Hinter den Spiegeln - Adora Belle - E-Book

Hinter den Spiegeln E-Book

Adora Belle

0,0
2,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Durch einen schweren Unfall wird Kai komplett aus der Bahn geworfen. Er kehrt seiner Familie den Rücken, bricht sein Studium ab und jobbt stattdessen als Barkeeper in einer Diskothek. Ein Jahr später hat er das Geschehene zwar noch längst nicht wirklich verarbeitet, aber dass er nun plötzlich immer wieder ein und denselben merkwürdigen Fremden in seinem eigenen Garderobenspiegel zu sehen glaubt, kann damit ja wohl kaum zusammenhängen, oder? Richtig mysteriös wird es jedoch, als der Unbekannte eines Nachts leibhaftig vor Kai an der Bar auftaucht und ihn kurz darauf in eine fremde Welt entführt. Eine Welt, in der es nicht nur Dämonen und Vampire gibt, sondern auch Werwölfe. Und einen solchen muss Kai nun töten, denn nur dann wird sein Entführer ihn zurück in seine eigene Welt bringen ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Adora Belle

Hinter den Spiegeln

Gay Fantasy Romance

Manchmal glauben wir, dass es Welten sind, die uns trennen und erkennen nicht, dass es sich in Wirklichkeit nur um lächerliche Gräben handelt, die wir mit einem einzigen beherzten Sprung durchaus überwinden könnten - wenn wir den Mut dazu hätten ... BookRix GmbH & Co. KG80331 München

Trugbilder ... ?

 

 

 

 

 

Müde schloss Kai die Tür zu seiner Wohnung auf. Es war so spät, dass es eigentlich schon wieder früh war, und er erwog ernsthaft und nicht zum ersten Mal, sich eine andere Arbeit zu suchen. Dabei wusste er jedoch bereits, dass er dies nicht tun würde, denn viel zu sehr genoss er es, im zuckenden Licht der Diskothek, in der er die ganze Woche nachts hinter dem Tresen stand, bei hämmernden Beats die Menge zu studieren.

Zwar hatte er in der Regel keine Zeit, sich großartig zu unterhalten, aber er schaute in die Gesichter, servierte Getränke und fühlte sich als Teil des Ganzen. Wenn der Rhythmus aus den Boxen dröhnte, dass der Fußboden vibrierte, wenn sich die Discobesucher dazu bewegten, als wären sie eins, dann pulsierte das Leben um Kai herum, sog ihn ein und riss ihn mit. Und das war es doch, worauf es ankam!

Zu spüren, dass er lebendig war, dass er noch atmete und fühlte!

Vor etwas über einem Jahr hatte er einen schweren Autounfall nur knapp überlebt, und nicht nur das, er hatte auch nur oberflächliche Verletzungen davon getragen, während zwei seiner Freunde, die mit im Wagen gesessen hatten, eingeklemmt wurden und verbrannt waren.

Er selbst war gerade noch aus dem zerquetschten Wrack gekrochen, und kaum war er draußen gewesen, hatte es plötzlich eine Stichflamme gegeben und der Wagen Feuer gefangen.

Er hatte noch versucht, seine Freunde zu retten, aber das Metall des Autos war so deformiert gewesen, dass er nicht einmal die Türen hatte öffnen können. Zudem war das Feuer sehr schnell so heiß geworden, dass er nicht einmal mehr in die Nähe des Autos gehen konnte. Per Handy hatte er deshalb voller Panik die Feuerwehr alarmiert, aber sie hatten sich an einer einsam gelegenen Landstraße befunden, fernab der nächsten Ortschaft. Zudem in einer Gegend, wo mitten in der Nacht praktisch kein Verkehr herrschte.

Als die Rettungskräfte endlich eintrafen, stand der Wagen bereits in hellen Flammen, und man hatte nichts mehr für die beiden jungen Männer darin tun können. Kai war daraufhin mit einem Schock zusammengebrochen und hatte anschließend einige Zeit in psychologischer Behandlung verbracht. Die war allerdings nicht besonders erfolgreich gewesen, sodass er sie schließlich von sich aus ersatzlos beendete.

