Noah - Unsichtbare Ketten - Adora Belle - E-Book

Noah - Unsichtbare Ketten E-Book

Adora Belle

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Beschreibung

Zehn Jahre hat Noah als Sklave in einem Bordell arbeiten müssen und ist darüber sogar zum Säufer geworden. Dann gelingt es seinem älteren Bruder, ihn freizukaufen. Doch Noah kann ihm dafür nicht danken, zu tief sind die seelischen Wunden, die er davongetragen hat. Stattdessen flüchtet er ohne zu überlegen. Sein Weg führt ihn hinaus aus der Stadt und im bald darauf einsetzenden Delirium auch weg von jeder gangbaren Straße, sodass es so aussieht, als würde die Wüste sein frühes Grab. Dass dem am Ende nicht so ist, verdankt er einem gütigen Schicksal, welches ihn zu Tu`al führt, einem Angehörigen der Almuran, nomadischer Wüstenbewohner. Dieser fühlt sich dem Kodex seines Volkes verpflichtet und nimmt sich darum des Jungen an. Er beschließt, Noah, die widerspenstige Kratzbürste, mit in sein Dorf zu nehmen, damit er sich dort erholen kann, bevor er seine Reise fortsetzt, denn auf sich allein gestellt wäre er in der Weite der Wüste verloren. Keiner der beiden rechnet allerdings damit, dass sie sich sehr schnell voneinander angezogen fühlen. Alles könnte ganz einfach sein, ist es aber nicht, denn Noahs Vergangenheit und der Kodex der Almuran, welcher Prostitution als eine der schwersten Sünden betrachtet, stellen schier unüberwindliche Hindernisse dar ... (Anmerkung der Autorin: Bei der vorliegenden Geschichte handelt es sich um ein Prequel zu "Lauryn". Wer es gelesen hat, wird Noah und auch Tu`al sicher wiedererkennen. Trotzdem sind beide Bücher unabhängig voneinander lesbar und stellen jeweils eine eigene, abgeschlossene Geschichte dar.)

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Adora Belle

Noah - Unsichtbare Ketten

Gay Romance

Diesmal geht mein Dank besonders an Caro Sodar, welcher es gelungen ist, meinem Bild von "Noah" mit Hilfe eines wunderbaren Covers Leben einzuhauchen!BookRix GmbH & Co. KG80331 München

Tu`al

 

 

 

 

 

Der Horizont flimmerte unter der starken Sonneneinstrahlung und Tu`al kniff die Augen zusammen. Er war die glühende Weite der Wüste gewöhnt und täuschte sich selten, aber die Bewegung dort draußen war … seltsam. Ein Mensch? Zu Fuß? So weit entfernt von der üblichen Karawanenroute? Konnte das sein?

Hierher verirrte sich so gut wie nie jemand, abgesehen von anderen Mitgliedern eines Clans der Almuran und danach sah derjenige dort draußen nicht wirklich aus.

Er beschloss sich die Sache aus der Nähe anzusehen, zumal die heftig schwankende Gangart der Person zumindest den Verdacht nahelegte, dass er oder sie Hilfe benötigte.

Ein missmutiger Laut entkam ihm. Wer war so verrückt, sich ohne Reittier und Ausrüstung bis hierher zu kämpfen? Das kam einem sicheren Todesurteil gleich! - Oder sollte es sich um das Opfer eines Überfalls handeln?„Hutt hutt!“, machte er und stieß seinem Pferd die Fersen in die Seiten. Fast aus dem Stand verfiel das Tier in einen raschen Trab und dann sofort in Galopp, dass der lockere Sand zu beiden Seiten des Reiters aufstäubte und der blaue Mantel seinen kräftigen Körper umwehte.

Kurze Zeit später hatte Tu`al die fremde Gestalt erreicht und fand seinen Eindruck bestätigt. Torkelnd stapfte ein junger Mann dort durch den Sand, stierte wild in die Gegend, schien aber weder ihn, noch seine Umgebung wirklich wahrzunehmen. Fortwährend brabbelte er unverständlich vor sich hin und wedelte wild mit den Armen, als gelte es, irgendwelche Insekten- oder Vogelschwärme zu verscheuchen. Sein Kopf war unbedeckt, das Gesicht tiefrot und sonnenverbrannt, ebenso wie die Haut an seinen Armen und Beinen, denn er trug lediglich eine kurze, schmutzige Tunika und sonst nichts. Vorn auf der Brust klebten Reste von Erbrochenem und auch seine Beine waren verkrustet, als hätte er sich selbst beschmutzt. Schulterlanges, schwarzes Haar stand wild und völlig verfilzt um seinen Kopf und die weit aufgerissenen Augen traten ihm schier aus den Höhlen.

War er verrückt? Oder hatte er womöglich irgendeine gefährliche Krankheit? Eine Seuche?

Tu`al zögerte. Sollte er sich dem Mann weiter nähern oder besser Abstand wahren um sich nicht anzustecken? Als Anführer seines Clans trug er die Verantwortung für das Wohlergehen vieler Menschen. Er durfte nicht riskieren, eine ansteckende Krankheit ins Dorf zu schleppen!

Doch der Andere tat ihm leid. Dem Aussehen nach war er noch kaum den Kinderschuhen entwachsen und alles in dem Wüstenkrieger wehrte sich gegen die Vorstellung, ihn einfach hilflos seinem Schicksal zu überlassen. Aber was konnte er tun?

Entschlossen stieg Tu`al aus dem Sattel und näherte sich dem Jungen. Säuerlicher Gestank nach Schweiß und anderen Körpersäften stieg ihm in die Nase und er verzog kurz das Gesicht.

„Messire?“, versuchte er es, erntete aber keine wirklich Reaktion. „Messire!“ Er streckte die Hand aus und fasste nach der Schulter des Jungen, der ihm mittlerweile seine Kehrseite zugewandt hatte, als wäre er gar nicht vorhanden. „Bitte, lasst mich euch helfen!“

Der Andere erstarrte, sein Gemurmel verstummte. Langsam drehte er sich um und Tu`al hatte das erste Mal den Eindruck, dass der Junge ihn tatsächlich wahrnahm. Doch im nächsten Augenblick sprang er ihn an, wie ein wildes Tier, überrumpelte den kampferprobten Wüstenkrieger derart, dass dieser tatsächlich auf dem Rücken im Sand landete. Mit einem gellenden Kreischen stürzte der Junge sich auf ihn, drosch mit Fäusten auf ihn ein und Tu`al hatte alle Mühe, die wild rudernden Arme einzufangen und sich der Schläge zu erwehren, die auf ihn einprasselten.

