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Wieland Wagner (1917-1966), Enkel von Richard Wagner und Sohn der Hitlerverehrer Siegfried und Winifred Wagner, spielt bei der intensiven Verbindung von Bayreuth mit dem Nationalsozialismus eine entscheidende und bis heute nicht aufgearbeitete Rolle. Hitler fördert seine Karriere und Wagner folgt strategisch wie stilistisch den Prinzipien des Nationalsozialismus, um die Leitung der Bayreuther Festspiele zu übernehmen. In der jungen Bundesrepublik erreicht er schließlich sein Ziel: 1951 wird er zusammen mit seinem Bruder Wolfgang Leiter der neu gegründeten Festspiele. Anno Mungen nimmt nun erstmals Wieland Wagners künstlerische Tätigkeit vor 1951 in den Blick und untersucht umfassend die Entpolitisierung der Bayreuther Festspiele in der jungen Bundesrepublik, die es ermöglichte, dass sich Wieland Wagner der eigenen Schuldhaftigkeit nicht stellen musste.
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Seitenzahl: 185
Ebook Edition
Anno Mungen
Hier gilt’s der Kunst
Wieland Wagner 1941–1945
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ISBN 978-3-86489-834-4
© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2020
Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin
Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich
»One can only look at the art of the Third Reich through the lens of Auschwitz.«1
Der, um den es in diesem Buch geht, ist ein bis in unsere Tage gefeierter Theatermann und Regisseur. Ohne ihn wäre die Kunstform Oper, so wie sie sich bis heute entwickelt hat, in Deutschland nicht denkbar. Wieland Wagner gilt zu Recht als der »Ahnherr« des so wirkmächtigen Regietheaters, wie seine Tochter Nike Wagner 2010 schrieb.2 Zusammen mit seinem Bruder Wolfgang leitete der Enkel Richard Wagners die Bayreuther Festspiele in den Jahren 1951 bis 1966, seinem Todesjahr. Seinen frühen Werdegang durchschreitet er in einer Diktatur, in der sich Krieg und Kunst die Hand reichen.
Ich berichte in meiner Chronik zu dieser Karriere bis auf eine Ausnahme nur das, was die Quellen auch hergeben. Es ist eine kleine Nebenfigur, die ich erfunden habe, um so zu ermöglichen, dass man Sprüche über Philosophen und Arbeiter zu lesen bekommt. Wie ein Geist lasse ich einen alten Mann durch den Backstagebereich des Nürnberger Opernhauses zu einem Zeitpunkt schlurfen, als vieles schon verloren scheint.
Bayreuth im Juli, es scheint die Sonne, es ist heiß, schwül.1 Nur wenige Wolken werfen Schatten auf die Hauptstadt der Bayerischen Ostmark. Man hat sich herausgeputzt für seine berühmten Festspiele, die Stadt mit Hakenkreuzfahnen geschmückt. Das Publikum dieses Sommers ist exklusiv und setzt sich aus verwundeten Soldaten und Arbeiter:innen der Rüstungsindustrie zusammen. Eintrittskarten, Hin- und Rückfahrt, Unterkunft und Verpflegung gibt es kostenlos, als Belohnung für die verrichtete Arbeit. Aus den Gauen Baden und Südhannover-Braunschweig reist man nach Oberfranken, um am 12. Juli der ersten Vorstellung des Sommers beizuwohnen: dem fliegenden Holländer von Richard Wagner. Dem folgt für die Gaue Saarbrücken, Wien und Kattowitz der Ring des Nibelungen. Das Geschenk aber kommt nicht frei Haus, wie eine in der Presse verbreitete Botschaft zeigt: Auch in der Oper geht es um das Töten. Siegfried, der Held, bringt im Laufe der Geschichte Widersacher wie den Ziehvater Mime oder Fafner, den Riesen, zur Strecke. Am 21. Juli ist in der Bayerischen Ostmark zu lesen, dass dieser Siegfried »keine mythologische Figur« sei, sondern ein Mensch, und die Männer im Publikum »fühlten die gegenwartsnahe Symbolik der Handlung«.
