiner Beteuerungen steht auf Görings Agenda selten der Name seines Führers an erster Stelle, sondern sein eigener. Er beansprucht Macht primär für sich selbst. Doch der Weg zur absoluten Herrschaft im Führerstaat bleibt ihm versperrt. Göring selbst hat sich Hitler bei einer ihrer ersten Begegnungen bedingungslos verschrieben – und fortan hängt seine Macht an ihm. Als Hitler seinem zweiten Mann im Verlauf des Krieges seine Gunst entzieht, sinkt Görings Stern. Es hilft ihm nicht, dass er sich seinem Führer in peinlicher Unterwürfigkeit ergibt.

Ohne seinen Paladin wiederum hätte es Hitler vermutlich niemals an die Spitze des Staates geschafft. Es ist Göring, der die Nationalsozialisten Anfang der 1930er Jahre bei den bürgerlich-konservativen Eliten salonfähig macht und Hitler damit den Weg ebnet. Andererseits wäre der nach dem Ersten Weltkrieg orientierungslose und desillusionierte Göring ohne seinen Führer womöglich als verkrachte Existenz geendet, als erfolgloser Fallschirmvertreter, der durch die Lande tingelt wie Willy Loman, der tragische Held aus Arthur Millers düsterem Sozialdrama Tod eines Handlungsreisenden.

Im Streben nach Macht offenbart sich eine andere Triebkraft Görings – die Maßlosigkeit. Der ehemalige Weltkriegsheld ist das personifizierte «Zuviel», der Exzess – auch dies ein Alleinstellungsmerkmal inmitten der puritanischen, dem Genuss weitgehend entsagenden NS-Führungsmannschaft. Sein Appetit auf Macht, Prestige und Posten ist nicht zu stillen. Das Amt des Oberbefehlshabers der Luftwaffe reicht ihm bald nicht mehr; also verschafft er sich auch das Kommando über die Rüstungswirtschaft; er strebt das Außenministerium an und das Kriegsministerium. Erst Hitler kann ihn bremsen.

Nur ein einziges Mal in den zwölf Jahren zwischen der Machtübernahme Hitlers und dem Untergang des Reiches eröffnet sich für Göring die vage Chance, zum ersten Mann im nationalsozialistischen Staat aufzusteigen. Nach der Besetzung des entmilitarisierten Rheinlands durch die Wehrmacht im März 1936 wären die Franzosen in der Lage gewesen, die hoffnungslos unterlegenen Wehrmachtsverbände binnen weniger Stunden zu überrennen. Doch die französische Regierung belässt ihre Soldaten in den Kasernen. Manche Historiker, darunter Ian Kershaw, sehen damit die letzte Chance vertan, den deutschen Diktator auf seinem Weg in den Krieg noch zu stoppen. «Wenn man Hitler 1936 in die Arme gefallen wäre, wäre das möglicherweise erfolgreich gewesen», urteilt er.[12]

Ein schmachvolles Scheitern seines politischen Vabanquespiels um das Rheinland wäre für Hitler eine politische Katastrophe gewesen, ein Rücktritt keineswegs ausgeschlossen. Als Nachfolger kommt zu dieser Zeit nur einer in Betracht: Hermann Göring, der «Macher» des Regimes, die Nummer 2 hinter Hitler[13] und eine Art De-facto-Kanzler.

An dieser Stelle wird die kontrafaktische Überlegung zwangsläufig spekulativ. Hätte Deutschland unter einem Reichskanzler Hermann Göring den Zweiten Weltkrieg entfacht? In Sachen Krieg ist Göring weit risikoscheuer als Hitler. Aber auch er ist kein Friedensengel, sondern ein zynischer, eiskalt kalkulierender Machtmensch, der Deutschland, auf welchem Weg auch immer, zu alt-neuer Größe führen will – mit regional begrenzten Kriegen etwa, wenn erpresserische Diplomatie, militärische Drohgebärden und wirtschaftlicher Druck nicht zum Ziel führen.

Und der Holocaust? Hier wird es noch komplizierter. Nach den Novemberpogromen 1938 marschiert Göring bei der Entrechtung und Ausplünderung der deutschen Juden vorneweg. Er will das Geld und die Fabriken der Juden für seine Aufrüstung – und ihre wertvollen Gemälde für sich. Die krude NS-Rassenbiologie interessiert ihn dagegen weniger. Vielleicht hätte es unter ihm keinen millionenfachen Mord in Vernichtungslagern gegeben, sondern eine Deportation der europäischen Juden nach Madagaskar – in eine Art Strafkolonie unter deutschem Kommando. Pläne dafür lagen bereits vor.

Je mehr seine politische Macht nach den ersten schweren militärischen Fehlschlägen im Krieg schwindet, desto hemmungsloser gibt sich Göring seinen Passionen hin – ausschweifende Geburtstagsfeste, Staatsjagden, üppige Festmahle, illustre Verkleidungen und tägliche Betäubung mit Paracodin-Tabletten. «Schamlos, naiv und gierig», schreibt der Publizist Joachim Fest, badet er im Genuss, «immer in zu vollen Zügen, immer großspurig und an der Grenze des Lächerlichen.»[14] Im Keller seines Herrensitzes Carinhall stapeln sich Hunderte wertvoller – meist geraubter – Kunstwerke, weil oben kein Platz mehr ist an den Wänden. Seine politischen Rivalen, allen voran Goebbels und Himmler, nutzen Görings Rückzug in die private Prasserei geschickt aus – und nehmen, so Fest, «Stück für Stück jene Macht an sich, deren leere Symbole er blind und eitel vor sich hertrug».[15]

Mehrere Jahre lang habe ich mich mit Hermann Göring beschäftigt. An manchen Tagen brauchte ich nach getaner Arbeit eine Art emotionale Dekontamination: ein Besuch bei Freunden, ein Gespräch mit meinem Sohn oder meiner Tochter, eine sehr laut gehörte Lieblingsplatte, schnelle Bahnen im Schwimmbad. Ich verstehe jetzt die stille Ehrfurcht in der Stimme meines Vaters, wenn er von Göring sprach, etwas besser, den Stolz, dass er für die nach dem Reichsmarschall benannte Division kämpfen durfte. Manchmal wünschte ich, dass ich ihm erklären könnte, warum er vor diesem Mann keinen Respekt haben muss. Aber was bringt das – am Grab? Und vielleicht ist es auch gut, ihm diesen Stolz zu lassen. Die sechs Finger und das Auge hatte er ja schon verloren.

1.

Ein finsteres Verlies

«Grausam bin ich nie gewesen»

Burton C. Andrus kann mit seiner Arbeit zufrieden sein. Der Mann, auf den sein strenger Blick fällt, ganz links in der ersten Reihe auf der Anklagebank im Schwurgerichtssaal 600 des Nürnberger Justizpalastes, eines der wenigen großen Gebäude der Stadt, die nicht im alliierten Bombenhagel zerstört worden sind, ist körperlich und geistig in bester Verfassung. Genau das war die Mission des disziplinversessenen Colonels der US-Armee: als Oberaufseher die verbliebene Elite des Naziregimes am Leben zu erhalten, auf dass sie hier, bei der großen Abrechnung der Alliierten mit dem Nationalsozialismus, ihre gerechte Strafe empfangen.[1]

Andrus’ besondere Wachsamkeit gilt an diesem 20. November 1945, dem ersten Tag des Tribunals gegen die vierundzwanzig Hauptkriegsverbrecher, dem Mann, der in einer taubengrauen, doppelreihigen und mit Messingknöpfen besetzten Uniform ohne jedes Rangabzeichen erschienen ist: Hermann Göring, Adolf Hitlers getreuer Paladin, Oberbefehlshaber der Luftwaffe, Reichsmarschall, oberster Betreiber der Aufrüstung Deutschlands, die schillerndste Figur im nationalsozialistischen Machtapparat. Göring, den Arm lässig auf das Geländer der Anklagebank gelegt, manchmal maliziös lächelnd, mit seltsam verjüngtem, fast wächsernem Gesicht, das mit den streng zurückgekämmten Haaren an eine Schaufensterpuppe erinnert, wirkt wach und angriffslustig.[2]