Er bastelte sich stattdessen seine eigene Therapie, und die bestand in erster Linie daraus, dass er sein Leben komplett umkrempelte. Vor dem Unfall hatte er studiert, und sein Ziel war es gewesen, Zahnarzt zu werden und eine eigene Praxis zu besitzen.

Danach jedoch sah er keinen Sinn mehr darin, weil er sich fragte, wozu er sich ein solches Ziel stecken sollte, wo doch im Bruchteil einer Sekunde alles vorbei sein konnte. Jetzt fand er es viel wichtiger, zu leben und das auch zu spüren, wenn auch ohne das Korsett eines fest gesteckten Planes.

Er hatte also sein Studium abgebrochen, und als seine Familie ihn bedrängte, diesen Schritt rückgängig zu machen, war er von zuhause ausgezogen und hatte den Kontakt auf ein Minimum reduziert. Er lebte seitdem mehr oder weniger in den Tag hinein, tat nur wozu er Lust hatte und lebte von Gelegenheitsjobs, die er gerade so lange behielt, bis er genug Geld beisammen hatte, um eine Weile über die Runden zu kommen. Er brauchte nicht viel Geld, wohnte in einer billigen, kleinen Wohnung und hatte keine besonderen Ansprüche.

So war er auch zu diesem Job in der Disco gekommen. Er hatte schon während seines Studiums oft gekellnert, sodass er mit der Materie an sich keine Probleme hatte, und je länger er blieb, umso mehr merkte er, dass es ihm Spaß machte. Also jobbte er weiter dort, ohne seinen Lebensstil großartig in Frage zu stellen. Er verschwendete keine Gedanken an seine Zukunft und scherte sich auch nicht um die Meinung Anderer.

Mit den meisten seiner alten Freunde hatte er sowieso keinen Kontakt mehr, und neue zu finden, war ihm schlichtweg zu anstrengend.

Vage war ihm bewusst, dass er sich früher oder später damit auseinandersetzen musste, was er nun wirklich mit seinem restlichen Leben anfangen wollte, denn dass es nicht ewig so weitergehen konnte bis zum Sankt Nimmerleinstag, war selbst ihm klar. Aber vorläufig verschob er diese Entscheidung jeden Tag aufs Neue in eine ferne Zukunft.

Gähnend schlurfte er nun durch die Diele seines winzigen Appartements und holte sich in der Küche eine angebrochene Milchtüte aus dem Kühlschrank.

Seine Kleider rochen nach Schweiß, und er fühlte sich klebrig, wie jeden Morgen, wenn er nach Ende seiner Schicht noch bis zur endgültigen Schließung der Disco getanzt hatte, um sich auszupowern und nach seiner Heimkehr tief und möglichst traumlos schlafen zu können.

Er würde jetzt noch schnell in die Dusche springen und dann den Tag, der eben seine ersten Vorboten über den Horizont schickte, verschlafen. Erst am späten Nachmittag würde er wieder aufstehen und am Leben teilnehmen.

Kai streifte seine Jacke aus und ließ sie achtlos auf den einzigen Küchenstuhl fallen, bevor er wieder in die Diele trat und zum Badezimmer ging. Da plötzlich gewahrte er aus dem Augenwinkel eine Bewegung, und schlagartig war er hellwach. Er blieb stehen und merkte, dass ihm das Herz bis zum Hals schlug.

Das konnte doch nicht sein, oder?

Beim letzten Mal hatte er es sich doch auch nur eingebildet, nicht wahr?

Wie in Zeitlupe drehte er sich um, wandte sich dem deckenhohen Garderobenspiegel zu, und für einen Sekundenbruchteil fiel sein Blick auf ein bizarres Bild, bevor es erlosch und er nur noch sich selbst in seinem dämmrigen Flur sehen konnte.

Aber da war wirklich etwas gewesen! Diesmal war er sich ganz sicher!