Schließlich jedoch hatte er es geschafft, drehte den Spieß um und presste den Tobenden nun seinerseits zu Boden. Und dann, wiederum von einem Augenblick zum nächsten, erschlaffte die magere Gestalt, der Junge verdrehte die Augen und verlor das Bewusstsein.

Keuchend sah Tu`al auf ihn hinunter und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Er erhob sich auf die Knie und schwang sich von dem Bewusstlosen herunter, unterdrückte seinen Ekel und beugte sich zu dessen Lippen, um zu prüfen, ob er noch atmete. Das schien durchaus der Fall zu sein, allerdings schlug der Puls unter der dünnen Haut des Halses schnell wie der eines Wüstenkaninchens und das war gar nicht gut. Der Junge war sichtlich ausgetrocknet und Tu`al fragte sich, wie lange er wohl schon so durch die Wüste torkelte.

Als Erstes musste er demnach aus der Sonne und der Almuran wusste auch schon, wohin. Nicht weit entfernt gab es eine Felsgruppe, unter der sich eine kleine Höhle mit einer Quelle verbarg. Ein gut gehütetes Geheimnis der Almuran.

Als er selbst wieder zu Atem gekommen war, hob er den Jungen daher auf seine Arme und war überrascht, wie leicht das vonstatten ging. Der Kleine schien praktisch nichts zu wiegen und buchstäblich aus Haut und Knochen zu bestehen. Er bettete den schmalen Körper quer über den Rücken seines Pferdes und nahm das Tier dann am Zügel um es zu führen.

Noah

 

 

 

 

 

Noah fuhr mit einem Aufkeuchen in die Höhe. Er hatte das Gefühl zu ersticken, setzte sich auf und im nächsten Moment beugte er sich würgend zur Seite. Sein Magen war leer, doch er spuckte eine Portion schleimiger Galle in den feinen Sand, ehe seine Eingeweide wieder zur Ruhe kamen. Heftig atmend sank er zurück und schloss erneut die Augen.

Wo war er?

Er drehte im Liegen den Kopf und sah steinerne Wände. Heller, glattgewaschener Stein, flimmernde Reflexe, trockener Sandboden unter seinen Händen und das unverkennbare Geräusch leise plätschernden Wassers. Eine Quelle? In einer … Höhle?

Erneut richtete er sich auf und sah sich um. Er lag auf einer Decke, eine zweite war über seinen nackten Körper gebreitet und … Moment? Er war nackt? Wieso das? Und wer hatte ihn ausgezogen?

Gehetzt ließ er seine Blicke durch die Höhle schweifen, sah aber niemanden. Ein Pferd stand angepflockt und mit einem vorgebundenen Futtersack in der Nähe einer schmalen Öffnung in der Felswand, vermutlich der Ausgang, aber keine Menschenseele war zu sehen. Allerdings entdeckte Noah jetzt eine Feuerstelle, in der es noch glimmte, fast unmittelbar neben sich und auf deren gegenüberliegender Seite ein zweites Deckenlager. Und ein Stück weit entfernt sah er seine eigene Tunika auf einem Stein ausgebreitet.

Wo war der Rest seiner Kleidung? Und sein Gepäck? Gewiss, es war nicht viel gewesen, nur ein schäbiger Beutel, aber immerhin hatte er seine gesamten weltlichen Besitztümer enthalten.

Sein Kopf schmerzte noch immer, seine Hände zitterten und Kälteschauer liefen über seinen Körper. Jede Faser seines Körpers schien nach etwas zu trinken zu verlangen und stöhnend krampfte Noah sich zusammen, als ein heftiger Leibschmerz ihn durchzog.

„Hast du Durst?“ Die Stimme kam vom Eingang her und Noah hob mühsam den Kopf. Er sah, dass sie einem hochgewachsenen Mann in dunkelblauem Gewand gehörte, verschleiert bis auf Nase und Augen. Ein Benvashedan demnach, einer der berühmten Wüstenbewohner, der sich ihm jetzt lautlos näherte.

Hieß das also, er war vom Pfad abgekommen und mitten in die Wüste hineingelaufen? Soviel er wusste, verließen die Benvashedan nur selten ihre angestammten, sandigen Weiten.

Er nickte. Ob er Durst hatte? Oh ja! Und wie!

Im nächsten Augenblick starrte er ungläubig auf den Wasserschlauch, den der Fremde ihm hinhielt.

„Wasser?“, ächzte er und schnaubte verächtlich. „Hast du nicht was Richtiges?“ Nun war es an seinem Gegenüber, erstaunt die Brauen zu wölben.

„Etwas Richtiges?“

„Na, was Hartes!“, erklärte er. „Branntwein? Schnaps? Von mir aus auch Bier?“ Der Benvashedan ließ den Arm mit dem Wasserschlauch sinken.

„Nein“, sagte er ruhig. „Alkohol ist uns Almuran verboten.“

„Verfluchte Scheiße!“ Noah krümmte sich erneut unter dem Ansturm eines schmerzhaften Krampfes in seinen Eingeweiden. Der Wüstenkrieger streckte ihm noch einmal das Wasser hin und er war versucht, es ihm aus der Hand zu schlagen, fühlte sich aber zu schwach dafür.

„Dein Körper braucht dringend Flüssigkeit. Du hast dich übergeben und selbst beschmutzt, während du durch die Wüste geirrt bist. Ich habe dir zwar, so gut es ging, etwas eingeflößt, nachdem ich dich gewaschen hatte, aber das war noch längst nicht genug. Also trink`!“

„Was ich brauche, ist ein ordentlicher Schluck Schnaps! Aber das kapierst du bestimmt nicht!“, konterte Noah ungehalten.