In Bayreuth gibt es zwei Tageszeitungen, die BayerischeOstmark und das BayreutherTagblatt. Beide berichten im Sommer 1941 in großem Stil von den Festspielen, bringen Kritiken, Werkeinführungen, Interviews und Reportagen. Am 22. Juli druckt die Ostmark eine Geschichte in eigener Sache ab und lässt einen Lokalreporter dem Kollegen vom Hörfunk über die Schulter schauen. Der beobachtet, wie andere Journalisten arbeiten. Winifred Wagner, Festspielchefin seit 1930, entdeckte das Radio früh für sich und brachte mit ersten Livemitschnitten der Radiogeschichte die Menschen von Beginn ihrer Amtszeit an weltweit in den Genuss der Opern ihres Schwiegervaters. Das Hören ist das eine, das Sehen das andere. In Festspielzeiten wirken die Bayreuther Tageszeitungen wie Illustrierte und sorgen in diesem dritten Kriegsjahr für ein überbordendes Bildangebot. Der Betrachter glaubt, authentisches Geschehen mit diesen Bildern schnell erfassen zu können. Drei Fotografien stellt die Zeitung nebeneinander.
Auf dem Parkplatz neben dem Festspielhaus steht ein kleiner Lastwagen. Es ist ein Aufnahmewagen für den Rundfunk. Klobig und altmodisch sieht er aus, er ist ausgerüstet, etwas zu tun, was nah am Zahn der modernen Zeit ist. Auf dem Dach verfügt er über einen trichterförmigen Lautsprecher. Er funkt Wellen, die Opern von Bayreuth in die Welt versenden. Ein anderes Foto zeigt einen Reporter, er hält ein Mikrofon hoch und fängt die akustische Kulisse des Treibens um das Festspielhaus herum als O-Ton ein. Im Hintergrund erkennt man flanierende Menschen, Zaungäste, Kinder, einen Mann in Lederhosen. Gleich geht die Aufführung los. Im Inneren des Aufnahmewagens sieht man einen Techniker. Vor ihm eine Schalttafel mit Anzeigern, die er aufmerksam anschaut. Er dreht an einem Knopf.
Der Sommer übertüncht die Stadt mit einer heiteren Farbe. Geschäftig dreht sich in Bayreuth jetzt alles um die Festspiele. Schon im Vorjahr firmierte das Festival unter dem Motto Kriegsfestspiele, ein Wort, das dem fränkischen Sommertheater eine neue Dimension verleiht. Die Spiele verbinden sich in diesem Wort nun nicht mehr einfach nur mit einem Fest, das jetzt in die Mitte gerückt ist, gerahmt von Oper und dem tödlichen Treiben an der Front. Bayreuth soll Rückzugsort der Werktätigen und Soldaten sein. Die Festspielleitung hatte der Idee, das Festival im Krieg abzuhalten, zunächst nur zähneknirschend zugestimmt. Für Winifred Wagner aber ist sie dann willkommen, dem Familienunternehmen geht es wirtschaftlich so gut wie nie. Die staatliche Freizeitorganisation Kraft durch Freude kümmert sich nun buchstäblich um alles und verleiht der Freizeitgestaltung in Kriegszeiten höhere Ziele: Urlaub, Schönheit, Sport, jegliche Kulturausübung, Volkstum und zukünftige Mobilität mit einem Volkswagen, all das macht Kraft durch Freude möglich. Bayreuth unterliegt dem Aufgabenbereich von Bodo Lafferentz. Der Chef der Organisation steht den Festspielen als eine Art Geschäftsführer vor, der nichts von seinem Etat einspielen muss.
Nicht nur in Bayreuth, auch in anderen Städten Deutschlands und der besetzten Gebiete spielt man trotz des Krieges weiter Theater. Den Festspielen aber fällt es schwer, die fast 2 000 Eintrittskarten pro Aufführung regulär abzusetzen, die man jetzt verschenkt, bei insgesamt vierzehn Aufführungen sind es nahezu 28 000 Karten. Es kommt nun zu dem, was Richard Wagners Utopie einst intendierte: kostenlosen Zutritt zu seinen Opern jenseits der urbanen Zentren auch für das gemeine Volk. Die Festspiele, quasi verstaatlicht, propagieren die Einheit von Krieg und Kunst, Bayreuth erscheint so sozialistisch, wie Richard Wagner sich das einst erträumt hatte.
