Ungebeten + Ungeplant - Adora Belle - E-Book

Ungebeten + Ungeplant E-Book

Adora Belle

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Beschreibung

Ungeplant: Jannis muss mitten im Jahr die Schule wechseln und kommt ins Internat Schloss Falkenhorst. Dort lernt er neue Freunde kennen, hat aber auch einen mehr als gewöhnungsbedürftigen Zimmergenossen. Gregor ist verschlossen, bis an die Grenze zur Feindseligkeit und Jannis von ihm anfangs einfach nur genervt. Allerdings merkt er bald, dass Gregor irgendein düsteres Geheimnis mit sich herumträgt und ist irritiert darüber, wie sehr seine Gedanken um diesen merkwürdigen Jungen kreisen. Verschiedene Vorfälle an der Schule bewirken, dass die beiden sich trotz aller Aversionen näherkommen und dann ... steht Jannis` Leben plötzlich Kopf! Ungebeten: Jannis und Gregor machen gemeinsam Urlaub und müssen sich nun erstmals außerhalb der Schule mit ihrer Beziehung und den damit verbundenen Widrigkeiten auseinandersetzen. Eifersucht ist im Spiel und stellt eine erste heftige Belastungsprobe dar. Zurück im Schulalltag sind die Turbulenzen aber noch längst nicht vorbei, denn ein neuer Schüler kommt in die Klasse, der kein Geheimnis aus seiner Homosexualität und seinem Interesse an Jannis macht. Oder ist es doch eher Gregor, für den sein Herz schlägt? Als Jannis dann plötzlich verschwindet beginnen die Ereignisse sich zu überschlagen, doch die Erklärung für alles ist völlig anders, als erwartet ... (Die beiden in diesem Buch enthaltenen Bände über das fiktive Internat Falkenhorst und seine Bewohner sind komplett überarbeitete und korrigierte Versionen der allerersten Bücher der Autorin und waren bis vor kurzem kostenlos auf der Seite bookrix.de eingestellt.)

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Adora Belle

Ungebeten + Ungeplant

Schloss Falkenhorst Band I + II

Die vorliegende Geschichte ist ein reines Fantasieprodukt der Autorin. Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Ereignissen, lebenden oder toten Personen wären daher komplett zufällig und nicht beabsichtigt. Bitte respektieren sie die Mühe und Arbeit, die in jedem E-book stecken und erwerben sie eine legale Kopie! Vielen Dank! BookRix GmbH & Co. KG80331 München

Ungeplant

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

*°*

1.

 

 

 

 

 

Der erste Eindruck von meinem neuen Zuhause könnte kaum trübseliger sein. Ich sitze auf dem Beifahrersitz unseres Wagens und schaue aus dem Seitenfenster auf eine regennasse Landschaft.

Wir sind bis jetzt etwa drei Stunden gefahren und mir kommt der Gedanke, dass ich mit jedem Kilometer nicht nur mein Zuhause, sondern auch mein altes Leben immer weiter hinter mir zurücklasse. Keine erbauliche Vorstellung.

Hätte ich die Wahl gehabt, wäre ich nicht unterwegs zu einem Internat, sondern würde noch immer in meine angestammte Schule gehen und im Haus meiner Eltern leben.

Aber diese Option habe ich nicht mehr. Meine Mutter hat meinen Vater verlassen. Sie ist jetzt mit einem anderen Kerl zusammen, lebt in den USA und hat in ihrem neuen Leben keinen Platz mehr für ihren Sohn.

Und mein Vater ist, schon solange ich denken kann, mit seiner eigenen Firma mehr als ausgelastet. Er vertreibt Blitzschutzanlagen und macht selbst nach etlichen Jahren in dem Business das Meiste an Vertrieb und Buchhaltung selbst. Da bleibt kaum Zeit, sich um einen 17jährigen Jungen zu kümmern.

Nicht, dass ich mir wahnsinnig viel aus seinem Kümmern machen würde. Ich bin seit jeher gewohnt, viel allein zu sein und habe die damit verbundene Freiheit immer sehr genossen, meinen Eltern aber zumindest nie wirklich Schwierigkeiten gemacht. Ich schätze, im Großen und Ganzen bin ich wohl ziemlich angepasst.

Klar, Parties sind cool, Mädchen hin und wieder auch, aber Alkohol oder Drogen haben mich irgendwie nie gereizt. Vielleicht weil es mich immer schon angekotzt hat, wenn meine Eltern eine Party veranstalteten und zu vorgerückter Stunde die Damen in ihren Designerfummeln und die Schlipsträger, die sonst immer alle ach so korrekt taten, unter Alkoholeinfluss die Hemmungen verloren und ihre wahren Gesichter zeigten.

Aber wie auch immer, jedenfalls bin ich nicht übermäßig begeistert, als ich den ersten Blick auf das Internat "Falkenhorst" werfen kann, in dem ich die nächsten beiden Jahre bis zum Abitur verbringen soll. Mein Vater meint eben, hier bekäme ich nicht nur eine erstklassige Schulbildung, die mir, wie er sich ausdrückt, später mal Tür und Tor öffnen kann, sondern außerdem den in meinem Alter noch dringend benötigten „Familienanschluss“. Dass ich nicht lache!

Unterwegs hat er zwar nochmal versucht, mir die Schule schmackhaft zu machen, indem er mir die verschiedenen Vorzüge in den höchsten Tönen anpreist, aber angesichts meiner immer einsilbigeren Antworten ist er schließlich verstummt. Ich habe natürlich gemerkt, dass dieses Schweigen auf ihm lastet, aber das ist mir so was von egal. Er hat mich aus meinem Zuhause gerissen und von meinen Freunden getrennt, also habe ich auch wenig Lust, ihm die Situation erträglicher zu machen.

Seit wir die Autobahn verlassen haben, sind wir zunächst durch ein ausgedehntes Waldgebiet gefahren, nur unterbrochen von einer Handvoll kleiner, verschlafener Dörfer. Dann erreichten wir eine kleine Stadt, nett anzusehen, mit vielen Fachwerkhäusern, aber natürlich kein Vergleich mit meiner Heimatstadt Frankfurt. Hier wird wohl nie so richtig was los sein, registriere ich im Hinterkopf - noch ein Minuspunkt auf meiner mentalen Liste.

Kurz nachdem wir das Städtchen hinter uns gelassen haben, führt die Landstraße in einer langgezogenen Kurve um ein weiteres Waldstück herum, und noch während ich denke, dass mir dieses ganze Grün allmählich auf die Nerven geht, kommt vor uns die Schule in Sicht. Zumindest nehme ich an, dass sie es ist.Ich habe schon auf dem Prospekt, den mein Vater angeschleppt hat, gesehen, dass es sich um ein altes Schloss handelt, aus groben Steinen erbaut und mit ein paar moderneren Nebengebäuden, die in jüngerer Zeit entstanden sind. Umgeben ist das ganze Areal von einer hohen Mauer, in die insgesamt vier Türme eingebettet sind und eine breite Toröffnung, durch die wir gleich darauf in einen großen Hof fahren.

Es ist mittlerweile später Nachmittag und trotz des schlechten Wetters sind eine Menge Schüler und Schülerinnen auf dem Gelände. Alle tragen Schuluniformen und im Geist verdrehe ich die Augen bei dem Gedanken, dass ich ab morgen auch so was anziehen muss.

Natürlich werde ich begafft, und hier und da sehe ich auch Köpfe, die zusammengesteckt werden. Aber das ist mir eigentlich ziemlich egal. Ich habe mich bisher noch nie sonderlich darum geschert, was andere von mir halten. Nicht dass ich es darauf anlege, als Freak zu gelten, das nun auch nicht gerade, aber ich habe mich nie geistig oder seelisch verrenken mögen, um überall die erste Geige zu spielen und trotzdem eine Menge Freunde gehabt.

Das alles geht mir noch durch den Kopf, als ich mein Gepäck aus dem Kofferraum nehme, weil ich mich natürlich trotzdem frage, wie sich das hier entwickeln wird. Ich komme mitten im Schulhalbjahr und vermute mal, die Meisten haben ihre ersten Kontakte bereits geknüpft. Aber okay, ändern kann ich es eh nicht, da muss ich jetzt eben durch!

Mein Vater kommt um den Wagen herum und greift beim Gepäck mit zu, weil ich allein nicht alles tragen kann.