„Nein.“ Der Benvashedan schüttelte den Kopf. „Du glaubst nur, dass du das brauchst. Du bist schwach und erbärmlich, weil dich der Alkohol in seinen Klauen hat! Als ich dich in der Wüste fand, wusstest du weder wo du bist, noch wer ich bin. Du hast irre vor dich hin gebrabbelt wie ein schwachsinniges, altes Weib, hattest dich vollgekotzt und bepisst und trugst als einziges noch deine stinkende Tunika am Leib! Ist es das, was du willst?“

Noah starrte böse zu ihm herauf. Er fühlte seine Wangen heiß werden aus Scham, doch der Wunsch nach etwas zu trinken war stärker. Und dass er keinen Alkohol in Reichweite hatte, machte es nicht besser …

„Verfluchter, dreckiger Schwanzlutscher!“, fauchte er. „Elendes Schwein! Hurensohn! - Aaah!“ Verzweifelt schlang er die Arme um seine Mitte und zog die Knie an. Der Schmerz war fast unerträglich. Als der Krampf endlich abebbte, atmete er tief und zittrig ein und wandte sich dann erneut an den Benvashedan. „Ich brauche nicht viel!“, flehte er. „Ein Becher voll! Oder zwei! Hast du wirklich überhaupt nichts bei dir?“ Sein Gegenüber schüttelte den Kopf.

„Wie ich schon sagte – es ist uns verboten, Alkohol zu trinken!“, erwiderte er ernsthaft. Noah starrte ihn einen Moment lang an, dann begann er zu grinsen.

„Weißt du was?“, sagte er. „Du erinnerst mich an jemanden! An meinen großen Bruder! Oder vielleicht sollte ich besser sagen, er hätte so sein sollen wie du! Vielleicht wäre ich dann heute nicht so … wie hast du mich genannt? - erbärmlich und schwach? Wenn er seinen Job richtig gemacht und auf mich aufgepasst hätte wäre ich vielleicht kein versoffener Schwächling! Aber er hat sich einen Scheißdreck um mich geschert! Hat zugelassen, dass sie mich in ein Bordell schleppen und als Hure verkaufen!“ Er kniff lauernd die Augen zusammen und musterte den Wüstenkrieger. „Was denn?“, fuhr er dann fort. „Stört es dich etwa gar nicht, dass ich eine Hure bin? Was sagt denn euer Kodex darüber? Hast du eine Vorstellung davon, wie viele Kerle mir ihren Schwanz in den Arsch geschoben haben? Ich hab` schon vor einer Ewigkeit aufgehört zu zählen!“ Jetzt lachte er lauthals, hielt sich dabei aber immer noch den schmerzenden Leib. „Das erste Mal war ich noch keine elf Jahre alt! - Kannst du dir vorstellen wie das ist? Wie krank muss man sein, um einem Kind so was anzutun? Nur mein feiner Herr Bruder – der hat was aus sich gemacht! ... Ihn haben sie auch zur Hurerei gezwungen, aber er hat scheinbar Gefallen daran gefunden! Ist inzwischen eine große Nummer in Zyrs Bordell! Hat sich freigekauft und arbeitet heute auf eigene Rechnung! Pah!“ Er schnaubte abfällig. „Eine dreckige Hure! Das ist er und wird er auch immer bleiben! Scheißegal wie viel Geld er damit verdient!“ Er hob den Blick und stierte den Benvashedan mit wildem Blick an. „Ja, ich trinke! Ich hab` eben was gebraucht, was mich vergessen lässt! Oder denkst du, es macht Spaß jeden Tag mit einem Dutzend schmutziger, stinkender Kerle für eine Handvoll Kupfermünzen Sex zu haben? - Aber was rede ich? Jemand wie du versteht das sowieso nicht! Du lebst hier draußen in der Wüste, befolgst deinen komischen Kodex und kennst nur schwarz oder weiß! Die Grautöne dazwischen …“, er brach ab und machte eine wegwerfende Handbewegung, ehe er sich mühte, auf die Füße zu kommen.

Als er schließlich schwankend auf eigenen Beinen stand, stakste er zu dem Felsen hinüber, auf welchem seine Tunika lag und mühte sich, das noch leicht feuchte Kleidungsstück über seinen Kopf zu streifen.

„Was wird das?“, hörte er den Mann aus der Wüste fragen.

„Wonach sieht es denn aus?“, fragte er zurück. „Ich brauche was zu trinken und du hast nichts hier! Abgesehen davon machst du nicht den Eindruck, als freust du dich über meine Gesellschaft, was – ehrlich gesagt – auf Gegenseitigkeit beruht. Also verschwinde ich von hier. Wenn ich Glück habe, schaffe ich es raus aus dieser verfluchten Sandwüste und irgendwohin, wo es was Anständiges zu trinken gibt. Falls nicht – tja, dann haben die Geier bald was zu fressen! Ich würde dir ja was geben, um mich für deine Hilfe zu bedanken, aber leider habe ich nichts und an meinem Arsch hast du sicher kein Interesse! Also?“

Noah wandte sich zum Höhleneingang, doch kaum war er ins Freie getreten und die brennende Hitze traf seinen Körper, taumelte er und musste sich am Felsen festhalten, um nicht in die Knie zu gehen. Nur einen Moment später fassten kräftige Hände unter seine Achseln, der Benvashedan legte sich seinen Arm um die Schultern und führte ihn zu seinem Lager zurück, wo er sich aufstöhnend niedersinken ließ. Alles drehte sich um ihn und er schlug beide Hände vor die Augen. Der Andere sollte nicht sehen, wie verzweifelt er war. Mit einem erstickten Laut wälzte er sich auf die Seite, zog die Beine an den Unterleib und rollte sich zu einer Kugel zusammen, während er sich darauf konzentrierte, tief und langsam zu atmen und das Schluchzen, welches in seiner Kehle lauerte, nicht entkommen zu lassen. 

Tu`al

 

 

 

 

 

Tu`al schaute auf den bedauernswerten Jungen hinunter, bemerkte wohl, wie sehr der sich bemühte, seine Fassade aufrecht zu erhalten. Trotz, Wut, Schmerz, alles das hatte er hinter den Worten, die er ihm eben entgegengeschleudert hatte, wahrgenommen. Und wenn es stimmte, was er sagte, dass er als Kind in ein Leben als Bordellsklave verkauft worden und seit seinem elften Lebensjahr gezwungen gewesen war, sich zu prostituieren, dann war das auch beileibe kein Wunder.

Er beugte sich hinunter und breitete die dünne Decke wieder über den mageren Körper, worauf der Junge zusammenzuckte. Doch Tu`al schwieg und entfernte sich wieder von ihm.

Im Bemühen seine Gedanken zu ordnen, trat er an den Höhlenausgang und starrte hinaus in die blendende Helligkeit des Nachmittags.

