Hölderlin - Uwe Gonther - E-Book

Hölderlin E-Book

Uwe Gonther

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Beschreibung

Dichter, Patient, Mensch Friedrich Hölderlin steht wie niemand sonst in der deutschen Literatur für das Klischee vom wahnsinnigen Genie. Jann E. Schlimme und Uwe Gonther – beide Psychiater, beide ausgewiesene Hölderlinexperten – befragen die Quellen, um sein Leben in der sogenannten »Turmzeit« zu verstehen, anstatt sie psychopathologisch zu deuten: Wie sah Hölderlin sich selbst, wie beschrieben ihn die Menschen, die ihm nahestanden? Wie schilderten ihn die Ärzte seiner Zeit? Und sie setzen diese Zeugnisse in Beziehung zu den zahlreichen posthumen diagnostischen Versuchen. Schlimme und Gonther kommen zu einem anderen, neuen Verständnis: Psychotische Krise und mühevolle Genesung? Ja. Umnachtung? Nein.

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Seitenzahl: 127

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Prof. Dr. Uwe Gonther ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Ärztlicher Direktor AMEOS Klinikum Bremen, Lehrauftrag für Psychiatrie an der Hochschule für Künste im Sozialen (HKS) Ottersberg.

Priv.-Doz. Dr. Dr. Jann E. Schlimme, M.A., ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie in einer eigenen Praxis für Psychosebegleitung und Psychosenpsychotherapie und hat verschiedene Lehraufträge für Sozialpsychiatrie.

Uwe Gonther, Jann E. Schlimme

Hölderlin

Das Klischee vom umnachteten Genie im Turm

Inhalt

Das umnachtete Genie im Turm?

Biografische Rohdaten

Zeittafel zur überlieferten seelischen Verfassung in der zweiten Lebenshälfte

Zeittafel posthumer psychiatrischer Schizophreniediagnostik bei Hölderlin

Hölderlin als Experte in eigener Sache

Briefliche Selbstbekundung (bis 1802)

Selbstauskunft im dichterischen Werk bis 1806

Selbstauskunft zur Behandlung im Tübinger Klinikum

Dichterische Selbstauskunft 1807 und bis 1816

Selbstauskunft in Briefen an die Mutter 1807–1828

Dichterische Selbstauskunft im hohen Lebensalter

Vertrauenspersonen über ihr Miteinander mit Hölderlin

1802–1804

1804–1806

1806–1807

1807–1843: Leben im Hause Zimmer

1807–1838: Ernst Zimmer

1822–1826: Wilhelm Waiblinger

1813–1843: Lotte Zimmer

1841–1843: Christoph Theodor Schwab

1792–1850: Gustav Benjamin Schwab

Ärztliche Aussagen über Hölderlin

Verständnis und Behandlung des psychotischen Erlebens Hölderlins

Justinus Kerner über Hölderlin: Ärztliche Aussage oder schriftstellerische Erzählung?

Varnhagen van Ense: Beobachtung eines Medizinstudenten oder Unterhaltungsbild?

Ärztliche Äußerungen nach Hölderlins Tod

Fazit: Ein Reiseführer ans Neckarufer

Anhang

Rezeptbuch der Autenriethschen Klinik

Literatur

Ohne die geduldige und freundschaftliche Unterstützung von Sandra Kieser und Silke Schalhorn wäre dieses Buch nicht zu Hölderlins Geburtstag fertig geworden, vielleicht sogar niemals. Liebe Sandra, liebe Silke, wir danken Euch!

Das umnachtete Genie im Turm?

