Nachtvögel - Adora Belle - E-Book

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Adora Belle

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Beschreibung

Morten und Magnus - zwei junge Männer, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Morten, der toughe Schläger aus einem eher bildungsfernen Milieu, stets gewaltbereit, steht allem ablehnend bis hasserfüllt gegenüber, was anders ist, seien es Ausländer, Schwule oder schlicht Andersdenkende. Der sensible, schwule Magnus kommt in die große Stadt, weil er endlich das wahre schwule Leben, weit entfernt vom heimatlichen Kleinbürgermilieu kennenlernen und vor allem eine Ausbildung zum Kranken- oder Altenpfleger machen will. Die erste Begegnung der beiden steht schon unter keinem guten Stern und ebenso geht es weiter. Gewalt prägt ihre Beziehung zueinander und doch keimt unter der rauhen Schale ganz allmählich etwas völlig anderes und stürzt sie in eine wilde Achterbahnfahrt der Gefühle. Und trotzdem haben beide keine Ahnung, welche Überraschung das Schicksal noch für sie bereithält und das ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, wo endlich einmal alles gut zu werden scheint. Eine Bewährungsprobe der extremen Art steht ihnen bevor und ob ihr Weg sie wieder zueinander führt oder nicht, weiß allein der Himmel ...

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Adora Belle

Nachtvögel

Die vorliegende Geschichte ist ein reines Fantasieprodukt der Autorin, Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen oder realen Begebenheiten wäre daher vollkommen zufällig und nicht beabsichtigt. E-books sind nicht übertragbar. Unterstützen sie die Arbeit der Autorin und erwerben sie daher bitte eine legale Kopie. Vielen Dank! BookRix GmbH & Co. KG80331 München

Morten

Das Erste, was Morten jemals von Magnus zu sehen bekam, war ein Lieferwagen. Der parkte, als er von einem Treffen mit Freunden aus der Stadt kam, vor der Tür des schäbigen Wohnblocks, in dem er lebte, und eigentlich nahm er ihn nur deshalb wahr, weil just in dem Augenblick, als er ihn umrundete, um zur Haustür zu gelangen, jemand mit einem Karton in den Händen von der Ladefläche sprang und gegen ihn prallte.

„Hey! Pass` doch auf, du Penner!“, schnauzte Morten, noch bevor er richtig hingesehen hatte, wer oder was ihn da so unerwartet fast von den Füßen gerissen hatte. Eine automatische Reaktion. Hier im Viertel regierte das Recht des Stärkeren und Morten war fest entschlossen, praktisch immer und überall der Stärkere zu sein - der Erste in der Nahrungskette. Im Kreise seiner Kumpel war er es bereits unbestritten und das nicht nur, weil er jederzeit bereit war, seinen Status mit den Fäusten zu verteidigen. Die Natur hatte ihn großzügig bedacht, als es um Muskeln und einen großen, kräftigen Körperbau ging, einzig bei der Verteilung der Intelligenz hatte sie ihn etwas stiefmütterlich behandelt. Nicht dass Morten wirklich dumm gewesen wäre, es war nur so, dass konzentriertes Lernen nicht zu seinen Stärken gehörte. Deshalb hatte er die Schule auch nur so lange besucht, wie er unbedingt musste und sie vor fünf Jahren mit einem eher mittelmäßigen Hauptschulabschluss verlassen. Seither saß er zuhause und lebte von der Hand in den Mund, von staatlicher Unterstützung und befristeten Jobs. Seinen Frust und seinen Ärger über die Ungerechtigkeit der Welt bekämpfte er, indem er sich mit seinen Freunden traf, mit ihnen zusammen billigen Fusel konsumierte und dann marodierend durch die Innenstadt zog. Mal jagten sie 'zum Spaß' Ausländer – nutzloses Pack, allesamt und nur hier, um ihm und seinesgleichen das Leben schwer zu machen! - oder zettelten Streit mit irgendwelchen Fremden an. Alles nur um Dampf abzulassen und die Leere zu füllen, die ihn regelmäßig heimsuchte.

Mortens großes Vorbild war dabei sein Vater. Der war ein richtiger Mann! Ein Kerl wie ein Bär, vor dem alle kuschten, denn wo er hinlangte, wuchs so bald nichts mehr und er hatte auch keinerlei Scheu, eben dies zu tun, falls es in seinen Augen nötig war. Da spielte es auch keine Rolle, ob es eins seiner Kinder war, das gegen ihn aufzumucken gewagt hatte, die eigene Frau, oder einer der Nachbarn. Sören Rasmussen schlug erst zu und fragte dann nach dem 'Wieso' und 'Weshalb'. Auch Morten war schon mehrmals in den Genuss einer väterlichen Abreibung gekommen, allerdings lag die letzte mittlerweile schon einige Zeit zurück. Das war auf dem Heimweg von einer Polizeiwache gewesen, wo er im Alter von achtzehn Jahren gelandet war, nachdem er und seine Kumpel ein schwules Pärchen 'aufgemischt' hatten. Sein Vater hatte ihm zuerst einen Kinnhaken und gleich darauf einen Tiefschlag in den Bauch versetzt und ihn danach erst gefragt, was genau passiert war.

Natürlich hatte man ihn von Seiten der Polizei in Kenntnis gesetzt, warum sein ältester Sohn verhaftet worden war, aber er hatte es von ihm selbst hören wollen. Nachdem Morten seinen – nun etwas stockend vorgetragenen - Bericht beendet hatte, hatte sein Erzeuger den Kopf geschüttelt und ihm gleich noch einen Schwinger verpasst. Sie befanden sich in einer Unterführung für Fußgänger, doch gerade war keine Menschenseele in der Nähe, als Morten zu Boden ging und sein Vater sich neben ihn hockte.

„Weißt du, wieso du da im Dreck liegst, Sohn?“, hatte er ihn gefragt und mit kalt glitzernden Augen gemustert. Morten hatte mühsam den Kopf geschüttelt und das war die absolute Wahrheit. Sein Vater hasste Schwule, mindestens ebenso sehr wie Ausländer und anderes 'Pack', also hatte er seinen Sohn unter Garantie nicht geschlagen, weil der sich an zwei Homosexuellen vergriffen hatte. Den Blick ans andere Ende der Unterführung gerichtet, nickte Sören und sagte: „Hm, das dachte ich mir. - Also anders. Sieh dich um und sag` mir, was dir auffällt!“

Ächzend stemmte Morten sich in die Höhe und schaute von einer Seite zur anderen. Die Unterführung war düster, zwei der fünf Neonröhren an der Decke waren ausgefallen, die gefliesten Wände mit allem Möglichen verschmiert und es stank nach Pisse. Was sollte ihm hier auffallen? Fragend schaute er zu seinem Vater, der die Hände in die Seiten stemmte und den Kopf schüttelte.

„Siehst du irgendjemanden?“, fragte er und Morten verneinte, immer noch ahnungslos.

„Genau! Du siehst niemanden weil niemand hier ist! Und das ist der Punkt auf den es ankommt!“ Sören trat zu seinem Sohn und hakte ihn unter, führte ihn langsam auf das Ende der Unterführung zu.