Der 1. September ist ein schon kalter Tag in Oberfranken,2 die Festspiele sind zu Ende. In den Kammerlichtspielen Bayreuth zeigt man den antisemitischen Film Die Rothschilds.3 An diesem Montag tritt eine Order in Kraft, die das Leben von 78 Bayreuther:innen weiter verschlimmert. Sie werden ab sofort gezwungen, eine Kennzeichnung zu tragen, die jedem mitteilt: Ich bin ein Jude. Es ist verboten, den sogenannten Judenstern mit Taschen oder Krägen zu verbergen, man muss ihn zeigen, sodass niemand etwa versehentlich mit einem spricht.
Zwei Tage später, am 3. September, werden in Auschwitz erstmals Menschen vergast.
Festspielleiterin Winifred Wagner ist Witwe und lebt mit ihren erwachsenen Kindern in Bayreuth am Rande der Innenstadt. Man residiert nahe dem Hofgarten in einem mondänen Anwesen im Stile der Neorenaissance, das der Stammvater als Villa Wahnfried im späten 19. Jahrhundert mit Hilfe des bayerischen Königs hat errichten lassen. Am 12. September aber, einem wichtigen Tag für die Wagners, hält man sich im badischen Nußdorf im Ferienhaus der Familie auf. Dort findet ein bedeutendes Ereignis statt, das man aber nur klein feiert. Es geht um den ältesten Sohn, den Stammhalter Wieland. Er, der Erbe und Enkel des Großvaters Richard, rückt an diesem Tag in das Zentrum des Clans und seine Hochzeit stimmt auf all das ein, was ihn erwartet. Er heiratet am 12. September seine Jugendfreundin Gertrud Reissinger. Private Fotos dokumentieren dieses Ereignis.4
Der Bräutigam vergräbt die Hände in den Hosentaschen, trägt eine Kombination aus dunkler Jacke und heller Hose, ein legeres Hemd, aber keine Krawatte oder Fliege. Er blickt die Braut nicht an, schaut auf den Boden. Sie, gekleidet wie eine Sekretärin, senkt ihre Augen ebenfalls nach unten. Hinter den beiden ein Busch von weißen Blumen. Winifred Wagner, die dem Brautpaar die Ringe präsentiert, blickt zufrieden. Wagner streift der Braut den Ring über den Finger.
Wie wir Personen bezeichnen, steht dafür, wie nahe wir ihnen sind. In Gesprächen, Briefen und in E-Mails duzen wir diejenigen, die wir gut kennen: Freunde, Familienmitglieder, Kolleg:innen. Wenn es förmlicher zugeht, siezen wir unser Gegenüber und verwenden den Nachnamen. So geschieht es selbstverständlich auch in der sach- und wissenschaftlichen Literatur, etwa in den Büchern zur Musik. Dort würde man nicht auf die Idee verfallen, die großen Komponisten mit Ludwig, Johannes oder Arnold zu adressieren. Wie in Schlagworten, mit denen man Kunst plakativ einfängt, geht es dort um Mozart, Bruckner oder Webern. Bei den Wagners ist das anders. Man benennt die Familienmitglieder, die sich um Richard Wagner gruppieren, gerne mit ihren Vornamen. Man liest von Cosima, Siegfried, Winifred, Wieland und so weiter, als wären sie uns so nahe wie der eigene Bruder, die eigene Schwester. Wagner, der Komponist, ist nur Wagner.
Unser Wagner ist Spross dieser berühmten Familie, ältester Sohn einer königsgleichen Dynastie. Man stößt in eine deutsche Lücke vor, die seit der Abdankung des Kaisers 1918 klafft. Der Stammbaum des jungen Wagners verzeichnet namhafte Verwandte: von Richard Wagner, dem Ur- und Großvater, über Franz Liszt hin zu Cosima Wagner, der Großmutter, und Siegfried Wagner, dem Vater. Bis heute füllt die Familie die Klatschspalten von Zeitungen und Fernsehformaten, wann immer etwas in Bayreuth geschieht. Gerne bedient man diese Neugier: Nur wenige Familienmitglieder haben keine Memoiren hinterlassen.
Gertrud Wagner, wie sie nun heißt, gehört zu der weitaus größeren Gruppe, mit dem Unterschied allerdings, dass sie ihre Erinnerungen nicht selbst verfasste. Sie beauftragte die Journalistin und Autorin Renate Schostack, der sie die Familienkorrespondenz, private Fotos, andere Dokumente und exklusive Interviews gab. Im Jahr 1998 veröffentlichte Schostack das Buch Hinter Wahnfrieds Mauern, in dem Gertrud Wagner die Umstände der Hochzeit schildert und bestätigt, was man auf dem im Buch abgedruckten Fotos schon erkennt. Der Bräutigam, depressiv am Vorabend, ist unglücklich auch am Tag der Hochzeit. Es heißt, er folge dem »Befehl«5 der Mutter, zu heiraten. Die Ehe geht er ein, weil er muss.