Er wusste nun, dass der Junge keine Krankheit oder gar Seuche in sich trug, sondern wohl eher mit etwas kämpfte, was sein Volk als Ifrith-lok`ur bezeichnete, den Teufel im Alkohol. Zwar hatte er nie selbst miterlebt wie so etwas ablief, aber rein theoretisch wusste er aus Erzählungen, dass Männer die gewohnheitsmäßig tranken, Gefahr liefen, am Ende ihre Seele an die Trunksucht zu verlieren. Sie mussten dann immer mehr und immer weiter trinken und wenn sie es nicht taten, wurden sie krank, redeten irre und konnten auch durchaus daran zugrunde gehen. Unter anderem deshalb war den Almuran Alkohol strikt verboten.

Wie alt mochte der Junge sein? Und wann hatte er wohl begonnen zu trinken?

Wenn er tatsächlich seit seinem elften Lebensjahr ein Bordellsklave gewesen war, vermutlich nicht sehr viel später.Tu`als Blick wanderte zu der liegenden Gestalt. Es war schwer, das Alter des Kleinen vernünftig einzuschätzen. Er war dünn, bis an die Grenze zur Magerkeit und die Augen waren schon längst nicht mehr die eines jungen Mannes. Sie mochten vorhin, als er ihm seine Wut entgegengeschleudert hatte, wild gefunkelt haben, doch darunter waren sie stumpf, wie die eines Menschen, der zu viel gesehen und erlebt und sich deshalb aufgegeben hatte.

Er löste sich von der Felswand und ging langsam zur Feuerstelle zurück, ließ sich auf sein eigenes Lager sinken und stützte das Kinn in die Hand, als er den knochigen Umriss auf der anderen Seite der flackernden Flammen betrachtete.

Was sollte er tun? Den Jungen mit in sein Dorf nehmen? Würde der das überhaupt wollen? Abgesehen davon, dass er in seinem jetzigen Zustand gar nicht in der Lage wäre, den Weg dorthin zu schaffen. Nicht einmal wenn er ihn auf dem Pferd hinter sich nahm. Nachts herrschte Frost in diesem Teil der Wüste, also müssten sie tagsüber reisen, doch die Hitze hatte ihn ja vorhin sofort zusammenbrechen lassen.

Tu`al seufzte. Wieso hatte er sich diese Last an den Hals geladen? Es wäre so einfach gewesen, den Jungen dort draußen sich selbst zu überlassen. Warum hatte er unbedingt nachsehen müssen, was dort war? Und weshalb hatte er dann nicht seinem ersten Impuls nachgegeben und war weiter geritten?

„Weil du ein sentimentaler, gefühlsduseliger Idiot bist, darum!“, schalt er sich selbst. „Irgendwann wirst du dich nochmal in gewaltige Schwierigkeiten bringen mit deiner Art!“

Nun, solange es nur um ihn allein ging, war das kein Problem. Aber er durfte nicht vergessen, dass sein gesamter Clan von ihm abhängig war – in gewisser Weise. Er war ihr Anführer, er traf die wichtigen Entscheidungen. Wenn er dabei Fehler machte und sich von seinem weichen Herzen leiten ließ, mussten also unter Umständen alle darunter leiden. Aber zum Glück handelte es sich im Augenblick ja nur um einen einzelnen Jungen im Ifrith-lok`ur, mit dem würde er schon noch fertig werden!

Mit einem weiteren Seufzer fasste er in sein Gewand und schloss die Finger um seinen To`ravel, sein Clanabzeichen, welches er um den Hals trug, als ihm klar wurde, dass seine Entscheidung eigentlich längst feststand: er würde bei dem Jungen bleiben und ihm helfen, bis er kräftig genug war, ihn in sein Dorf zu begleiten. Ob dieser das nun wollte oder nicht …  

Noah

 

 

 

 

 

 Das nächste Erwachen war etwas angenehmer als beim ersten Mal. Die Schmerzen in den Eingeweiden hatten nachgelassen und er war sogar hungrig. Noah konnte sich nicht mehr erinnern, wann er das letzte Mal wirklich hungrig gewesen war. Das Wichtigste war schon lange Zeit immer nur der nächste Becher Schnaps gewesen und Essen daneben uninteressant.

Schnuppernd hob er die Nase, weil der unverkennbare Duft gebratenen Fleisches durch die Höhle zog. Neugierig richtete er sich auf und sah den Benvashedan auf der anderen Seite des Feuers sitzen und an einem Stück Fleisch kauen. Diesmal hatte er den Gesichtsschleier abgelegt und trug nur den typischen, dunkelblauen Mantel, in dessen Gürtel ein gebogener Dolch steckte.

„Hungrig?“ Sein Gegenüber lächelte und machte eine einladende Geste hin zu einem knusprig aussehenden kleinen Tier – ein Kaninchen? - welches auf einem Stock steckte, den er aufrecht mit einem Ende in den weichen Sandboden gesteckt hatte. „Greif` zu!“

Das ließ Noah sich nicht zwei Mal sagen, beugte sich zu dem Miniaturbraten und zupfte vorsichtig ein Stück Fleisch ab. Genüsslich steckte er es sich in den Mund und kaute, wobei ihm der Bratensaft über die Finger lief.

„Ich bin übrigens Tu`al ibn Gedak vom Clan der Osreth.“ Der Benvashedan tippte mit den Fingern seiner Rechten flüchtig an seine Stirn und neigte den Kopf ein wenig im traditionellen Gruß. „Vielleicht ein bisschen spät um sich vorzustellen, aber immerhin“, meinte er dann. Noah leckte die Finger ab und bemühte sich, etwas verlegen, die Geste zu erwidern.

„Ich bin Noah“, sagte er. „Und einen Clan habe ich nicht.“

Schweigend aßen sie, nur ein Mal mahnte Tu`al ihn langsamer zu essen, damit er nicht gleich alles wieder von sich geben musste und er ertappte sich dabei, wie er der Mahnung, ohne zu überlegen, Folge leistete. Anschließend spülte er alles mit frischem, kühlem Quellwasser hinunter und fühlte sich angenehm satt und zufrieden. Hätte er jetzt noch einen Becher Schnaps oder Wein gehabt, der Augenblick wäre perfekt gewesen.

Der Benvashedan hatte seine Mahlzeit ebenfalls beendet, reinigte seine Hände und kramte anschließend in einer ledernen Satteltasche. Er förderte eine Pfeife mit langem, dünnem Stiel zutage, welche er mit Tabak aus einem bunt bestickten Beutel stopfte. Mit einem Span aus dem Lagerfeuer entzündete er das Rauchwerk und gleich darauf breitete sich der aromatische Geruch des brennenden Tabaks in der Höhle aus. Eine Weile saßen sie schweigend am Feuer, dann jedoch hielt Noah es nicht mehr aus. Alles kribbelte in ihm, er musste sich unbedingt bewegen!