„Natürlich ist es kein Verbrechen, wenn du und deine Freunde den Negern und Schwuchteln in dieser Stadt ein bisschen die Hölle heiß macht! Du weißt, dass ich ganz genauso denke! Die sind längst viel zu frech geworden, nehmen sich wer weiß was raus und meinen auch noch, das wäre ihr gutes Recht!“ Er schüttelte den Kopf bei dieser für ihn absurden Vorstellung. „Und was macht unser Staat? Weist er sie in ihre Schranken und schützt seine anständigen Bürger? Nein! Er nennt es kriminell, wenn wir unser Recht in die eigenen Hände nehmen! - Weißt du, Morten, ich bin stolz auf dich, dass du dir keinen Dreck auf die Augen schmieren lässt und die Dinge so siehst wie sie wirklich sind, aber eins musst du noch lernen: schnell und hart zuzuschlagen und dann – zu verschwinden! Genauso schnell und vor allem rechtzeitig! Mach` dir nichts vor: mit unserer Überzeugung stehen wir in diesem Land zwar vielleicht nicht völlig allein da, aber wenn es hart auf hart kommt, dann musst du dir selbst der Nächste sein! Deine Kumpel haben sich heute nicht erwischen lassen, oder?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr Sören fort: „Da waren sie wohl schlauer als du! Und nur deshalb habe ich dir eben eine verpasst! Weil du so dämlich warst, dich schnappen zu lassen! Aber naja, du warst eben schon immer jemand, der eher durch praktische Anschauung lernt, hab` ich nicht recht?“

Und so hatte Morten in Zukunft ganz genau darauf geachtet, wann und wo er von seinen Fäusten Gebrauch machte. Er hatte es genossen, wenn er spät nachts, nach vollbrachter Tat mit zerschrammten Fingerknöcheln nach Hause kam, und auch sein Vater hatte ihm mehr als einmal gezeigt, dass er für richtig hielt, was er tat und das genügte ihm. Und nun – stolperte ihm dieser Kerl hier vor die Füße, an dem alles – aber auch wirklich alles! - lauthals 'Schwuchtel' zu schreien schien. Angefangen bei der schmalen, fast schon zierlichen Figur, den schulterlangen, blonden Ringellocken, der tief auf den Hüften sitzenden, hautengen Jeans und dem auf Taille geschnittenen, ärmellosen Shirt, bis hin zu dem schmalen Gesicht mit den weich gezeichneten Zügen, der kleinen Stupsnase und dem ein bisschen zu breiten Schmollmund.

Der junge Mann – ja, es war tatsächlich ein Mann, wie Morten sich mit Blick auf die flache Brust vergewisserte – war bei dem Anprall zu Boden gegangen und hockte nun wie ein Häufchen Elend verdattert vor ihm. Allerdings nicht für lange. Nach der obligatorischen Schrecksekunde schaute er sich suchend um, entdeckte seinen Karton ein Stück entfernt auf dem Boden und robbte sofort darauf zu, stellte ihn auf und wühlte hektisch darin herum.

„Wehe, es ist auch nur ein Stück kaputt!“, bellte er und schickte einen wütenden Blick aus braunen Augen über seine Schulter zu Morten, die Brauen finster zusammengezogen. Dem blieb fast die Spucke weg. Was bildete dieser Hänfling sich ein? Ihm zu drohen? Sah er nicht, mit wem er es zu tun hatte?

„Sei lieber froh, wenn ich dir keine reinhaue!“, knurrte er gereizt. „Was kann ich dafür, wenn du hier rumrennst, ohne zu gucken?“ Der Blonde war inzwischen offenbar beim eigentlichen Inhalt seines Kartons angekommen und fischte Teller und Gläser heraus, betrachtete sie prüfend und atmete erleichtert auf.

„Puh! Nochmal gut gegangen!“, stellte er fest, kam auf die Füße und klopfte sich die Hose ab, ehe er Morten die Rechte hinstreckte. „Normalerweise rechnen durchschnittlich intelligente Menschen ja damit, dass aus einem Lieferwagen jemand rausspringen könnte und sehen sich entsprechend vor“, sagte er gleichzeitig, aber es klang nicht mehr ganz so unfreundlich wie vorhin. Trotzdem besah sich Morten die angebotene Hand, als wäre sie etwas Ekelhaftes und dachte nicht im Traum daran, sie zu ergreifen.

„Durchschnittlich intelligente Menschen, ja?“, wiederholte er, scheinbar nachdenklich und nickte bedächtig. „Ich verrate dir mal was, du Schwuchtel! Wenn du auch nur durchschnittlich intelligent bist, dann gehst du mir in Zukunft lieber aus dem Weg. Sonst lernst du den hier kennen, kapiert?“ Morten ballte die Rechte zur Faust und hielt sie dem Anderen unter die Nase. Wenn er jedoch geglaubt hatte, diesen damit einzuschüchtern, sah er sich getäuscht. Sein Gegenüber warf nur einen kurzen Blick darauf, zog dann die Rechte zurück und verschränkte die Arme vor der schmalen Brust. Ein verächtliches Grinsen spielte um seine Mundwinkel.

„Sorry, Kumpel“, erwiderte er, „Fisting ist nicht so meins. Allerdings könnte ich dir vielleicht einen Club empfehlen, wo du voll auf deine Kosten kommst! Wusste ja nicht, dass du auf sowas stehst!“ Sprach`s, schnappte sich seinen Karton, ließ einen zunächst verdatterten, kurz darauf aber wutschnaubenden Morten einfach stehen und trabte ins Haus. Nachdem dieser sich von seinem Schock erholt hatte, stürmte er jedoch hinter ihm her, wie ein wütender Stier, holte ihn noch am Lift ein und riss ihn an der Schulter herum.

„Du schwule Drecksau!“, brüllte er und holte aus, ließ seine Faust ins Gesicht des Blonden krachen und genoss den Anblick, wie dessen Kopf nach hinten gerissen wurde, seine Lippe aufplatzte und zu bluten begann und er benommen zu Boden ging. Voller Genugtuung sammelte Morten Speichel in seinem Mund, spuckte die Ladung dem Liegenden mitten ins Gesicht und trat dann noch einmal kräftig mit dem Fuß gegen den Karton, in dem es dieses Mal unheilverkündend klirrte. Schließlich bestieg er den Fahrstuhl, der inzwischen eingetroffen war und wartend die Türe geöffnet hatte.

„Und komm` mir bloß nicht nochmal in die Quere, du perverses Dreckstück!“, drohte Morten noch, dann schloss sich der Lift und schwebte nach oben.

In der elterlichen Wohnung angekommen, lief er als Erstes seiner Mutter in die Arme. Normalerweise beachtete Morten sie kaum. Sie war lediglich diejenige, die ihre vier Wände sauber zu halten, das Essen rechtzeitig fertig zu haben und ansonsten die Klappe zu halten und zu parieren hatte. Solange er zurückdenken konnte, war es schon immer so gewesen, selbst als er noch ein kleiner Junge gewesen war. Sicher hatte er sie früher auch mal geliebt, wie alle Kinder ihre Mütter liebten, aber mittlerweile war dieses Gefühl längst von Verachtung und Widerwillen abgelöst und überdeckt worden. Er war sich zwar vage bewusst, dass es mehr als seltsam war, von seiner Mutter auf der einen Seite zu erwarten, dass sie sich an die ungeschriebenen Regeln im Hause Rasmussen hielt und ihre Pflicht erfüllte, ohne aufzumucken, sie aber auf der anderen Seite genau dafür zu verachten, konnte aber nichts gegen seine widerstreitenden Gefühle tun und ignorierte sie deshalb meistens. Allerdings hielt sich Morten mit solchen Überlegungen nie lange auf und auch jetzt verdrängte er rasch die Art und Weise wie sie ihn anschaute. Es lag Enttäuschung in ihrem Blick, wann immer ihr Blick auf ihn fiel und Morten ärgerte das mehr, als er zugeben mochte, denn er fand, dass ihr das einfach nicht zustand. Sie hatte kein Recht von ihm enttäuscht zu sein, hatte sie doch niemals auch nur das Geringste getan, um zu verhindern, dass er so wurde, wie er nun mal war.