Einen Tag nach der Eheschließung, am 13. September, müssen die Bayreuther in die Luftschutzkeller: »Fliegeralarm!«. Am Folgetag kündigt sich der Herbst an: »Es ist kalt und regnet fast den ganzen Tag.«6 Wie viele andere Angaben zu Wetter und Krieg findet sich auch diese Information im Tagebuch von Gertrud Strobel. Zusammen mit ihrem Mann Otto lebt sie in Bayreuth in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Wagners und hält seit dem 1. Januar 1940 fast täglich fest, was so alles passiert. Die 23 eng beschriebenen Hefte mit Tausenden von Seiten befinden sich heute im »Nationalarchiv der Richard-Wagner-Stiftung Bayreuth«. Sie lassen nach innen blicken und entfalten eine Chronik des Alltäglichen. Gertrud Strobel notiert, mit wem sie telefoniert und wer sie besucht, hält fest, in welchem Restaurant der Stadt sie und ihr Mann essen und was. Und sie hat die Nachbarn im Blick, wenn sie aus ihrem Fenster schaut und danach aufschreibt, was in Wahnfried geschieht. Auch hält sie fest, was und wann sie für die »Richard-Wagner-Forschungsstätte« arbeitet. Hier sind sie und ihr Mann angestellt. Das im Mai 1938 begründete staatliche Institut, das der Reichskanzlei untersteht,7 ist die Vorgängereinrichtung des heutigen Nationalarchivs. Die Strobels verwalten Briefwechsel sowie die handschriftlichen Partituren Richard Wagners, man sichtet Dokumente, ediert Briefe, verfasst Aufsätze, gibt Vorträge, unterhält eine Spezialbibliothek. Auch überprüft man, was andere im Land über Richard Wagner schreiben. Zudem verlangt die Familie immer wieder Informationen aus erster Hand zum Stammvater und die Strobels arbeiten den Wagners gewissenhaft zu.
Unter dem Datum des 15. Septembers verzeichnet Gertrud Strobel den Erhalt von Post. Der Brief kommt aus Nußdorf und zeigt Wagners Hochzeit an. Zufrieden macht sie nicht, was sie hier liest, zwar hält sie fest: »Das wäre nun eine einstweilige Klärung der Situation«, fügt aber hinzu: »Wie wird es weitergehen???«
Getrud Strobel ist überzeugte Nationalsozialistin und kommentiert loyal das Kriegsgeschehen, das ihr gelegentlich Empathie für das Leiden der Menschen abringt. Dabei hängt ihre Stimmungslage aber weder hiervon noch vom Wetter ab, sondern vielmehr davon, wie die Wagners sich bekriegen. Ihre Aufgabe sieht sie darin, mitzusteuern, um die Festspiele in die rechten Bahnen zu lenken. Dabei ist ihr die gegenwärtige Leitung immer wieder ein Dorn im Auge, sie hat die nächste Generation im Blick. Wagner mit seinem schwierigen Verhältnis zur Mutter findet in ihr und ihrem Mann Komplizen.
