Herr Doktor, mein Hund hat Migräne! - Heike Abidi - E-Book

Herr Doktor, mein Hund hat Migräne! E-Book

Heike Abidi

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Beschreibung

Magenkranke Katzen, Minischweine mit Gemütsschwankungen, adipöse Hamster – wenn es um Wohl und Weh unserer Lieblinge geht, ist guter Rat teuer. Das Schaf lahmt? Der Pudel will nicht fressen? Das Fell der Vogelspinne glänzt nicht wie sonst? Dann ist der Gang zum Tierarzt unvermeidlich. Ob kauzige Bauern oder launische Katzenfrauchen – oftmals verlangen die Tierhalter mehr Aufmerksamkeit als die Patienten. In »Herr Doktor, mein Hund hat Migräne!« erzählen TierärztInnen und -besitzerInnen die lustigsten, skurrilsten und herzzerreißendsten Geschichten von der Kleintierpraxis bis zur Pferdekoppel. Und natürlich kommt auch der ein oder andere Vierbeiner zu Wort!

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PROLOG Die Dreierbeziehung fürs Leben

Am Anfang war das Nichts. Dann gab es einen Urknall und zehn Milliarden Jahre später entstand die Erde. Vor siebenhundert Millionen Jahren begannen sich Pflanzen und Tiere zu entwickeln. Der Mensch betrat vor rund einer Million Jahren die Bildfläche und sein erster Freund und Partner im Überlebenskampf war der Wolf, den er recht schnell zu seinem Freund machte und aus dem er mit der Zeit eine unüberschaubare Menge von Hunderassen züchtete. Dazu kamen dann die anderen domestizierten Tiere, die wir zu unserem Nutzen, aber auch zu unserer Freude halten.

Der Unterschied ist nur der, dass sie nicht damit beschäftigt sind, das Leben unseres Erbonkels, den wir maximal alle drei Jahre mal sehen, zu verlängern, sondern sich um unsere wirklichen Lieblinge zu kümmern, mit denen wir Tag für Tag zusammenleben und die es uns sogar erlauben, nachts in ihrem Bett zu schlafen, oder war es umgekehrt?

Heute in der »zivilisierten« Welt teilen wir die Tiere nach Nützlichkeit auf. Eine besondere Gruppe bilden dabei jene Haustiere, die wir nicht als Nahrungsmittel oder Nutztier halten, sondern aus Freude und Liebe. Dazu gehören Hunde, Katzen, Goldhamster, Kanarienvögel … – kurz: All jene Tiere, die wir als unsere Kameraden bezeichnen. Zwar gibt es Kulturen, in denen Hunde und andere unserer Freunde auf der Speisekarte stehen, aber bei uns würde ein Wirt, der es wagen sollte, »Gebratenen Hund« anzubieten, den Abend vermutlich nicht überleben. Zu Recht, muss man hier klar sagen. Rein formal sind wir für alle diese Tiere zwar die »Herrchen« und »Frauchen«, aber die realen Machtverhältnisse sehen doch anders aus. Geht es Wuffi oder Maunzi schlecht, verfallen seine Untergebenen (sorry, gemeint sind natürlich die formalen Besitzer) in Panik. Hilfe muss dann her und zwar schnell. Dazu erfanden die Menschen den Tierarzt. Die Gruppe der Veterinäre hat die Aufgabe, unseren Pelzoder Federtieren zu helfen, falls wir einmal nicht weiter wissen. So spielen Tierärzte heute bei uns eine fast so wichtige Aufgabe wie die anderen »Halbgötter in Weiß«. Der Unterschied ist nur der, dass sie nicht damit beschäftigt sind, das Leben unseres Erbonkels, den wir maximal alle drei Jahre mal sehen, zu verlängern, sondern sich um unsere wirklichen Lieblinge zu kümmern, mit denen wir Tag für Tag zusammenleben und die es uns sogar erlauben, nachts in ihrem Bett zu schlafen, oder war es umgekehrt?

Damit haben die Tierärzte einen wichtigen Platz in unserem Leben. Sie wissen das auch und manchmal lassen sie sich unsere Hilflosigkeit dann sehr gut bezahlen. Im Laufe ihrer Berufsjahre erleben sie eine Menge mit Tieren, aber mehr noch mit den Menschen. Im Folgenden soll es um die meist lustigen, aber auch manchmal tragischen Erlebnisse aus ihrem Arbeitsleben gehen. Es gibt vieles, was Tierhalter und Tierärzte zu erzählen haben. Auch Tiere kommen zu Wort.

Freuen Sie sich auf unsere Geschichten. Viel Spaß!

KAPITEL 1 Ärzte, die auf Ziegen starren

Sie hätten als Mediziner Halbgötter in Weiß werden, sich als Radiologen eine goldene Nase (und einen roten Ferrari) verdienen oder als Herzchirurgen die Bewunderung des kompletten Golfclubs sichern können.

Stattdessen drücken sie lieber Analdrüsen von Hunden aus, kastrieren fette Kater und rasen in Gummistiefeln des Nachts in abgelegene Kuhställe, um Kälbergeburtshelfer zu spielen.

Was sind das nur für Menschen, diese Veterinäre? Einfach nur Tierliebhaber? Oder etwa auch Menschenhasser? Falls Letzteres zutrifft, haben sie leider eine Sache vergessen: Kein tierischer Patient ohne Herrchen oder Frauchen …

 

SCHWEIN GEHABT

Es war schon spät und meine Kollegen und ich tätigten gerade die letzten Handgriff e vor dem ersehnten Feierabend, als noch ein unangemeldeter Patient zu uns in die Kleintierpraxis kam. Das Erste, was ich von dem späten Besuch wahrnahm, war das entzückte Quietschen einer unserer Auszubildenden, die sich vor Begeisterung gar nicht mehr einzukriegen schien. Darauf folgte eine seltsame Mischung aus Grunzen und Quieken, das mich abrupt in meine Volontariatszeit zurückversetzte, als ich, das Studium der Veterinärmedizin gerade abgeschlossen, zur Feuerprobe auf einem Bauernhof junge Eber kastriert hatte. Neugierig steckte ich also meinen Kopf durch die Tür meines Behandlungszimmers, um zu schauen, wen die Empfangsdame gerade abzuwimmeln versuchte, und sah mich in meiner Vermutung bestätigt: ein Schwein. Ich schätzte es auf circa sechzig bis siebzig Kilo, kräftig und wild mit dem Ringelschwänzchen schlagend. Hilflos sah unsere Empfangskraft zu mir herüber und winkte zögerlich. Die Besitzer des sogenannten Minischweins entdeckten mich sofort.