Sechs Monate zuvor, als Göring im US-Lager Camp Ashcan («Mülleimer») im luxemburgischen Bad Mondorf[3] in Andrus’ Hände kam, war der Reichsmarschall ein Wrack: 125 Kilo schwer, aufgeschwemmt, kurzatmig und opiatabhängig. Für Andrus war Göring ein verweichlichter, unsoldatischer Genussmensch. Als «einfältig lächelnde Molluske»[4] sei er angekommen, mit sechzehn Koffern, einer roten Hutschachtel, einem Apothekenkasten voller Cremes, Salben, Rouge und Lippenstift und «mit zwei Koffern voll Paracodin.[5] Aber wir brachten ihn von seinen Drogen ab und machten einen Mann aus ihm.»[6]

Andrus, ein Asket und Schleifer, ist entschlossen, diesen Mann, den er wegen seiner Taten abgrundtief verachtet, wieder in Form zu bringen. Er führt ein strenges Regiment, zunächst in Bad Mondorf, dann ab dem 12. August 1945 in der Nürnberger Haftanstalt, wo die Hauptangeklagten des Kriegsverbrechertribunals untergebracht sind. Göring muss sämtliche Orden und den edelsteinbesetzten Marschallstab aus Elfenbein abgeben. Als er zum wiederholten Mal eine Audienz bei General Dwight D. Eisenhower fordert, dem Oberbefehlshaber über die amerikanischen Besatzungstruppen, lehnt sich Andrus über den Schreibtisch zu dem Gefangenen nach vorn und sagt: «Herr Göring, Sie sind jetzt mein Gefangener. Sie werden nur dann sprechen, wenn Sie gefragt werden.»[7] Göring bekommt Mob und Eimer, muss seine Zelle selbst saubermachen.

Andrus will das Gefängnis selbstmordsicher machen. Vor jeder Zelle steht ein Posten; Göring in Zelle Nummer 5 ist unter ständiger Beobachtung, täglich wird sein Raum, ausgestattet mit Pritsche, Tisch, Stuhl und Klo, akribisch durchsucht. Nachts ist ein Licht auf ihn gerichtet. Er darf sich im Schlaf nicht wegdrehen, seine Hände nicht unter die Decke stecken. Lediglich bei der Verrichtung der Notdurft sind nur seine Beine zu sehen. Andrus verordnet dem übergewichtigen Nationalsozialisten eine strenge Diät, so dass er mehr als 30 Kilo Gewicht verliert. Vor allem aber reduziert er Görings tägliche Dosis Paracodintabletten schrittweise auf null. Göring taucht aus dem Drogennebel auf.[8]

Als Göring am ersten Verhandlungstag das Gericht betritt, ist er fest entschlossen, den Prozesssaal zu seiner Bühne zu machen. Er schwelgt geradezu in der gespannten Aufmerksamkeit, die ihm entgegenschlägt. «Göring gefällt sich darin, der Zeremonienmeister zu sein», schreibt Klaus Kastner, Autor zahlreicher Veröffentlichungen zu den Nürnberger Prozessen. «Sein Gesichtsausdruck ist zugleich durchtrieben, genialisch, extrovertiert und auf schlaue Art von sich selbst eingenommen. (…) Nero muss so ein Gesicht gehabt haben.»[9] Was Göring von diesem Tribunal hält, bekommen in einer Mittagspause sämtliche Mithäftlinge und die Wachmannschaften zu hören. «Verdammt nochmal!», brüllt er und schlägt dabei mit der Faust auf den Tisch. «Ich wünschte, wir hätten alle die Courage, unsere Verteidigung auf vier einfache Worte zu beschränken: ‹Leck mich am Arsch!›»[10]

Fast jeden Abend nach Schluss der Verhandlung begibt sich ein junger Mann in die Gefängniszelle von Hermann Göring und spricht unter vier Augen mit dem prominentesten Gefangenen der Haftanstalt. Der vierunddreißigjährige US-Amerikaner Gustave Mark Gilbert, Kind österreichisch-jüdischer Einwanderer, ist für die Dauer des Prozesses – nicht zuletzt, weil er gut Deutsch spricht – zum Gefängnispsychologen bestellt worden und hat jederzeit freien Zutritt zu den Häftlingen. Er führt keine Verhöre, sondern scheinbar zwanglose Gespräche in der Zelle und beim Essen während der Verhandlungspause – auch mit den anderen Hauptangeklagten. «Für sie bedeutete es eine Erleichterung in ihrer Isolierung, für mich eine Möglichkeit, die Nazi-Führer als Einzelwesen kennenzulernen», schreibt er.[11]

Gilbert, der Ende April 1945 im Konzentrationslager Dachau, unmittelbar nach dessen Befreiung durch die Amerikaner, die bis aufs Skelett abgemagerten Häftlinge und die Leichenberge gesehen hat, will das Mysterium entschlüsseln, das die angeklagten Nationalsozialisten umschwebt. Sind sie wirklich Monster und Psychopathen, schwer gestört, krank und von Grund auf verderbt? Angesichts ihrer ungeheuerlichen Verbrechen halten viele sie dafür, besonders im Ausland. Oder sitzen in den Zellen ganz normale Menschen, so wie die Philosophin Hannah Arendt fünfzehn Jahre später über Adolf Eichmann schreiben wird, der als Leiter des nach ihm benannten Referats im Reichssicherheitshauptamt einer der Hauptverantwortlichen für die Ermordung von sechs Millionen Juden in Europa war. «Das Beunruhigende an der Person Eichmanns war doch gerade, dass er war wie viele und dass diese Vielen weder pervers noch sadistisch, sondern schrecklich und erschreckend normal waren und sind», urteilt Arendt nach dem Prozess gegen Eichmann in Jerusalem.[12] Aber selbst wenn das auf die Nürnberger Hauptangeklagten zutreffen sollte – wie sind aus den Jedermännern skrupellose Mörder geworden, fanatische Rassenideologen und Kriegsverbrecher? Gilbert ist getrieben von dem Gedanken, es herauszufinden.

Gilberts besonderes Interesse gilt Hermann Göring. Den ehemaligen Reichsmarschall empfindet er als faszinierend und abstoßend zugleich. Aufmerksam studiert er dessen Verhalten im Gerichtssaal, in den Verhandlungspausen und in der Zelle, seine Reaktionen, seine Wutausbrüche, sein Mienenspiel, ein ganzes Jahr lang.

Auch am 29. November 1945 beobachtet Gilbert die Angeklagten im Saal. Die Anklage präsentiert Dokument 2430-PS, US-79, einen zweistündigen Dokumentationsfilm über die Gräuel in den Konzentrationslagern, aufgenommen von amerikanischen Soldaten. Häftlinge, bis auf die Knochen abgemagert; gähnende Krematoriumsöfen, in denen verkohlte Skelette liegen; Bulldozer, die Leichenberge in Massengräber schieben.

Während der Film vorgeführt wird, sucht der Gefängnispsychologe die Gesichter der Angeklagten nach Spuren von Emotionen ab. Einige werden aschfahl, schlucken krampfhaft, andere blicken beschämt zu Boden, stöhnen, vergraben den Kopf in den Händen, atmen schwer, weinen. Göring verweigert sich der Konfrontation mit den Bildern. Gilbert notiert: «Göring lehnt weiter an der Balustrade, schaut meiste Zeit nicht zu, sieht schläfrig aus. (…) Göring trübsinnig, lehnt auf Ellbogen.»[13] In einer Pause echauffiert sich Göring über «diese Greuelfilme», die er für feindliche Propaganda hält. «Alle können so einen Film drehen, wenn sie Leichen aus den Gräbern holen und dann einen Traktor filmen, der sie wieder reinschiebt.»[14] Abends in der Zelle sagt er zu Gilbert: «Es war ein so angenehmer Nachmittag. (…) Und dann kam dieser grauenhafte Film und verdarb einfach alles.»[15]

Beim Nürnberger Kriegsverbrechertribunal mag Göring die Filme aus den befreiten Konzentrationslagern nicht sehen.