„Ich verstehe ja wirklich nicht, warum du das hier unbedingt mitnehmen musstest“, sagt er mit gerunzelter Stirn, als er meine Staffelei hochnimmt. „Meinst du nicht, du solltest dich allmählich mal mit den wichtigen Dingen des Lebens befassen? Wenn du später die Firma übernimmst, wird dir dieses Gekritzel nicht gerade hilfreich sein.“

„Und wann habe ich jemals gesagt, dass ich die Firma übernehme?“, halte ich aggressiv dagegen. Das ist auch so ein Thema zwischen uns. Allerdings ist es noch nie zu einem wirklichen Streit darüber gekommen. Ich schätze, mein Vater geht einfach davon aus, dass ich schon irgendwann „zur Vernunft kommen werde“, wenn ich älter bin. Deshalb will er wohl unsere Beziehung nicht zusätzlich belasten und schweigt. Er kann mit „meinem Gekritzel“ wie er es immer nennt, nun mal so gar nichts anfangen.

Im Alter von fünf Jahren habe ich das Malen für mich entdeckt. Seither habe ich unzählige Skizzenbücher gefüllt und mein Zimmer mit eigenen Zeichnungen regelrecht tapeziert. Aber erst mein Kunstlehrer in der achten Klasse hat mein Talent wirklich ernst genommen und ist mit mir in Kunstausstellungen und Galerien gegangen. Er hat mir neue Techniken beigebracht und mich ermutigt, auch ungewöhnliche Ideen in die Tat umzusetzen. Meine Eltern sehen das alles leider mit anderen Augen. Für meinen Vater ist meine Malerei eher ein Ärgernis, sollte ich doch nach seinem Dafürhalten mehr Interesse an praktischen Dingen, wie zum Beispiel der Firma und allem was damit zusammenhängt, zeigen. Und meine Mutter hat zwar jedes meiner Bilder immer gelobt, aber so, als wäre ich fünf Jahre alt und in einer Art und Weise, dass ich oft das Gefühl hatte, sie macht es nur, um meine Gefühle nicht zu verletzen, wäre aber insgeheim froh, ich würde den Kinderkram endlich sein lassen.

Auf jeden Fall habe ich mich vor meiner Abreise mit Farben, Pinseln, Skizzenbüchern und Ähnlichem eingedeckt, denn ich beabsichtige, auch hier meinem Hobby Nr. Eins weiterhin nachzugehen.

Mit den Gepäckstücken beladen wenden wir uns dem Haupteingang zu und stehen gleich darauf in einer gigantischen Eingangshalle. Uns gegenüber führt an beiden Seiten je eine gigantische, steinerne Treppe zu einer Galerie hinauf. Ich sehe auch dort oben Köpfe und höre Stimmen und Gelächter, die zu uns herunter schallen. Die hohe Decke wird von unzähligen, wuchtigen Säulen getragen und vor uns befinden sich eine Menge Schüler, die sich zum Teil in ein paar Sitzgruppen lümmeln, welche in dem riesigen Raum verstreut stehen.

Wieder drehen sich zahlreiche Köpfe in meine Richtung und ich werde abschätzend gemustert. Weil einige wirklich süße Girls dabei sind, gebe ich mich cool und desinteressiert, doch als ich im Kielwasser meines Vaters dem hinteren Ausgang zustrebe, fällt mir doch etwas ins Auge.

In einer der hintersten Sitzgruppen sitzt ganz allein ein Schüler, den ich etwa auf mein Alter schätze. Er hat ein Buch im Schoß und scheint völlig darin versunken zu sein. Von seinem Gesicht sehe ich nicht viel, weil ihm schwarze Haare wirr in die Stirn fallen. Die Krawatte seiner Schuluniform ist gelockert und sitzt schief, und der oberste Knopf seines Hemdes steht offen. Eine seiner Hände liegt in dem aufgeschlagenen Buch und ich bemerke, dass seine Finger lang und schlank sind, so wie ich mir die Finger eines Pianisten oder anderen Künstlers vorstelle. Richtige Künstlerhände eben.

Wir gehen direkt an ihm vorbei und als wir auf gleicher Höhe sind, hebt er kurz den Kopf und schaut zu mir herüber. Das schmale Gesicht mit der geraden Nase könnte gutaussehend genannt werden, wäre nicht der Mund zu einem schmalen Strich zusammengezogen und würde er nicht so finster aus der Wäsche schauen. Seine Augen sind von einem intensiven, dunklen Blau und der Blick den er mir daraus zuwirft, ist kühl, fast schon feindselig.

„Na, toll!“, schießt es mir durch den Kopf. „Da komme ich gerade erst an und hab` schon einen Fan!“

Mit diesem ironischen Gedanken trete ich durch die breite Tür am Ende der Halle und finde mich in einem düsteren Gang wieder, von dem links und rechts mehrere Türen abzweigen. Mein Vater ist vor einer Weile schon mal hier gewesen, als er die Schule ausgewählt hat, deshalb kennt er sich aus und steuert entsprechend zielstrebig eine der Türen auf der rechten Seite an. Er klopft und von drinnen ruft eine helle Stimme „Herein!“

Mein Vater öffnet die Tür und betritt als Erster das Vorzimmer des Schulleiters. Die Sekretärin bedeutet uns, das Gepäck abzustellen und dann direkt weiter zu gehen, daher durchschreiten wir gleich darauf eine weitere Tür und betreten das Büro von Herrn Buntze, dem Direktor von Schloss Falkenhorst.

Der Raum ist mit schweren alten Holzmöbeln eingerichtet. Auf dem Boden liegt ein dicker dunkler Teppich und hinter dem Schreibtisch bietet ein hohes Fenster einen prachtvollen Ausblick auf die umgebenden Wiesen und Wälder.

Beim Eintritt meines Vaters steht der große Mann hinter dem Schreibtisch auf und bietet uns zunächst eine Hand und dann einen Sitzplatz in den beiden bequemen Besuchersesseln an. „Herr Schreiber!“, begrüßt er meinen Vater, dann sieht er mich an und sagt freundlich: „Und sie sind dann sicher Jannis.“

Eine Feststellung, keine Frage.

Die nächste halbe Stunde ist angefüllt mit Formalitäten und Höflichkeit. Ich antworte nach Möglichkeit an den richtigen Stellen und bin doch geistig schon weit weg. Der Direktor ist gar nicht so alt, wie ich erwartet habe, ich schätze ihn mal auf Mitte Vierzig. Sein Gesicht ist freundlich und die Augen hinter den Gläsern seiner schmal-randigen Brille sind von Lachfältchen umgeben. Zum Schluss überreicht mir Herr Buntze noch den Stundenplan und einige andere Formblätter und erklärt: „Wenn du dich dann von deinem Vater verabschiedet hast, bringe ich dich zu den anderen Schülern in die große Halle. Unsere Schüler sind alle in Zweierzimmern untergebracht und dein Zimmergenosse kann dir eure Unterkunft und die Schule zeigen. Alles weitere wird sich in den nächsten Tagen finden. Solltest du noch Fragen haben, wende dich ruhig an mich oder einen der Lehrer, wenn du keinen Mitschüler fragen willst.“

Wir erheben uns und mein Vater wendet sich mir zu: „Also dann, Jannis ...“

Er scheint nicht zu wissen, was er sagen soll und erstaunt bemerke ich, dass ihm dieser Abschied offenbar näher geht, als ich gedacht hätte. Schließlich nimmt er mich in den Arm und sagt dann: „Du wirst dich schon eingewöhnen. Und die nächsten Ferien sind ja auch nicht mehr gar so weit entfernt. Wenn es Probleme gibt, kannst du mich jederzeit anrufen, in Ordnung?“

Gemeinsam treten wir gleich darauf wieder ins Vorzimmer und nehmen das Gepäck auf. Zurück in der Halle, stellt mein Vater die Tasche und meine Staffelei ab. Einen Moment scheint er unschlüssig, doch schließlich klopft er mir nur noch einmal kurz auf die Schulter, lächelt mir aufmunternd zu und geht mit langen Schritten Richtung Ausgang.

Der Direktor hat sich in der Zwischenzeit ein paar Schritte entfernt und als ich ihm jetzt meine Aufmerksamkeit wieder zuwende, hat er einen Schüler im Schlepptau. Zuerst ist dieser von der schlaksigen Gestalt des Schulleiters verdeckt, doch kurz bevor sie mich erreichen, macht Herr Buntze einen Schritt zur Seite und ich erkenne den schwarzhaarigen Jungen von vorhin.