Und auf ihr Urteil kam es ja auch gar nicht an, sein Vater war die einzige Person, die zählte und deren Wohlwollen ihm wichtig war. Im Kreise seiner Freunde war Morten derjenige, der den Ton angab, aber zuhause war er noch immer der halbwüchsige Junge, der nach der Anerkennung seines Vaters lechzte.

„Was guckst du so? Sorg` lieber dafür, dass mein Essen auf dem Tisch steht! Ich hab` Hunger!“, schnauzte er dementsprechend seine Mutter an, die daraufhin augenblicklich den Kopf einzog und in die Küche huschte. Für den Moment mit sich und der Welt zufrieden, folgte Morten ihr und setzte sich breitspurig an den Küchentisch, wo ihm seine Mutter gleich darauf einen gefüllten Teller vor die Nase stellte. Schweigend begann er zu essen, während sie neben der Tür stehenblieb und ergeben wartete, ob er weitere Wünsche hatte. Das war nichts Ungewöhnliches und doch reizte ihn heute schon ihre bloße Anwesenheit.

„Schieb` deinen Arsch hier raus! Mir vergeht der Appetit, wenn ich dich da stehen sehe!“, blaffte er in ihre Richtung und sie tat was er verlangte, verließ die Küche und zog die Tür hinter sich zu. Mit sich und seiner Mahlzeit allein, rief Morten sich die Einzelheiten seiner Begegnung mit der blonden Schwuchtel ins Gedächtnis und im Nachhinein bereute er es, nur dem Karton einen Tritt versetzt zu haben. Aber okay, noch war ja nicht aller Tage Abend. Immerhin war der Kerl ja ganz offenbar gerade dabei, hier im Haus einzuziehen, da ergab sich bestimmt noch einmal die Gelegenheit, das Versäumte nachzuholen! Als er mit dem Essen fertig war, stand er auf, ließ seinen Teller wie immer ganz selbstverständlich stehen und ging in sein Zimmer. Er als ältester Sohn der Familie hatte eines für sich, seine drei Geschwister mussten sich einen Raum teilen, ungeachtet der Tatsache, dass es sich um zwei Schwestern und einen Bruder handelte. Ihr Vater hatte das entschieden und keiner wagte es, dagegen aufzubegehren.

Morten grinste, wenn er an seine Geschwister dachte. Karen und Sonja, seine Schwestern, vierzehn und sechzehn Jahre alt, waren toughe Mädchen, die austeilen und einstecken konnten. Genau wie er selbst ähnelten sie auch äußerlich dem Vater und ließen sich nichts gefallen, nicht mal von Lehrern oder anderen sogenannten Respektspersonen. Schon des öfteren waren ihre Eltern deswegen in die Schule bestellt worden, aber geändert hatte sich nichts. Und wieso auch? Sören Rasmussen stand voller Überzeugung hinter seinen Töchtern und Morten war sicher, dass auch der eine oder andere Pauker die Hosen gestrichen voll hatte, wenn er ihm gegenüberstand. Einzig der Jüngste im Bunde, Nils, war wohl etwas aus der Art geschlagen und das nicht nur äußerlich. Der Junge war dreizehn, sah aber aus als wäre er zehn, wie Morten fand. Klein, schmächtig und blass, ähnelte er mehr der Mutter und hing auch bei jeder sich bietenden Gelegenheit an deren Rockzipfel. Außerdem interessierte er sich nicht die Bohne für Fußball oder irgendeinen anderen Sport, sondern steckte die Nase lieber in irgendwelche Bücher und schwärmte für Modelleisenbahnen. Schon beim Gedanken daran entkam Morten ein abfälliges Schnauben. Modelleisenbahn! Und Bücher! Wenn sie nicht aufpassten, wurde aus dem Jungen auch noch so eine Schwulette wie der Blonde von vorhin! Aber das würde er schon zu verhindern wissen! Nachdem er die Tür zu seinem Zimmer hinter sich geschlossen hatte, warf Morten sich aufs Bett und verschränkte die Arme unter dem Kopf. Im Augenblick war er ohne Job, hatte also mehr freie Zeit zur Verfügung, als ihm lieb war. In ein paar Stunden war er zwar noch einmal mit seinen Freunden verabredet, aber bis dahin machte die erzwungene Untätigkeit ihn ganz kribblig. Allerdings lag das wohl auch an dem, was er und seine Gang für die heutige Nacht geplant hatten. Kevin, einer seiner Freunde hatte vorgeschlagen, dass sie einer einschlägig bekannten Schwulenbar zu siebt einen Besuch abstatten sollten. Es handelte sich um ein eher kleines Etablissement, verfügte noch nicht mal über einen Türsteher und deshalb bot es sich natürlich an, gerade dort ein Exempel zu statuieren und diesen ganzen widerlichen Schwanzlutschern zu zeigen, was anständige Bürger von ihnen hielten.

Sie alle besaßen Baseballschläger und wenn sie damit in dem Schuppen aufkreuzten und austeilten, dann würde das hoffentlich für ordentlich Aufsehen sorgen! Dieses Vorhaben stellte ein echtes Highlight dar, im Vergleich zu den Dingern, die sie sonst so abzogen. Was war schon groß dabei, wenn sie einzelne Ausländer, Schwule oder wen auch immer, jagten und krankenhausreif prügelten? Hier hatten sie die Gelegenheit, endlich mal so richtig aus dem Vollen zu schöpfen!

Allein bei der Vorstellung, wie er und seine Kumpel hinter den kopflosen Tucken herjagten, um ihnen dann mit den Baseballschlägern eins überzubraten, hob sich seine Stimmung beträchtlich. Natürlich würden sie niemanden töten! Sie waren ja nicht verrückt! Sie wollten eine Lektion erteilen, kein Blutbad anrichten! Ein paar gebrochene Knochen waren da völlig ausreichend!

Magnus

Na, das war ja ein toller Einstand gewesen! Mit brummendem Schädel hockte Magnus in seiner neuen Wohnung und drückte sich in Ermangelung von Eis ein kaltes, feuchtes Handtuch gegen die Lippe. Die blutete zwar nicht mehr, pochte aber immer noch schmerzhaft und fühlte sich an, als sei ihm ein Schnabel à la Donald Duck gewachsen.