Sich räuspernd erhob er sich umständlich, hielt dabei die dünne Decke fest um seinen nackten Unterkörper geschlungen und trat an den Höhleneingang. Es ging besser als bei seinem ersten Versuch, aber das lag womöglich daran, dass er jetzt etwas im Magen hatte und die Luft merklich kühler geworden war.

Die Sonne stand bereits tief und sandte soeben ihre letzten Strahlen über die Dünen. Wäre nicht jetzt der geeignete Zeitpunkt, um aufzubrechen? Jetzt, wo es kühler wurde und die Sonne nicht mehr mörderisch vom Himmel herab brannte?

Dass er nur gemeinsam mit dem Wüstenbewohner weiterziehen konnte, stand für ihn fest. Der wusste doch mit Sicherheit, in welcher Richtung es aus der Wüste hinaus ging, oder? Und allein würde er ohnehin nicht weit kommen, in seinem geschwächten Zustand.

„Es wird dunkel!“, stellte Noah daher an den Benvashedan gewandt fest. Der nickte schweigend und paffte bläuliche Wolken. Das war jedoch nicht die Reaktion die Noah sich erhofft hatte. „Sollten wir nicht aufbrechen?“, hakte er deshalb nach.

„Wohin?“ Nur dieses eine Wort, doch es genügte, in ihm erneut den Trotz zu wecken.

„Ist doch egal! Hauptsache erst mal weg hier!“, maulte er. „Oder hattest du vor, den Rest deiner Tage in dieser beschissenen Höhle zu hocken?“

„Nein.“ Wieder nur ein einziges Wort als Erwiderung, doch auf Noah wirkte es, wie der sprichwörtliche Stich ins Wespennest.

„Also, was hält dich dann? Draußen ist es jetzt endlich kühl und bis zum Sonnenaufgang könnten wir weit weg sein!“, schnauzte er unbeherrscht.

„Wohl eher tot“, erwiderte der Benvashedan gelassen. „So tief in der Wüste herrscht nachts strenger Frost und du“, er deutete mit dem Pfeifenstiel auf Noah, „trägst nichts als eine Tunika und eine dünne Decke. Du wärst erfroren, ehe der neue Tag anbricht. So weit draußen kann man nur tagsüber reisen.“

„Na wunderbar!“, spottete Noah, „Dann kann ich mich ja gleich begraben lassen! - Ihr Götter! Wozu schickt ihr mir einen Wüstenkrieger, wenn er mir nur Ratschläge gibt, die nichts taugen?“

Wütend stapfte er zurück ans Feuer und ließ sich auf sein Lager fallen. Da aber noch immer die Rastlosigkeit in ihm brannte, musste er seine Hände irgendwie beschäftigen, schnappte sich schließlich einen dünnen Holzspan vom Rand des Lagerfeuers und kritzelte sinnlose Figuren in den Sand. Dass Tu`al ihn dabei aufmerksam beobachtete, bemerkte er kaum.

„Kannst du dich daran erinnern, wie du in die Wüste gekommen bist?“, drang nach einer Weile die sonore Stimme des Blaugewandeten an sein Ohr. Noah hob die Schultern, ohne aufzublicken und presste für einen Moment die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen.

„Keine Ahnung“, erwiderte er knapp. „Ich weiß nur noch, dass ich über den Karawanenweg gewandert bin und Durst hatte.“ Eine Weile blieb es still, dann sagte Tu`al: „Es ist gefährlich allein über diesen Weg zu ziehen. Dort treiben Räuber gerne ihr Unwesen und überfallen die Reisenden. Wusstest du das nicht?“ Noah schnaubte unfroh.„Die hätten mir schon nichts getan, glaub` mir! Was wäre bei einem ehemaligen Bordellsklaven schon zu holen gewesen?“ Wieder herrschte für einen Moment Schweigen in der kleinen Höhle.

„Sie hätten dich trotzdem überfallen und aus Wut weil du nichts Stehlenswertes dabei hattest, töten können. Wenn nicht Schlimmeres“, gab der Benvashedan zu bedenken. „Wäre es nicht besser gewesen, im Schutz einer Karawane zu reisen?“ Das reizte Noah zum Lachen.

„Meine Güte! Wie klug du doch bist!“, spottete er, wurde dann aber ernst. „Als ob ich das nicht selber wüsste! Aber sehe ich vielleicht aus, als könnte ich es mir leisten, mich in eine Karawane einzukaufen, hm?“

„Nun, du hättest deinen Körper dafür anbieten können, oder nicht? Immerhin hast du dich doch jahrelang verkaufen müssen, wenn ich dich richtig verstanden habe. Wäre es dann schlimm gewesen, es noch ein oder von mir aus auch mehrere weitere Male zu tun?“ Noah war bei seinen Worten erstarrt und hielt den Atem an. Dann hob er den Kopf und stand auf, die Augen zu schmalen Schlitzen zusammengezogen.

„Halt` dein ungewaschenes Maul!“, sagte er grob und ballte die Fäuste. „Du hast kein Recht auf mich herabzusehen! Du weißt rein gar nichts von mir! Denkst du, ich hätte freiwillig all die Jahre meinen Arsch hingehalten, wenn ich eine Wahl gehabt hätte?“ Er deutete auf seinen Hals, wo trotz des Sonnenbrandes ein deutlicher Streifen verdickten Gewebes sichtbar war. „Siehst du das da? Da habe ich zehn lange Jahre ein Sklavenhalsband getragen! Und hast du eine Ahnung was das bedeutet? Ich war zehn Jahre lang kein Mensch, sondern ein Ding! Eine Ware! Keiner der dreckigen Kerle, die mich benutzt haben, hat mich vorher gefragt, ob ich das auch will! Sie bezahlten für mich und damit hatte ich gefälligst zu wollen! Völlig egal, ob sie mir Schmerzen zufügten, mich verletzten, ob sie stanken oder Krankheiten in sich trugen! Aber willst du auch wissen, wieso ich das alles überlebt habe? Aus einem einzigen Grund!“ Er tippte sich an die Brust. „Weil ich hier drin niemals eine Hure geworden bin! Sie konnten mich zwingen meinen Körper zu verkaufen! Aber sie haben keine Hure aus mir machen können! Nicht hier drin!“

Damit wandte er sich brüsk ab und wollte in Richtung des Höhleneingangs marschieren, doch die Decke, welche er als Kleidungsersatz noch immer um die Hüften trug, suchte sich just diesen Moment aus, um sich zu lösen. Sie rutschte zu Boden und Noahs Füße verhedderten sich darin. Er stolperte, fiel und landete – auf Tu`al!