„Jannis, das ist Gregor Holzmann. Gregor, das ist Jannis Schreiber. Er ist ihr neuer Zimmergenosse. Bitte helfen Sie ihm mit seinem Gepäck und zeigen Sie ihm doch gleich schon mal ein bisschen was von der Schule, erklären ihm die Hausregeln und so.“ Dann wendet er sich nochmals an mich. „Wir sehen uns dann nachher beim Abendessen!“ Er nickt, klopft mir ebenfalls auf die Schulter und geht davon, überlässt mich meinem Schicksal und meinem Mitbewohner.

Komischer Typ, denke ich.

Gregor steht einen Moment stumm vor mir, dann bückt er sich und nimmt einen Teil meines Gepäcks auf. „Komm!“, ist alles was er sagt.

Na, das kann ja ein tolles Zusammenleben werden!, geht es mir durch den Kopf. Der Kerl sprudelt ja regelrecht über vor Begeisterung!

Aber er führt mich zumindest durch einen weiteren Ausgang in ein breites Treppenhaus mit unverputzten Wänden und zeigt mit der Hand in eine Richtung. „Da geht es zu den Klassenräumen, und da“, ein Schwenk in eine andere Richtung, „da liegt der Speisesaal.“

Damit wendet er sich der Treppe zu und beginnt hinaufzusteigen. An einer Antwort liegt ihm offenbar nichts, also folge ich ihm schweigend treppauf.

Wir steigen in den zweiten Stock hinauf und gehen dann nach links. Wieder gelangen wir in einen breiten Flur, diesmal weiß verputzt, aber auch hier liegen auf beiden Seiten Zimmertüren. Gregor deutet auf zwei Türen am stumpfen Ende des Ganges.

„Da vorne sind zwei Waschräume und hier“, er deutet auf eine weiter Tür, „ist der Gemeinschaftsraum für diese Etage. Da kannst du auch fernsehen, wenn du willst.“ Und schon geht er weiter, öffnet schließlich die vorletzte Tür auf der rechten Seite.

„Hier ist unser Zimmer.“ Er tritt über die Schwelle, ich folge ihm und stehe gleich darauf in einem hellen, angenehm geräumigen Zimmer. Zwei Fenster gewähren einen ausgiebigen Blick über den Innenhof und die Schlossmauer bis hin zum Waldrand und davor stehen zwei Schreibtische, der eine leer, bis auf eine Lampe und eine Schreibunterlage aus grünem Kunststoff, der andere begraben unter einem Durcheinander aus Büchern, Schreibutensilien und Heften.

An den einander gegenüberliegenden Schmalseiten sehe ich zwei Betten. Auf dem Einen liegt ein Paket aus Bettwäsche und Handtüchern auf dem nicht bezogenen Bettzeug und daneben ein Stapel Schulbücher. Das Andere ist ordentlich gemacht und an der Wand darüber hängen verschiedene Filmposter.

Mein Blick wird stattdessen von dem Bücherregal angezogen, das zwischen Bett und den zunächst stehenden Schrank gequetscht ist. Es ist so mit Büchern vollgestopft, dass man den Eindruck hat, es müsste gleich explodieren.

Gregor hat meine Sachen neben dem leeren Bett abgestellt und beobachtet mich jetzt schweigend. Wieder fühle ich diese Aura von Feindseligkeit, die mir entgegenschlägt. Doch als ich mich ihm zuwende, dreht er sich weg und lässt sich in einen der beiden Sessel fallen, die mitten im Zimmer an einem kleinen Tisch stehen. „Abendessen ist um 19 Uhr“, informiert er mich noch, dann angelt er nach einem Buch auf dem Tisch, schlägt es auf und versinkt darin.

Ich beginne, mich häuslich einzurichten und mein Bett zu beziehen. Meine Sachen räume ich in den zweiten Schrank, neben der Tür, den ich leer vorfinde. Zuletzt suche ich mir einen Platz in der Nähe des einen Fensters und stelle meine Staffelei und den Malkoffer dort auf.

„Stört es dich, wenn meine Staffelei hier steht?“, frage ich dann an Gregor gewandt. Der schüttelt den Kopf.

„Mach nur.“

Aber es scheint mir, als wäre die vorherige Feindseligkeit kurz einem Hauch von Neugier gewichen, auch wenn er nichts sagt und sich sofort wieder in sein Buch vertieft.

Als ich mit allem fertig bin, werfe ich einen Blick auf die Uhr. In einer halben Stunde gibt es Abendessen, also beschließe ich, die Zeit sinnvoll zu nutzen und vorher noch zu duschen. Ich hole Duschgel, Handtuch und frische Wäsche aus meinem Schrank und mache mich auf den Weg zu den Badezimmern. Im Flur begegnen mir ein paar der anderen Schüler und wieder werde ich gemustert und abgeschätzt. Innerlich zucke ich mit den Schultern und gehe einfach weiter, doch plötzlich spricht mich Einer an.

„Hey, du bist der Neue, der heute angekommen ist, stimmt`s? Ich bin Markus und wohne gleich neben euch. Ich gehe auch in deine Klasse.“ Ich stehe einem großen, breitschultrigen Jungen mit braunen Locken gegenüber, der mich freundlich angrinst und mir seine Hand entgegenhält. Ich ergreife sie und nicke.

„Ja, hi. Ich bin Jannis.“

„Freut mich, Jannis! Gregor hat dir vermutlich noch nicht viel gezeigt oder erklärt, stimmt´s?“ Als er meinen fragenden Blick bemerkt, lacht er. „Mach´ dir nichts draus. Das hat nichts mit dir zu tun, der ist immer so. Aber wenn du möchtest, zeige ich dir nach dem Abendessen alles noch mal richtig und stell´ dich den Anderen vor.“

Geez, das ist ja der Prototyp des netten Jungen von nebenan! Vermutlich ist er der Star der Schulmannschaft und alle Mädchen schwärmen für ihn. Aber okay, ich hab` ja keinen Grund feindselig zu sein, also nicke ich lächelnd.

„Ja, das wäre cool.“

„Also, wie ich sehe“, er wirft einen Blick auf meine Sachen, „hast du vor zu duschen. Wie wäre es, wenn wir uns anschließend unten an der Treppe treffen und ich nehm` dich dann mit in den Speisesaal. An unserem Tisch ist noch ein Platz frei. Wenn du möchtest, kannst du dich dazu setzen.“ Wieder nicke ich und verabschiede mich dann von Markus um meine geplante Dusche zu nehmen. Als ich danach meine Sachen zurück ins Zimmer bringe, sitzt Gregor immer noch über seiner Lektüre, genau wie ich ihn zurückgelassen habe.

„Scheint ja mächtig spannend zu sein, dein Buch. Was liest du denn da?“ Die Unterhaltung mit Markus und die Dusche haben mich wider Erwarten aufgemuntert und ich habe beschlossen, mir die Zeit die ich hier verbringen muss, so angenehm wie möglich zu machen. Deshalb will ich als Erstes versuchen, einen Draht zu meinem Zimmergenossen zu bekommen. Der aber hebt nur wortlos das Buch in die Höhe und hält mir den Titel entgegen. „Schlaflos“ steht da und der Name des Autors – ein bekannter Horror-Schriftsteller, wenn mich nicht alles täuscht. Ich will mich aber nicht so schnell geschlagen geben und hake nach.

„Hat der nicht auch diese Geschichte mit dem tollwütigen Hund geschrieben?“

„Wenn du es sagst“, kommt als einzige Antwort zurück. Ich bleibe noch einen Moment stehen, falls er mehr sagt, aber wie es scheint, hat er mich schon wieder völlig vergessen – oder tut zumindest so - und schmökert weiter. Ich schüttele leicht den Kopf, aber Markus hat ja gesagt, Gregor wäre immer so. Also verlasse ich das Zimmer und trabe die Treppe hinunter, wo ich schon erwartet werde.

Markus ist nicht allein, zwei andere Jungs und ein Mädchen, dem er den Arm um die Schultern gelegt hat, sind bei ihm und er stellt uns auch gleich alle vor.

„Hey, Jannis! Das hier sind Max und Antonio.“ Ich reiche beiden die Hand und mustere sie rasch. Max ist einen Kopf kleiner als ich, ein bisschen stämmig und rothaarig. Antonio neben ihm stellt sein genaues Gegenteil dar, hoch aufgeschossen, mit schwarzen Haaren und dunklen Augen hinter einer schmalen Brille. Seine etwas dunklere Hautfarbe lässt ahnen, dass sein Name nicht nur der Fantasie seiner Eltern zuzuschreiben ist, sondern dass er tatsächlich südländische Wurzeln hat. Schließlich wende ich meine Aufmerksamkeit wieder Markus und seiner Begleiterin zu. Sie ist ziemlich zierlich, hat ein herzförmiges Gesicht mit großen blauen Augen und lange blonde Locken. Auch sie streckt mir jetzt lächelnd ihre Hand entgegen.