Mit Sicherheit gibt es niemanden, der jemals genauer und tiefer in die Abgründe von Görings Psyche hinabgeschaut hat als Gustave M. Gilbert. Manchmal genießt Göring sichtlich das Interesse des jungen Psychologen, manchmal sträubt er sich, antwortet grantig oder bleibt wortkarg – etwa, wenn er wütend ist, weil der Prozesstag nicht seinen Vorstellungen gemäß gelaufen ist. Hin und wieder versucht er, Gilbert mit geschickt verteilten Freundlichkeiten und Leutseligkeiten für sich einzunehmen. Doch bei dem Psychologen verfängt diese Jovialität nicht; er hält Distanz und lässt das sein Gegenüber auch spüren. Gilbert weiß, dass Göring überdurchschnittlich intelligent ist. Tests zu Anfang der Nürnberger Haftzeit bescheinigen ihm einen Intelligenzquotienten von 138; damit rangiert er unter den Inhaftierten auf Rang drei, hinter dem ehemaligen Reichsbankpräsidenten Hjalmar Schacht und dem früheren Reichskommissar für die Niederlande, Arthur Seyß-Inquart.[16] Göring ist ein wenig gekränkt, als er erfährt, dass er nicht der Beste ist.[17]

Später wird Gilbert seine Beobachtungen zu Papier bringen. Er verfasst ein vielbeachtetes Tagebuch des Prozesses sowie ein Psychogramm seines bevorzugten Forschungsobjekts: «Hermann Göring. Ein leutseliger Psychopath».[18]

Mit Gilbert spricht Göring über das Prozessgeschehen und das Verhalten der Mitgefangenen, sie diskutieren über Moral und Menschlichkeit in der Politik und darüber, ob man einstige Weggefährten, die zu Gegnern geworden sind und im Wege stehen, einfach beiseiteschaffen, also umbringen darf.

Auch Görings Kindheit ist Thema der Gespräche. Göring sucht die Bühne und bespielt sie mit theatralischem Geschick. Mitunter hochfahrend und mit dröhnendem Lachen gibt er Erinnerungen preis, aus seiner Sicht Anekdoten, hinter denen Gilbert aber Albträume entdeckt.[19] Obwohl der Psychologe ahnt, dass die eine oder andere Schilderung des prominenten Gefangenen maßlos übertrieben oder gar erfunden ist, hat er schon bald keinen Zweifel mehr, dass entscheidende Weichen für den Lebensweg von Hermann Göring in sehr jungen Jahren gestellt wurden.

Die Kindheit, auf die Gustave M. Gilbert gemeinsam mit Hermann Göring zurückblickt, ist ein finsteres Verlies. Ein gefühlstoter Raum. Darin ist ein Mensch herangewachsen, hochintelligent, aber offenbar ohne jedes Mitgefühl und mit einem kranken Verständnis von Moralität. «Ich sage es in tödlichem Ernst», eröffnet Göring dem fassungslosen Psychologen eines Abends in der Zelle. «Grausam bin ich nie gewesen. (…) Ich war hart, (…) wenn es sich darum handelte, 1000 Mann erschießen zu lassen, zur Vergeltung, als Geiseln oder was Sie wollen. Aber Grausamkeit – Frauen und Kinder foltern – du lieber Gott! Das lag meiner Natur fern.»[20]

Heute hier, morgen fort

Dienstag, 9. Mai 1893. Wie ein mächtiger Stachel ragt der hohe schwarze Schlot mittschiffs steil aus dem Körper der Croatia empor. In den Passagierhallen am Abfahrtskai der Hamburg-Amerikanischen Packetfahrt-Actien-Gesellschaft (HAPAG) wartet eine junge Frau mit ihren beiden Töchtern auf das Ablegen des Zweimast-Dampfseglers. Ihr Ziel ist Port-au-Prince, die Hauptstadt von Haiti.[21] Ungefähr zwei Wochen werden die Einunddreißigjährige und ihre knapp drei und vier Jahre alten Kinder mit dem Schiff unterwegs sein, das seit fünf Jahren auf der Linie Hamburg–Westindien für die HAPAG verkehrt. Den Passagieren steht eine eher gemächliche Atlantikpassage bevor: Mehr als zehn Knoten, das Tempo einer betulichen Fahrradpartie, lassen sich aus den insgesamt 1000 PS der Dampfmaschinen im Bauch des Schiffes nicht herausholen.[22]

Für die beiden Mädchen, Olga heißt die Ältere, Paula die Jüngere, ist es bereits die zweite Atlantiküberfahrt in westlicher Richtung. Gut anderthalb Jahre zuvor ist ihre Mutter mit ihnen und dem älteren Bruder Karl ihrem Ehemann zu seinem neuen Dienstort nachgereist.[23] Im Juni 1891 ist er nach Port-au-Prince versetzt worden. Dort bekleidet er jetzt den Posten des deutschen Ministerregenten für Haiti und die Dominikanische Republik, ein diplomatischer Gesandter dritten Grades. Er hat eine große Familie um sich versammelt: Zu drei Söhnen und einer Tochter aus erster Ehe gesellen sich Karl, Olga und Paula, die Nachkommen aus der zweiten Ehe.

Die Mutter weiß, dass sie und ihre beiden Mädchen eine lange, eintönige und beschwerliche Überfahrt erwartet. Sie logieren nicht wie das Familienoberhaupt, der Herr Ministerregent, wenn er gelegentlich nach Deutschland und zurück nach Haiti reist, komfortabel in einer Einzelkajüte, mit Mahlzeiten im Speisesaal, mit Bibliothek und Rauchersalon, bestückt mit Spiegeln und Gemälden. Auf dem Zwischendeck sind sie untergebracht, in einfachen Holzverschlägen, zwischen Laderaum und Oberdeck. Dunkel und eng ist es hier, schlecht und schwül die Luft. Zum Frühstück gibt es meist Haferbrei und Zwieback, zum Mittag- und Abendessen Pökelfleisch, Salzheringe und Kartoffeln.[24]

Die junge Frau heißt Franziska, wird aber von allen Fanny genannt, weshalb man sie auch nicht auf Anhieb in den alten Passagierlisten der HAPAG findet. Vor der Abfahrt hat sie sich tatsächlich mit ihrem Rufnamen in die Liste eintragen lassen. Auch ihr Nachname ist dort falsch vermerkt: Göhring statt Goering, wie der Familienname ursprünglich geschrieben wurde.[25]

Als Franziska Göring knapp ein Jahr zuvor, vermutlich im Juni 1892, in Hamburg mit Olga und Paula aus Port-au-Prince ankommt,[26] ist sie im zweiten Monat schwanger. Wahrscheinlich hat sie die Reise nach Deutschland geplant, gleich nachdem sie Gewissheit über die Schwangerschaft bekommen hat. Nur für die Geburt ist sie in ihre deutsche Heimat zurückgekommen. Von Hamburg aus reist sie ins oberbayerische Rosenheim. Dort ist sie ab dem 10. Juli 1892 mit ihren beiden Töchtern gemeldet.[27]

In Rosenheim kommt sie mit Olga und Paula bei den Eltern einer Freundin aus Jugendzeiten unter. Franziska Göring und Therese Gabriel kennen sich seit ihrer Internatszeit bei den Armen Schulschwestern. Die Freundin hat mittlerweile geheiratet und ist mit ihrem Mann, dem Steuer-Oberkontrolleur Andreas Graf, nach Fürth verzogen. Ihre Eltern aber leben nach wie vor in Rosenheim.[28]

Am 12. Januar 1893 um vier Uhr morgens[29] bringt Franziska Göring im Sanatorium Marienbad in Rosenheim einen gesunden Jungen zur Welt. Er bekommt den denkbar deutschesten aller Vornamen: Hermann Wilhelm. Den Rufnamen Hermann, entlehnt von Arminius, jenem germanischen Feldherrn, der im Jahr 9 n. Chr. den römischen Truppen unter Publius Quinctilius Varus im Teutoburger Wald eine ihrer verheerendsten Niederlagen beibrachte, verleiht ihm sein Taufpate Hermann Epenstein. Und Wilhelm – was könnte es anders sein als eine ehrerbietige Verbeugung vor Wilhelm II., dem deutschen Kaiser.