Zögernd trat er auf den Spiegel zu, streckte eine Hand aus und berührte das kühle Glas. Im nächsten Moment schüttelte er über sich selbst den Kopf. Was machte er denn?

Er war schlicht todmüde, das war alles. Da konnte man schon manchmal Dinge zu sehen glauben, die es nicht wirklich gab.

Trotzdem ... Sein Verstand beharrte darauf, etwas gesehen zu haben, oder besser - jemanden. Genauso wie beim letzten Mal, vor drei Tagen. Ebenfalls früh am Morgen, nach der Rückkehr von seinem Job und auch da war er völlig erledigt gewesen. Und auch da hatte er für die Dauer eines Wimpernschlages etwas zu sehen geglaubt, was sich trotz der kurzen Zeitspanne regelrecht in sein Bewusstsein eingebrannt hatte, etwas was so eindeutig fantastisch war, dass es nur seiner Einbildung entsprungen sein konnte.

Andererseits … konnte man sich zwei Mal exakt die gleiche Person einbilden?

Beide Male hatte er einen jungen Mann gesehen, groß gewachsen und von schlankem Körperbau, den nichtsdestotrotz eine Aura körperlicher Kraft umgab, welche seine sehnige Figur Lügen strafte. Er hatte lange, hellblonde Haare gehabt, die in einer unsichtbaren Brise wehten und mithilfe zweier dünner Zöpfe an den Schläfen aus der Stirn gehalten wurden. Das Gesicht war schmal geschnitten, mit hohen Wangenknochen und aristokratischen Zügen. Dunkle Augen stachen aus einem geisterhaft blassen Antlitz hervor, schienen bis auf den Grund von Kais Seele zu sehen, und der Blick des Fremden war von fast bedrohlich wirkendem Ernst.

Gekleidet war er in einen dunklen Umhang, der genau wie sein Haar vom Wind bewegt wurde und unter dem ein helles Hemd von altmodischem Schnitt und eine eng anliegende, schwarze Hose zu sehen waren. Die Füße steckten in kniehohen, schwarzen Schaftstiefeln, die sich eng an seine Beine schmiegten und aus weichem Leder zu bestehen schienen.

Das Absurdeste war jedoch ein Gegenstand, der an seiner Hüfte baumelte und Kai vollends davon überzeugte, dass es sich um ein Hirngespinst handeln musste: eine schmale Schwertscheide, in der er den kunstvoll gearbeiteten Griff einer Stichwaffe sehen konnte.

Vielleicht sollte er heute mal die Dusche ausfallen lassen und direkt schlafen gehen? Er träumte ja offensichtlich schon mit offenen Augen!

In einer unwilligen Geste schüttelte Kai den Kopf und trat von dem Spiegel zurück, aus dem ihm jetzt nur noch sein eigenes, übernächtigtes Gesicht entgegensah.

Blödsinn! Entschlossen öffnete er die Tür zu seinem Badezimmer, einem Raum, der gerade mal groß genug war, dass eine winzige Dusche, ein Waschbecken und eine Toilette darin Platz fanden und stellte sich unter die Brause.

Er seifte sich ein, spülte sich ab und machte dann das Wasser aus. Rasch trocknete er sich ab, warf das Handtuch beiseite und verließ den Raum, um schlafen zu gehen. Als er an seinem Garderobenspiegel vorbeikam, warf er noch einmal einen misstrauischen Blick hinein, doch es war nichts Verdächtiges zu sehen.

Gleich darauf kroch er in sein ungemachtes Bett, zog die Decke über die Ohren und war rasch fest eingeschlafen.

Unter einem fremden Himmel, ...

 

 

 

 

 

  beschienen von einem kalten Mond richtete Lon sich auf. Er hatte über eine flache Schale mit Wasser gebeugt dagesessen, im Licht eines ersterbenden Lagerfeuers und weitab von jeglicher Siedlung.