„Hi, ich bin Daniela.“ Nach dieser Vorstellungsrunde betreten wir gemeinsam den Speisesaal, der schon ziemlich voll ist und ich folge den Vieren zu deren Tisch.

Auf dem Weg dorthin registriere ich wieder eine Menge Köpfe, die zusammengesteckt werden, wenn ich vorbeigehe, aber auch ich mustere meinerseits die Anwesenden aufmerksam. Abgesehen davon, dass ausnahmslos alle eine Schuluniform tragen, scheint sich das Gewimmel nicht sonderlich von dem in meiner alten Schule zu unterscheiden.

Bestimmte Typen trifft man eben überall, ob es nun der Klassenclown, der Computerfreak, der Streber, die Schulqueen oder der Loser ist. Und die große Menge die den Raum zwischen diesen speziellen Typen ausfüllt, die ist auch überall präsent. So eben auch hier. Die Schüler sitzen an Gruppentischen mit jeweils sechs Plätzen und Platten mit Wurst und Käse, Brot und Butter, Teller mit Rohkost und große Teekannen stehen für die Hungrigen bereit. Stimmengewirr erfüllt den Raum und als ich mich umschaue, entdecke ich einen langgestreckten Tisch am hinteren Ende des Saales, an dem offenbar die Lehrer sitzen. Ich kann den Schulleiter ausmachen, der sich gerade mit der Frau neben ihm unterhält. Dann sind wir an unserem Tisch angekommen und ich sehe, dass dort schon jemand sitzt. Es ist ein weiteres Mädchen, welches uns entgegen lächelt. Sie hebt grüßend die Hand und sagt an mich gewandt: „Hi, du bist Jannis, oder?“ Als ich nicke, fährt sie fort: „Ich heiße Michaela, aber alle nennen mich Miki.“ Dann jedoch wendet sie ihre Aufmerksamkeit Antonio zu, der sich hinunterbeugt und ihr einen Kuss auf die Lippen haucht. Auch sie ist blond, aber ihre Haare haben nicht den sonnigen Farbton von Danielas Locken, sondern leuchten fast weiß und außerdem trägt sie die Haare nur kinnlang. Ihr Gesicht ist schmaler als das von Daniela und ihre Augen sind von einem erstaunlich hellen Grün.

Wir nehmen alle Platz und das Abendessen beginnt. Eine Weile lang brauche ich nichts zu tun, außer zu essen und der Unterhaltung der Anderen zuzuhören, aber schließlich dreht sich Markus wieder zu mir um. „Also, Jannis – erzähl´ doch mal, was verschlägt dich mitten im Schuljahr hierher?“

Alle fünf Gesichter wenden sich fragend in meine Richtung und ich antwortet wahrheitsgemäß: „Meine Eltern haben sich getrennt. Meine Mutter lebt jetzt bei ihrem neuen Lover in den USA und mein Vater ist die ganze Zeit nur mit seiner Firma beschäftigt. Irgendwie ist er dann aber plötzlich auf die Idee gekommen, dass es nicht gut ist, wenn ich mir so viel selbst überlassen bleibe und hat mich deshalb hierher geschickt.“ Markus nickt.

„Ja, das kenne ich. So war es bei mir auch. Nur dass meine Eltern alle beide eine neue Beziehung hatten. Aber das Endergebnis war das Gleiche. Anfangs hat es mich ganz schön angekotzt, hierher kommen zu müssen. Aber inzwischen finde ich es echt cool in Falkenhorst.“ Er grinst. „Ich freu´ mich schon beinahe jedes Mal, wenn die Ferien zu Ende sind. Mein Vater hat inzwischen die ich weiß nicht wievielte Freundin bei sich wohnen und meine Mutter hat mit ihrem neuen Mann Zwillinge gekriegt! Die sind jetzt zwei Jahre alt und richtige Nervzecken.“ Er lacht. „Ich weiß zwar nicht, warum sie mit knapp vierzig unbedingt nochmal Nachwuchs haben wollte, aber okay, es ist ja schließlich ihr Leben. Nur macht es echt keinen Spaß, wenn ich einen Teil meiner Ferien bei ihr verbringe. Entweder heult eins von den Kleinen rum, oder ich darf Babysitter spielen. Nee, da bin ich echt lieber hier.“

Er sagt das ziemlich leichthin, aber ich frage mich, ob er das wirklich so empfindet. Wenn ich mir das vorstelle – die meiste Zeit des Jahres abgeschoben im Internat und in den Ferien kostenloser Babysitter? Nee, definitiv nicht mein Ding!

„Und wo wir gerade dabei sind, uns so richtig bekannt zu machen, erzähl´ ich dir auch gleich noch ein bisschen was über den Rest von uns. Daniela hier“, er legt ihr den Arm um die Schulter und zieht sie an sich, „kommt aus München. Ihre Mutter ist gestorben, als Daniela noch klein war und ihr Vater hat nicht mehr geheiratet. Er ist an der Börse tätig und fast nie zuhause. Micki“, er deutet auf das weißblonde Mädchen, „ist eine echte Adlige. Eine Gräfin von und zu Winterstein.“ Micki streckt ihm die Zunge raus und alle lachen.

„Ihre Familie hat es unheimlich mit alten Traditionen und so. Und weil schon immer alle jungen Damen der Familie auf Schloss Falkenhorst zur Schule gegangen sind, ist sie auch hier. Der gute Max dagegen“, er lässt seine Hand auf die Schulter des stämmigen Jungen fallen, „ist nur hier, weil sein Vater vor einigen Jahren zu Geld gekommen ist und nun meint, sein Sohn bräuchte eine angemessene Schulbildung und dürfte nicht mit dem gemeinen Volk zur stinknormalen Schule gehen. Und was Antonio betrifft, meinen geschätzten Mitbewohner“, er wirft einen Blick in die Richtung wo der schwarzhaarige Junge schweigend sein Brot isst, „tja - seine Mutter kam vor ein paar Jahren aus Sizilien nach Deutschland, um seinen Vater zu suchen, der sie mit ihrem Kind sitzen gelassen hat. Sie hat ihn dann auch gefunden, aber der Typ war schon mit einer anderen verheiratet. Daraufhin hat sie als Putzfrau in einem Hotel gearbeitet und dort wie im Märchen einen reichen Mann kennengelernt. Nach der Hochzeit wollte sein Stiefvater den unehelichen Stiefsohn aber nicht im Haus haben, sondern lieber selbst mit seiner schönen Italienerin kleine Bambinis machen. Also wurde Antonio hierher geschickt und voilà“, er macht eine ausholende Geste, „schon ist die illustre Runde, die du hier siehst komplett.“

Er sagt das mit soviel Selbstironie, dass ich nicht anders kann und mitlache, als jetzt alle kichern.

„Also echt mal, Markus,“ Miki schüttelt den Kopf, „Jannis muss uns ja für total gestört halten, wenn er dich hört.“ Aber auch sie grinst dabei.

„Nö, keine Bange“, beeile ich mich deshalb zu versichern. „War doch ´ne gelungene Kurzfassung. Und meine Story war ja auch nicht besser, oder?“ Jetzt meldet sich Max zu Wort.

„Sag mal, machst du eigentlich gerne Sport oder so? Weil - wir haben hier eine eigene Handball-Mannschaft. Markus und ich spielen beide im Team. Wie sieht´s aus, hast du Interesse? Ich könnte dich da reinbringen.“ Ich schüttle den Kopf.

„Nee, du. Danke, aber mit Sport hab´ ich´s echt nicht so.“

„Aber vielleicht interessierst du dich ja für Musik?“, will jetzt Daniela wissen. „Hier gibt es nämlich auch ein Orchester und eine Schülerband.“

„Ja!“, pflichtet Markus ihr bei. „Daniela singt in dieser Band. Die sind gar nicht so schlecht.“ Dafür fängt er sich von besagter Daniela einen Rippenstoß ein. „Was heißt hier bitte 'nicht schlecht'?“ Wieder muss ich verneinen.

„Nö, ich hör´ zwar gerne Musik, aber ich bin leider nicht die Bohne musikalisch.“

„Was treibst du denn dann so in deiner Freizeit? Falls du ein Computerfreak bist, wende dich vertrauensvoll an Antonio. Der hat mal eine große Zukunft als Hacker vor sich!“, meint Max.