Im Jahr 2020 feiern wir die Geburt von Friedrich Hölderlin vor 250 Jahren. Wir feiern den Dichter und seine großartigen Werke – Leistungen, die er in seinen ersten 36 Lebensjahren vollbracht hat. Seltener beachtet hingegen werden die letzten 36 Jahre seines Lebens, und wenn, dann oft im Bild des umnachteten Dichters im Turm. Doch dies ist ein Klischee. Es nährt das romantische Bild des wahnsinnigen Dichters, der über die Tiefe seiner Einsichten verrückt geworden ist. Es nährt aber auch das psychiatrisierende Bild des unverständlichen Schizophrenen, der von der Wucht seiner Krankheit dauerhaft realitätsverwirrt geworden ist. Beide Bilder sind falsch, sie sind inhaltsleere Klischees. Sie sagen uns weder etwas über den Menschen Friedrich Hölderlin noch über das Verhältnis von Kreativität und seelischen Krisen. Dennoch hat Hölderlin die Auseinandersetzung über das Thema »Genie und Wahnsinn« im deutschsprachigen Raum bis heute geprägt, und vielleicht ist dies sogar seine größte Wirkung in unserem Kulturraum. Denn die Debatte um Friedrich Hölderlins Krankheit wurde schon zu seinen Lebzeiten intensiv geführt und ist bis heute nicht abgeschlossen. Wir möchten anlässlich des 250. Jahrestages seiner Geburt diese Auseinandersetzung aufnehmen. Wir denken: Es ist Zeit, mit dem Klischee des geistig umnachteten Dichters im Turm aufzuräumen.

Wer war Friedrich Hölderlin, der 1807 nach 231 Tagen aus der Behandlung im Tübinger Universitätsklinikum als unheilbar krank und mit der ärztlichen Prognose von maximal drei weiteren Lebensjahren entlassen wurde? Was wissen wir über den Menschen, der anschließend 36 Jahre beim Schreinermeister Zimmer direkt am Neckarufer lebte, nur siebzig Meter vom Klinikum entfernt? Was war das für ein Mensch, der sein langes Leben weiterhin aktiv gestaltete, wenn auch in sehr kleinräumigen Verhältnissen? Uns geht es um diesen zwar keineswegs umnachteten, aber sicher auch nicht völlig uneingeschränkt gesunden Menschen Friedrich Hölderlin. Und darum, wie er den Weg hin zu einem mehr oder weniger guten Leben nach den vielen Erschütterungen fand und ging.

Seit zwei Jahrzehnten beschäftigen wir uns mit diesen Fragen. Doch wir können nicht behaupten, wir wüssten alles zu diesem Thema. Im Gegenteil: Wir sind davon überzeugt, dass dies gar nicht möglich ist. Zum einen, weil wichtige Dokumente nicht überliefert wurden, wie beispielsweise Hölderlins Krankenakte aus dem Klinikum. Zum anderen, weil wir Hölderlin immer mit unseren eigenen Augen, unserem Wissen und unserem Verständnis sehen. Es gibt nicht die eine Wahrheit über einen anderen Menschen, die exakte Sicht, das richtige Bild. Sondern immer nur das Bild, das wir uns von dem anderen machen. Genau dies haben auch etliche Psychiater gemacht: Sie haben Hölderlins zweite Lebenshälfte durch ihre Augen betrachtet, dies jedoch als exakte Wissenschaft ausgegeben und so zum Klischee des umnachteten Genies im Turm beigetragen. Doch es gibt auch Ausnahmen aus psychiatrischer und vor allem literaturwissenschaftlicher Sicht, die den Menschen hinter dem Klischee gesucht und gefunden haben. In dieser Linie sehen wir uns selbst.

Selbstverständlich lebt die Debatte um Hölderlin auch von der spärlichen Überlieferung harter Fakten. Dies erfordert Spekulation, wenn man sich dem im Leben verirrten und vom Leben verstörten Hölderlin der Jahre nach seinem Zusammenbruch 1802 nähern will. So erfindet sogar Peter Härtling in seinem grandiosen biografischen Roman an einzelnen Stellen Beschwerden hinzu, um uns Hölderlins Seelenzustand zugänglicher zu machen (v. a. Stimmenhören; vgl. HÄRTLING 2005, S. 385, 434, 452, 457, 468, 472 u. 490). Dies erscheint uns im Rahmen der literarischen Freiheit nachvollziehbar. Für unsere Auseinandersetzung geht das natürlich nicht. Schließlich sollten wissenschaftliche Darstellungen stets die Zurückhaltung aufweisen, die ihrem methodischen Vorgehen entspricht. Dies bedeutet zunächst, dass wir keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder gar ein widerspruchsfreies Verständnis des Menschen Hölderlin in seiner zweiten Lebenshälfte haben. Zudem sind wir uns der Vorläufigkeit aller Darstellungen bewusst. Auch denken wir nicht, dass wir uns heutzutage mit dem Menschen Friedrich Hölderlin besser verständigen könnten als seine Zeitgenossen damals. Wir denken da insbesondere an Lotte Zimmer und Wilhelm Waiblinger, die ihm als Menschen vermutlich so nahegekommen sind, wie es überhaupt möglich war.