„Und? Hast du ihn gefunden?“, fragte eine tiefe, weiche Stimme, und er sah kurz zu seinem Begleiter hinüber, der seine Trance bewacht hatte. Lon nickte und strich sich eine blonde Strähne aus der Stirn.

„Ich schätze schon“, sagte er knapp.

„Wurde auch Zeit.“ Der Andere sah vielsagend zum Mond hinauf, der eine dünne Sichel bildete.

Lon folgte seinem Blick und machte sich dann daran, sein Nachtlager herzurichten. Wortlos schlüpfte er unter seine Decke und drehte dem Anderen den Rücken zu.

„Gesprächig wie immer, hm?“, brummte der und holte eine Zigarette hervor. Anschließend rückte er dichter ans Feuer und begann seine Wache. Die Nacht war noch lang ...

Durch den Spiegel

 

 

 

 

 

Kai verließ die U-Bahn und machte sich missmutig auf den Weg zu seiner Arbeitsstätte. Es war Hochsommer, und trotz der späten Stunde der Himmel noch nicht ganz dunkel. Nur weit drüben, im Osten, glich er einem samtenen, blauschwarzen Tuch, auf welchem, glitzernden Edelsteinen gleich, Sterne blinkten, klein und fern.

Die Nacht war warm, und viele Menschen waren unterwegs, wie an einem Samstagabend nicht anders zu erwarten. Praktisch alle schienen gute Laune zu haben, und die Straßen der Stadt waren erfüllt von Autolärm und Stimmengewirr.

Er fühlte sich wie gerädert, denn sein Schlaf war erfüllt gewesen von wirren Träumen.

Der junge Mann, den er in seinem Garderobenspiegel zu sehen geglaubt hatte, war darin ebenso vorgekommen, wie der Unfall von vor einem Jahr.

Seine toten Freunde hatten nach ihm gegriffen und ihm vorgeworfen, dass er sie nicht gerettet hatte. Doch so groß seine Angst vor ihnen im Traum auch geworden war, und so sehr er es auch versuchte, war es ihm nicht gelungen aufzuwachen.

Als Ergebnis hatte ihm sein Spiegelbild am Nachmittag tiefe Augenringe präsentiert, und er fühlte sich kein bisschen, als hätte er neun Stunden am Stück geschlafen.

In der Disco angekommen verstaute er seine Umhängetasche und seine Jacke im Schrank des Personalraums und ließ die gutmütigen Witze eines Kollegen stumm über sich ergehen. Der merkte jedoch rasch, dass Kai an diesem Abend nicht zum Scherzen aufgelegt war und verzog sich bald Richtung Gastraum. Als er die Tür öffnete, wurden die wummernden Beats kurz lauter und dann wieder leiser.

Gleich darauf folgte ihm Kai und tauchte dankbar in das Gemisch aus hämmernden Rhythmen und flackernden Lichtern ein, in dem sich jedoch bislang nur wenige Tänzer tummelten. An der Bar dagegen herrschte bereits reger Betrieb, und eine Weile hatten er und sein Kollege alle Hände voll zu tun.

Erst als sich mit Fortschreiten des Abends die Tanzfläche mehr und mehr füllte, wurde es ein klein wenig ruhiger.Nicht so ruhig, dass sie die Hände hätten in den Schoß legen können, doch jetzt blieb auch einmal Zeit für ein kurzes Scherzwort zu einem Stammgast, oder einen kurzen Flirt zwischendurch.

Aber die Tatsache, dass er keine Zeit hatte, sich mit seinen Traumbildern zu beschäftigen, oder an den Unfall zu denken, wirkte auch entspannend auf Kai, und nach einer Weile merkte er, dass seine Laune sich deutlich gebessert hatte.

Wann er das erste Mal das Gefühl hatte, beobachtet zu werden, konnte er nicht sagen, doch irgendwann wurde das kribbelnde Unbehagen so stark, dass er in der Bewegung innehielt und sich umsah. Er ließ die Blicke über das Gewimmel der Gäste schweifen, sah aber zunächst nichts und wollte es schon als Einbildung abtun, da fiel sein Blick auf eine Gestalt ganz in der Nähe, und ihm stockte der Atem.