Wieso konnte er auch nicht ein einziges Mal seine vorlaute Klappe im Zaum halten? Schon beim ersten Blick auf den Typen war ihm doch klar gewesen, wes Geistes Kind der war! Solche Kerle wie der – groß, mit breiten Schultern und Fäusten, stechenden, grünen Augen, die dunklen Haare raspelkurz geschoren - diese Art Typen kannte er doch besser als ihm lieb sein konnte! Spätestens als der Andere ihm mit der Faust unter der Nase herumwedelte, hätte er in seinem eigenen Interesse besser die Erwiderung die ihm auf der Zunge lag, runterschlucken sollen! Das war schließlich nicht die erste derartige Situation, in der er sich befand! Aber nein – er hatte natürlich Kontra geben müssen und das Ergebnis waren ein Karton voll zertrümmertes Essgeschirr und eine aufgeplatzte Lippe. Und damit war er vermutlich noch glimpflich davon gekommen! Magnus seufzte. Er war es mittlerweile gewohnt, mit den Konsequenzen seines manchmal ziemlich losen Mundwerks fertigwerden zu müssen – leider! - und wünschte sich nicht zum ersten Mal, doch wenigstens ein bisschen Zurückhaltung an den Tag legen zu können. Aber wenn ihm jemand blöd kam, besonders bei der Frage seiner sexuellen Orientierung, dann tickte irgendetwas in ihm aus.

Er war zwanzig Jahre alt und wusste seit etwa vier Jahren sicher, dass er schwul war. Und wie es seinem temperamentvollen Wesen entsprach, hatte er damit auch nirgends hinter den Berg gehalten. Seine Mutter war anfangs irritiert gewesen, stand dann aber voll zu ihm. Einen Vater der womöglich anders darauf reagieren konnte, besaß Magnus nicht, doch dafür Klassenkameraden, Lehrer und Nachbarn und unter denen waren genug, die ihm das Leben schwer zu machen versuchten. Aber er hatte niemals klein beigegeben, sich nicht unterkriegen lassen und selbst übelste Mobbingattacken oder Prügel eingesteckt, ohne zusammen zu brechen. Manchmal war es verdammt schwer gewesen, aber immer wieder hatte er sich nach oben gekämpft und schließlich auch trotz allem einen guten Realschulabschluss gemacht. Eine Arbeitsstelle hatte er allerdings in dem spießigen Kuhkaff, aus dem er stammte, nicht bekommen und deshalb war er nun hier, hoffte in der Anonymität der Großstadt, weit weg von zuhause, seinen Weg machen zu können. Einen sozialen Beruf wollte er ergreifen, anderen Menschen helfen, Schwächeren, Benachteiligten, denen die von der Gesellschaft gerne vergessen wurden und hatte sich deshalb bei mehreren sozialen Einrichtungen, Krankenhäusern und Altenpflegeheimen um einen Ausbildungsplatz beworben. Vielleicht war es etwas voreilig gewesen, zuhause die Zelte abzubrechen und hierher zu kommen, noch bevor er eine Zusage in der Tasche hatte, aber er hatte es einfach nicht mehr länger ausgehalten. Er wollte endlich raus aus dem kleinbürgerlichen Mief, neue Menschen treffen, Leute, die ihn nahmen wie er war, ohne bereits voreingenommen zu sein, ehe sie ihn richtig kannten und natürlich auch Gleichgesinnte. Er sehnte sich danach, der allgegenwärtigen Überwachung durch die Nachbarn zu entkommen und endlich sein Leben ganz und gar so zu führen, wie er es für richtig hielt.

Der heruntergekommene Wohnblock, in welchem er als einzigem eine bezahlbare Bleibe gefunden hatte, war dann zwar schon gleich der erste Dämpfer, den er erhielt, aber er wollte nicht sinnlos mit seinem Ersparten und dem Geld, welches er von seiner Mutter bekommen hatte, herumwerfen, denn allzu viel war es natürlich nicht. Bis jetzt konnte er nämlich nur eine Stelle als Aushilfskellner in einer zweitklassigen Schwulenbar am Stadtrand vorweisen, wo er inklusive Trinkgelder gerade so viel verdiente, dass er über die Runden kommen würde, wenn er sich etwas einschränkte. Deswegen waren auch seine wenigen Möbel, die er mitgebracht hatte – ein Campingtisch, zwei Stühle, ein IKEA-Regal, seine Matratze und eine Kommode - allesamt billig, alt und kaum besser als Sperrmüll. Lediglich das Essgeschirr hatte er sich neu angeschafft ... Nun – das würde er jetzt wohl ein zweites Mal tun müssen, nachdem dieses ungehobelte Arschloch von vorhin es mit seinem Tritt in tausend Stücke zerschmettert hatte.

Und dabei hatte Magnus ehrlich gehofft, die Dinge liefen hier in der Stadt anders als daheim. Hätte er den Fremden nicht gleich so angefahren, wäre das ja vielleicht sogar der Fall gewesen? Obwohl – nein, so abfällig wie der Andere ihn sofort als 'Schwuchtel' tituliert hatte, hätte der sich nie im Leben dazu herabgelassen, sich ausgerechnet mit ihm, dem Schwulen, anzufreunden! Vermutlich hatte er im ersten Moment noch nicht mal geahnt, dass er Magnus bezüglich seiner sexuellen Orientierung damit richtig einsortierte, sondern hatte ihn lediglich beleidigen und ihm zeigen wollen, dass er hier der Platzhirsch war, oder was auch immer. Trotzdem bewies die Verwendung ausgerechnet dieses Schimpfwortes nur allzu deutlich, dass ein Homosexueller bei ihm nichts zu lachen haben würde.

Seufzend stiefelte er ins Bad und warf einen prüfenden Blick in den Spiegel. Noch immer war seine Lippe geschwollen, aber das nützte nun alles nichts. Er konnte sich wohl kaum an seinem ersten, richtigen Arbeitstag krank melden? Nach einem Blick auf seine Armbanduhr kramte Magnus aus einem der Kartons ein Handtuch und Duschgel, streifte seine Kleider aus und stellte sich unter die Brause. Es brannte, als Wasser in die Wunde an seiner Lippe rann, doch er ignorierte den Schmerz. Da hatte er schon Schlimmeres erlebt. Anschließend schlüpfte er in frische Unterwäsche und streifte die Hüftjeans wieder über. Nachdem er noch ein sauberes Shirt angezogen hatte, schnappte er sich Handy, Schlüssel und Geldbeutel, stieg in seine Sneakers und eilte aus der Tür.

Der Lieferwagen, mit dem er seine Sachen hergebracht hatte, war gemietet und musste am nächsten Tag zurückgebracht werden. Daher erschien es ihm sicherer, ihn über Nacht vor dem Haus geparkt stehen zu lassen, anstatt jetzt damit zur Arbeit zu fahren und nicht einmal zu wissen, ob er in der Umgebung des Clubs überhaupt einen Stellplatz fand. Am Ende wurde die Karre noch gestohlen oder beschädigt und dann geriete er unweigerlich in Erklärungsnot. Außerdem war für den heutigen Tag sein Bedarf an Katastrophen bereits hinlänglich gedeckt. Mit S- und U-Bahn dauerte es fast eine Dreiviertelstunde, bis er seinen Arbeitsplatz erreichte, aber das war eben nicht zu ändern. Wenn alles wenigstens einigermaßen glatt lief, war es ja auch nicht für lange.

Erwartungsgemäß verzog der Besitzer der Bar mit dem hochtrabenden Namen 'Empire State' das Gesicht, als er die lädierte Lippe seines neuen Angestellten sah.

„Was ist denn mit dir passiert?“, wollte er mit hochgezogenen Brauen wissen und Magnus war klug genug, dahinter keine übertriebene Anteilnahme zu vermuten, sondern eher die Sorge um sein Etablissement.