Schlamper? Was für ein Name für ein Schwein.

»Frau Doktor, bitte. Es ist ein Notfall«, erklärte der junge Mann mit Glatze und Maßanzug.

»Mit Schlamper stimmt etwas nicht«, mischte sich seine blonde Begleitung ein und hielt schnurstracks auf mich zu. Schlamper?

Was für ein Name für ein Schwein. Nach einem kurzen Blick auf meine Armbanduhr verabschiedete ich mich von meiner abendlichen Kinoplanung und bat die Herrschaften samt Schweinchen zu mir ins Zimmer. Das possierliche Tierchen trabte zufrieden grunzend neben ihnen her und sah sich neugierig um. Ich schüttelte innerlich den Kopf. Schweine mit Leine. Ungewöhnlich, aber nicht unmöglich.

Meine Auszubildende Maja, die sonst immer die Erste war, die den Laden verließ, hatte nur noch Augen für den seltenen Anblick und erklärte sich freudig bereit, mir zu assistieren.

»Wie kann ich helfen?«, wollte ich wissen und hockte mich vor den kleinen Eber, um mich mit ihm vertraut zu machen. Und da ich ihn ohnehin nicht auf den Untersuchungstisch bekommen würde …

So weit wirkte er quicklebendig und zufrieden. Ich tätschelte ihm den Kopf und er gab mir tatsächlich eine seiner Klauen zur Begrüßung. Ich lachte.

»Das ist ja mal putzig«, sagte ich zu den spürbar stolzen Besitzern.

»Er ist ein wahrer Charmeur«, erklärte sein Frauchen und holte dann tief Luft, um auszuführen, was der Grund ihres Besuches war. »Deshalb verstehen wir auch zurzeit sein Verhalten nicht. Er ist immer ausgeglichen und die Ruhe selbst in seiner Rotte, die wir beide und unsere Tochter darstellen.«

Meine Augenbrauen schnellten in die Höhe.

»Also halten Sie das Tier tatsächlich in der Wohnung?«

Sie nickte eifrig, was ihren blonden Zopf wippen ließ.

»Ja, das ist richtig. Er ist auch bei seiner Züchterin in einem Haus geboren worden und dann mit vier Monaten zu uns gezogen.« Ich begann, den kleinen Schlamper abzutasten und untersuchte seine Zähne und die Augen, während ich weiter zuhörte.

»Seit einiger Zeit hat er so etwas wie Tobsuchtsanfälle.«

»Tobsuchtsanfälle?«, fragte ich erstaunt und tastete nach den nicht vorhandenen Hoden. An Revierverhalten oder einem Geschlechtstrieb konnte es offenkundig nicht liegen.

»Wie äußert sich das?« Ich stand auf und steckte die Hände in meine Kitteltaschen.

»Also, es hat kurz nach dem Jahreswechsel begonnen. Sobald die Familie ins Bett gehen möchte, flippt er aus. Das hat er sonst nie getan. Er rennt schreiend wie eine wild gewordene Furie durch die Wohnung. Es beginnt in der Küche. Dabei dreht er sich wie ein Brummkreisel und jagt anschließend durch die anderen Räume. Schließlich stoppt er vor der Gartentür oder der Haustür. Und erst, wenn wir ihn rauslassen, wird er ruhiger.« Sie machte eine Pause und ich überlegte, ob ich meine Meinung ganz unverblümt aussprechen sollte.

»Könnte es sein, dass er einfach nur lieber draußen sein möchte? Ich meine, es ist nicht unbedingt die optimale Haltungsform eines Schweins, so in der sterilen Wohnung.«

Jetzt meldete sich der Anzugträger zu Wort. Aber nicht, ohne sich vorher ausgiebig zu räuspern.

»Über geeignete Haltungsformen sollten wir ein andermal ausgiebig diskutieren. Denn wenn man die Masttierhaltung einmal dagegenstellt, kommt die Frage auf, wie sich wohl die Tiere dort fühlen mögen.«

Touché. Ich verzog mein Gesicht.

»Schlamper hat einen eigenen Garten, den er tagsüber nutzt. Er suhlt sich in Erde und Sand und ist ganz Schwein. Sonst darf er ins Haus und kann seine Familie um sich haben, wie er es möchte. Er ist ein glückliches Schwein«, erklärte die junge Frau und ich hob beschwichtigend die Hände.

»Pardon. Ich wollte niemanden kritisieren. Es ist nur, dass diese Haltungsform etwas ungewöhnlich ist.« Ich verkniff mir den Kommentar, dass es sich meiner Meinung nach um eine Modeerscheinung handele, unter der am Ende meist die Schweine zu leiden hätten. Nämlich dann, wenn es doch nicht bei den angegebenen sechzig Kilo blieb, die der Züchter bei diesen Teacup-Schweinchen versprochen hatte. Oder wenn die Schweine außerhalb ihrer Rotte ein aggressives Verhalten an den Tag legten. Was durchaus auch mal gegen die Spielgefährten der Kinder gehen konnte.

»Wir sind sehr gut über unsere Tiere informiert und werden jedem Einzelnen von ihnen mehr als gerecht«, beteuerte die Besitzerin und ich lockte das vergnügte Schweinchen, das gerade mit der Auszubildenden spielte, zu mir.

»Sie haben andere Haustiere?«

»Ja, eine Katze. Sie lieben sich.«

»Aha.« Ich überlegte kurz. »Und wenn Sie das Schwein draußen übernachten lassen, dann ist Ruhe?« Der Mann schüttelte den Kopf und verzog seinen Mund zu einem Strich.