Doch nun, am 9. Mai 1893, auf der Rückreise nach Haiti, nimmt Franziska Göring nur Olga und Paula mit an Bord, nicht den knapp vier Monate alten Säugling Hermann.[30] Sie hat ihn in Fürth zurückgelassen, als Pflegekind bei der Familie ihrer Schulfreundin Therese Graf. In einigen älteren Göring-Biografien wird behauptet, Franziska Göring habe ihren Sohn bereits im Alter von sechs Wochen bei der Familie Graf in Pflege gegeben.[31] Das den Verfassern wohl unbekannte Abfahrtsdatum des Schiffs, mit dem Franziska Göring nach Port-au-Prince zurückfährt, spricht jedoch stark gegen diese Annahme.[32] Wenig spricht dafür, dass Franziska Göring, nachdem sie ihren Sohn in die Hände der Grafs gegeben hat, noch mehr als zwei Monate mit zwei Kleinkindern in Deutschland unterwegs ist, bevor sie die Heimreise nach Haiti antritt. Hermann Göring ist also vermutlich gut dreieinhalb Monate alt, als seine Mutter ihn in Fürth zurücklässt.

Nichts ist darüber bekannt, mit welchen Gedanken sich Franziska Göring plagt, als sie in Hamburg an Bord geht. Ob sie ihr Baby vermisst. Welche Nöte sie ausgestanden hat, als sie es zurückließ. Ob sie geweint hat beim Abschied. Ob es ihr eigener Beschluss war, oder ob ihr Ehemann die Entscheidung getroffen hat – womöglich schon vor Antritt ihrer Reise nach Deutschland. Nichts ist dazu überliefert, auch nicht später von Hermann Göring selbst. Entweder hat er seine Mutter nie gefragt – oder sie hat nichts von solchen Gewissenskonflikten erzählt. Über etwaige Beweggründe ihrerseits, den Säugling in die Obhut der Familie ihrer Freundin zu geben, anstatt ihn mit nach Haiti zu nehmen, kann ebenfalls nur spekuliert werden. Vielleicht will die Mutter dem Neugeborenen die beschwerliche Überfahrt, das belastende tropische Klima und die schlechte medizinische Versorgung auf Haiti nicht zumuten. Vermutlich weiß sie, dass die dienstliche Verwendung ihres Ehemannes auf Haiti – er ist schon dreiundfünfzig Jahre alt und kränkelt zusehends – ohnehin in absehbarer Zeit enden wird und sie nach Deutschland zurückkehren werden. Bei den Grafs glaubt sie Hermann gut aufgehoben; die Eheleute haben zwei Töchter etwa im Alter von Hermanns Schwestern Olga und Paula, wissen also, wie man mit Kindern umgeht.[33] Die Grafs sind rechtschaffene, gottesfürchtige Leute. Eine mustergültige fränkische Beamtenfamilie.

Dass Franziska Göring den Säugling zu Pflegeeltern abgeschoben hat, ist in der Literatur mitunter – und erwartungsgemäß – negativ gewertet worden, etwa bei dem Psychohistoriker Sven Fuchs, der den Zusammenhang zwischen Demütigungen in der Kindheit und späteren Karrieren als Gewalttäter, Terroristen, Massenmörder und Kriegstreiber untersucht hat. Fuchs beschreibt Görings Eltern als «emotional kalte Personen» und klagt an: «Was sind das für Eltern, die ihr Neugeborenes (…) bei einer Freundin unterbringen, obwohl sie alle Möglichkeiten dazu hatten, das Kind bei sich aufzunehmen? Es waren grausame Eltern, die sich nicht darum scherten, wie es dem Kind erging.»[34] Allerdings gelten im wilhelminischen Deutschland völlig andere Maßstäbe des Umgangs zwischen Eltern und Kindern als heute; es dominiert das Erziehungsideal der «Schwarzen Pädagogik».[35] «Der Wille des Kindes muss gebrochen werden», predigt die einflussreiche Enzyklopädie des gesamten Erziehungs- und Unterrichtswesens aus dem Jahr 1887. Bereits der Säugling «braucht und empfängt Zucht». Letztere sei vor allem «Tat, Machtausübung, Beugung des sich entwickelnden Willens unter einen fremden Willen». Der Wille des Kindes dagegen müsse vor allem durch «Schmerz, den körperlichen oder seelischen», gebrochen werden.[36]

Heinrich Ernst Göring, der Vater des kleinen Hermann, ist ein Mann von ungleich höherem Stand als der brave Steuer-Oberkontrolleur Andreas Graf, ein knarrend-deutscher Kolonialbeamter. Der promovierte Jurist, Sohn eines Landgerichtsdirektors, verrichtet zunächst Dienst als Kreisrichter, Friedensrichter und Landgerichtsrat in Metz, bevor er sich beim Auswärtigen Amt bewirbt – und angenommen wird. Von 1885 bis 1890 vertritt er als Reichskommissar das Kaiserreich in der kurz zuvor gegründeten Kolonie Deutsch-Südwestafrika, offiziell «Schutzgebiet» genannt. Dort hat der Bremer Tabakhändler Adolf Lüderitz in den Jahren 1883 und 1884 – nicht zuletzt durch trickreichen Betrug – dem Deutschen Reich ein Gebiet von 580.000 Quadratkilometern mit rund 200.000 Einwohnern gesichert. Es ist das erste deutsche Besitztum in Afrika.

Görings erste Ehefrau ist 1879 gestorben. Zur Erziehung der vier Kinder wird eine Gouvernante eingestellt – Franziska «Fanny» Tiefenbrunner. Göring verliebt sich in die dreiundzwanzig Jahre jüngere Frau. Die beiden heiraten, als sie bereits im sechsten Monat schwanger ist, kurz vor seiner Abreise nach Deutsch-Südwestafrika im Mai 1885 in London. Dorthin ist Göring für einige Zeit geschickt worden, um sich mit der Praxis der Kolonialverwaltung vertraut zu machen.

Drei Jahre später folgt Franziska Göring ihrem Mann nach Deutsch-Südwestafrika. Die junge Ehefrau des Reichskommissars entstammt einfachsten Verhältnissen. Als Tochter eines aus Tirol stammenden Tagelöhners, der später eine Trödlerei betreibt, ist sie in München geboren worden.[37] Zeitgenossen beschreiben sie als resolute, zielstrebige, entschlossene und mutige Frau, die mit dem Gewehr umzugehen versteht.[38] Für eine Frau ist die Fahrt nach Deutsch-Südwestafrika eine fast unvorstellbare, abenteuerliche und gefahrvolle Reise ins Ungewisse, in eine feindliche Umgebung, in der Aufstände zwischen Stämmen und Revolten gegen die Kolonialisten zu erwarten sind. In die neuen deutschen Besitztümer zieht es zu jener Zeit fast ausnahmslos Abenteurer, Glücksritter, verkrachte Existenzen und ein paar Kaufleute, die von Reichtum, Ruhm, Freiheit und Macht träumen.[39] Nicht auszuschließen, dass Franziska Göring eine Zeitlang die einzige deutsche Frau in der jungen Kolonie ist.

Ihr Ehemann ist einer von anfangs nur drei deutschen Beamten vor Ort. Kein Wunder, dass der Aufbau einer Kolonialverwaltung in den Anfängen stecken bleibt. Auch gelingt es Göring nicht, die Konflikte zwischen rivalisierenden Stämmen der indigenen Bevölkerung zu befrieden. Als 1888 einer der Aufstände eskaliert und es zu Plünderungen kommt, muss Göring mit seiner Familie unter abenteuerlichen Bedingungen in die 200 Kilometer entfernte britische Enklave Walvis Bay fliehen. Dort kommt im Januar 1889 Olga zur Welt, Hermann Görings ältere Schwester.[40]

Im August 1890, nach fünf Jahren in Deutsch-Südwestafrika, wird Heinrich Ernst Göring nach Deutschland zurückbeordert und knapp ein Jahr später nach Port-au-Prince versetzt.[41] Über sein dortiges Wirken ist nichts überliefert. Eine um die Jahrhundertwende aufgenommene Fotografie zeigt ihn inmitten der Entourage der deutschen Legation. In Haiti scheint er mit seiner Familie ein unaufgeregtes Leben geführt zu haben.