Der ist unleidig. Seiner Mutter folgt er widerstandslos, was ihn mürrisch macht. Dynastisch gesehen stimmt es wohl mit der Verbindung, die Wagner eingeht. Eltern und Verwandte der Braut sind überzeugte Nationalsozialist:innen, vor allem ihr Onkel als Architekt hochangesehen. Hans Carl Reissinger verwirklicht seit 1933 in Bayreuth große Bauvorhaben wie das Haus der Deutschen Erziehung und die Ludwig-Siebert-Halle für Konzerte und Parteiversammlungen. Auch die Planungen zum Bayreuther Gauforum mit Stadttheater und Aufmarschplatz stammen von ihm, die Reputation der Familie, in die Wagner einheiratet, ist somit vorzüglich. Es ist etwas anderes. Gefangen in der an ihn gerichteten Erwartung geht ihm das Gefühl ab. Die platonische Zuwendung an die Schulfreundin ist ihm nicht geheuer. Wagner heiratet Gertrud, obwohl er »unfähig war«, wie sie kundtut, ihr »Lustgefühle zu verschaffen«.8 Eine »verkappte homoerotische Anlage«, von der sie auch berichtet, kommt hinzu.9
Wagner hängt seinen Gedanken nach und erinnert sich an das, was in der Familie erzählt wird. Im Jahre 1915 tobt wie jetzt ein Weltkrieg und man macht sich Sorgen. Festspielleiter Siegfried Wagner ist unverheiratet, aber schon Mitte vierzig und führt das Leben eines Dandys. Seine Homosexualität ist kein Geheimnis, die Erbfolge ungeklärt. Man zaubert mit der siebzehnjährigen Winifred Klindworth eine Braut aus dem Hut, die aus England nach Bayreuth reist. Ihre Stiefeltern verehren Richard Wagner über alle Maßen und überlassen die kindliche Braut ihrem Bayreuther Schicksal. Die nimmt es an, rettet den Wagnerclan mit dem Jawort für einen Mann, den sie kaum kennt, der sich aber bereit erklärt, seinen ehelichen Pflichten mit ihr nachzukommen.
Es klappt. Als erstes Kind kommt Stammhalter Wieland am 5. Januar 1917 auf die Welt, und schnell folgen die Geschwister Friedelind, Wolfgang und Verena. Sie wachsen in der Familienvilla auf, mit Großmutter Cosima Wagner, den Tanten, den Eltern, dem Personal. Dann erhält die Familie überraschenden Besuch. Im Oktober 1923, als Wagner sechs Jahre alt ist, kommt Adolf Hitler nach Wahnfried, besucht die Eltern und den Onkel Houston Stewart Chamberlain, vor allem aber das Grab des Großvaters. Der aufstrebende Politiker pflegt eine ausgeprägte Leidenschaft für die Oper, Richard Wagners Bayreuth und die Idee des Gesamtkunstwerks. Wagners Mutter wird politisch aktiv und hält flammende Reden auf den Diktator in spe. Im Sommer 1925 erlebt Hitler am 28. Juli seine erste Bayreuther Götterdämmerung,10 er ist wie berauscht, Oper als Droge. Auch ohne genetische Verbindung ist Wolf, wie die Kinder Hitler nennen, jetzt Teil des Clans, ein väterlicher Onkel, der ab 1930, dem Todesjahr von Siegfried Wagner, zum Ersatzvater avanciert. Hitler kommt 1933 als Reichskanzler erneut zu den Festspielen und wohnt nun einem vollständigen Bayreuther Ring bei. Das neue Staatsoberhaupt entsendet nicht nur in diesem Jahr, sondern auch fortan viel Geld nach Oberfranken. Im ganzen Land lässt er seit 1935 Opernhäuser neu- oder umbauen. Mit einem besonderen Detail versetzt er sich selbst als neobarocken Herrscher in die Mitte der Architektur: mit den landauf, landab eigens für ihn gebauten Führerlogen. In den meisten hat er nie gesessen, dennoch erzeugen sie Machtpräsenz, auch wenn der Diktator nicht zugegen ist. Die Wagners durchleben ihren postaristokratischen Adelsstand mit Hitler an der Seite, der sie zur ranghöchsten deutschen Familie mit Standleitung zum Regenten macht und der die vielen privaten Ausflüge mit den Wagners genießt. Bayreuth ist Hitlers Hoftheater, wie Thomas Mann feststellt. Wie ein barocker Herrscher aber versteht sich Hitler nicht nur als Financier, sondern er gestaltet mit und lässt den weltberühmten Alfred Roller, den er wie Richard Wagner verehrt, nach Bayreuth engagieren. In der Saison 1934 entwirft Roller die Bühnenbilder für die erste Parsifal-Neuinszenierung nach der Uraufführungsproduktion.
Wagner seinerseits will Künstler werden. Er folgt fortan den Fußstapfen des Großvaters, des Vaters und Hitlers, einer Trias, der er die große Hinwendung zur bildenden Kunst verdankt. Zunächst zeichnet er und malt, vor allem aber fotografiert er, lichtet Blumen ab, den Hofgarten, das Grab des Vaters. Und er fertigt Porträts an.