»Nein. Leider nicht. Schlamper dreht erneut auf, sobald wir die Türen schließen und ihn im Garten lassen wollen. Er ist es ja auch gewohnt, bei seiner Familie zu schlafen.«

Meine Auszubildende redete ihm gut zu und hielt das dicke rosa Ding mit den schwarzen Tupfen fest.

»So macht er einen sehr guten Eindruck.« Vorsichtig hörte ich Schlampers Herz ab. Er ließ mich geduldig gewähren, knabberte lediglich am Saum meines Kittels herum. Alles war so normal, wie es nur sein konnte. Dann maß ich Fieber, wobei er sich dann doch ein wenig wand und empört zu quieken begann. Meine Auszubildende redete ihm gut zu und hielt das dicke rosa Ding mit den schwarzen Tupfen fest.

»Ich muss ehrlich gestehen, dass ich auf Anhieb keinen Verdacht auf etwas Spezielles habe. Ich würde vorschlagen, ich entnehme erst einmal eine Blutprobe, um zu sehen, ob es dort einen Hinweis gibt.«

Gesagt, getan. Und das sogar ohne einen Kampf. Ich war beeindruckt von dem kleinen, freundlichen Schwein.

»Kommen Sie doch bitte morgen Vormittag mit Schlamper wieder«, bat ich die Besitzer, die einen langen Blick tauschten.

»Na gut. Aber was sollen wir tun, wenn es heute Abend wieder losgeht?«

»Ich gebe Ihnen ein leichtes Beruhigungsmittel mit. Eine halbe Tablette in den Getreidebrei.« Mit dieser Anweisung musste ich die Leute vorerst in den Abend entlassen.

Gleich am nächsten Morgen war der junge Mann mit Schlamper wieder bei mir. Er sah leicht übernächtigt aus und auch das Schweinchen hatte weniger gute Laune als am Vorabend.

»Wie war die Nacht?«, fragte ich besorgt und begrüßte das Tier mit einer Vitaminpaste, die es freudig annahm.

»Hören Sie bloß auf«, kam es übel gelaunt zurück. »Ihr Beruhigungsmittel hat gar nichts ausgerichtet. Es wurde eher noch schlimmer.« Ich stutzte. Das konnte nur bedeuten, dass das Tier eine ganze Menge Adrenalin im Blut hatte und somit die beruhigende Wirkung ausgehebelt worden war.

»Es war das gleiche Theater wie die letzten Abende. Er dreht sich in der Küche wie verrückt im Kreis und quiekt so laut, dass die Nachbarn auf den Plan gerufen werden. Peinlich, sag ich Ihnen.«

Ich stand etwas ratlos da und kramte unruhig in den Kitteltaschen.

»Und dann will er raus. Wenn er seinen Willen hat, ist aber neuerdings bei Weitem nicht Schluss. Nein, er grunzt und quiekt ganz aufgeregt weiter.« Schlampers Herrchen zuckte die Achseln. »Ich habe keine Ahnung, was in ihm vorgeht. Oder ob er vielleicht Schmerzen hat?«

Ich räusperte mich und schaute auf den kleinen Übeltäter hinab. Er sah mir aus seinen Knopfaugen unschuldig ins Gesicht.

»Die Blutuntersuchung war negativ. Keine Entzündungsanzeichen. Auch keine anderen Indikationen. Die Nieren, Leber, alles scheint normal«, erklärte ich und sah mich immer mehr in meiner ersten Theorie bestätigt. Das Schwein hatte eine Verhaltensauffälligkeit aufgrund eines Haltungsfehlers entwickelt.

»Sie müssen doch noch etwas tun können«, sagte der Mann und strich sich nachdenklich über seine Glatze. Unter seinen Augen zeichneten sich tiefe Schatten ab.

»Wir könnten uns per Ultraschall die Organe noch einmal anschauen. Es wäre möglich, dort eine Ursache für eventuelle Beschwerden zu finden«, schlug ich vor.

»Ja, das wäre eine Idee.«

»Die Helferin wird Ihnen einen Termin geben. Und ich möchte Sie bitten, noch einmal ganz genau den Beginn dieses abendlichen Terrors zu rekonstruieren. Was war anders an dem Abend? Gab es Vorzeichen oder Ähnliches?«

Er runzelte die Stirn und hockte sich vor Schlamper, um ihn zu kraulen. Das Schwein hatte sich völlig relaxt hingelegt und begann, wegzudämmern.

»Ich meine, er wirkt ja eigentlich nicht so, als würde ihn etwas aus der Ruhe bringen können«, stellte ich fest.

»Eben. Das ist es ja. So ist er auch sonst«, bekräftigte der Herr in Hemd und Fliege.

»Das passt alles nicht ganz zusammen«, sagte ich mehr zu mir selbst als zu dem Tierhalter. »Silvester ist nicht lange her. Vielleicht hat es damit zu tun?«

»Auf keinen Fall. Der Dicke hat die gesamte Knallerei verschlafen. Wenn der erst mal im Land der Träume ist, kann eine Bombe neben ihm hochgehen.«

»Soso. Aber zur Beruhigung hatten sie ihm nichts gegeben? « Jetzt kräuselten sich seine Lippen leicht vor Verärgerung.

»Nein. Und man hat ja auch gestern gesehen, was das bringt.«

Ich antwortete vorsichtshalber nicht darauf, weil sich die Stimmung merklich abkühlte.

»Ich kann Sie dann vorerst nur bitten, einen Termin zum Ultraschall zu vereinbaren«, sagte ich sanft und tätschelte Schlampers Kopf. Der grunzte nörgelnd, da er lieber weiterschlafen wollte, nun aber von seinem Besitzer zum Aufstehen genötigt wurde. Maulend erhob er sich und schimpfte noch eine ganze Weile vor sich hin, während er nach draußen zum Empfang manövriert wurde. Ich musste schmunzeln. Schlampers Laune besserte sich allerdings schnell, als Maja mit einer Möhre um die Ecke kam und ihm diese entgegenhielt. Dass schlechte Manieren bei Tisch mit »Essen wie ein Schwein« umschrieben werden, kommt nicht von ungefähr – Schlamper war der lebende Beweis dafür …

Am nächsten Tag musste ich mich mit Schlampers Frauchen auseinandersetzen. Doch auch alle weiteren Untersuchungen blieben ohne Ergebnis.