Während Heinrich Ernst Göring in Haiti allmählich dem Ruhestand entgegenblickt, kümmert sich in Fürth die Familie Graf um seinen Sohn Hermann. Überliefert aus dieser Zeit sind nur die Daten aus dem Melderegister;[42] wie es tatsächlich in der Pflegefamilie zuging – ob etwa körperliche Züchtigung an der Tagesordnung war oder ob die Eheleute Graf ihre eigenen Töchter dem Pflegekind vorzogen –, ist nicht bekannt. Ein Foto, einige Jahre später aufgenommen, zeigt den sechsjährigen Hermann mit der Pflegefamilie und seiner Schwester Olga.[43] Alles wirkt sehr steif; der ehemalige Pflegevater Andreas Graf nimmt Hermanns Hand, der Junge ringt sich ein Lächeln ab. Hermann Göring wird sich später nie abfällig über die Zeit bei den Grafs äußern. Doch selbst wenn etwas vorgefallen sein sollte – er könnte sich an nichts erinnern. Bereits im Alter von anderthalb Jahren nämlich, am 10. Juli 1894, verlässt er die Obhut der Pflegefamilie. Im Melderegister der Stadt Fürth findet sich neben dem Datum eine handschriftliche Ergänzung: «Abgemeldet nach Rosenheim.»[44] Dort meldet sich kurze Zeit später seine Mutter an. Franziska Göring, offenbar auf Urlaub in Deutschland, ist ab 1. August 1894 für zwei Monate bei den Eltern ihrer Freundin Therese Graf gemeldet[45] – ein bislang völlig missachteter Beleg dafür, dass Franziska Göring ihren Sohn bereits im Alter von anderthalb Jahren wiedersieht und nicht, wie vielfach behauptet wird, erst mit drei Jahren.[46] Es ist nicht vorstellbar, dass sie Hermann, der zur gleichen Zeit wie sie in Rosenheim lebt – vermutlich ebenfalls bei den Eltern von Therese Graf – die ganze Zeit über nicht gesehen hat.

Damit erweist sich auch eine angebliche Kindheitserinnerung Hermann Görings als Legende. Dem Gerichtspsychologen Gustave M. Gilbert offenbart er während der Nürnberger Haft «schadenfroh und aus vollem Herzen lachend», beim ersten Wiedersehen mit seiner Mutter – «im Alter von drei Jahren» – habe er dieser, als sie ihn auf dem Bahnhof hochhob und umarmen wollte, mit beiden Fäusten ins Gesicht geschlagen.[47] Diese herzzerreißende Szene hat sich, wenn überhaupt, dann anderthalb Jahre früher abgespielt – woran Göring sich aber unmöglich erinnern könnte. Dennoch wurde die Begebenheit vielfach ausgeschmückt, etwa mit der Schilderung, Hermann habe den fremden Mann neben seiner Mutter – die Rede ist von seinem Vater – keines Blickes gewürdigt.[48]

Dass auch Heinrich Ernst Göring im Sommer 1894 in Deutschland weilt, ist indes belegt.[49] Franziska Göring, erneut schwanger, kehrt anschließend offenbar nicht mit ihrem Mann nach Port-au-Prince zurück. Zwar findet sich im Melderegister der Stadt Rosenheim der Vermerk «nach Port au Prince auf Haiti – Westindien» als Ergänzung zur Abmeldung,[50] doch auf der Passagierliste des Dampfers Auguste Victoria, der mit Heinrich Ernst Göring an Bord am 4. Oktober 1894 von Hamburg aus gen Haiti in See sticht, fehlt ihr Name[51] – genauso wie in den Listen sämtlicher in den darauffolgenden Monaten von Hamburg ablegenden Schiffe. Die plausibelste Erklärung ist, dass Franziska Göring ihren Sohn Hermann im Sommer 1894 wieder zu sich nimmt und seitdem mit ihm zusammenwohnt, entweder in Rosenheim oder in Fürth.

Der mittlerweile fünfundfünfzig Jahre alte und gesundheitlich angeschlagene Heinrich Ernst Göring wird 1895 «zur Disposition» gestellt und kehrt mit den Kindern aus Haiti nach Deutschland zurück. Die Familie, auch der zweijährige Hermann ist jetzt dabei, wohnt zunächst in einem stattlichen Haus in der Fregestraße 19 im gutbürgerlichen Friedenau, damals noch ein Vorort von Berlin. Hermann Görings jüngerer Bruder Albert wird am 9. März 1895 dort geboren.

In älteren Biografien und Zeitungsartikeln wird hartnäckig kolportiert, Hermann Görings Patenonkel Hermann Epenstein habe die Villa gekauft und die Görings darin mietfrei wohnen lassen, weil das großzügige Wohnhaus für den auf Pension gesetzten Vater von neun Kindern zu teuer gewesen sei.[52] Allerdings ist dies mittlerweile widerlegt.[53] Um Epenstein, der sich gern in fröhlicher Jagdgesellschaft fotografieren lässt und den großen Auftritt genießt, ranken sich ohnehin viele Legenden und Gerüchte, wahre, halb wahre und erfundene Geschichten. Epenstein, praktischer Arzt, Wundarzt, Geburtshelfer, Großkaufmann, Liebhaber historischer Gemäuer und Lebemann aus Berlin, stammt aus einer begüterten Familie. Sein Großvater war vom jüdischen Glauben zum Katholizismus konvertiert. Möglicherweise hat er Heinrich Ernst Göring bereits in Deutsch-Südwestafrika kennengelernt. Einige Göring-Biografen behaupten, Epenstein sei gemeinsam mit Göring in die Kolonie gereist; nach der Flucht der Görings in die britische Enklave Walvis Bay habe er dort die Tochter Olga entbunden und Franziska Göring das Leben gerettet.[54] Zuverlässig belegt ist das allerdings nicht.

Noch größere Rätsel gibt die langjährige Liebesbeziehung auf, die Epenstein angeblich mit Franziska Göring führt.[55] Fast zwei Jahrzehnte soll die bis in die jüngste Zeit nie ernsthaft hinterfragte,[56] bleischwer auf der Familie lastende Dreiecksbeziehung mit Epenstein als Franziska Görings offiziell anerkanntem und von ihrem Ehemann geduldetem Liebhaber angedauert haben. Bettina Göring, die Großnichte Hermann Görings, zweifelt nicht an der Existenz dieses Liebesverhältnisses.[57] Ein Nachweis für die – durchweg plausibel anmutende und anhand bekannter Fakten, Erzählungen und Mutmaßungen gut nachvollziehbare – Ménage-à-trois existiert allerdings nicht. Spekulationen ranken sich seit Langem auch um die Vaterschaft von Hermanns jüngeren Bruder Albert, der Epenstein auffallend ähnlich sieht. Gezeugt wurde Albert allerdings mit großer Wahrscheinlichkeit in Haiti.[58] Ob Epenstein jemals dort war, ist wiederum zweifelhaft.