„Ich bin heute in meine neue Wohnung eingezogen und einer meiner Nachbarn hat wohl was gegen Schwule“, erwiderte er achselzuckend und rang sich ein Lächeln ab, in der Hoffnung, wenigstens nicht gleich wieder gefeuert zu werden. Und wie es aussah ging seine Rechnung auf.

„Oh, Honey! Was für eine Schande! Dein süßes Gesicht so zu verunstalten!“, wechselte sein Chef sofort in einen fast schon komisch anmutenden Gluckenmodus. „Hast du wenigstens Eis draufgetan?“ Magnus schüttelte den Kopf.

„Ich hatte keins. Der Kühlschrank war ja noch aus. Aber es geht schon.“ Missbilligend schnalzte sein Boss mit der Zunge.

„Und bist du sicher, dass du so arbeiten kannst? Warst du schon beim Arzt? - Wenn es dir zuviel ist, kannst du dich auch hinten in meinem Büro ein bisschen ausruhen!?“ Magnus empfand die überschwängliche Fürsorge seines Chefs als zunehmend unangenehm, zumal die übrigen Kellner, die einer nach dem anderen eintrudelten und sich fertigmachten, ebenfalls aufmerksam wurden und hinter dessen Rücken die Köpfe schüttelten.

„Mensch, Berni!“, sagte schließlich einer und klang eindeutig genervt, „Du kannst es nicht lassen, was? Kaum ist ein Neuer im Haus, willst du ihm an die Wäsche! Pass` mal lieber auf, dass dein Andreas das nicht mitkriegt! Sonst siehst du auch bald so aus wie der Kleine da!“ Magnus drehte sich um und musterte den Sprecher, einen rothaarigen, jungen Mann, der nicht viel älter als er selbst sein konnte und von kleiner, dafür aber drahtiger Statur war. Sein Boss winkte zwar ab, wirkte jedoch plötzlich nervös.

„Andreas? Wieso? Ist der etwa schon hier? - Ich habe mich doch nur um die Gesundheit unseres Neuzugangs gesorgt!“ Er leckte sich rasch über die Lippen und machte einen Schritt nach hinten, weg von Magnus. Der andere Kellner hob grinsend die Schultern.

„Natürlich“, feixte er mit ironischem Unterton.

„Naja, wie auch immer … also … Magnus, richtig? Schau halt mal, wie gut es läuft und dass das in Zukunft nicht häufiger passiert, ja? Wir sind vielleicht nicht das erste Haus am Platze, aber einen gewissen Standard, was unsere Anfgestellten angeht, haben wir trotzdem“, plapperte 'Berni', plötzlich scheinbar bestrebt, so schnell wie möglich eine gewisse Distanz zu demonstrieren. „Jo soll dir alles zeigen und erklären, Kasse und so weiter. Trinkgelder darfst du behalten und solltest du dir nebenher was dazu verdienen wollen, weiß ich davon nichts, klar?“ Er drückte das Kinn nach unten und sah ihm mit Verschwörermiene in die Augen. „Das hier ist ein absolut legales Unternehmen und ich werde es mir unter Garantie nicht mit den Behörden verderben, nur weil ihr Jungs euch in den Klokabinen den Arsch versilbern lasst!“ Damit wandte er sich hastig ab und verschwand. Magnus starrte ihm konsterniert hinterher, bis er einen leichten Stoß gegen die Schulter bekam.

„Was ist? Stehst du etwa auf den Kerl?“ Er sah auf und begegnete dem leicht amüsierten Blick des Rothaarigen, der sich inzwischen in sein Kellner-Outfit gezwängt hatte. Selbiges bestand aus einer knapp sitzenden, goldenen Glitzer-Hotpants, einer schwarzen Fliege und weißen Manschetten. Sonst nichts.

„Ob ich …?“ Verdutzt deutete Magnus mit dem Daumen über die Schulter in die Richtung in die ihr Chef verschwunden war und schüttelte sich dann demonstrativ. Sein Gegenüber lachte.

„Dann ist ja gut. Ich dachte schon.“ Ein prüfender Blick traf Magnus` Gesicht. „Oder hast du vielleicht schon Bekanntschaft mit Andreas gemacht?“

„Du meinst wegen dem hier?“ Magnus wies auf seine lädierte Oberlippe. „Nein. Das war einer meiner neuen Nachbarn.“ Sein Gegenüber wölbte erneut die Brauen.

„Aha. Scheint ja ´ne nette Gegend zu sein, in der du wohnst. Ich bin übrigens Johannes, aber alle nennen mich Jo.“ Er reichte Magnus die Hand und der ergriff sie lächelnd.

„Keine Ahnung. Ich bin heute erst eingezogen“, erwiderte er. „Aber zumindest ist da die Miete erschwinglich für mich.“ Jo nickte verstehend und machte eine auffordernde Kopfbewegung.

„Na, dann komm`! Ich zeig` dir alles. In einer halben Stunde geht der Betrieb hier los, bis dahin müssen wir alles fertig haben. Hast du schon mal irgendwo gekellnert?“ Magnus nickte.

„Ja, in den Ferien und so.“

„Prima!“, lächelte der Andere. „Dann wird dir das Meiste ja schon geläufig sein.“ Die folgenden dreißig Minuten waren angefüllt mit reichlich Informationen und jeder Menge neuer Eindrücke, inklusive der endgültigen Erkenntnis, was 'Berni' meinte, als er davon geredet hatte, dass seine Kellner sich in der Toilette 'den Arsch versilbern' ließen. Jo erklärte ihm freimütig, dass es im Empire State gängige Praxis war, wenn die Kellner sich mit Sex etwas nebenher dazu verdienten.

„Ich wette, du wirst dich vor Nachfragen auch erst mal nicht retten können“, sagte er, während er den Blick an Magnus rauf und runter wandern ließ. „Allein schon weil du neu bist. Und wenn du dein 'Duckface' erst mal wieder losgeworden bist, erst recht. Du bist nämlich echt ziemlich süß und auf sowas stehen die Kerle hier“, ergänzte er anzüglich grinsend. Magnus schüttelte jedoch den Kopf und meinte: „Keine Chance. Ich mach` diesen Job hier nur, bis ich eine Ausbildungsstelle habe, dann bin ich weg. Und ich werde ganz sicher nicht für Geld irgendwelchen wildfremden Typen meinen Arsch hinhalten! Das ist nicht mein Ding!“ Jo zuckte gelassen die Schultern.

„Ganz wie du meinst. Das ist deine Sache.“ Er wollte sich abwenden, doch Magnus hielt ihn zurück.

„Wer ist eigentlich dieser Andreas, von dem du eben gesprochen hast? Sah aus, als hätte der Boss ziemlichen Respekt vor ihm.“

Jo schürzte die Lippen, während er Magnus kurz abschätzend musterte, als müsste er entscheiden, ob dieser eine Antwort wert war.