»Das Schwein ist kerngesund«, sagte ich mit fester Stimme.

»Das ist gut«, seufzte sie. »Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich freue mich, aber wir haben somit immer noch keinen Grund für seine Aufstände.«

Ich bekam wirklich Mitleid. Sie rubbelte Schlampers Nackenspeck, worauf er genüsslich die Augen schloss und sein Ringelschwänzchen tanzen ließ.

Sie gab ihrem Schwein einen dicken Kuss auf den Rüssel, stand auf, verabschiedete sich ziemlich knapp von mir und ging.

»Es tut mir leid. Ich tippe auf einen Erziehungsfehler. Vielleicht sollten Sie einen Experten zurate ziehen«, schlug ich vor. »Sie wären nicht die Ersten, die mit einem Schwein als Haustier überfordert sind«, fügte ich leise, aber bestimmt hinzu. Es konnte sich nur um ein Rangordnungsproblem oder dergleichen handeln. Alles andere ergab keinen Sinn.

Im Gesicht der jungen Frau spiegelten sich Sorge, Entsetzen, Selbstzweifel und Ärger. Womöglich auf mich. Sie gab ihrem Schwein einen dicken Kuss auf den Rüssel, stand auf, verabschiedete sich ziemlich knapp von mir und ging.

Lange bekam ich dieses Schweinchen nicht mehr aus dem Kopf. Bei manchen Patienten habe ich einfach das Gefühl, dass etwas nicht passt. So auch bei Schlamper. Wenngleich ich mir sicher war, nichts übersehen zu haben. Aber es machte mich traurig, dass ich hier so gar nicht helfen konnte.

Tage später wurde ein Telefongespräch zu mir durchgestellt, am anderen Ende war Schlampers Besitzerin.

Das Schwein hatte die Gefahr eines Hausbrandes schon viel früher als seine Familie gerochen und sich geweigert, in einem Haus, das jeder Zeit abbrennen konnte, zu schlafen.

Was sie mir erzählte, machte mich tatsächlich sprachlos – und das kam nicht oft vor. Schlampers Ausbrüche hatten tatsächlich ein jähes Ende gefunden. Und das prompt nachdem ein Kabelbrand in der Küche entdeckt worden war, der schon seit geraumer Zeit vor sich hingeschmort hatte. Das Schwein hatte die Gefahr eines Hausbrandes schon viel früher als seine Familie gerochen und sich geweigert, in einem Haus, das jeder Zeit abbrennen konnte, zu schlafen. Er wollte lediglich sich und seine Rotte in Sicherheit wissen. Deshalb der allabendliche Eiertanz und das Gezeter, bis die Türen offen waren. Da hatte die Familie wirklich Schwein gehabt.

 

DAS HASEN-KETTENSÄGENMASSAKER

Sonntagmorgen, 5.23 Uhr:

Das Telefon klang wie ein Schwarm angriff slustiger Hornissen. Vielleicht lag es auch an meinem Brummschädel. Auf jeden Fall verfluchte ich den Apparat, aber als Tierarzt kann man sich so was leider nicht aussuchen. Wenn ein Patient mich braucht, dann muss ich eben los.

Trotzdem konnte niemand von mir erwarten, dass ich um diese Uhrzeit freundlich war. Das war dann halt Schicksal.

»Albert Peterlein«, brummte ich in den Hörer, während meine Frau sich einfach wegdrehte. Sie schien eine gewisse Übung darin zu haben, wie man an einem Sonntagmorgen mit ungewollten Anrufen umging.

»Hallo. Hier ist Luisa Czernik.« Eine Frauenstimme. Sie klang für meinen Geschmack viel zu wach. »Bin ich da richtig beim Tierarzt?«

Intelligente Nachfragen waren in dieser Situation so ziemlich das Letzte, was ich erwartete. »Wer soll ich denn sein? Die Partnerberatung für katholische Priester?«

»Wer soll ich denn sein? Die Partnerberatung für katholische Priester?«

Die folgende Stille ließ mich hoff en, die Anruferin hätte vor Schreck wieder aufgelegt. Bis sich die Stimme wieder meldete. »Ach, Sie sind ja lustig.« Noch eine Pause, so als müsste Frau Czernik erst einmal nachdenken. »Mein Mann hat mir gesagt, dass Sie ein Spaßvogel sind.«

Wer auch immer ihr Mann war, er hatte definitiv unrecht. Insbesondere an einem Sonntagmorgen um diese Zeit.

»Um was für ein Tier handelt es sich denn?«, begann ich, meine Routine herunterzuspulen.

Wieder Schweigen am anderen Ende. Dann antwortete sie: »Um Hubert. Einen Mecklenburger Schecken.«

»Einen Hasen? Es geht um einen Hasen?« »Einen preisgekrönten Zuchtrammler«, verbesserte mich Frau Czernik.

Jetzt war ich es, der sprach los war. Zumindest beinahe.

»Einen Hasen? Es geht um einen Hasen?«

»Einen preisgekrönten Zuchtrammler«, verbesserte mich Frau Czernik.

Das musste ich erst einmal sacken lassen.

»Was hat er denn?«

»Es ist ein echter Notfall! Um zehn Uhr ist doch der Zuchtwettbewerb.«

»Aber Frau Czernik, es ist fünf Uhr morgens!«

»Ja, Herr Doktor. Es tut mir auch leid, dass ich Sie stören muss. Aber unser Hubert hat meine Tabletten gefressen.«

»Er hat was?«

»Na ja, ich nehme doch dieses Zeugs gegen meine Inkontinenz …«

Too much information. Damit überschritt die Anruferin nun endgültig die Grenze meiner Aufnahmebereitschaft. »Welche Symptome hat denn Ihr Hubert?«

»Na, Sie sind doch der Doktor.«

Damit war ich an dem Punkt angekommen, an dem ich akzeptieren musste, dass meine Nacht vorüber war. Unwiderruflich.