Im Jahr 1898 zieht Familie Göring nach Burg Veldenstein im mittelfränkischen Neuhaus an der Pegnitz, 60 Kilometer nordöstlich von Nürnberg. Hier im Fränkischen wird in den kommenden Jahren auch die für Hermann Görings charakteristische Sprachfärbung geprägt werden – die kehlig-hohe Stimme mit dem auffallend hart rollenden R, das seinen Worten stets eine unwiderstehliche Dominanz zu verleihen scheint. Epenstein hat das mittelalterliche Gemäuer ein Jahr zuvor gekauft. Der Legende nach lebt er hier seine Liaison mit Franziska Göring ungestört aus. Sie residiert im Obergeschoss direkt neben Epensteins Schlafzimmer, während ihr Ehemann mit einem kleinen Zimmer im Erdgeschoss vorliebnehmen muss. Ähnlich auf Schloss Mauterndorf im Salzburger Land, das Epenstein 1894 erworben und mit großem finanziellem Aufwand hat restaurieren lassen. Hier verbringen die Görings regelmäßig ihre Ferien. Das Familienoberhaupt, heißt es, sei dann in einem abseits des Schlosses gelegenen Haus untergebracht.[59]

Der beim Umzug nach Veldenstein fünf Jahre alte Hermann mag gehofft haben, dass sie nun alle zusammenbleiben – seine Eltern, seine Geschwister und er. Was für ein Traum für einen kleinen Jungen: auf einer echten Ritterburg wohnen, mit Zinnen, Schießscharten und einer Burgkammer voller Säbel und Spieße, jeder Tag ein Abenteuer. Doch seine Eltern haben andere Pläne: Mit sieben Jahren schicken sie ihn im September 1900 zum Schulbesuch nach Fürth. Fortan verbringt er nur die Wochenenden mit seiner Familie auf der Burg. Der von der Hauslehrerin auf Veldenstein nicht zu bändigende Junge habe «nach kurzer Dorfschulzeit nach Fürth übersiedeln» müssen, heißt es in der von Görings langjährigem persönlichen Referenten Erich Gritzbach verfassten Biografie.[60] Hermann wohnt jetzt allerdings nicht bei der vertrauten Familie Graf, sondern wird im Haushalt des Lehrers Johann Frank, Oberhaupt einer Familie mit vier Kindern, untergebracht.[61] Er besucht die Littmann-Steinsche Privatschule, wo Kinder aus bürgerlichen Familien aufs Gymnasium vorbereitet werden. Im Schuljahr 1902/03 taucht er als Schüler der Klasse 5b in den Akten des Heinrich-Schliemann-Gymnasiums in Fürth auf.[62]

Mit sechs Jahren schon ein Matrose des Kaisers: Hermann Göring (2. v. l.) mit seiner Mutter Franziska «Fanny» und den Geschwistern Albert, Paula und Olga (v. l. n. r.).

Nach dem plötzlichen Tod des Pflegevaters Johann Frank[63] müssen Hermanns Eltern eine neue Pflegestelle suchen. Im November 1903 wechselt der nun Zehnjährige zur Familie des Lehrers Theodor Ruttmann, die im Fürther Arbeiterviertel in bescheidenen und sehr beengten Verhältnissen wohnt.[64] Auf dem Gymnasium ist Hermann offenbar kein Musterschüler; im Zeugnis erhält er einen Tadel «wegen schlechten Benehmens und Schwänzens».[65]

Während Hermann ein ums andere Mal abgeschoben wird, bleiben seine Geschwister Olga, Paula und Albert[66] bei den Eltern auf Burg Veldenstein und werden dort von einer Hauslehrerin unterrichtet.[67] Es gibt nur wenige Hinweise, warum ausgerechnet er zu fremden Leuten weggeschickt wird, lediglich einige Ausführungen in älteren Biografien, die aber nicht belegt werden. So sei Hermann Göring als Junge «eigensinnig und verwöhnt»[68] gewesen; «er tyrannisierte seine Geschwister»[69] und habe «Zügellosigkeit und Mangel an Selbstbeherrschung»[70] offenbart. Seinem Biografen Erich Gritzbach wird Göring mehr als drei Jahrzehnte später diktieren, er sei erfüllt gewesen von «maßlosem Zorn, daß es die Schwestern und der jüngere Bruder besser haben als er» und «in seiner geliebten Burg von einem Hauslehrer unterrichtet werden».[71]

In den Ferien stößt Hermann zu seiner Familie nach Mauterndorf. Trutzig und wehrhaft überragt das Schloss das umliegende Gelände. Der Junge entflieht der verstörenden Realität des möglicherweise offen gelebten Verhältnisses seiner Mutter mit Hermann Epenstein, dem bedrückenden Dasein in der Pflegefamilie und dem Versagen in der Schule und träumt sich in eine Ritterwelt mit alten Gemäuern, Zinnen, Gewölben, Türmen und Gemächern, Bergfried und Wehrmauer – und einem Arsenal alter Hieb- und Stichwaffen aus dem Burgturm. Er liest Rittersagen und verbringt die Tage mit den Jungs aus dem Dorf bei immer neuen Belagerungsspielen – stets unter seiner Führung. Er «kommandierte die Söhne der Landarbeiter bei Schlägereien und (…) fühlte sich als Burgherr (…), mit feudalen Rechten gegenüber jedermann, besonders seinen ‹Leibeigenen›».[72]

Doch immer wieder holt die Wirklichkeit ihn ein. Der Burgherr, das ist nicht sein kränklicher und offenbar zunehmend dem Alkohol zugetaner Vater,[73] denn der wird nur als Kostgänger auf Veldenstein und Gratis-Feriengast in Mauterndorf geduldet. Er war, wie es in der Göring-Biografie von Heinrich Fraenkel und Roger Manvell heißt, «eine Null geworden, ein Mann, der nur noch in seinen Erinnerungen lebte».[74]

Der Burgherr heißt Hermann Epenstein. Und so tritt er auch auf. Er gewandet sich gern in Rüstungen, seine Diener sind «als Knappen kostümiert, die Mahlzeiten wurden mit einem Hornsignal angekündigt».[75] Epenstein finanziert alles: das Wohnen auf Burg Veldenstein, die Urlaube auf Schloss Mauterndorf, die Privatschule für Hermann, den Hauslehrer für die Geschwister. Für den Jungen wird er immer mehr zu einer Art Vaterersatz. Einige der Biografien, deren Schilderungen der Kindheit und Jugend Hermann Görings vor allem auf Aussagen seiner Geschwister beruhen, sehen Epenstein als Hermanns Vorbild;[76] der wohlhabende Gönner der Familie sei für den Jungen «ein strahlender Held» gewesen.[77]

Die nächste Verschiebestation wartet allerdings schon. «Damit er etwas strenger an die Kandare genommen wird», so sein Hofbiograf Erich Gritzbach, schicken die Eltern den auf dem Gymnasium offenbar gescheiterten Jungen im Herbst 1904 auf das Carolineum, ein Internat in Ansbach, 90 Kilometer westlich von Veldenstein gelegen.[78] Dort fällt Göring immer wieder durch Disziplinlosigkeit auf. Er bricht die Ausbildung an der Erziehungsanstalt eigenmächtig ab und kehrt nach Veldenstein zurück.

In einer der älteren Göring-Biografien findet sich eine auf mündlichen Überlieferungen von Görings Schwester Olga basierende Erklärung für die Flucht aus dem Internat.[79] In einem Aufsatz zum Thema «Der Mann, den ich am meisten bewundere» habe Göring ein «begeistertes Loblied» auf seinen Patenonkel Epenstein verfasst. Der Direktor habe Hermann daraufhin zu sich befohlen und gesagt, «in Ansbach sei es nicht üblich, Schulaufsätze zur Verherrlichung von Juden zu schreiben».[80] Hier erfährt Göring – wenn die Episode sich wirklich so zugetragen hat – zum ersten Mal von der jüdischen Herkunft Epensteins. Angeblich zwingt man den Jungen, auf dem Schulhof mit einem Schild um den Hals herumzulaufen, auf dem steht: «Mein Pate ist ein Jude.»[81] Am nächsten Morgen sei er aus Ansbach abgereist.