„Computer? Naja, ich hab´ zwar einen eigenen Laptop und surfe auch mal gerne ein paar Stunden, aber darüber hinaus ...“

„Na, aber irgendein Hobby wirst du doch wohl haben.“ Miki zieht die Augenbrauen in die Höhe.

„Ja, klar. Ich male.“

„Wie, du malst? So richtig mit Pinsel und Leinwand, mit Modell stehen und so?“ Jetzt muss ich grinsen.

„Ja, das auch mal. Aber ich male hauptsächlich mit Aquarellkreide oder zeichne nur mit Bleistiften. Und meistens fertige ich von dem was ich malen möchte erst eine Skizze an und dann übertrage ich das auf die Leinwand. Also, von Sachen, Landschaften oder Leuten, die ich irgendwo sehe. Bis jetzt hat mir noch niemand Modell gestanden, damit hab´ ich keine Erfahrung. Künstliche Posen sind auch nicht so mein Ding. Ich möchte lieber den Moment einfangen.“ Alle fünf haben meiner Erläuterung aufmerksam zugehört. Jetzt nickt Markus.

„Find´ ich cool! Lass doch bei Gelegenheit mal deine Bilder sehen.“ Alle nicken.

Das ist mir nun doch etwas unangenehm, aber die Unterhaltung wendet sich schnell wieder alltäglichen Schulangelegenheiten zu und ich lasse meine Blicke durch den Saal schweifen. Ich fühle mich satt und etwas müde, immerhin ist der Tag lang gewesen und ich habe viele neue Eindrücke zu verarbeiten. Da bleibt mein Blick an einem bekannten Gesicht hängen. Gregor sitzt ein paar Tische weiter. Bei ihm sind noch drei andere Jungen, doch es sieht nicht so aus, als ob er mit ihnen sprechen würden, geschweige denn dass er sie überhaupt wahrnimmt. Er hält in einer Hand ein Brot, von dem er abbeißt und in der anderen – natürlich! - sein Buch. Offenbar beschäftigt er sich lieber mit Büchern als mit anderen Menschen?

Ich habe wohl, ohne es zu merken, die Augenbrauen hochgezogen, denn Max spricht mich an, während er seinerseits den Hals reckt, um zu sehen, wo ich hinschaue.

„Was ist?“, will er wissen. Als er Gregor entdeckt, schüttelt er lachend den Kopf.

„Machst du dir Gedanken über Gregor?“

„Naja, ich wohne ja schließlich mit ihm zusammen in einem Zimmer, und irgendwie sehe ich ihn heute nur mit der Nase in irgendwelchen Büchern. Als ich ihn vorhin angesprochen habe, hat er mich praktisch ignoriert. Ist der immer so?“

„Ja, meistens. Ich schätze, du findest hier an der Schule niemanden, der mehr als ein paar Worte mit ihm geredet hat. Anfangs haben ein paar Leute deshalb ziemlich auf ihm rumgehackt, aber weil er nie reagiert, ist ihnen das wohl langweilig geworden. Seitdem lassen ihn die Meisten in Ruhe. Er ist so gut wie immer für sich. Jedenfalls sieht man ihn praktisch nur allein.“ Er überlegt einen Moment, dann fügt er hinzu: „Und was seine Bücher angeht - irgendeins davon schleppt er eigentlich immer mit sich rum.“

„Seit wann ist er denn hier?“, will ich wissen. Max zuckt die Schultern.

„Seit ungefähr einem Jahr, glaube ich.“ Er überlegt kurz. „Ja, genau. Er kam letztes Jahr nach den Weihnachtsferien.“

„Und er war die ganze Zeit über so?“ Ich kann es kaum glauben.

„Ja.“ Miki nickt. „Schon immer. Er hat auch die ganze Zeit bisher allein gewohnt.“ Plötzlich grinst sie und senkt verschwörerisch die Stimme. „Manche glauben, er ist ein Außerirdischer, der von seinesgleichen hier auf der Erde zurückgelassen wurde!“ Sie hebt den Zeigefinger und fügt krächzend hinzu: „Nach Haus telefonieren!“ Alle lachen. Ich auch, obwohl ich mich dabei nicht ganz wohlfühle.

„Aber im Ernst jetzt“, mischt sich Antonio ein. „Gregor ist schon echt komisch. Er spricht praktisch mit niemandem und ist immer nur allein unterwegs. Na, und wie er reagiert, wenn man ihn anspricht hast du ja selbst erlebt! Das Einzige wofür er sich interessiert, sind seine Bücher.“

Ich nicke, kann die Augen aber irgendwie noch nicht von meinem seltsamen Zimmergenossen lösen. Da hebt der plötzlich, als hätte er es gespürt den Kopf und sieht direkt in meine Richtung. Unter den schwarzen Haaren schießt er einen Blick auf mich ab, dessen Kälte ich buchstäblich körperlich spüren kann. Ich werde rot und schaue schnell weg.

Von den Anderen am Tisch hat glücklicherweise keiner etwas bemerkt. Sie haben inzwischen alle ihre Mahlzeit beendet und machen Anstalten aufzustehen.

„Also, Jannis, was meinst du“, wendet sich Markus wieder an mich, „hast du noch Lust auf eine kleine Führung?“ Ich nicke. „Kommt ihr auch mit?“, will er dann von den Anderen wissen. Daniela bejaht sofort, doch die übrigen winken ab, weil sie noch andere Pläne für den Abend haben. „Was willst du zuerst sehen?“ Markus stemmt die Arme in die Hüften und sieht mich auffordernd an. Ich zucke die Schultern.

„Keine Ahnung. Schätze, ich verlasse mich da ganz auf euch.“ „Okay, also ..“ er wendet sich an Daniela, „dann lass uns zuerst nach draußen gehen. Noch ist es hell genug, dass du alles sehen kannst. Was es hier drin gibt, lässt sich auch bei Licht betrachten.“

Die folgende Stunde schleppen die beiden mich über das gesamte Schulgelände. Ich sehe den Schulgarten, das Schwimmbad, die Klassenräume, die Sporthalle, die Küche, den Wäschekeller, den Musiksaal, das Spielzimmer, die Aula und das Lehrerzimmer. Ich erfahre, dass einige der Lehrer im Haus wohnen und ein paar Schüler in den umliegenden Ortschaften.

Die Schule ist nicht gerade billig, aber es gibt Stipendien. Außerdem erfahre ich noch ein paar Einzelheiten zu einigen der Lehrer und dem Stundenplan.

Als wir schließlich wieder die Treppe zu den Schülerzimmern hinaufsteigen bin ich ziemlich kaputt und es ist auch schon reichlich spät geworden. Oben verabschiedet sich Daniela und geht nach rechts, wo die Mädchen untergebracht sind und Markus und ich machen uns auf den Weg nach links, zu unseren Zimmern. Vor meiner Tür bleiben wir stehen und Markus meint: „Das war jetzt vielleicht ein bisschen viel für den ersten Tag, aber keine Bange, bald findest du dich alleine zurecht. Bis dahin läufst du halt einfach immer der Meute nach.“ Er grinst. Ich tue dasselbe und bedanke mich für die Führung. Dann verabschieden wir uns und wenden uns jeder unserer Zimmertür zu. Ich habe die Klinke schon in der Hand, da fällt mir noch etwas ein: „Ach, sag´ mal, wie ist das mit dieser ...“, ich deute auf sein Hemd, „naja, dieser Uniform? Muss man die ständig tragen, oder darf man auch mal was Eigenes anziehen?“ Markus lacht.

„Nee, Pflicht zum Tragen besteht eigentlich nur im Unterricht und bei offiziellen Anlässen. Aber da wir ohnehin oft bis in den späten Nachmittag Stunden haben, tragen die meisten hier die Uniform den ganzen Tag. Ist halt einfacher, als sich für drei, vier Stunden nochmal umzuziehen.“

„Nervt das nicht?“ will ich wissen. Markus zuckt die Schultern.

„Zumindest wirst du hier in der Schule niemanden finden, der wegen seiner Klamotten gemobbt wird.“ Ich nicke, klar, das leuchtet sogar mir ein. „Und wer am Wochenende nicht nach Hause fährt, darf durchaus in seinen eigenen Kleidern rumlaufen. Also, dann schlaf´ gut. Wir sehen uns dann morgen früh beim Frühstück. Ich hol´ dich ab, damit du dich nicht verläufst!“, setzt er noch grinsend hinzu. Damit wenden wir uns endgültig ab und betreten unsere Zimmer. Gregor sitzt an seinem überladenen Schreibtisch, die kleine Lampe brennt und er kritzelt in einer Kladde.