Als ich aufstand, brummte meine Frau zustimmend. Sie war wohl einfach nur froh, dass sich der Störenfried endlich aus dem Schlafzimmer verzog.

Ich ließ mir von Frau Czernik die Adresse geben und machte mich schnellstmöglich auf den Weg.

Sonntagmorgen, 5.45 Uhr:

Vier Stunden, fünfzehn Minuten bis zum Wettbewerb.

Das Haus der Czerniks war leicht zu finden. Es war das Einzige in der Siedlungsstraße, das um diese Zeit hell erleuchtet war. Ich parkte meinen Wagen in der Auffahrt und machte mich gleich auf den Weg in den Garten, aus dem aufgeregte Stimmen zu hören waren.

Der Garten war weit größer, als es von der Straße aus den Anschein gehabt hatte. Mindestens fünfhundert Quadratmeter, ringsum geschützt durch einen dicht gefügten Holzzaun.

»Guten Morgen«, rief ich dem Mittsechzigerpärchen zu, das in der Nähe eines riesenhaften Holzgebildes stand.

Im ersten Moment dachte ich, es handele sich um eine Schrankwand. Doch das war weit gefehlt. Der einzige Zweck des Massivs konnte nur die artgerechte Hasenaufzucht sein.

Herr Czernik kam freudestrahlend auf mich zu, als sei ich seine letzte Hoffnung. »Hallo Peterlein! Danke, dass du uns hilfst.«

Erst als er mich duzte, wurde mir klar, dass Herr Czernik niemand anderes war als Erich, eine meiner Tresenbekanntschaften aus der Kneipe um die Ecke. Ein typischer Vertreter des Kleintierzüchtervereins Fell und Feder. Alles ziemlich verschrobene Kerle, aber definitiv Stammkundschaft.

Der rundliche Mann im Bademantel hob beide Arme wie zu einer Umarmung. Schnell gab ich ihm die Hand.

»Hubert muss um zehn Uhr im Kleintierzüchterverein sein. Er ist doch der Lokalmatador im Zuchtwettbewerb. Der große Favorit!«

Oha, das war wohl ernst. Es galt also, keine Zeit zu verlieren. Umso mehr, weil ich nun auch persönlich verpflichtet war, den beiden zu helfen. »Was macht denn unser kleiner Patient?«

Verdutzt sah der Mann mich an. »Was er macht? Keine Ahnung.«

»Na gut«, hakte ich nach, »dein Hase hat also die Tabletten deiner Frau gefressen.«

»Gegen Pipi machen.«

Ich versuchte krampfhaft, dieses Bild wieder aus meinem Kopf zu verbannen.

»Wie auch immer. Er könnte sich vergiftet haben. Deshalb würde ich ihn gern sehen.«

»Ja, sehen ist gut«, witzelte Erich und lächelte seine Frau an.

Mit ihrer Haushaltsschürze und der dunklen Dauerwelle passte sie in so ziemlich jeden Vorort zwischen Hamburg und München.

»Der Herr Doktor will den Hubert sehen«, wiederholte der Hasenzüchter.

Betreten schaute die Frau zu Boden.

»Was ist los?«, schoss es förmlich aus mir heraus.

»Eigentlich nicht viel. Hubert ging es ganz gut, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe. Nur leider kann ich dir nicht genau sagen, wo er gerade steckt.«

Mir entglitten alle Gesichtszüge. »Du hast mich geweckt, damit ich einen Hasen behandle, der gar nicht da ist?«

Mir entglitten alle Gesichtszüge. »Du hast mich geweckt, damit ich einen Hasen behandle, der gar nicht da ist?«

Lakonisch zuckte der Hasenbesitzer mit den Schultern. »Hubert ist leider ausgerückt, als Luisa ihn füttern wollte.« Es folgte ein vorwurfsvoller Blick in Richtung seiner Gemahlin.

»Werden Sie uns helfen, Dr. Peterlein?« Die Frau klang ziemlich geknickt.

Also gut, es war nicht mein Tag.

»Wenn ich schon da bin, dann können wir Hubert auch gemeinsam suchen«, entgegnete ich. »Solange Sie ihm kein Viagra gegeben haben.«

Auch diesmal erntete ich keinen Lacher. Also machten wir uns schweigend auf die Suche nach Meister Lampe.

Sonntagmorgen, 6.15 Uhr:

Drei Stunden, fünfundvierzig Minuten bis zum Wettbewerb.

Eine halbe Stunde später war ich noch immer bei den Czerniks.

Anfangs hatte ich ja noch die Hoffnung gehabt, das Tier würde sich schnell finden lassen. Aber so wie es im Garten der Eheleute aussah, gab es hier unzählige Versteckmöglichkeiten. Er war ein Labyrinth aus Gartenzwergen, Hochbeeten und Ziersträuchern.

Sonntagmorgen, 6.55 Uhr:

Drei Stunden, fünf Minuten bis zum Wettbewerb.

Endlich eine Spur. Nicht nur, dass jemand ganz deutlich die Salatpflanzen angeknabbert hatte. Auch der kleine Buchs neben der Terrassenlampe wackelte verdächtig.

Jetzt hatte ich ihn.

»Da ist er!«, flüsterte ich meinen Mitstreitern aufgeregt zu.

Keuchend kam Erich zu mir geeilt. Er versuchte sichtlich, keine verräterischen Geräusche zu verursachen. Dabei klang er wie eine altersschwache Dampflok.

»Wo?«, rief der Hasenzüchter aufgeregt.

Still wies ich auf den raschelnden Busch.

Erich fixierte den Buchs so intensiv, dass er aussah wie hypnotisiert. Dann näherte er sich vorsichtig der rechten Seite des Gewächses.

Ich dagegen schob mich langsam von links heran.

»Auf drei«, wisperte ich, dann begann ich lautlos, mit meinen Fingern zu zählen.

Eins.