Eine tiefe, dunkle Leere

«Der reduzierte Mensch»– so lautet die Überschrift des Kapitels über Hermann Göring in dem Buch Der Fremde in uns des deutsch-schweizerischen Psychologen und Psychoanalytikers Arno Gruen, der sich intensiv mit Görings Kindheit befasst hat.[82] Gruens Interpretation der Psyche des Jungen liest sich ähnlich beklemmend wie die Beschreibung der albtraumhaften Dämonen und Fabelwesen in den düsteren Bildwelten des Malers Hieronymus Bosch. Gruen sieht in Göring einen emotional früh kastrierten Menschen, geplagt von «innerem Terror und dem Erlebnis schwerer Minderwertigkeitsgefühle», der «abgeschnitten von seinem Schmerz lebt und ihn unentwegt außerhalb seiner selbst suchen muss».[83] Göring, für den Macht und Machtbedürfnisse «die einzigen Anzeichen von Größe» darstellten, sei gefangen in einem «Prozess, in dem Rache gegen das Menschliche zu einem permanenten Drang wird».[84] Deshalb müsse «dem anderen Schmerz zugefügt werden, den man selbst erlitt, aber nicht erleiden durfte».[85]

Gruen stützt sein Psychogramm vor allem auf die Auswertung des Rorschach-Tests, dem sich Göring während des Nürnberger Kriegsverbrechertribunals unterzog.[86] Die US-amerikanischen Wissenschaftler Florence R. Miale und Michael Selzer wiederum ziehen bei ihrer Interpretation auch die – allerdings bruchstückhaften – Kenntnisse über Görings Kindheit heran.[87] Ein Teil der «Gewalttätigkeit und Depression», die Görings Rorschach-Protokoll offenbart, habe seinen Ursprung in der «mütterlichen Entbehrung, die er als kleines Kind erlitt».[88] Besonders auffällig sei «der Nachweis seiner extremen Unfähigkeit, auf Gefühlsnuancen in menschlichen Beziehungen zu reagieren – anderen Wärme, Sensibilität und Zuwendung zu geben und von ihnen zu empfangen».[89] Die Situation in der Nürnberger Haft und das zu erwartende Todesurteil hätten Göring «vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben die Schwärze eröffnet», die schon immer in ihm war, «eine tiefe, dunkle, formlose Leere».[90]

Vor den Wissenschaftlern, die Görings Rorschach-Test analysieren – und vor allen, die sich jemals genauer mit dem jungen Hermann Göring beschäftigt haben –, liegen die Stationen einer desaströsen Kindheit und Jugend, die Göring selbst bei der Vernehmung vor dem Nürnberger Kriegsverbrechertribunal in sechs Worten beschreibt: «Normale Erziehung, zuerst Hauslehrer, später Kadettenkorps.»[91] Immer wieder wird der Junge von seinen Eltern abgeschoben. Liebe, Wärme, Fürsorge, Geborgenheit, Interesse – all dies scheint er nicht oder kaum erfahren zu haben. Wie es ihm geht, was er sich wünscht, wovor er sich fürchtet – all das ist offenbar nicht von Belang. «Für mich ergibt sich das Bild einer Kindheit, die von Trennungen und Schmerzen geprägt war», schreibt der Psychohistoriker Sven Fuchs über Hermann Göring. Schon früh sei dem Jungen klargemacht worden, «dass er nichts zählte, dass seine Bedürfnisse nicht zählten».[92]

Ob Franziska Göring fürsorglich und feinfühlig ist, wenn ihr Sohn in den Ferien zur Familie stößt, ist nicht bekannt. Aber selbst wenn: Warum sollte der Junge Vertrauen entwickeln und Nähe zulassen, wenn die Erfahrung ihm sagt, dass er bald sowieso wieder weggeschickt wird? Vater Heinrich Ernst Göring wiederum ist kein Vorbild, zu dem man als Junge von acht, zehn Jahren aufschauen kann, sondern ein kränkelnder und schwächelnder Pensionist, dreiundfünfzig Jahre älter als sein Sohn, möglicherweise ein gehörnter Ehemann. Das väterliche Repertoire an Autorität und Erziehungsmethoden beschränkt sich offenbar weitgehend darauf, den renitenten Hermann «härter an die Kandare zu nehmen».

Die erste, aus heutiger Sicht kaum verständliche Trennung von der Mutter im Alter von drei Monaten ist jene, die vermutlich noch den geringsten Schaden anrichtet. Jörg M. Fegert, einer der führenden deutschen Kinder- und Jugendpsychiater und -therapeuten,[93] sieht darin «eine kurze, einschneidende Disruption, aber keine zentrale Weichenstellung für den weiteren Lebensweg». Bei der Familie Graf sei Göring offenbar «in eine relativ normale frühkindliche Erziehungssituation mit Pflegeeltern und Pflegegeschwistern» gekommen. «Diese erste Pflegefamilie war vermutlich eher ein Segen für ihn.»[94]

Die seelische Verletzung aus dieser ersten Trennungserfahrung entsteht erst Jahre später, als Hermann Göring bewusst wird, dass er als Säugling von seiner Mutter zurückgelassen wurde. Der weltweit renommierte Bindungsexperte Karl Heinz Brisch[95] skizziert die Seelenlage des Jungen: «Warum ist sie ohne mich zurückgefahren nach Haiti, zu ihren anderen Kindern?», wird er sich gefragt haben. «Warum war ich ihr nicht wichtig genug? Was war falsch an mir?» All diese Fragen, auf die es keine Antwort gibt, erzeugen in dem Jungen «ein ganz schreckliches, kaum aushaltbares Bild von sich selber», so Brisch. «Da bleibt eine erste narzisstische Narbe, eine große Kränkung und Verletzung.»[96]

Schon die Wiedervereinigung mit der Familie, zunächst vermutlich mit der Mutter, später mit Vater und Geschwistern, hat Hermann Göring vermutlich als massive und verstörende Trennungserfahrung wahrgenommen. Er wird herausgerissen aus der vertrauten Pflegefamilie Graf und mit seiner Ursprungsfamilie vereint – Fegert zufolge «eine halb zerrüttete, dysfunktionale Familie, womöglich mit einer Dreiecksbeziehung zu einem Ritterburg-Pseudovater»[97] –, mit Menschen also, die er nicht kennt und mit denen ihn keinerlei Erinnerung verbindet.

Doch es kommt noch viel schlimmer. Immer wieder wird der Junge abgeschoben. Eine Abfolge von Beziehungen, die auf die Probe gestellt werden, die scheitern, abgebrochen werden und jedes Mal damit enden, dass Hermann weitergereicht wird. In diesem emotionalen Wechselbad mit zunehmend erwartbar desaströsem Ausgang kann sich nach Brischs Überzeugung «überhaupt kein Bindungsverhalten gegenüber einer Bezugsperson entwickeln».[98] Es gibt niemanden, der für Hermann Göring «eine besondere Bedeutung als Ort der Sicherheit hätte» und den er «bei Angst oder Bedrohung zum Schutz aufsuchen» würde.[99]

Dass eine derartige Karriere ständiger Beziehungsabbrüche im Kindesalter ein idealer Nährboden für schwere psychopathologische Auffälligkeiten ist, gilt heute als gesichert. Emotionale Misshandlung hat «von allen Misshandlungsformen die stärksten Auswirkungen auf die Psyche der Kinder und Jugendlichen (…), auch im Vergleich mit körperlicher Misshandlung»[100] – so das Fazit einer deutschen Studie aus dem Jahr 2024 mit fast 800 Kindern und Jugendlichen.[101] Der verantwortliche Hauptautor Lars White sieht die Ergebnisse der Studie als Beleg dafür, «dass infolge von früher emotionaler Misshandlung bereits im Alter von drei bis acht Jahren vor allem Störungen des Sozialverhaltens auftreten».[102] Was das konkret bedeutet, beschreibt Karl Heinz Brisch: «Menschen wie Hermann Göring, die eine derartige emotionale Verwahrlosung und Bindungslosigkeit durchlebt haben, können mit Gefühlen überhaupt nicht umgehen. Sie entwickeln keinerlei Empathie.»[103]

«Bin ich sicher?», fragen Kinder sich unablässig. «Gehöre ich dazu? Bin ich anerkannt? Werde ich geliebt? Interessiert sich jemand für das, was ich tue?» Aus den tagtäglichen Antworten auf diese Fragen, so Herbert Renz-Polster, Kinderarzt und Autor von Büchern über kindliche Entwicklung, «baut sich der kleine Mensch seine erste, eigene Landkarte».[104] Wie mag diese Karte bei Hermann Göring ausgesehen haben? Experten sprechen von einer «katastrophischen ‹Landkarte› von der Welt, in der (…) Probleme nicht durch Aushandeln, sondern durch Gewaltanwendung oder Unterwerfung gelöst werden».[105] Was erwartet ihn? Wohin geht es nach den Ferien mit Eltern und Geschwistern auf dem Schloss? Wohin wird er das nächste Mal abgeschoben? Die Welt und selbst die scheinbar vertrautesten Menschen sind für den Jungen nicht verlässlich.