Tu`al

 

 

 

 

 

Er sah es kommen, legte noch rasch seine Pfeife weg und streckte die Arme aus, doch es war zu spät. Schwer prallte der Junge auf ihn und riss ihn um, sodass Tu`al sich rücklings auf dem sandigen Höhlenboden wiederfand, Noahs schmalen Körper auf sich.

Nur ein paar Sekunden lag der still, dann begann er zu zappeln und sich zu winden und kämpfte sich mit hochrotem Kopf in die Höhe.

„Tut mir leid! Das … das war keine Absicht!“, nuschelte er und raffte die dünne Decke wieder an sich. Der Benvashedan stützte sich auf die Ellbogen und sah zu dem Jungen auf, wie der sichtlich verlegen um seine Fassung kämpfte.

„Tja, bis gerade eben war deine Ansprache noch ziemlich beeindruckend!“, meinte er trocken und konnte nicht verhindern, dass ein Grinsen um seine Mundwinkel zuckte. Noah dagegen verfärbte sich noch etwas mehr und wandte sich mit einem misslaunigen Murmeln ab. Nachdem er sich wieder in die Decke gewickelt hatte, setzte er seinen Weg fort und stapfte etwas steifbeinig, aber mit hoch erhobenem Kopf zum Ausgang, durch welchen er gleich darauf ins Freie verschwand.

Kopfschüttelnd folgte der Mann aus der Wüste ihm mit seinen Blicken, ehe er sich zur Gänze wieder aufrappelte und den Sand von seiner Kleidung klopfte. Anschließend reinigte er seine Pfeife und verstaute sie bei Tabak und Zunder in der Satteltasche. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, hatte es ihm nicht schlecht gefallen, Noahs schlanken Körper auf sich zu fühlen. Der Kleine war zwar fast schon nervtötend trotzig und aufsässig, aber - zumindest nett anzusehen. Und mehr als das …

Tu`al gehörte zu den Männern, die das eigene Geschlecht dem anderen vorzogen, doch bei den Almuran war das kein Problem. Niemand störte sich daran, wenn zwei Männer oder zwei Frauen ein Paar bildeten und als solches auch zusammenlebten. Sie unterschieden einzig zwischen Bruad`ar, also Männern und auch Frauen, die ausschließlich das eigene Geschlecht begehrten und Derad`ar, Personen, die sich für beides erwärmen konnten. Tu`al selbst zählte sich zu Ersteren, hatte er doch noch niemals eine Frau oder ein Mädchen mit anderen Gefühlen als denen bloßer Sympathie angesehen.

Er wusste, dass sein Volk mit dieser Einstellung in der Welt zwar nicht völlig allein stand, aber dass es eben doch Völker und Länder gab, wo ein Mann nicht zeigen durfte, wie es um sein Herz bestellt war, wenn er einen anderen Mann liebte. Mancherorts musste man ja sogar um sein Leben fürchten, sollte man es wagen, sich darüber hinweg zu setzen und offen zu seinen Gefühlen zu stehen. Etwas was unter den Almuran stets für Kopfschütteln und Unverständnis sorgte.

Die meisten Völker, die Tu`al kannte, glaubten an Almur als den Schöpfer allen Lebens, also auch der Menschen. Wenn er aber alle Menschen erschuf, wieso sollte er dann manche von ihnen verachten, bloß weil sie eben in diesem Punkt anders waren? Er hatte sie doch so gemacht! Und wenn Almur alle Menschen gleichermaßen liebte, so wie sie waren – wieso sollte es dann richtig sein, wenn Menschen ihre Artgenossen bloß ihrer Gefühle wegen verfolgten und verdammten? Das wollte ihm einfach nicht in den Kopf.

Als er noch ein Junge an der Grenze zur Mannbarkeit gewesen war, mit achtzehn Jahren, hatte er für drei Jahre seinen Clan verlassen müssen und in einer weit entfernten Stadt gelebt. Dort hatte man ihn Lesen, Schreiben und einige andere Dinge gelehrt, die sein Vater für den zukünftigen Clanführer für wichtig hielt.

Er hatte dort aber auch die Ansichten anderer Völker kennengelernt, denn in seiner Schule mischten sich eine Menge Nationalitäten. Sie besaß einen guten Ruf, der über die Landesgrenzen hinaus bekannt war und viele wichtige Familien schickten ihre Sprösslinge dorthin.

Und hier hatte Tu`al erst so richtig schätzen gelernt, wie offen und frei seine eigenen Leute in manchen Dingen dachten und lebten. In diesen drei Jahren hatte er am eigenen Leib erfahren, wie es sich anfühlte, wegen seiner Vorliebe für Männer beschimpft und drangsaliert zu werden.

Es waren allerdings nur vergleichsweise wenige Schüler gewesen, die meinten, ihn schikanieren zu müssen, den weitaus meisten war es gleichgültig, ob einer ihrer Kameraden nun Männer bevorzugte oder Frauen. Und auch die Lehrer vertraten eine offen liberale Einstellung, immerhin befand man sich in einem Land, wo gleichgeschlechtliche Beziehungen zwar nicht offiziell anerkannt, aber doch geduldet waren und keinerlei Repressalien von offizieller Seite nach sich zogen. Trotzdem war es nichts, woran sich Tu`al gern erinnerte.

Mittlerweile lebte er im Frieden mit sich selbst, vermisste allerdings manchmal einen festen Partner an seiner Seite. In seinem Dorf gab es sonst keine Männer wie ihn und ein Bordell aufzusuchen, wie es die Männer in der Stadt tun konnten, wenn der Druck zu groß wurde, kam allein schon wegen der großen Entfernung nicht in Frage.

Darüber hinaus war dies allerdings auch eine Sache, der die Almuran mehr als kritisch gegenüberstanden: Prostitution. Ein Mensch, gleich ob Mann oder Frau, der sich selbst dermaßen gering achtete, dass er sich für Geld feilbot, verwirkte ihrer Anschauung nach jeglichen Anspruch auf Selbstbestimmung und machte sich damit selbst zum Sklaven. Er war gewissermaßen kein Mensch mehr in den Augen der Wüstenbewohner und besaß weder Ehre noch eine Seele, denn die überantwortete er mit seinem Tun freiwillig dem Teufel. Eine größere Sünde gab es nicht in den Augen der Almuran.