„Hallo!“, begrüße ich ihn, bekomme aber keine Antwort. Na schön, das kann ich auch!

Ich hole mein Skizzenbuch und meinen MP3-Player hervor und setze mich aufs Bett. Gleich darauf versinke ich in meiner eigenen Welt, als ich beginne, die Gesichter der fünf Freunde, die ich heute Abend kennengelernt habe, eins nach dem anderen mit geübter Hand aufs Papier zu bannen. Während ich das tue, rollt vor meinem inneren Auge der zurückliegende Tag noch einmal ab. So bemerke ich kaum, dass Gregor irgendwann seine Kladde weglegt, die Schreibtischlampe ausschaltet und mit Handtuch, Bademantel und Duschgel bewaffnet das Zimmer verlässt. Als er kurz darauf zurückkommt, lässt mich das allerdings aufschrecken und ich bemerke, dass es schon nach elf Uhr ist. Also schlüpfe ich auch rasch in meinen Pyjama, stelle meinen Radiowecker und krieche unter die Bettdecke.

 

 

2.

 

 

 

 

 

 In dieser ersten Nacht in der neuen Schule schlafe ich wider Erwarten tief und traumlos bis mein Wecker sich meldet.

Ich recke mich, um ihn abzuschalten und blinzele verschlafen ins Licht des neuen Morgens. Es ist erst halb sieben, doch ich habe mit Absicht den Wecker so früh eingestellt, weil ich mich in Ruhe duschen und anziehen will, bevor es um halb acht Frühstück gibt.

Wir haben Anfang Mai und draußen vor den Fenstern wird es schon hell, weshalb kein Licht anschalte, als ich aufstehe. Gregors Bett ist leer, aber ich kümmere mich nicht darum, sondern gehe rasch zum Badezimmer und mache mich fertig. Als ich wieder ins Zimmer komme, um mein Bett zu machen und den Pyjama aufzuhängen, ist Gregors Teil des Raumes aufgeräumt, aber von ihm nach wie vor nichts zu sehen.

Ich schaue auf meine Uhr, es ist kurz nach sieben. Ich habe länger gebraucht als sonst, weil ich mich mit der Krawatte der Schuluniform etwas abgemüht habe. Insgeheim habe ich ja den Verdacht, dass sie immer noch nicht ganz richtig sitzt, aber ich habe beschlossen, das mir das egal ist.

Jetzt lüfte ich noch rasch das Zimmer, während ich meinen Rucksack für den ersten Schultag packe. Dann trete ich ans offene Fenster und sehe hinaus in den frühen Morgen. Am vorigen Tag hat es fast ununterbrochen geregnet und der Himmel war wolkenverhangen gewesen, aber heute morgen strahlt er in einem fast makellosen Blau. Ich kann von meinem Standort aus über die Schlossmauer hinweg über flaches Feld sehen, welches weit hinten in die tiefen Wälder übergeht, die ich gestern mit meinem Vater durchfahren habe. Sie scheinen endlos, denn bis zum Horizont sieht man nichts anderes als dieses Meer an Bäumen, die jetzt, zu Beginn des Frühlings in den verschiedensten Grüntönen schimmern.

Ich erschrecke ein bisschen, als es plötzlich klopft. Rasch schließe ich das Fenster und will öffnen, doch da steckt Markus schon seinen Lockenkopf durch die Tür.

„Hey, guten Morgen! Kommst du mit zum Frühstück?“

„Ja, klar.“ Ich schnappe mir meinen Rucksack vom Schreibtisch und gemeinsam betreten wir kurz darauf den Speisesaal. Als ich diesmal den Raum durchquere, sind es längst nicht mehr so viele Köpfe wie am Vorabend, die sich in meine Richtung drehen. Das liegt wohl an der Uniform, damit falle ich nicht mehr so auf.

Beim Frühstück plätschert die Unterhaltung träge dahin, die Anderen sind offenbar noch müde, abgesehen von Markus, der uns von einem neuen Film vorschwärmt, der demnächst ins Kino kommt und den er unbedingt sehen will. Miki und Daniela sind in eine eigene Unterhaltung vertieft, Max löffelt sein Müsli triefäugig in sich hinein, während er nur ab und zu „Hmm-hmm!“ brummt und Antonio hat eine Zeitschrift neben seinem Teller liegen, in der er mit gerunzelter Stirn liest, wobei er des öfteren vergisst, von seinem Brot abzubeißen.

Irgendwann stupst Markus ihn an.

„Hey, Tonio! Was ist denn da so interessant, dass du sogar das Frühstücken vergisst? Wir müssen gleich zum Unterricht, weißt du noch? Also, wenn du dein Brot vorher essen willst, solltest du voran machen!“ Er lacht, doch Antonio sieht nur kurz auf und grummelt: „Nichts was du verstehen würdest!“ Markus beugt sich hinüber und wirft einen Blick in das Heft.

„Dachte ich´s mir doch! Bits and bytes! Und das am frühen Morgen!“, seufzt er theatralisch. „Also weisst du, Miki!“ wendet er sich dann an Antonios Freundin. „Du solltest mal wieder so richtig mit Tonio rumknutschen, findest du nicht? Ein junger Mann in seinem Alter sollte was anderes im Kopf haben als immer nur Festplatten und Software. Wenn du nicht aufpasst, verlässt er dich noch wegen einem scharfen Notebook!“ Er will sich ausschütten vor Lachen über seinen Witz, doch Miki macht nur geringschätzig: „Pfft!“ Dafür handelt er sich von Daniela eine Kopfnuss ein.

„Aua! - Hey, was soll denn das?“

„Musst du dich immer so unmöglich aufführen?“ Genervt verzieht Daniela das Gesicht. Aber Markus grinst schon wieder.

„Klar! Immerhin gilt es zu verhindern, dass Tonio eines Tages mal so abdreht wie unser guter Gregor!“ Daniela rollt mit den Augen und wendet sich ab. Ihr Freund aber macht mit Blick auf mich eine Kopfbewegung zum anderen Ende des Speisesaales. Ich folge mit den Augen und sehe Gregor dort sitzen. Diesmal ganz allein an einem Tisch, aber natürlich wieder mit einem Buch. Erneut dauert es einen Moment, bis ich meinen Blick von ihm lösen kann. Irgendwie ist er mysteriös. Was stimmt bloß nicht mit ihm? Das ist doch nicht normal, dass sich jemand so abkapselt.

Moment – was mache ich mir darüber überhaupt Gedanken? Ich schüttele diese Ideen ab und wende meine Aufmerksamkeit wieder unserem Tisch zu. Wir beenden unsere Mahlzeit, schnappen unsere Schultaschen und gehen dann gemeinsam zum Unterricht. In der Klasse gibt es zu meiner Verwunderung lauter Einzeltische. So etwas kannte ich bisher nur aus amerikanischen Filmen.

Ich finde einen freien Platz zwischen Markus und Miki und als ich mich umschaue, entdecke ich auch Gregor. Er sitzt ganz hinten, beachtet aber wie üblich niemanden um sich herum und ist schon wieder – oder immer noch? - in sein Buch vertieft. Es fliegen noch ein paar Witze hin und her, doch da kommt auch schon der Mathelehrer herein und der Unterricht beginnt.

Dieser erste Schultag hat es in sich. Ich merke rasch, dass ich in den meisten Fächern hinterher hinke und kräftig werde büffeln müssen, um mithalten zu können. Es sieht demnach ganz so aus, als würde meine Staffelei die nächste Zeit weitgehend unbenutzt herumstehen müssen und Staub ansetzen.

Diese Überlegungen gehen mir durch den Kopf, als ich später mit einem Tablett in der Hand im Speisesaal Schlange stehe, um mir mein Mittagessen zu holen. Plötzlich wird es hinter mir laut.

Ich drehe mich um und sehe zwei Schüler, die ich nicht kenne. Sie sind groß und breitschultrig, wirken eher wie Männer, als wie Jungen. Bestimmt sind die in der Abiturklasse. Einer von ihnen hält etwas mit einer Hand über seinen Kopf, mit der Anderen schiebt er jemanden auf Armeslänge von sich.

„Hey,“ höre ich ihn sagen, „hat dir keiner beigebracht, das man nicht gleichzeitig liest und durch die Gegend läuft? Guck´ dir das an!“ Er deutet auf sein Hemd, auf dem sich ein undefinierbarer, rötlicher Fleck ausbreitet. Der Andere, der in jeder Hand ein Essenstablett hält, nickt.