„Andreas ist Bernis Stecher. Wenn du mich fragst, ein ziemlich beschissener Typ, der seine Lover prügelt, wenn es nicht nach seinem Kopf geht, oder er einen miesen Tag hat. Aber unser geschätzter Boss hält ihn für seinen persönlichen Messias oder sowas.“ Er zuckte die Achseln. „Kann uns ja eigentlich auch egal sein. Berni ist erwachsen und muss selber wissen, was er tut.“

Und damit war die Einweisung fürs Erste beendet. Der Club öffnete und über die nächsten Stunden war Magnus mehr als ausgelastet damit, Bestellungen aufzunehmen und zu servieren, ohne allzu viel durcheinander zu bringen, aufdringliche Kunden in ihre Schranken zu weisen und sämtliche Arbeiten zu erledigen, die ihm sonst noch aufgetragen wurden. Das sparsame Outfit war zunächst ebenfalls gewöhnungsbedürftig, hatte allerdings auch seine Vorteile, als in der Bar die Temperatur deutlich anstieg und nach ein paar Stunden dachte er gar nicht mehr groß daran. Als er gegen Mitternacht Pause machte, brannten seine Füße, sein Kopf dröhnte von der lauten Musik und er fühlte sich verschwitzt und klebrig. Aber dafür hatte er bereits ein paar nette Trinkgelder eingeheimst, was seine Laune gleich wieder steigen ließ. Er holte sich an der Bar eine kalte Cola, streifte seine Jacke über und verdrückte sich durch den Hinterausgang nach draußen. Während er das kühle Getränk in kleinen Schlucken zu sich nahm, lehnte er sich an die Mauer neben der Tür und sah in den Nachthimmel hinauf. In seinen Ohren summte es als Nachwirkung des Lärms in der Bar und die Geräusche der Stadt drangen als leises, ständig präsentes Rauschen bis zu ihm. Seine Gedanken drifteten davon, zurück zu den Erlebnissen des Tages und darum dauerte es einen Moment, bis er begriff, dass sich etwas verändert hatte.

Er horchte kurz und stellte dann seine Cola weg, riss die Hintertür auf und fand seinen Eindruck bestätigt. Nach wie vor dröhnte die Musik, aber darüber lag jetzt eine Kakophonie aus Angst- und Schmerzensschreien. Schemen huschten panisch durch den düsteren, von rhythmischen Stroboskopblitzen erhellten Raum und Magnus duckte sich instinktiv, kaum dass er wieder richtig drinnen war.

Was zum Teufel war hier los? Er ging hinter einem nahen Stehtisch in Deckung, reckte dann vorsichtig den Kopf in die Höhe und sah wie eine ganze Reihe finsterer Gestalten, mit Tüchern vor den Gesichtern, Jagd auf die Gäste des Clubs machten. Wie Hühner zwischen die der Fuchs gefahren war, rannten die Besucher herum und so mancher kreischte sich dabei panisch die Lunge aus dem Leib. Angesichts der Tatsache, dass die unbekannten Angreifer sämtlich dicke Knüppel - oder vielleicht sogar Baseballschläger? - schwangen, war das auch durchaus verständlich!

War das etwa ein Überfall? Was wollten diese Kerle?

Magnus zog sich wieder in seine Deckung zurück, fischte mit zitternden Fingern sein Handy aus der Jackentasche und wählte den Notruf. Nachdem er durchgegeben hatte, wo er sich befand und was hier gerade passierte, verstaute er es wieder und kauerte sich dann erneut zusammen, um nicht selber in den Fokus der Angreifer zu geraten. Plötzlich jedoch kam trotzdem jemand genau in seine Richtung gerannt und bei genauem Hinsehen erkannte er Jo. Sein rechter Arme baumelte nutzlos an seiner Seite herab und Blut rann aus einer Platzwunde an seiner Stirn. Er hatte Magnus offenbar nicht gesehen, steuerte lediglich den Hinterausgang an, vermutlich um vor dem großen, breitschultrigen Kerl zu flüchten, der ihm mit langen, ausgreifenden Schritten folgte, den Baseballschläger leicht von sich weg zur Seite haltend. Noch bevor Jo den Tisch erreicht hatte, hinter dem sich Magnus versteckte, war der Kerl bei ihm, holte aus und ließ den Schläger mit kräftigem Schwung seitlich gegen dessen Bein krachen.

Mit einem Schmerzensschrei ging der Getroffene zu Boden, krallte die Finger in die Ritzen des Bodenbelags und zog sich daran weiter vorwärts. Der Anblick war schrecklich und mit klopfendem Herzen starrte Magnus schockiert auf seinen Kollegen, unfähig irgendetwas zu tun oder ihm womöglich zu Hilfe zu kommen. Wie hypnotisiert hob er schließlich den Blick, sah auf zu dem Unbekannten und blinzelte gleich darauf ungläubig. Das Tuch war dem Schlägertypen vom Gesicht gerutscht und es war tatsächlich kein Anderer, als der fiese Kraftprotz vom Nachmittag!

Das konnte doch nicht sein, oder? So einen Zufall konnte es nicht geben!

Plötzlich wurde Magnus bewusst, dass der Kerl ihn direkt anschaute, scheinbar unschlüssig, was er nun machen sollte, angesichts der Tatsache, dass Magnus sein Gesicht gesehen hatte und damit wohl sowas wie ein wertvoller Zeuge war. Sekunden dehnten sich zu gefühlten Stunden, der Mann machte einen unsicheren Schritt vorwärts, hob den Baseballschläger und dann – endlich! - erschollen Martinshörner, die sich rasch näherten. Der Typ drehte den Kopf und zerrte im selben Augenblick auch das Tuch wieder vor sein Gesicht. Dann fasste er den Baseballschläger fester, warf Magnus noch einen letzten Blick zu und rief hinter sich in den Club nach seinen Begleitern.

„Los! Weg hier! Die Bullen!“ Aus unterschiedlichen Richtungen lösten sich vermummte Gestalten und keine Minute später waren sie verschwunden wie ein böser Spuk. Zurückgelassen hatten sie ein Bild der Verwüstung. Überall lagen oder kauerten Menschen, manche schmerzlich stöhnend, andere stumm vor Schock.

Tische waren umgestürzt, der große Spiegel hinter der Theke eingeschlagen und auf dem Boden befanden sich Lachen aus verschiedenen Flüssigkeiten. Ein Wimmern ganz in der Nähe riss Magnus aus seiner Lethargie und er wandte den Kopf zu seinem Kollegen Johannes, der immer noch bäuchlings auf dem Boden lag. Rasch ging er zu ihm und kniete sich neben ihn, half ihm sich auf den Rücken zu drehen. Der Rothaarige knirschte dabei allerdings vor Schmerz mit den Zähnen und versuchte krampfhaft mit der gesunden Hand den verletzten Arm festzuhalten, was ihm aber nicht gelang, weil offenbar jede noch so kleine Berührung zusätzlich schmerzte.

Tränen sprangen ihm aus den Augenwinkeln und mischten sich mit dem Blut, das über sein Gesicht verschmiert war, Rotz floss ihm aus der Nase und schließlich ruderte er hilflos durch die Luft, auf der vergeblichen Suche nach Halt.

„Schhhh! Ist ja gut! Sie sind weg und gleich kommt Hilfe!“, versuchte Magnus sich in der Rolle des Trösters und fasste die herumwedelnde Hand. Darauf rollte sich Johannes auf die unverletzte Seite und krallte sich schluchzend an Magnus fest, vergrub das Gesicht in dessen Schoß und machte den Eindruck niemals wieder loslassen zu wollen.