Würde Göring heute leben, wären die Folgen seiner emotionalen Verwahrlosung in den Bildern des Kernspintomografen nachweisbar. Beeinträchtigungen der Hirnentwicklung und «biologische Narben» sind inzwischen zuverlässig diagnostizierbar. So wurde «bei Kindern mit ähnlichen Erfahrungen eine verringerte Cortisolausschüttung festgestellt» – außerdem ein geringeres Volumen der Amygdala, jenes Gehirnareals, das für die Verarbeitung von Angst und emotionalen Reaktionen zentral ist.[106] Eine der Folgen sei eine «seelische Abstumpfung». Solche Kinder, so Lars White, «konzentrieren sich unter Stressbedingungen primär auf das eigene Überleben und räumen dann andere einfach aus dem Weg».[107] Renz-Polster spricht von «toxischen Stresserfahrungen», die sich «nachhaltig in das Körpergedächtnis des Kindes einschreiben».[108]

Auf die fortwährenden Beziehungsabbrüche sucht und findet Hermann Göring eine Antwort: dominantes, einschüchterndes und aggressives Verhalten. Stets will er der Anführer sein, der vermeintlich Schwächere befehligt und in die Unterordnung zwingt. Als kleiner Feldherr führt er die Jungen aus dem Dorf in Kämpfe gegen imaginäre Feinde. Schon bei Gritzbach heißt es, das Spiel habe nie allzu lange gedauert. Göring sei es schnell «zu langweilig» geworden, «da die Feinde so schlapp sind und nicht mal in den ersten Burghof richtig eindringen können».[109] Und laut Gilbert schlug er bei Unstimmigkeiten über die Frage, wer bei den Ritterspielen der Anführer ist, die Köpfe seiner Kontrahenten gegeneinander «und zeigte ihnen damit ‹verdammt schnell›, wer der Boss ist».[110]

Beliebt macht sich der junge Hermann Göring mit seinem herrischen Auftreten nicht; manche Kinder dürften ihn gefürchtet haben – vermutlich auch seine Geschwister. Gilbert berichtet von offener Aggression gegenüber den beiden älteren Schwestern.[111] Für den Bindungsexperten Karl Heinz Brisch ist das leicht erklärbar. «Wenn die anderen Geschwisterkinder die ganze Zeit bei den Eltern leben können und nur er immer wieder weggegeben wird, löst das ein Gefühl von Kränkung und Verletzung aus», so der Wissenschaftler. «Diese Wahrnehmung, abgelehnt und ausgeschlossen zu sein, äußert sich dann irgendwann in Wut – auch gegenüber den Geschwisterkindern.»[112]

Dank seiner Intelligenz ist Göring in der Lage, sich in einer Welt ohne verlässliche Bindungen zu behaupten. Er nimmt das ihn umgebende Desaster nicht wehrlos hin und entwickelt soziale Kompetenzen – als Kind etwa beim Ritterspiel mit den Jungs aus dem Dorf. «Intelligente Menschen wie Göring sichern ihr Überleben durch Anpassung, aber auch durch Unterdrückung und Manipulation», erklärt Karl Heinz Brisch. «Sie sind in der Lage, sehr schnell herauszufinden, wie andere denken und funktionieren, wie sie ticken – und wie man sie für die eigenen Zwecke manipulieren kann.»[113] Bei dem erwachsenen Hermann Göring werden sich diese in der Kindheit angelegten und später zur Vervollkommnung gebrachten sozialen Anpassungsstrategien zu einem prägenden Wesensmerkmal verfestigen. Die Psychologie hat hierfür den Persönlichkeitstypus «callous unemotional»[114] entwickelt, gekennzeichnet durch «kalte, planvolle Aggression, strategisch-manipulativ und ohne Empathie und Gefühl».[115] Die US-amerikanischen Psychologen Delroy L. Paulhus und Kevin M. Williams sprechen – ohne in ihrer Arbeit Göring ausdrücklich zu erwähnen – von der «Dunklen Triade der Persönlichkeit», bestehend aus den «sozial bösartigen» Wesensmerkmalen Narzissmus, Macchiavellismus und dissozialer Persönlichkeitsstruktur.[116] «Alle drei zeichnen sich aus durch Tendenzen zu Selbstdarstellung, emotionaler Kälte und Aggressivität.»[117] In Hermann Göring scheinen sich diese Charakteristika zu vereinen: Er ist manipulativ, dominant und geltungsbedürftig sowie nahezu unempfänglich für Empathie und Angst.

Mit zwölf Jahren ist Hermann Görings Kindheit endgültig vorbei. Wie schon zuvor seinen älteren Bruder Karl schicken die Eltern ihn 1905 auf eine Kadettenanstalt. Ihre Wahl fällt auf das Kadettenhaus in Karlsruhe, eine weiterführende Schule zur vormilitärischen Ausbildung, laut Görings willfährigem Biografen Gritzbach auf Veranlassung des Vaters. Der ist offenbar bemüht, wenigstens den Schein seiner bröckelnden Autorität zu wahren, und zudem der Meinung, dass sein Sohn «gar nicht straff genug angefaßt werden» kann.[118] Erst das rigide System der Kadettenanstalt ermöglicht es Hermann Göring, den von Gilbert beschriebenen «Teufelskreis aus noch mehr Bestrafung, noch boshafterer Vergeltung, noch mehr Ablehnung und noch mehr Aggression» zu durchbrechen.[119] Negative Vorfälle oder Beurteilungen aus dieser Zeit sind nicht bekannt. Im Gegenteil: Für den jungen Hermann beginnt eine Erfolgsgeschichte – weil, wie Jörg M. Fegert erklärt, keine «emotional allzu heißen Themen» verhandelt werden. Mag mich jemand? Hält jemand zu mir? «In der Kadettenanstalt geht es ums Funktionieren, um Hierarchie, Gehorsam, Stärke, Macht, Drill, Auftragserfüllung und Unterordnung. Und damit scheint Göring gut klarzukommen.»[120]

Fünf Jahre später, 1910, wechselt Hermann Göring in die Hauptkadettenanstalt Berlin-Lichterfelde. Die zentrale Offiziers-Eliteschmiede des Reiches gilt als die beste Militärschule weltweit. Im Vordergrund der Ausbildung stehen «soldatische Schulung und körperliche Ertüchtigung».[121] Im Mai 1911 besteht Göring das Fähnrichexamen mit dem Prädikat «vorzüglich»,[122] ein knappes Jahr später tritt er als Leutnant in das 4. Badische Infanterieregiment Prinz Wilhelm Nr. 112 ein. Im Januar 1913 besteht er das Abitur. Er bleibt in der Hauptkadettenanstalt und absolviert dort den achtmonatigen Kriegsschulkurs, den er im Dezember 1913, im Alter von zwanzig Jahren, mit dem Offiziersexamen abschließt.

Der Junge «kann gar nicht straff genug angefaßt werden», meint Hermann Görings Vater – und schickt den Zwölfjährigen auf die Kadettenanstalt.

Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs ist Leutnant Hermann Göring mit seinem Regiment im elsässischen Mülhausen stationiert. Seinem Hausbiografen Gritzbach wird er später diktieren, womit er als junger Bursche einst gegenüber seinen Spielkameraden geprahlt hat: «Wenn ich Offizier werde – und das werde ich bestimmt – muss es auch gleich Krieg geben.»[123] Ein junger Mann ohne Selbstwertgefühl, dafür aber voller Schmerz, Hass und Aggression, zieht in den Krieg. Er wird dabei «die gefährliche und verhängnisvolle Entdeckung» machen, dass dieser Krieg «demjenigen, der rücksichtslos und skrupellos genug ist, sowohl Ruhm als auch Gewinn bringen kann».[124]

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