Tu`al hatte jedoch lange genug in der Stadt gelebt, um zu wissen, dass es nicht immer so einfach war. Viele, wenn nicht die meisten, der Frauen und Männer, die in den Bordellen arbeiteten, hatten niemals eine andere Wahl gehabt. Sie waren Sklaven und besaßen lediglich den Status einer Ware. Noah hatte es ja eben mit ganz ähnlichen Worten beschrieben.

Und er hatte auch gesagt, dass er noch keine elf Jahre alt gewesen war, als er seinen ersten Kunden bedienen musste. So gesehen, war seine, Tu`als, Bemerkung wirklich reichlich taktlos gewesen …

Der Wüstenkrieger überschlug kurz im Kopf, was der Junge noch alles gebrüllt hatte und folgerte, dass Noah demnach etwa zwanzig Jahre alt sein musste, allerhöchstens einundzwanzig. Seufzend stieß er den Atem aus. In diesem Alter hatte er selber ganz andere Dinge im Kopf gehabt, war mit seinen Freunden aus der Schule allabendlich durch die Tavernen gezogen und hatte es sich gut gehen lassen. Und in den Jahren davor war er einfach nur ein Junge gewesen, so wie alle anderen seiner Altersgenossen unter den Almuran ebenfalls.

Er reckte den Kopf. Wo blieb Noah eigentlich? Er hatte sich hoffentlich nicht doch noch allein auf den Weg gemacht und irrte jetzt draußen in der Wüste herum?

Tu`al verfluchte sich, dass er nicht gleich daran gedacht hatte, als der Junge aus der Höhle gestürzt war und stemmte sich in die Höhe. Gleich darauf trat er ins Freie und schaute sich um. Mit einem leisen erleichterten Aufatmen bemerkte er Noah nicht weit entfernt auf dem Boden sitzend, mit dem Rücken an die Felsen gelehnt. Langsam näherte er sich und ließ sich dann neben dem Jungen nieder, achtete aber darauf, genügenden Abstand zwischen ihnen beiden zu lassen, damit er sich nicht bedrängt fühlte.

Eine Weile schwiegen sie, bis sich Tu`al räusperte und meinte: „Es tut mir leid, Noah. Ich habe unüberlegt gesprochen und entschuldige mich dafür.“ Noah wandte ihm das Gesicht zu und musterte ihn argwöhnisch.

„Machst du dich jetzt über mich lustig? Oder sagst du das, weil du mich selber flachlegen willst?“, fragte er. Tu`al blinzelte überrascht.

„Was? Wie kommst du denn darauf?“ Noah hob die Schultern.

„Wäre der Gedanke wirklich so abwegig? Du hast mich in der Wüste aufgesammelt, mir das Leben gerettet, mich sogar gewaschen und gefüttert! Ich habe nichts, was ich dir dafür geben könnte, also was soll ich da denken? In meiner Welt tun Menschen solche Dinge nicht umsonst!“ Für einen Augenblick war Tu`al sprachlos.

„Nun, in meiner Welt tun sie es sehr wohl“, erwiderte er dann. „Also sei unbesorgt. Ich will nichts von dir! Aber ich hätte mich selbst beschämt, hätte ich das Leid eines anderen Menschen gesehen und nicht alles in meiner Macht Stehende getan, um es zu lindern.“ Die Furche zwischen Noahs Brauen vertiefte sich.

„Im Ernst?“ Seiner Stimme war anzuhören, dass er nicht überzeugt war. Tu`al nickte ernsthaft.

„Ich habe eine Zeitlang in der Stadt gelebt, auch wenn das schon eine Weile her ist“, erklärte er. „Also weiß ich durchaus, wie es dort zugeht. Zehn Jahre ist das jetzt her, aber ich schätze, allzu viel hat sich da nicht verändert.“ Noah lachte unfroh auf.

„Ach so? Dann warst du ja sicher auch oft genug in den Bordellen zu Gast, was?“

„Nein. Ich habe kein einziges davon jemals von innen gesehen“, erklärte der Almuran, doch Noah warf grinsend den Kopf zurück.

„Ach komm! Du verarschst mich! - Ein junger Kerl, weit weg von zuhause! Und ich soll dir glauben, dass du nicht ein einziges Puff aufgesucht hast?“

„Ich bin ein Almuran, Noah“, erläuterte der Wüstenkrieger ruhig. „Und wenn wir auch vielen Dingen offen gegenüberstehen, die anderswo sogar ein Grund sein mögen, um sein Leben zu fürchten, gilt das nicht für Prostitution! Eine Hure, ganz gleich ob männlich oder weiblich, wird in unseren Dörfern und Clans nicht geduldet. Und keinem Almuran käme es in den Sinn, eine aufzusuchen!“ Nun war es an Noah ungläubig zu schauen.

„Aber trotzdem hast du mich gerettet!“, entfuhr es ihm schließlich.

„Natürlich.“ Tu`al nickte.

„Hättest du mich dann nicht spätestens als du gehört hast, womit ich die letzten zehn Jahre meines Lebens verbracht habe, davonjagen müssen?“ Nun klang Noah wieder mürrisch und sein Gesichtsausdruck war verschlossen.Tu`al atmete tief durch.

„Ich sagte bereits, ich habe einige Zeit in der Stadt gelebt. Darum weiß ich, dass die meisten Huren dort Sklaven sind und keine andere Wahl haben. Mancher unter unseren Alten mag das auch anders sehen als ich es tue, aber für mich macht das durchaus einen Unterschied. Wer wie du gezwungen wird, seinen Körper zu verkaufen, darf nicht noch bestraft werden, indem man ihn dafür verachtet! Das wäre dasselbe, als würde man einen Mann verachten, nur weil er Männer liebt, oder eine Frau dafür, wenn sie Frauen begehrt! Es ist nichts, was man freiwillig tut, oder sich ausgesucht hat!“

„Na, vielen herzlichen Dank auch!“ Noah zog die Knie an und schlang die Arme darum. „Jetzt fühle ich mich schon gleich viel besser!“ Er drehte den Kopf zur Seite und Tu`al bemerkte, dass er zitterte. Es war mittlerweile ziemlich kühl geworden und ihr Atem stand als kleine, weiße Wölkchen vor ihren Gesichtern.