Im Jahr 1935 publiziert das Deutsche Opernhaus Berlin eine Festbroschüre, die nach dem Umbau des Hauses zur Wiedereröffnung erscheint. Aufwändig mit Farbabbildungen ausgestattet, druckt man das Ganze in Präge- und Goldschrift teuer auf Pseudobütten. Am Schluss der Broschüre begründet man den Aufwand: »Werbung für Oper«, heißt es dort, »hat propagandistisch wie ihr Gegenstand kulturellen Aufgaben zu dienen.«11 Das Heft zeigt ganzseitig eine Schwarzweißfotografie von Hitler und seinem Propagandaminister Joseph Goebbels: die Spitze des Staates als Liebhaber der Oper im Doppelporträt.
Die Männer in Nahaufnahme. Hitler lächelt. Auch Goebbels ist zufrieden. Die Politiker schauen nach unten und erblicken etwas, was der Betrachter der Fotografie nicht sehen kann, weil es außerhalb des Bildausschnitts liegt. Hingegen zeigt sich viel glänzendes pomadisiertes Haar. Hitlers Scheitel ist eine perfekt frisierte Linie. Helle Lichtstellen im Dunkel des Hintergrunds greifen die Kontraste des Vordergrunds klug auf. Das Bild ist eine passende Komposition zum Anlass: Die Männer sind für einen festlichen Abend in Schwarz gekleidet, ihre Anzüge ohne die üblichen Symbole der Zeit, nur ein winziges Parteiabzeichen ist an Goebbels’ Revers zu erkennen. Was aber nehmen Hitler und Goebbels in den Blick? Vielleicht den Besetzungszettel der Aufführung, die sie besuchen, mit den Namen von Sänger:innen, des Regisseurs, des Bühnenbildners, des Dirigenten. Oder betrachten sie die Pläne zum Umbau des Berliner Opernhauses, die sie mit dem abgleichen, was sie vor Ort sehen?
Wagner ist Autodidakt, er schnappt auf, was er sieht, und erfasst, was die Bilder, die aktuell publiziert werden, ihm anbieten. In den Tageszeitungen, den Illustrierten, Filmen und Bildbänden. Die Fotografen lichten immer wieder Gruppen mit Funktionären ab, die wie Hitler und Goebbels im Opernbild nach unten blicken. Es ist ein ikonografischer Topos: Militärs und Politiker beugen sich leicht nach vorne und betrachten überaus interessiert etwas, das vor ihnen ausgebreitet ist. Anders als im Berliner Opernbild erkennt man aber sonst meist, was die Uniformierten mit Hitler in ihrer Mitte anschauen. Es sind Papiere, Landkarten und Modelle für Feldzüge, Städte oder Konzentrationslager. So der Standard. Das Opernbild spitzt das Motiv zu, indem es reduziert. Die Planungsarbeit am Staat wird so inszeniert, als hätte der Fotograf eine Lupe verwendet: die beiden wichtigsten Männer des Nationalsozialismus im Zoom, die auf die Oper schauen, als sei sie ein weites, weites Feld. Das Weglassen ist ein künstlerischer Schachzug des Fotografen, der die Kunst in das imaginierte Innerste des Staates zieht.
Das Impressum der feinen Broschüre führt die an ihr Beteiligten fast vollständig auf: die Autoren der Texte, die Grafiker und die Druckwerkstatt. Nur der Fotografenname zum Doppelporträt fehlt. Der aber lässt sich herausfinden, da die Fotografie auch als Postkarte vertrieben wird, auf welcher der Künstler des mit dem Broschürenfoto identischen Postkartenbilds verzeichnet ist: »Wieland Wagner«.12
Der junge Wagner will mehr als nur fotografieren, ihn interessiert alles, was die bildende Kunst ihm bietet. Malerei und Bühnenbildnerei verdrängen dabei zunehmend die Fotografie. Ihm hilft, dass er anders als sein Bruder Wolfgang zu Kriegsbeginn nicht eingezogen wird. Wie es dazu kommt, berichtet der in seinen Memoiren, die er 1994 unter dem Titel Lebens-Akte vorlegt. Hitler persönlich kümmert sich demzufolge darum und beauftragt Winifred Wagner, ihm eine Liste mit fünfundzwanzig jungen Männern zusammenzustellen, die mit Beginn des Krieges 1939 sofort freizustellen sind: Sie komponieren, malen, singen oder entwerfen Bühnenbilder für die Oper. Nur eine Handvoll der Namen auf dieser Liste ist bekannt geworden. Zwei von ihnen interessieren Hitler besonders.13