In etwa fünf Metern Entfernung, an eine Säule gelehnt stand niemand anderer als der junge Mann, den er am Morgen in seinem Garderobenspiegel gesehen hatte und blickte ihn unverwandt an.

Im nächsten Moment schüttelte Kai innerlich den Kopf über seine Gedanken und schaute weg.

Der Mann aus seinem Spiegel? Das war doch verrückt. So etwas gab es doch gar nicht!

Er hatte sich am Morgen aus Übermüdung etwas eingebildet, dann schlecht geschlafen, und nun sah er Gespenster, so einfach war das!

Oder?

Er blickte noch einmal kurz hinüber und registrierte, dass der Fremde sich nicht vom Fleck bewegt hatte.

Na gut, zugegeben, er sah seinem Hirngespinst wirklich ähnlich, bis hin zu den langen, hellblonden Haaren. Aber zumindest seine Kleidung war völlig anders. Er trug eine dunkle Hose, darüber ein weißes Shirt, eine kurze dunkelgraue Jacke und, trotz der sommerlichen Witterung, auf dem Kopf eine schwarze Strickmütze. Keine Spur von einem geschnürten Hemd, Umhang, Schaftstiefeln oder gar einer Stichwaffe! Vermutlich war es also nur die unerwartete Ähnlichkeit, die Kai spontan an sein Trugbild vom Morgen erinnert hatte, nichts weiter …

Jetzt löste er sich von der Säule und kam zur Bar herüber. Kai errötete - hatte er den Typen etwa angestarrt?Hastig wandte er sich dem nächsten Gast zu, der bereits ungeduldig darauf wartete, eine Bestellung aufgeben zu können und vermied es bewusst, sein Gesicht in die Richtung des Blonden zu drehen.

Doch genau der schob sich kurz darauf in sein Blickfeld und bestellte ein Bier. Aus irgendeinem Grund konnte Kai ihn nicht ansehen, spürte aber trotzdem, dass er aufmerksam gemustert wurde.

Was wollte der Kerl denn von ihm? War er schwul, oder was?

Nun, selbst wenn, Kai war es nicht, also war es vermutlich besser, einfach so zu tun, als hätte er nichts bemerkt.Doch als er das Bier vor den Fremden hinstellte, fasste der plötzlich nach Kais Hand und fragte: „Wann hast du hier Feierabend?“

Im ersten Moment konnte Kai nicht antworten, so überrascht war er, doch dann riss er seine Hand weg und fauchte: „Ich wüsste nicht, was dich das angeht!“

Einige der Umstehenden schmunzelten und taxierten den Blonden mit abschätzigen Blicken, doch der schien das entweder nicht zu bemerken, oder es störte ihn tatsächlich nicht. Er verzog keine Miene, schaute Kai noch einen Moment durchdringend an, dann griff er sich wortlos sein Bier und verließ die Theke.

Kai sah ihm nach, wie er seinen Beobachterposten an der Säule erneut einnahm und machte sich wieder an die Arbeit. Doch seine gute Laune war verflogen, und es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren. Alle Augenblicke flatterte sein Blick hinüber zu dem Fremden, jedes Mal in der vergeblichen Hoffnung, er möge endlich gegangen sein.

Die Stunden vergingen in bleierner Langsamkeit, und allmählich spürte er einen wachsenden Groll in sich.

Wollte der Kerl nicht endlich mal verschwinden?

Was sollte er machen, wenn er Feierabend hatte und der Typ war immer noch da?

Kai schnaubte leise vor sich hin und schüttelte den Kopf. Na was wohl? Das Gleiche wie immer! Er würde sich doch von diesem Arschloch nicht seinen Feierabend verderben lassen! Er tanzte jede Nacht hier, bis die Disco schloss, und das würde er auch heute tun, basta!