„Sollen wir nicht lieber wieder nach drinnen gehen?“, fragte er deshalb, froh das Thema fürs Erste abhaken zu können. „Am Feuer ist es wärmer und redet sich sicher angenehmer.“ Der Junge zögerte einen Augenblick, dann nickte er und rappelte sich auf. Wortlos steuerte er den Höhleneingang an, trat nach drinnen und Tu`al folgte ihm.

 

Noah

 

 

 

 

 

 Mit um die eigene Mitte geschlungenen Armen trottete Noah zum Feuer und ließ sich auf seiner Decke nieder. Er sah nicht auf, als Tu`al sich näherte und ebenfalls Platz nahm. Innerlich brannte er lichterloh. Scham und hilflose Wut mischten sich zu einem hässlichen Gebräu und er wusste nicht, was er denken oder sagen sollte.

Die Benvashedan verachteten also Huren. Tu`al selbst hatte zwar deutlich gemacht, dass er selbst die Sache etwas differenzierter sah und durchaus einen Unterschied machte, ob jemand sich freiwillig prostituierte oder nicht, aber meinte er es auch wirklich so? Oder hatte er das nur gesagt, weil er doch gerne einmal bei ihm zum Zuge kommen würde? Noah hatte am eigenen Leib erfahren, dass das was Kerle sagten, oft genug nicht das war, was sie meinten, wenn die Geilheit das Ruder übernahm …

Misstrauisch spähte Noah zu dem Mann auf der anderen Seite des Feuers hinüber. Was waren wohl die Vorlieben des Benvashedan? Frauen? Oder doch Männer? Oder war er beidem zugeneigt?

Der Wüstenkrieger hatte sich auf seinem Lager ausgestreckt und hielt die Augen geschlossen, schien aber noch nicht zu schlafen, sondern wirkte eher wie ein träges, sattes Raubtier, das jeden Moment wieder in den Jagdmodus wechseln konnte. Neugierig ließ Noah seinen Blick über den Körper des Liegenden wandern. Tu`al war groß, hatte breite Schultern und kräftige Gliedmaßen. Das bartlose Gesicht wirkte kantig, was durch die sanften Brauenbögen und die sinnlichen Lippen aber gemildert wurde.

„Was mich noch interessieren würde, Noah?“ Der Angesprochene zuckte zusammen. Er hatte nicht damit gerechnet und fühlte sich bei seiner Musterung ertappt. „Wie hast du es eigentlich aus dem Bordell raus geschafft? Bist du weggelaufen?“

Noah hielt den Atem an. Da war sie, die Frage, die er insgeheim gefürchtet hatte. Was sollte er nun sagen? Sollte er lügen? Nein, dafür hatte er leider gar kein Talent. Seufzend beschloss er, bei der Wahrheit zu bleiben.

„Mein Bruder hat mich freigekauft“, erwiderte er sehr leise und Tu`al öffnete die Augen.

„Dein Bruder?“ Erstaunt wölbte der Benvashedan die Brauen. Noah nickte und wich seinem Blick aus. Es war dem Anderen deutlich anzusehen, dass er angestrengt über das Gehörte nachdachte. „Dann … ist er also kein Sklave, wie du einer warst? Denn wie sonst wäre er in der Lage so viel Geld zusammen zu bringen? - Aber warum bist du dann nicht bei ihm?“ Nun setzte er sich auf und seine Augen hingen gespannt an Noah.

„Nein“, schüttelte der den Kopf. „Caleb ist frei. Er wurde genau wie ich in ein Leben in Sklaverei verkauft, aber er hat es geschafft, sich selbst freizukaufen. Er arbeitet heute auf eigene Rechnung und ist die Attraktion in Zyrions Hurenhaus!“ Tu`al nickte nachdenklich.

„Nun, das spricht zumindest dafür, dass dein Bruder einen starken Willen hat – wenn er euch beide freigekauft hat? Und das innerhalb von nur zehn Jahren!“

„Ach? Das sind ja ganz neue Töne! Eben hieß es noch, ihr Wüstenbewohner verachtet Huren und jetzt bist du schon mit wehenden Fahnen zu Cals Bewunderern übergelaufen?“ Schnaubend schüttelte Noah den Kopf, während seine Augen Funken zu sprühen schienen.

„Noah, wenn du mir genau zugehört hast, dann hast du mich sagen hören, dass mir sehr wohl bewusst ist, dass die meisten Männer und Frauen in den Bordellen niemals eine andere Wahl hatten!“, beschwichtigte der Benvashedan. „Dafür könnte ich sie gar nicht verachten, selbst wenn ich es wollte! Und deinen Bruder kenne ich noch nicht mal! Ich gebe zu – die meisten Almuran würden da wohl keinen Unterschied machen. Sie würden auf ihn genauso herabsehen wie auf dich! Aber ich tue das nicht!“ Tu`al blieb ruhig und sprach gelassen, was Noah nur noch mehr reizte.

„Obwohl er freiwillig weiter als Hure arbeitet? Sich verkauft?“ Er musterte den Älteren. „Gib`s zu! Du stehst selber auf Männerärsche, stimmt`s? Bist wohl hier draußen lange nicht mehr zum Schuss gekommen, was? Tja, blöd, wenn man nichts hat, wo man seinen Schwanz reinstecken kann, wenn`s einen juckt! Wie ist das überhaupt bei euch, in deinem Clan oder Dorf oder was auch immer? Wissen deine Leute, dass du lieber Kerle fickst als Weiber? Oder lässt du dich ficken? Ist das bei euch erlaubt oder habt ihr noch mehr bescheuerte Verbote, an die ihr euch dann doch nicht haltet?“, ätzte er weiter.

Er konnte nicht anders. Die Erinnerung an Caleb, wie der eines Tages in dem heruntergekommenen Hurenhaus aufgetaucht war, wo Noah gezwungenermaßen arbeitete, schmerzte zu sehr. Er wusste noch, wie klein, dreckig und schäbig er sich plötzlich vorgekommen war und wie gut sein Bruder dagegen ausgesehen hatte. Nicht wie Noah, wie eine halbverhungerte Straßenratte oder ein schmutzstarrender Köter, den man zu oft getreten hatte. Cal war anzusehen gewesen, dass er stolz war auf das, was er erreicht hatte. Das schien ja auch nicht eben wenig zu sein, wenn man bedachte, wie er einst angefangen hatte.