Der Buchs raschelte noch mehr als zuvor. Czerniks Finger krümmten sich zu Klauen.

Zwei.

Da war etwas Schwarz-Weißes im Gebüsch. Das war Fell.

Ich konnte es deutlich ausmachen. Vor Aufregung zitterten meine Knie ein bisschen.

Drei.

Sonntagmorgen, 7.02 Uhr:

Zwei Stunden, achtundfünfzig Minuten bis zum Wettbewerb.

Die Katze war wahrscheinlich erschrockener als wir. Das arme Tier kreischte so laut, dass selbst ein Hund von unserem Jagdmanöver beeindruckt gewesen wäre.

Nur schade, dass es nicht Hubert war, den ich im Buchs aufgestöbert hatte. Während ich der türmenden Katze hinterherschaute, tänzelte Erich neben mir nervös auf und ab.

Es war nicht nötig, dass seine Frau demonstrativ auf ihre Uhr schaute. Ich wusste auch so, dass uns die Zeit davonlief.

Also zuckte ich mit den Schultern und wir setzten die Suche fort.

Sonntagmorgen, 8.57 Uhr:

Eine Stunde, drei Minuten bis zum Wettbewerb.

Langsam wurde es persönlich zwischen diesem Hasen und mir.

Die Uhr war zu einem gnadenlosen Gegner geworden. Nur noch knapp eine Stunde, bis Erich bei Fell und Feder antreten musste. Natürlich mit seinem Wunder-Hubert. Langsam wurde es persönlich zwischen diesem Hasen und mir.

Ich durchwühlte gerade das wunderhübsche Gartenhäuschen in Schwedenrot, als mir etwas auffiel.

Genau vor meinen Füßen lag etwas Unförmiges.

»Welche Farbe hatten denn Ihre Tabletten?«, rief ich nach draußen.

Es dauerte ein bisschen, ehe Luisa Czernik antwortete: »Grün, wieso?«

Mit einem kleinen Handrechen drehte ich die eigenartigen Gebilde auf dem Boden herum. »Und wie viele waren es?«

»Zwei«, kam die nicht ganz so prompte Antwort.

»Na, dann hat der gute Hubert heute bestimmt kein Problem mit dem Wasserlassen«, rief ich den Czerniks zu.

Es dauerte ein paar Sekunden, bis Erichs Kopf in der Tür erschien. »Hast du etwas gefunden, Peterlein?«

Ich zeigte ihm die ausgespuckten Tabletten.

Erich lachte vor Erleichterung. Dann aber verfinsterte sich seine Miene wieder.

»Wahrscheinlich hat er die Packungsbeilage gelesen«, gab ich zu bedenken.

Das Gesicht des Züchters verriet, was er dachte. Du und deine Witze. Dann verschwand er wieder nach draußen.

Ich überlegte für einen Moment, ob es nun an der Zeit für mich war, nach Hause zu gehen. Schließlich hatte sich die mutmaßliche Medikamentenvergiftung meines Patienten erledigt. Aber so einfach war es nicht. Das mit dem Hasen war Erich ernst. Wenn wir ihn nicht fanden, konnte ich mich nicht so schnell wieder in meiner Stammkneipe blicken lassen.

Sonntagmorgen, 9.05 Uhr:

Fünfundfünfzig Minuten bis zum Wettbewerb.

Da war er. Direkt vor mir auf dem Weg, nur etwa drei Meter von mir entfernt. Er glotzte mich aus seinen schwarzen Knopfaugen an.

Hubert war ein echter Mecklenburger Schecke, das erkannte ich sofort. Aber etwas war an diesem Tier, das mir nicht gefiel. Etwas Verschlagenes, Heimtückisches.

Aber etwas war an diesem Tier, das mir nicht gefiel. Etwas Verschlagenes, Heimtückisches.

Ach was, Peterlein, sagte ich mir. So schwer konnte das alles nicht sein. Es war doch nur ein kleiner Hoppelhase.

Langsam ging ich auf ihn zu und lächelte dabei freundlich.

Nicht, dass es etwas nutzen würde, aber wenn ich wirklich schnell war, dann konnte ich ihn kriegen.

Er traute mir nicht, dieser Hase. Mit zwei kleinen Sätzen sprang er hinter eine Reihe adrett angeordneter Blumen.

»Mist.« Ich lächelte. »Aber ich krieg dich ja doch.«

Wie eine lauernde Schlange bewegte ich mich auf ihn zu. Ich fixierte mein Opfer, als wäre ich in der Lage, es zu hypnotisieren. Hubert knabberte gedankenlos auf ein paar Grashalmen herum. Dann hob er kurz seinen Kopf in meine Richtung und rümpfte sein Näschen. Off ensichtlich erschien ich ihm nicht als Bedrohung, denn er setzte seinen Imbiss gleich wieder fort.

Das war meine Chance. In mir spannte sich jeder Muskel. Ein Hechtsprung über die Petunien und ich hatte ihn.

Sonntagmorgen, 9.11 Uhr:

Neunundvierzig Minuten bis zum Wettbewerb.

Sicherlich war es nicht die eleganteste Bewegung gewesen, die ich jemals vollführt hatte. Ein bisschen schade war es auch um die Petunien. Im Krieg nennt man so etwas wohl Kollateralschaden.

Aber als ich auf dem Boden aufschlug, war ich siegessicher. Meine Hände packten unbarmherzig zu.

»Ich hab ihn!«, rief ich aufgeregt.

Jubelnd kamen die Czerniks auf mich zu. Ich aber ließ mich nicht ablenken, sondern begrub mein Opfer unter mir. Erst als ich die zweifelnden Gesichter sah, wurde mir klar, dass etwas nicht stimmte.

»Ist alles in Ordnung, Dr. Peterlein?«, kam schließlich zögernd die Frage von Luisa Czernik.

Vorsichtig löste ich mich vom Boden. Und musste feststellen, dass dort nichts war. Ich hatte den verfluchten Hasen verfehlt. Hubert war mir entwischt.

Sonntagmorgen, 9.30 Uhr:

Dreißig Minuten bis zum Wettbewerb.