Schließlich war es soweit, seine Schicht war zu Ende, und bei einem letzten Seitenblick stellte er zu seiner Erleichterung fest, dass der Blonde seinen Beobachterposten offenbar verlassen hatte. Auch sonst war er nirgends zu sehen und Kais Stimmung hob sich schlagartig.

Wieso hatte er sich überhaupt von so einer Lappalie derart irritieren lassen?

Er betrat die Tanzfläche und begann sich im Rhythmus der Musik zu bewegen. Schon bald hatte er alles vergessen, was ihn beunruhigt hatte und ließ sich mitreißen.

Doch nach einer Weile forderte die Natur ihr Recht, und er kehrte widerwillig in die Realität zurück. Mühsam bahnte er sich einen Weg durch die Tänzer und ging zur Toilette. Noch immer war seine Laune ungetrübt, und er summte leise vor sich hin, während er am Pissoir stand.

Erst als er beim Händewaschen aufschaute und im Spiegel hinter sich den Blonden sah, schrak er zusammen und fuhr herum.

War der Typ ihm etwa heimlich gefolgt? Was hatte er vor? Wollte der was von ihm? Vor Kais geistigen Auge spulten sich alle möglichen Schreckensszenarien ab, von Raub und Misshandlung, bis Vergewaltigung und Mord. Der Blick des Fremden war nicht dazu angetan, ihn zu beruhigen, wirkte düster und nichts weniger als harmlos.

Gehetzt schaute Kai sich um, doch so unwahrscheinlich es schien, sie waren tatsächlich völlig allein im Raum.

Sein Gegenüber schüttelte sachte den Kopf und sagte: „Wir sind ungestört. Für die nächsten fünf Minuten wird niemand diesen Raum betreten. Das ist nicht lange, und deshalb werde ich mich kurz fassen. Ich bin Lon, ein Jäger, und du bist mein Pendant. Ich stamme nicht von hier, und normalerweise wären wir uns auch nie begegnet, aber so wie die Dinge liegen, brauche ich deine Hilfe. Du musst mich begleiten und zwar sofort, denn ich habe nicht mehr viel Zeit.“

Kai riss die Augen auf. Was erzählte der Spinner da? Nicht von hier? Ein Jäger? Begleiten ...? War der Kerl irre?

Doch der Andere ließ ihm keine Zeit zum Nachdenken. Mit einem raschen Schritt war er bei ihm und fasste ihn am Arm.

„Komm!“, sagte er, als wäre es selbstverständlich, dass Kai tat, was er verlangte.

Aber der wehrte sich gegen den Griff und hielt sich mit einer Hand am Waschbecken fest.

„Moment mal! Was soll denn das werden? Ich kenne dich nicht und werde auch ganz bestimmt nirgends mit dir hingehen! Lass` mich gefälligst los!“

Mit genervter Miene verstärkte der Blonde seinen Griff, und Kai sog zischend die Luft ein, denn die Finger um seinen Bizeps schienen aus Eisen zu bestehen. Dennoch widersetzte er sich weiterhin, zerrte am Arm des Blonden, und so rangelten sie miteinander, bis der Fremde plötzlich ein Messer zog und es Kai vors Gesicht hielt.

„Für solche Mätzchen habe ich jetzt keine Zeit und auch keine Geduld. Wenn ich sage, dass du mitkommst, dann kommst du mit! Verstanden?“, zischte er wütend und gefährlich leise.

Kai erstarrte angesichts des blanken Stahls vor seiner Nase und sagte auch nichts mehr.

Er erwartete, dass der Fremde ihn jetzt zur Tür schob, stattdessen zog er ihn dicht an sich heran, streckte eine Hand zum Spiegel über dem Waschbecken und berührte das Glas. Dann sprach er ein einzelnes, kehliges Wort aus, und plötzlich wurde die Spiegelfläche durchsichtig, als wäre sie ein Fenster.