Morten

Herrgott im Himmel nochmal! Was war das denn gewesen? Morten fluchte lautlos, während er an der Spitze seines Trupps aus der Bar stürmte und sie, wie vorher ausgemacht, direkt vor dem Eingang in alle Richtungen auseinander stoben. Die Martinshörner waren bereits ziemlich nah und er meinte, am Ende der Straße schon zuckendes, blaues Licht sehen zu können. Rasch zog er den Kopf ein und rannte zur anderen Seite davon, den Baseballschläger fest umklammert und dicht an sich gepresst. Gott sei Dank war es hier sehr dunkel, die Gegend ein weitgehend unbewohntes Gewerbegebiet am Stadtrand, wo an der Straßenbeleuchtung gespart worden war.

Es dauerte nicht lange, da kam er zu einer schmalen Gasse zwischen zwei alten Lagerhäusern, schlüpfte hindurch und sprintete dann über ein Stück Brachland, ehe er sich durch einen schmalen Streifen aus dichtem Buschwerk zwängte und dahinter eine Landstraße erreichte, welche aus der Stadt hinausführte. Um diese Uhrzeit herrschte hier nur noch sehr wenig Verkehr und er blieb kurz stehen, um sich das Tuch abzunehmen. Er stopfte es in seine Jackentasche, überquerte die Fahrbahn, schulterte dann seinen Baseballschläger und marschierte stadteinwärts. Während er stoisch einen Fuß vor den anderen setzte, sah er wieder das Gesicht des blonden Kellners vor sich.

Das war doch der Typ vom Nachmittag gewesen? Also hatte ihn sein Eindruck nicht getrogen und der Kerl war wirklich ein Homo! Sonst würde er doch nicht in diesem widerlichen Schuppen arbeiten? Kein Mann, der was auf sich hielt und normal war, lief freiwillig in so einem Outfit durch die Gegend und dann noch in einem Laden, in dem ausschließlich Schwuchteln verkehrten!

Aber wieso hatte er dann nicht zugeschlagen? Was hatte ihn davon abgehalten, das in die Tat umzusetzen, was er sich noch am Nachmittag ausgemalt hatte, nämlich dem blonden Arschficker mal so richtig die Fresse zu polieren, damit er wusste, wo sein Platz war? Stattdessen hatte er ihm auch noch sein Gesicht hingehalten und unter Garantie hatten die Bullen jetzt bereits seine Adresse und eine Beschreibung bekommen. Und da er kein völlig unbeschriebenes Blatt mehr war, würde es vermutlich nicht mehr lange dauern, bis sie bei ihm vor der Tür standen, um ihn zu verhaften. Es wäre demnach in jeder Hinsicht klüger gewesen, dem Blonden zumindest die Zähne einzuschlagen, wenn nicht mehr. Wieso hatte er es also nicht getan? Was hatte ihn davon abgehalten?

Morten konnte sich die Frage nicht beantworten und das machte ihn wütend. Mit mahlenden Kiefern, den Kopf nach vorn gereckt und die gesamte Haltung angespannt, legte er den Weg bis zuhause zurück, ohne dass ihn jemand behelligte.

Als er sich dem heimatlichen Wohnblock näherte, spähte er zunächst vorsichtig um die Ecke eines Gebäudes, bevor er sich in den Hausflur und ins Treppenhaus schlich und auch dort noch einmal misstrauisch horchte. Er hörte nur das Übliche. Irgendwo lief trotz der späten Uhrzeit Rap in betäubender Lautstärke, sodass es bis nach unten schallte, ein Baby schrie sich die Lunge aus dem Leib und irgendjemand stritt sich vernehmlich, aber nichts deutete darauf hin, dass Polizisten im Haus waren und auf ihn warteten.

Mortens erster Weg führte ihn in den Keller und dort in die Waschküche. In der hinteren, rechten Ecke des Raumes stellte er sich auf den wackligen Campingstuhl, der dort seit Ewigkeiten wie zufällig herumstand und drückte eine der Platten der Deckenverkleidung in die Höhe. Das war sein Geheimversteck, hier bewahrte er all die Dinge auf, von denen niemand wissen sollte. Ein Tütchen Gras, ein Springmesser, eine Blechdose mit einer dünnen Rolle niedriger Geldscheine und nun wanderten auch sein Baseballschläger und das Halstuch dort hinein. Sollten doch noch Bullen bei ihm auftauchen, würde er einfach alles abstreiten. Seine Eltern fielen ihm garantiert nicht in den Rücken, genauso wenig wie seine Geschwister und streng genommen hatten die ja auch keinen blassen Schimmer davon, mit wem er heute Nacht wo wie lange gewesen war und was sie dort gemacht hatten. Und solange die Scheißbullen den Baseballschläger nicht in die Finger bekamen, stand sowieso Aussage gegen Aussage. Immerhin war Morten sich ziemlich sicher, das niemand außer dem Blonden sein Gesicht gesehen hatte.

Nachdem er alles verstaut hatte und die Deckenplatte wieder richtig an ihrem Platz saß, stieg er von dem Stuhl, packte ihn und trug ihn in eine andere Ecke. Anschließend verließ er den Raum und knipste das Licht hinter sich aus, ehe er mit dem Fahrstuhl in seine Etage fuhr.

Als er die elterliche Wohnung betrat, war alles still und dunkel. Leise schlich er in sein Zimmer, ohne Licht anzumachen, zog sich aus und schlüpfte in sein Bett. Kaum lag er ruhig, kamen die Bilder. 'Jagdszenen' nannte er sie im Stillen und ließ sie mit einem breiten Grinsen auf sich wirken. Der rothaarige Typ, dem er zuerst den Arm und dann hoffentlich auch noch das eine Bein gebrochen hatte, hatte gekreischt wie ein Mädchen, als der Baseballschläger ihn traf. Es hatte Morten ein Gefühl von Macht gegeben, als der Kerl versucht hatte, vor ihm davon zu kriechen. Er hätte ein drittes Mal zuschlagen können, direkt auf den Hinterkopf des Typen und dessen Schädel wäre vermutlich zerplatzt wie eine Nussschale. Er hatte es nicht getan, auch wenn es ihn in den Fingern gejuckt hatte, aber der Gedanke, es tun zu können, das Leben eines anderen Menschen in der Hand zu haben, war wie ein Rausch für ihn gewesen!

Ein kurzer Rausch allerdings, denn im nächsten Moment war sein Blick auf den Mann gefallen, der sich unter dem  Stehtisch versteckt hatte und ihn anschaute, wie das Kaninchen die Schlange. Erst da hatte Morten bemerkt, dass ihm das Tuch vom Gesicht gerutscht war und es war gar nicht mehr nötig gewesen, das Aufblitzen in den Augen des Blonden zu sehen, um zu wissen, dass der ihn ebenfalls erkannt hatte. Die einzig logische Konsequenz wäre gewesen, ihm augenblicklich mit dem Baseballschläger den Schädel einzuschlagen, rein instinktiv, um sich selber und seine Jungs zu schützen, aber aus irgendeinem Grund hatte er es nicht gekonnt. Stattdessen hatte er nur dagestanden und den Typen angeglotzt, kostbare Zeit verstreichen lassen und dann waren auch schon die Bullen im Anmarsch gewesen. Die anschließende Flucht war zwar geglückt, aber was würde als Nächstes passieren? Der blonde Homo hatte weiß Gott keinen Grund mit seinem Wissen hinter den Berg zu halten, aber – gesetzt den Fall, er hatte ihn tatsächlich verpfiffen, hätten die Bullen dann nicht schon längst auf seiner Spur sein müssen?