Wenn es jemanden gibt, der noch sturer ist als meine Frau und meine Töchter, dann bin ich es. Und ich weiß, dass ich fies sein kann. Richtig fies.

Da war so eine kuschelig-flauschige Kreatur kein Gegner. Und wenn er tausendmal meinte, er stamme von dem Killerhasen aus die Ritter der Kokosnuss ab. In mir hatte er seinen Meister gefunden. Auch wenn er das noch nicht wusste.

»Seien Sie vorsichtig«, warnte mich Frau Czernik. Ihr Gatte nickte bestätigend.

»Wer? Ich?« Was glaubten die beiden denn, wen sie vor sich hatten? Ohne viel Federlesens ging ich auf den unförmigen, mindestens sechs bis sieben Kubikmeter großen Busch zu und umrundete ihn siegesgewiss.

Diesen Hubert würde ich schon kriegen.

Als ich auf Höhe des flüchtigen Hasen war, packte ich zu.

Anders als bei den Petunien hatte ich keine Furcht, den Pflanzen ernsthaft zu schaden.

Das Erste, was ich spürte, war der Schmerz. Die Stacheln durchdrangen meine Jacke und bohrten sich in meine Haut. Dann folgte ein Brennen.

Wer hätte gedacht, dass Brombeeren so stechen können?

Vielleicht wäre es nicht so schlimm gewesen, wenn ich nicht noch einen Schritt nach vorn gemacht hätte. So aber erfasste die Pein nicht nur meine Hände, sondern auch mein rechtes Schienbein.

Jaulend und humpelnd zog ich mich zurück, während Hubert mir gelangweilt zusah.

Sonntagmorgen, 9.35 Uhr:

Fünfundzwanzig Minuten bis zum Wettbewerb.

Ich saß auf einem der Gartenstühle und biss die Zähne zusammen, während Frau Czernik meine Hände mit Wodka desinfizierte. Der Arzt wurde verarztet.

Viel schlimmer konnte es kaum noch kommen.

»Siehst du, Erich? Du hättest den Brombeerstrauch schon längst schneiden müssen. Wie ich dir gesagt habe.«

Da mochte er noch so sehr nach Entschuldigungen suchen, der Erich. Seine Frau hatte leider recht. Und ich das Nachsehen.

Während sich zwischen den beiden eine tüchtige Kabbelei entwickelte, sah ich hinüber zur Brombeerfestung meines Kontrahenten. Jetzt half nur noch das richtige Equipment.

»Wieso muss ich immer alles zehnmal sagen?« Frau Czerniks Stimmung kippte hörbar.

»Ich hab halt immer viel zu tun.« Ihr Mann gab sich eher kleinlaut – bis sein Widerstand wieder aufkeimte. »Aber wenn es dir so wichtig ist, dann bringe ich jetzt die Motorsäge.«

»Sicher, am Sonntagmorgen holst du deine doofe Säge …«

»Augenblick mal«, griff ich ein.

Die beiden starrten mich an, als würde ich mich gleich zum Familientherapeuten aufschwingen. Aber das war es nicht, was ich wollte. »Erich, die Säge, bitte!«

»Erich, die Säge, bitte!«

Das Gesicht des Hasenzüchters hellte sich auf. »Natürlich, Peterlein. Brauchst du auch Schnitthose, Helm und Handschuhe?«

Ich nickte entschlossen. »Genau.«

Sonntagmorgen, 9.58 Uhr:

Zwei Minuten bis zum Wettbewerb.

Das Heulen der Motorsäge war ohrenbetäubend. Spätestens jetzt holten wir damit auch den letzten Langschläfer in dieser Siedlung aus seinem Bett.

Mir war das schnurz.

Ich kam mir vor wie ein Astronaut. Oder wie der Prinz von Dornröschen in seiner Rüstung. Nur war meine schlafende Prinzessin ein Fellknäuel mit Überbiss.

Die Czerniks waren mit großen Fischkeschern bewaffnet und beobachteten aus sicherer Entfernung, wie ich ihren Brombeerurwald dezimierte. Ast um Ast fiel das Dickicht.

Durch den Gitterschutz des Helms sah ich nicht viel, nur, dass dieses Brombeergewächs zusehends kleiner wurde.

Der Schweiß lief mir in Strömen über das Gesicht. Aber das war es mir wert. Ich würde diesen Hasen kriegen. Mit meiner Säge würde ich ihn aus seinem Unterschlupf treiben. Dagegen hatte er keine Chance.

Der Schweiss lief mir in Strömen über das Gesicht. Aber das war es mir wert. Ich würde diesen Hasen kriegen.

Erst als die Hecke Geschichte war, hielt ich inne. Fragend sah ich zu den Czerniks hinüber. Dort sah ich nur Schulterzucken und leere Kescher. Aber keinen Hubert.

Stirnrunzelnd schob ich den Sichtschutz nach oben und sah mich um.

Ein furchtbarer Gedanke kam mir. Ich hatte doch nicht etwa den Hasen mit der Säge …? Es war nicht auszudenken. Mit einem plötzlichen Gefühl aufziehenden Unheils sah ich an mir herunter. Und stockte. Meine Kleidung war rot. Oh Gott. Der Hase, der arme Hase!

Der preisgekrönte Mecklenburger Schecke!

Die Schocksekunde verflog rasch, als mir klar wurde, dass ich durch den Einsatz der Säge die Früchte des Brombeerstrauches püriert hatte.

Mit einem Ruhepuls, der in etwa dem eines Geparden entsprach, suchte ich weiter. Und wurde fündig. Hubert war leider nicht geblieben, um sich meinen Kampf mit dem Strauch bis zum Ende anzusehen.

Da war kein Hase mehr. Sondern ein Loch im Boden.

Sonntagmorgen, 10.00 Uhr: Wettbewerb.

Der große Moment war gekommen. Die Preisverleihung des Kleintierzuchtvereins Fell und Feder begann. Hubert war das wurscht. Und uns mittlerweile auch.