Auf der anderen Seite war heller Tag, und Kai blickte in eine wilde, sonnendurchflutete Landschaft, mit sanften Hügeln, von langem Gras bedeckt, welches sich in einem für ihn nicht spürbaren Wind bewegte. Hier und da lagen riesige, verwitterte Felsen, und im Schatten eines solchen Monolithen standen drei Pferde und zwei Esel angepflockt. Daneben kauerte ein Mann auf dem Boden, dessen Gesicht Kai wegen der Entfernung nicht genau erkennen konnte. Er schien auf etwas zu warten, und als der Blonde dichter an den Spiegel heranrückte, stand er auf und kam näher.

Er trug eine Art sandfarbenen Staubmantel, eine verblichene Jeans und einen breitkrempigen Hut, sodass er ein wenig einem Filmcowboy ähnelte. Jetzt konnte Kai auch den Wind hören, der dort drüben wehte und das Rascheln des Grases unter den Stiefeln des näher kommenden Mannes. Gleich darauf war er so dicht herangekommen, dass Kai sein Gesicht deutlich erkennen konnte. Scharfe Züge wurden von fransigem, schwarzem Haar umrahmt, und ein paar rot leuchtende Augen spähten eindeutig in Kais Gesicht.

Hieß das, er konnte ihn sehen? Seine stumme Frage wurde sofort beantwortet.

„Ist er das?“, wollte der Cowboy wissen, und der Blonde, der Kai nach wie vor fest gepackt hatte, bejahte.

„Aber jetzt musst du mir erst mal helfen, ihn hier rauszukriegen. Die Versiegelung hält höchstens noch eine Minute, und dann sind wir nicht mehr ungestört. Also los!“

Kai bekam einen Stoß, dass er gegen das Porzellan des Waschbeckens prallte und gleich darauf streckte sich ihm eine Hand entgegen. Er blickte hoch und zweifelte an seinem Verstand, als er sah, dass die Hand aus dem Spiegel ragte. Doch schon bekam er einen neuerlichen Stoß.

„Nun mach´ schon! Glotzen kannst du später!“

Wie hypnotisiert fasste Kai nach der dargebotenen Hand und fühlte sich emporgezogen. Er krabbelte über das Waschbecken, und einen Augenblick später kroch er durch das weiche Gras auf der anderen Seite. Fassungslos rollte er sich herum und blickte zurück, wo er gerade noch sah, wie der Blonde – Lon? - aus einem quadratischen Loch, von der Größe des Spiegels, ebenfalls nach draußen ins Gras gekrabbelt kam. Kaum war er gänzlich der Öffnung entstiegen, gab es einen leisen, ploppenden Laut, und das Quadrat war verschwunden.

Lon stand auf und sah auf Kai hinunter.

„Willkommen in meiner Welt, Kai!“

Doch der saß nur stumm da und starrte großäugig zu dem blonden Mann auf, der ihm aus dieser Perspektive noch größer erschien und mit unbewegtem Gesicht auf ihn hinabsah. Kai konnte nicht fassen, was gerade mit ihm passiert war und verspürte das dringende Bedürfnis, sich kräftig zu kneifen, um sicher sein zu können, dass er nicht träumte. In seinem Kopf herrschte gähnende Leere, denn so etwas wie das, was er soeben erlebte, konnte doch nicht die Realität sein, oder?

Aber sein Entführer ließ ihm keine Zeit für ausführliche Grübeleien, sondern stieß ihn mit der Stiefelspitze an und blaffte: „Na los, hoch mit dir! Oder willst du nur mit offenem Mund hier rumsitzen und Löcher in die Gegend stieren?“

Doch der zweite Mann mischte sich ein und machte eine beschwichtigende Geste.