„Yeah, Mann!“

Ich schaue genauer hin, weil mich eine Ahnung beschleicht – tatsächlich, das ist Gregor! Was ist denn passiert? Hat er womöglich mit der Nase in einem Buch steckend nicht darauf geachtet, wo er hinläuft und den Großen angerempelt? Vermutlich.

Bei einem genaueren Blick auf das eine Tablett sehe ich, dass die Spaghetti mit Soße sich nur noch zum Teil auf dem Teller befinden. Daher rührt wohl der Fleck auf dem Hemd des Großen. Die Umgebenden weichen synchron zurück, jeder spürt wohl, dass Ärger in der Luft liegt. Der Bekleckerte packt Gregor jetzt am Hemdkragen und zieht ihn näher zu sich heran.

„Kinderstube hast du wohl auch keine, wie? Zumindest habe ich noch nichts von dir gehört, was nach einer Entschuldigung klang. Du etwa?“ wendet er sich an seinen Begleiter.

„Nö“, schüttelt der feixend den Kopf.

Verdammt, das sieht nicht gut aus. Warum sagt Gregor denn nichts? Wenn das hier so weiterläuft, wird er gleich mächtig eins in die Fresse kriegen. Kapiert er das denn nicht? Aber er starrt sein Gegenüber nur stumm und finster an. Mittlerweile hat sich ein Kreis um die Beiden gebildet.

Ich blicke mich hilfesuchend um und sehe wie eine Frau vom Küchenpersonal aus der Tür huscht. Hoffentlich holt die einen Lehrer!

„Hm“, brummt der Große, „sieht so aus als müsste ich dir selber Manieren beibringen.“ Er lässt das Buch, das er Gregor abgenommen hat, fallen und zerrt mit der nun freien Hand den Rucksack von dessen Schulter. Er öffnet ihn und dreht ihn um, sodass alles herausfällt. Dann geht er zu seinem Kumpel und nimmt das ramponierte Mittagessen von seinem Tablett. Einen Moment lang schaut er es an, als müsste er überlegen und dann kippt er die Pampe über Gregors ausgeschüttete Sachen. Gleich darauf folgt noch der Rest aus seinem Saftglas. Danach dreht er sich grinsend um und geht hinaus. Sein Kumpel bleibt noch einen Moment stehen und es sieht so aus, als wollte er sein Mittagessen auch noch dazu kippen. Doch plötzlich kommen von der Tür her energische Schritte und Herr Buntze, gefolgt von der Küchenangestellten bahnt sich einen Weg durch die umstehenden Schüler.

„Was ist hier los?“, will er wissen. Ich mache schon einen Schritt nach vorn um ihn aufzuklären, da hebt Gregor den Kopf.

„Ich schätze, ich war etwas unaufmerksam, Herr Buntze.“ Seine Stimme klingt völlig ruhig und ich staune Bauklötze. Der Schulleiter schaut zweifelnd von ihm zu dem älteren Schüler. Der sagt nichts, aber ich habe den Eindruck, der Direktor versteht auch so, dass es nicht die ganze Wahrheit ist, was er hier zu hören bekam.

„Unaufmerksam?“, wendet er sich wieder an Gregor.

„Ja, Herr Buntze. Ich hole mir jetzt Lappen und Eimer und werde das wegmachen.“ Damit dreht er sich um und will gehen. Der Schulleiter zögert, scheint noch etwas sagen zu wollen, doch dann spricht er stattdessen die herumstehenden Schüler an.

„Die Mittagspause ist bald zu Ende. Wenn Sie noch etwas essen wollen, dann stehen Sie nicht herum.“ Damit wendet er sich brüsk ab und verlässt mit gerunzelter Stirn den Speisesaal. Die Umstehenden zerstreuen sich, die Gespräche setzen allmählich wieder ein. Der ältere Schüler beugt sich zu Gregor und sagt: „Klug von dir, Kleiner.“ Anschließend geht er zu einem der Tische, scheucht ein paar Jüngere weg, setzt sich und beginnt zu essen. Gregor geht zur Ausgabe und spricht eine der dort arbeitenden Frauen an. Sie verschwindet und kommt kurz darauf mit einem Eimer Wasser und verschiedenen Putzutensilien zurück. Ich bringe mein leeres Tablett zurück in die Ablage und geselle mich zu ihm. Ohne zu fragen stelle ich meinen Rucksack ab, gehe neben ihm in die Knie und greife nach einem Lappen. Gregors Kopf fliegt hoch und ich erschrecke etwas über die Wut, die in seinen Augen aufblitzt, als er mich anfährt: „Was willst du hier? Ich brauch´ deine Hilfe nicht.“

Er macht Anstalten, mir den Lappen aus der Hand zu reißen, doch ich habe das vorhergesehen und ziehe sie rasch weg. Betont gleichgültig antworte ich: „Das weiß ich. Aber falls du es nicht gemerkt hast, fängt der Unterricht in zwanzig Minuten wieder an. Bis dahin bist du nie fertig mit dieser Sauerei.“

Damit schnappe ich mir das erste Heft und fange an, es von dem Spaghetti/Sossen/Saft – Gemisch zu befreien, ohne Gregor noch weiter zu beachten. Er zögert noch einen Moment und innerlich wappne ich mich bereits gegen eine neuerliche Abfuhr, doch stattdessen nimmt er schließlich auch einen Lappen und beginnt zu wischen. Es ist eine mistige Arbeit. Die Soße ist überall in den Heften und Büchern und hinterlässt blass rote Flecken, die nicht verschwinden, egal was wir tun. Obwohl wir zu zweit arbeiten, sind wir noch nicht fertig, bis der Speisesaal sich geleert hat und der Gong zur nächsten Stunde durch das Gebäude hallt. Zum Glück bietet dann aber eine der Küchenhilfen an, den Boden aufzuwischen, aber trotzdem müssen wir zum Unterricht rennen und sind etwa zehn Minuten zu spät.

Der Englischlehrer steht schon an der Tafel, als wir ins Klassenzimmer schlüpfen, sagt aber zum Glück nichts. Vielleicht hat er schon gehört was vorgefallen ist? Gregor lässt sich ohne ein weiteres Wort auf seinen Stuhl fallen und so steuere auch ich ohne Umschweife meinen Platz an. Ich komme an Markus vorbei und er zieht fragend die Augenbrauen hoch. Ich versuche, ihm mit einem Blick zu bedeuten, dass nichts ist und sinke dann erleichtert auf meinen Stuhl.

Während der restlichen Englischstunde kann ich mich zunächst kaum konzentrieren. Die Sache im Speisesaal hat mich stärker mitgenommen, als ich gedacht habe. Fragt sich nur wieso?

Zum Glück scheint der Englischlehrer – wie hieß er doch noch gleich? - mich in dieser Stunde mehr oder weniger zu ignorieren. Ich wäre wohl nicht in der Lage gewesen, auch nur eine einzige Frage korrekt zu beantworten. Aber so langsam flaut der Adrenalinschub dann doch wieder ab und als die Stunde vorbei ist, fühle ich mich wieder als Herr meiner selbst. Das ist auch gut so, denn natürlich kommt Markus in der kurzen Pause sofort zu mir rüber und will wissen, was los gewesen ist. Er und seine Clique haben die Szene im Speisesaal nicht selbst mitbekommen, weil sie in der Mittagspause draußen waren. Aber bei der Rückkehr in den Klassenraum haben sie offenbar ein paar Gesprächsfetzen der anderen Schüler aufgeschnappt, die vom Essen kamen. Und jetzt will Markus genau wissen, was sich abgespielt hat.

Ich gebe ihm eine kurze Zusammenfassung und als ich zu der Stelle komme, wo ich Gregor geholfen habe, die Sauerei zu beseitigen, unterbricht er mich erstaunt.

„Wieso hast du das denn gemacht?“ Er scheint tatsächlich neugierig auf meine Erklärung zu sein und ich schaue vermutlich ziemlich dämlich aus der Wäsche als ich antworte: „Weil es nun mal nicht in Ordnung war, wie diese beiden Arschlöcher sich verhalten haben und so was kotzt mich haltan!“ Er hebt beschwichtigend beide Hände.