Unruhig wälzte sich Morten hin und her, an Schlaf war nicht zu denken, ständig horchte er nur darauf, ob jemand kam. Als der Morgen dämmerte, ohne dass er verhaftet worden war, war er verwirrt. Bedeutete das jetzt, der Kerl hatte ihn doch nicht erkannt? Oder hatte er es nur vorgezogen, ihn nicht zu verraten? Allerdings – wieso sollte er das tun? Hatte Morten ihn am gestrigen Nachmittag so nachhaltig eingeschüchtert? Dabei hatte er doch ganz und gar nicht gewirkt wie jemand, der sich einfach so die Butter vom Brot nehmen ließ. Seine Antwort an Morten, als der ihn wegen dem Rempler anblaffte, war dafür doch schon Beweis genug gewesen, oder?

Aber was steckte dann dahinter? Morten vermochte es nicht zu ergründen.

Magnus

Warum hatte er nicht gesagt, was er wusste? Dass der Kerl, der Johannes so zugerichtet hatte, im selben Haus wohnte wie er selber?

Wieso hatte er den Kopf geschüttelt, als die Polizisten ihn fragten, ob er irgendjemanden erkannt hatte? Das war doch völlig absurd! Hatte er solche Angst vor dem Typen? Oder erhoffte er sich vielleicht irgendetwas im Gegenzug?

Nein – und was denn auch? Der Kerl war doch kalt wie eine Hundeschnauze und würde sicher nicht zögern, ihm eiskalt den Schädel einzuschlagen, sollte Magnus versuchen, ihn mit seinem Wissen irgendwie unter Druck zu setzen. Und was sollte er davon auch haben? Er war nicht der Typ, der andere erpresste oder mit unlauteren Mitteln zu etwas zwang, selbst wenn er gewusst hätte, zu was. Aber nun war es zu spät für diese Überlegungen. Die Erstversorgung durch die Sanitäter und die anschließende erste Befragung waren vorbei, die Verletzten wurden einer nach dem anderen abtransportiert und er durfte vorläufig nach Hause gehen.

Nachdem er sich umgezogen hatte, holte Magnus seine Jacke und verließ dann den Club durch die Vordertür, vorbei an kleinen Grüppchen aus Gästen, Angestellten und Polizisten. Noch immer standen etliche Männer unter Schock und wurden von Notärzten und Sanitätern betreut, Beamte der Spurensicherung wuselten durchs Lokal und unter Magnus` Schuhsohlen knirschten Glasscherben, als er ging. Außer Johannes waren zwei weitere Kellner den Schlägern zum Opfer gefallen. Den Einen hatten sie lediglich an der Hand erwischt, dem Zweiten dafür aber vier Rippen gebrochen, von denen sich eine in die Lunge gebohrt hatte. Und auch unter den Gästen gab es zahlreiche kleinere und größere Blessuren, Platzwunden und gebrochene Knochen. Fast schien es unglaublich, dass während der relativ kurzen Zeit, die der Überfall nur gedauert hatte, doch so ein enormer Schaden angerichtet worden war.

Die kühle Nachtluft ließ Magnus frösteln und plötzlich war er unglaublich müde und erschöpft, wollte nur noch nach Hause, in seiner Wohnung auf die Matratze fallen und schlafen. Schlafen und alles vergessen, was an diesem langen, grässlichen Tag passiert war.

Vor vierundzwanzig Stunden hatte er noch in seinem Bett zuhause gelegen, todmüde vom Packen und aufgeregt beim Gedanken daran, dass dies die letzte Nacht in seinem Elternhaus war und er schon bald ein neues Leben beginnen würde. Dass es freilich so anfing, hatte er nicht ahnen können und sich auch ganz sicher nicht gewünscht! Andererseits – eigentlich konnte es doch nur noch besser werden, nach diesem beschissenen Start, oder? Obwohl … der Typ mit dem Baseballschläger fiel ihm wieder ein. Der wohnte doch auch bei ihm im Haus? Was, wenn der beschloss, dass es ihm zu riskant war, Magnus mit seinem Wissen frei herumlaufen zu lassen?

Angst beschlich ihn und bildete einen harten Knoten in seinem Magen. Magnus war beileibe kein Feigling, hatte immer für sich eingestanden, selbst wenn er gewusst hatte, dass er Prügel beziehen würde. Aber das hier, das stand auf einem gänzlich anderen Blatt. Wer eine Bar überfiel und grundlos andere Menschen krankenhausreif schlug, der machte auch sicher nicht davor Halt, einen unliebsamen Zeugen zum Schweigen zu bringen!

Er verwünschte sich zum wiederholten Mal, dass er den Polizisten nicht gesagt hatte, was er wusste. Aber das konnte er ja Gott sei Dank noch ändern! Gleich am nächsten Morgen würde er aufs nächste Revier gehen und eine Aussage machen! Und bis dahin musste er eben besonders vorsichtig sein und durfte niemanden in seine Nähe lassen! Wenn er zumindest ein klitzekleines bisschen Glück hatte, war der Typ aber ohnehin erst mal über alle Berge, denn ihm musste schließlich klar sein, dass Magnus ihn verraten würde. Und länger als die paar Stunden bis zum Morgen, würde Magnus ihm auch nicht mehr geben. Ging alles glatt, saß der Schläger ja vielleicht bis zum folgenden Abend schon hinter Schloss und Riegel!

Morten

Kaum war es richtig hell, wurde es laut in der Wohnung. Seine Geschwister machten sich für die Schule fertig und lärmten in Badezimmer und Küche, das tiefere Organ ihres Erzeugers mischte sich ein, der wie jeden Morgen barsch nach Kaffee und Zeitung verlangte und bald darauf klappte die Wohnungstür. Dann erst rappelte sich Morten aus den Federn und tappte in Boxershorts und T-Shirt ebenfalls in die Küche. Dort herrschte mittlerweile Ruhe.

Sören Rasmussen thronte wie immer am Kopfende des Küchentisches und studierte stirnrunzelnd die Schlagzeilen des Tages, während Mortens Mutter still danebensaß und wartete. Sie hob den Kopf, als ihr ältester Sohn hereinkam, stand dann eilends auf und goss ihm unaufgefordert eine Tasse Kaffee ein, gab zwei Löffel Zucker hinzu und rührte um, bevor sie sich wieder setzte und ihm das Getränk hinschob.

Die Familie Rasmussen war nicht im eigentlichen Sinne arm, lebte jedoch gezwungenermaßen sparsam, da das Bauarbeitergehalt des Vaters und das, was Morten gelegentlich und immer nur zeitlich befristet nach Hause brachte, nicht für große Sprünge reichte. Schon gar nicht bei drei schulpflichtigen Kindern im Teenageralter. Kleidungsstücke wurden von den älteren an die jüngeren Geschwister weitergereicht, weshalb Nils heute die Sachen trug, die einst in Mortens Schrank gelegen hatten und Sonja die Kleider von Karen erbte. Aus demselben Grund war auch das Frühstück jeden Morgen dasselbe, Cornflakes für die Kinder, Brot mit billiger Marmelade aus dem Supermarkt für die Erwachsenen. Brötchen, Eier oder gar so etwas Luxuriöses wie Croissants oder Orangensaft suchte man hier vergeblich.