„Sachte, Meister! Du hast ihn gerade erst rüber geholt, da ist es doch klar, dass er noch durcheinander ist. Gib ihm ein paar Minuten um sich zu sammeln! Hast du ihm überhaupt erklärt, worum es geht?“

Mit wütender Miene drehte der Blonde sich zu dem Schwarzhaarigen um und meinte kalt: „Halt´ du dich gefälligst da raus, Deris. Das ist allein meine Sache, und ich habe weder Zeit noch Lust, ihn zu verhätscheln wie ein Baby. Abgesehen davon vergiss nicht, dass du mir dienst und tun musst, was ich sage! Also halt´ die Klappe und kümmere dich lieber um die Pferde. Ich will so bald wie möglich hier weg!“

Zu Kais Erstaunen senkte der Dunkle die Augen und sagte mit zusammengebissenen Zähnen: „Ja, Meister!“

Dann drehte er sich um und stapfte zurück zu den Tieren im Schatten des Felsens.

'Meister'? Was bedeutete das? Und wieso hatte dieser andere Kerl rote Augen?

Nun wandte der Blonde seine Aufmerksamkeit erneut dem noch immer auf dem Boden Sitzenden zu und versetzte ihm einen weiteren Tritt.

„Hast du nicht gehört? Steh` endlich auf! Wir haben noch einen weiten Weg vor uns, und ich dulde nicht, dass du uns aufhältst!“ Er musterte Kai abschätzend. „Kannst du überhaupt reiten?“

Kai war gerade dabei aufzustehen, hielt bei dieser Frage aber kurz in der Bewegung inne.

„Reiten? Ich?“ Er sah die ungeduldige Miene seines Gegenübers und beeilte sich, den Kopf zu schütteln und zu verneinen. Der Blonde schnaubte gereizt und zog die Brauen zusammen.

„Das hätte ich mir eigentlich denken können“, knurrte er. „Aber das ist dein Pech. Du wirst es eben lernen müssen.“ Damit drehte er sich um und machte Anstalten, ebenfalls zu den Pferden zu gehen. Doch in Kai regte sich Widerstand gegen die Art und Weise, wie er behandelt wurde. Was fiel diesem Typen eigentlich ein, mit ihm umzugehen, als wäre er ein lästiges Anhängsel?

„Warte mal!“, rief er und stemmte die Hände in die Seiten. „Wann habe ich eigentlich zugestimmt, dich zu begleiten? Ich kann mich nicht erinnern, gefragt worden zu sein. Ich hab` zwar keine Ahnung, was du vorhast oder warum du mich hergeschleppt hast, Scheiße, ich weiß noch nicht mal wo ich hier bin, aber ich werde einen Teufel tun und einfach schweigend mitgehen! Ich verlange zumindest ein paar Erklärungen! - Hey, wofür hältst du dich?“, schob er nach, als der große Mann einfach schweigend weiterging, ohne auch nur im Mindesten erkennen zu lassen, dass er Kai überhaupt gehört hatte. Stattdessen schritt er ungerührt zu einem der beiden Pferde, welche der andere Mann, der bereits aufgesessen war, am Zügel hielt. Es war ein großes, fahles Tier, das nervös mit den Hufen scharrte und die Nüstern blähte, als sei es begierig darauf, sich endlich in Bewegung zu setzen. Lon nahm den Zügel, setzte einen Fuß in den Steigbügel und schwang sich mit einer geschmeidigen Bewegung in den Sattel. Dann trieb er sein Reittier dicht an Kai heran, stützte sich mit den Armen auf das Sattelhorn und blickte verächtlich auf ihn hinab.

„Ich halte mich für denjenigen, der hier dein Überleben garantieren kann, nicht mehr und nicht weniger“, sagte er kalt. Anschließend hob er den Blick und sah abschätzend zum Horizont, über dem die Sonne bereits im Sinken begriffen war. „In zwei Stunden ist es hier dunkel, und dann ist das kein Ort mehr, an dem man sich aufhalten sollte, wenn einem sein Leben lieb ist. Und abgesehen davon bin ich auch derjenige, der dich wieder dahin zurück bringen kann, wo er dich hergeholt hat, das solltest du lieber nicht vergessen. Aber das tue ich nur, wenn ich habe, weswegen ich dich brauche und auch das solltest du dir merken. Also, steigst du jetzt freiwillig auf das verdammte Pferd, oder muss ich Gewalt anwenden?“