„Hey, ist ja okay! Aber sei froh, dass es so ausgegangen ist. Die beiden Typen kenne ich. Die sind beide in der Handballmannschaft. Wo die hinlangen wächst so schnell nichts mehr. Die suchen regelmäßig Streit. Wenn die nächstes Jahr mit der Schule fertig sind, wird es ´ne Menge Leute geben, die ihnen keine Träne nachweinen. Selbst innerhalb der Mannschaft machen die mehr Probleme, als sie wert sind, wenn du mich fragst.“ Er schweigt einen Moment. „Und?“, will er dann wissen, „Hat sich Gregor wenigstens bedankt?“

„Nein“, antworte ich, „aber das braucht er auch nicht. Immerhin hat er ja deutlich gesagt, dass er meine Hilfe nicht wollte. Das war ganz allein meine Entscheidung.“ Während ich noch rede, fixiert Markus plötzlich einen Punkt hinter mir. Als ich geendet habe, drehe ich mich um und – stehe natürlich prompt Gregor gegenüber. Hat er gehört, was ich gesagt habe? Anscheinend. In seinem Gesicht arbeitet es und die vorherige Gleichgültigkeit und Distanziertheit ist daraus verschwunden. Einen Moment lang starrt er mich nur an, dann presst er ein „Danke“ hervor, macht auf dem Absatz kehrt und geht zurück zu seinem Platz.

Ich bin so überrascht, dass ich nichts erwidern kann und auch Markus hat es die Sprache verschlagen. Erst der Gong reißt uns aus unserer Erstarrung.

„Wow, das war ja echt strange!“, ist alles, was Markus zu sagen weiß. Als ich mich umsehe, werde ich gewahr, dass eine Menge Blicke auf mich gerichtet sind und – mal wieder! – viele Köpfe zusammengesteckt werden. Miki, Daniela, Max und Antonio starren mich mit grossen Augen an.

„Was?“, will ich wissen. „Was ist los?“ Markus klopft mir auf die Schulter.

„Junge, du bist ein Phänomen! Noch keinen Tag an der Schule und und der Freak spricht von sich aus mit dir. Das ist hier echt noch niemandem passiert!“ Aber da grinst er schon wieder und mir ist nicht so ganz klar, ob er mich auf nur auf den Arm nimmt. Sagen kann ich allerdings nicht mehr viel, denn die Tür zum Klassenzimmer öffnet sich und der Geschichtslehrer tritt ein.

Der Rest des Tages ist angefüllt mit viel intensiver Arbeit. Ich bekomme von allen Lehrern Arbeitsblätter, mit denen sie meinen Stand in ihren Fächern abfragen wollen. Dazu Listen mit Büchern, die ich mir in der Schulbibliothek ausleihen soll, um fehlenden Stoff aufzuholen. So wie es aussieht, werde ich die nächsten Tage und Wochen wirklich nicht viel Zeit haben um zu malen.

Nach dem Unterricht mache ich mich also als Erstes auf den Weg in die Bibliothek und eine Dreiviertelstunde später stapfe ich, beladen mit einem Bücherstapel und meinem Rucksack die Treppe hinauf, auf dem Weg zu meinem Zimmer. Als ich dort ankomme und mit einer Hand nach der Türklinke angele, während ich mit der anderen versuche, die Bücher am Absturz zu hindern, wird die Tür plötzlich von innen geöffnet. Ich bekomme einen Stoß, der gesamte Stapel gerät ins Wanken und fällt dann mit vernehmlichem Gepolter zu Boden.

„Scheiße!“, fluche ich herzhaft. Dieser Tag hat es ja echt in sich. Im Türspalt erscheint Gregor. Mit einem Blick erfasst er die Lage, bückt sich und will die Bücher aufsammeln. Leider habe ich die gleiche Idee und als wir uns hinunterbeugen, knallt es und ich sehe für einen Moment Sternchen. Der Zusammenprall ist so heftig, dass ich tatsächlich etwas benommen bin und mich auf den Boden setzen muss. Gleich darauf finde ich mich jedoch auf meinem Bett wieder und habe keine Ahnung, wie ich dort gelandet bin.

Gregor kommt gerade herein und packt eine Ladung Bücher auf meinen Schreibtisch. Ich reibe mir die Stirn und spüre unter meinen Fingern deutlich eine Beule über der rechten Augenbraue. Mein Zimmergenosse nähert sich und sieht mich prüfend an. Auch er hat eine rote Beule auf der Stirn, aber ihn scheint es nicht so heftig erwischt zu haben.

„Geht`s wieder?“, fragt er mich kühl und ich nicke. „Soll ich dir einen kalten Lappen holen, oder sowas?“

„Nein, das wird nicht nötig sein.“ Ich stehe auf.

„Übrigens nochmal danke für deine Hilfe heute Mittag.“ Noch immer dieser kühle, kontrollierte Tonfall. Ich sehe ihn überrascht an. Dann schüttele ich langsam den Kopf.

„Du brauchst dich nicht zu bedanken. Das war selbstverständlich.“ Und da bemerke ich zum ersten Mal einen Riss in seiner kühlen Fassade, wenn auch nur für einen Moment. Er hat sich sofort wieder im Griff und seine Stimme klingt so beherrscht wie zuvor als er sagt: „Trotzdem. Danke nochmal.“

Damit wendet er sich wieder seinem eigenen Schreibtisch zu und überlässt mich mir selbst. Ich mache mich dann mit schmerzendem Kopf daran, meine Bücher und Unterrichtsunterlagen zu ordnen und mir einen Arbeitsplan zurechtzulegen. Schließlich habe ich mehrere ordentliche Stapel aus Heften und Büchern gebildet, die drei Viertel meines Schreibtisches bedecken. Jetzt kann ich mich den Hausaufgaben und den Arbeitsblättern widmen.

Ich seufze. Mit jeder Faser meines Körpers sehne ich mich danach, den ganzen Krempel in die Ecke zu pfeffern und mein Skizzenbuch hervorzuholen. Aber das geht jetzt nicht, soviel ist selbst mir klar. Widerwillig mache ich mich an die Arbeit und tauche erst wieder aus meinen Büchern auf, als es klopft. Ich drehe mich zur Tür und noch bevor ich „Herein.“ rufen kann, schauen Max und Markus durch den Türspalt.

„Hey, Jannis – sag´ bloss du sitzt immer noch über deinen Schulbüchern?“ Ich zucke missmutig die Schultern.

„Naja, was bleibt mir denn übrig? Die Pauker haben mich derartig eingedeckt, dass ich ernsthaft überlege, ob ich eine Nachtschicht einlegen muss.“ Markus wedelt mit gespieltem Entsetzen mit den Händen.

„Ey, mach´ das bloss nicht! Zuwenig Schlaf ist Gift für dein gutes Aussehen, Mann! Wie willst du denn da am Wochenende die Chicas beeindrucken?“ Ich starre ihn verständnislos an.

„Wieso?“

„Na, am Wochenende ist drüben in der Stadt Schützenfest. Das ist zwar nicht unbedingt der Burner was Feten angeht, aber hier ist so wenig los, dass so gut wie alle, die am Wochenende hier sind am Samstag auf den Discoabend gehen. Diesen Freitag und Samstag haben wir ausnahmsweise Ausgang bis Mitternacht, nur wegen dem Fest! Das ist die Gelegenheit ein paar Tussis aufzureißen.“ Ich schaue verdutzt.

„Und was ist mit Daniela?“ Markus grinst.

„Meine Süsse wird immer den ersten Platz in meinem Herzen einnehmen.“ Er wirft sich pathetisch in die Brust. „Aber sie wird dieses Wochenende nicht hier sein. Und irgendwie muss ich mich ja von dem Trennungsschmerz ablenken, oder?“ Max neben ihm schüttelt den Kopf.

„Du bist echt so ein Arschloch, weißt du das? Sowas wie Daniela hast du echt nicht verdient!“ Markus lacht.

„Hey, Mann – war doch nur Spaß! Du kennst mich doch!“ Dann wendet er sich wieder an mich: „Wie sieht`s aus? Lust mitzukommen? Ich könnte mir vorstellen, dass du ´nen ziemlichen Schlag bei den Mädels hast.“ Ich überlege nur kurz, die Versuchung hält sich in Grenzen.

„Nein, ich glaub´ nicht. Ich werde eher versuchen, mit diesem Mist hier übers Wochenende so weit wie möglich fertig zu werden. Vielleicht das nächste Mal.“

„Na gut. Dann eben nicht. Aber vielleicht möchtest du ja mit uns zum Essen kommen? Ist nämlich schon kurz vor sieben.“ Ich nicke und werfe einen raschen Blick auf die Uhr. Tatsächlich, kurz vor sieben. Also habe ich fast drei Stunden über meinen Schulsachen gebrütet! Ich lasse meinen Stift auf den Schreibtisch fallen und stehe auf. Bei einem raschen Seitenblick zu meinem Zimmergenossen stelle ich fest, dass er ebenfalls noch über seine Hefte gebeugt sitzt.