Erich sah noch einmal auf die Uhr, dann widmete er sich dem Frühstück, das seine Frau uns zubereitet hatte. Ich legte die Holzfällerausrüstung ab und folgte den beiden auf die Terrasse. Zum ersten Mal an diesem Morgen kehrte so etwas wie Ruhe ein. Und mit der Kaffeetasse in meinen verbundenen Händen fühlte ich mich eigenartigerweise rundum zufrieden.

Ja, der Hase. Der hoppelte irgendwo im Garten herum.

Ich dagegen genoss mein Frühstück. Ehrlich gesagt haben Croissants selten so gut geschmeckt wie an diesem Morgen. Auch meine Hände taten eigentlich kaum noch weh.

Vielleicht lag es daran, dass Luisa – wir nannten uns inzwischen vertraulich beim Vornamen – den Kaffee tüchtig mit Cognac veredelt hatte. Auch meine Gastgeber gaben sich wieder zuversichtlich. Den entlaufenen Mecklenburger Schecken würden sie schon wieder kriegen. Früher oder später.

Ich lehnte mich zurück und freute mich ein bisschen auf den nächsten Tag. Das war ein Montag, ein ganz normaler Montag. Und das hatte schon etwas Beruhigendes.

 

ABENTEUER KIEZPRAXIS: VON KAMPFKATERN UND MONSTER-HIGH-GUPPYS

Sieben Uhr, der Wecker klingelt. Gerade will ich mich noch mal umdrehen und kurz weiterdösen, da fällt mir brennend heiß ein: Heute kommt die Reporterin vom Stadtmagazin in die Praxis! Für eine Interviewreihe zum Thema »Berufe« sollen Aysel und ich befragt werden und dürfen über unseren Arbeitsalltag berichten. Das wird spannend – unser kleines Team in der Zeitung!

Mein Name ist Sarah, ich bin 37 Jahre alt und habe eine Kleintierpraxis mitten auf dem Kiez. Das bedeutet: Ich habe den spannendsten und schönsten Job der Welt.

Da ich direkt über meiner Praxis wohne, ist mein Weg zur Arbeit nicht weit. Unten wartet schon Aysel auf mich, meine wunderbare Sprechstundenhilfe, ohne die meine Praxis mit Sicherheit im Chaos versinken würde. Aysel hat die Terminvergabe fest im Griff, beruhigt nervöse Tierhalter liebevoll, aber haut im Fall der Fälle auch mal auf den Tisch.

Doch Aysel hat nicht nur ein Händchen für Menschen, sondern auch eins für Tiere: Sie hilft mir dabei, aufgeregte Katzen oder ängstliche Hunde zu entspannen oder Vögel und Fische einzufangen. Ganz großartig kann sie auch mit Nagern umgehen – und das Quieken der Meerschweinchen ahmt sie perfekt nach. Aysel und ich arbeiten zusammen, seit ich die Praxis vor fünf Jahren eröffnet habe.

Was die Reporterin wohl alles von mir wissen will …? Ich bin ganz schön gespannt. Aber jetzt erst mal die Treppe hinunter hinein ins pralle Leben. »Guten Morgen, liebe Aysel!«, begrüße ich die gute Seele der Praxis.

»Gtn Mrgn«, grummelt Morgenmuffel Aysel zurück. Sie braucht morgens immer ein wenig, bis sie auf Betriebstemperatur ist.

Ab dem Moment, in dem wir die Praxistür aufschließen, strahlt sie aber und verbreitet gute Laune. Ein bisschen sind wir wie ein altes Ehepaar: Jede von uns hat ihre Macken, doch die andere kann das akzeptieren und damit umgehen. Ein perfektes Team eben.

»Heute kommt die Reporterin vom Stadtmagazin und interviewt uns zu unserem Alltag – was wollen wir ihr denn alles erzählen?«, frage ich Aysel.

»Hm, gute Frage«, antwortet diese. »Wie wäre es, wenn wir ihr einfach erzählen, was wir heute erlebt haben? Eine Art Tagesbericht abgeben? Dann könnten wir uns einfach an der Patientenliste entlanghangeln. Und heute wird ein ganz normal-wahnsinniger Tag bei uns, das hab ich im Gefühl.«

»Super Idee! Dann müssen wir uns auch nicht vorbereiten. Geschichten aus unserer Praxis können wir ohnehin viele erzählen.«

Aysel und ich grinsen uns bedeutungsvoll an. Wir besprechen noch kurz die Termine für den Tag und dann geht es auch schon los:

Herr Seipold und Lucy

Der alleinstehende Rentner Ernst Seipold kommt jeden Monat mit seiner vierzehn Jahre alten grauen Zwergpudelmischlingsdame Lucy vorbei. Lucy ist blind und hat es am Herzen. Insgesamt ist sie aber für ihr Alter noch ziemlich fit – kein Wunder bei so viel toller Pflege. Herr Seipold bereitet ihr Futter frisch und seniorengerecht zu, die beiden gehen viermal am Tag für mindestens dreißig Minuten spazieren, natürlich auch bei Wind und Wetter. Das hält Herrchen und Hund fit und aktiv und sorgt ganz nebenbei dafür, dass Herr Seipold viele Kontakte in unserem Viertel hat – ein Mensch, der für einen Hund verantwortlich ist, wird nur selten vereinsamen.

Doch Herr Seipold macht sich Sorgen: Seit zwei Tagen frisst die Hundedame nicht mehr gut. Ich hebe Lucy auf den Behandlungstisch und schaue sie mir genauer an.

»Kein Wunder«, sage ich zu Herrn Seipold, »Lucys Zahnstein ist schlimmer geworden und sie hat nun auch noch eine Zahnfleischentzündung – sie kann nicht mehr richtig fressen.«

Für die Zahnsteinentfernung ist eine leichte Narkose notwendig – bei einem alten Hund mit einem nicht mehr ganz stabilen Kreislauf ist das nicht ungefährlich. Da das Wartezimmer noch leer ist, biete ich Herrn Seipold an, den kleinen Eingriff sofort vorzunehmen.

Mit leichter Panik im Gesicht stimmt er zu.