Wir geben zu, dass sich die Geschichte, die wir schreiben, an unserem grundlegenden Erkenntnisinteresse als Psychiater orientiert: Wie gelingt weitgehende Genesung nach schwersten seelischen bzw. psychotischen Krisen? Dieses Interesse markiert zugleich den blinden Fleck unserer Perspektive. Ein Dilemma, das nicht aufgelöst werden kann. Wir können es höchstens durch die Art und Weise unseres Vorgehens entschärfen, indem wir die Perspektiven der damals Beteiligten soweit möglich gesondert darstellen. Erst am Ende soll es dann explizit um unsere Perspektive gehen, auch wenn sie natürlich bereits die vorherigen Darstellungen beeinflusst hat. Letztlich ersetzt unsere Darstellung nicht die eigene Lektüre der Primärquellen, um sich ein Bild zu machen. Aber vielleicht macht sie neugierig auf diese Quellen, sind sie doch die einzige Grundlage für Überlegungen zu Hölderlins seelischem Zustand in der zweiten Lebenshälfte.

Biografische Rohdaten

1770

Am 20. März wird Johann Christian Friedrich Hölderlin in Lauffen am Neckar geboren. Vorfahrin mütterlicherseits ist die schwäbische Geistesmutter Regina Bardili (1599–1669), Vorfahrin auch von Hegel, Schelling, Schiller, Uhland und Mörike.

1772

Plötzlicher Tod des Vaters und Großvaters.

1773

Wiederverheiratung der Mutter mit Johann Christoph Gok, der für Hölderlin zum geliebten Vater wird und 1779 ebenfalls überraschend stirbt. Umzug nach Nürtingen.

1776

Geburt des Halbbruders Karl Gok.

1784–1788

Besuch der niederen Klosterschule in Denkendorf (bei Nürtingen), ab 1786 der höheren Klosterschule bei Maulbronn.

1788–1794

Studienjahre im Tübinger Stift, teilweise gemeinsam mit Hegel und Schelling. Studium der Theologie, Philologie, besonders der griechischen, und der Philosophie (insbesondere Kant). 1791 erste Publikation von Gedichten, ständige dichterische Aktivität.

1794–1795

Hofmeister im Hause Charlotte von Kalbs, Bekanntschaft mit Schiller, Fichte (Teilnahme an dessen Kolleg) und Novalis, Freundschaft mit Isaak von Sinclair, Aufenthalt in Jena mit Lehrtätigkeit. Unglückliche Begegnung mit Goethe im Hause Schillers.

1796–1798

Hofmeister im Hause Gontard in Frankfurt, Liebesbeziehung mit Susette Gontard (»Diotima«). Im Sommer 1796 Flucht vor den französischen Truppen in Begleitung Susette Gontards und der Gontard’schen Kinder nach Kassel, Bekanntschaft mit Wilhelm Heinse, Rückkehr nach Frankfurt. Ein Eklat beendet die Anstellung.

1797

Publikation des ersten Bandes des »Hyperion«.

1798–1800

Aufenthalt in Homburg, diverse Krankheiten, kurze Aufenthalte bei der Mutter in Nürtingen und bei der befreundeten Familie Landauer in Stuttgart.

1799

Publikation des zweiten Bandes des »Hyperion«.

1801

Hofmeister bei der Familie Gonzenbach in der Schweiz, Beendigung wegen massiver gesundheitlicher Probleme, Bruch mit Schiller. Abreise nach Frankreich.

1802–1803

Hofmeisterstelle bei der Familie des Konsuls Meyer in Bordeaux, Rückkehr über Paris nach Deutschland. Tod der Geliebten Susette Gontard, Zusammenbruch, Rückzug nach Nürtingen zur Mutter, Reisen nach Regensburg mit Sinclair (1802) und zum Kloster Murrhardt (Hochzeit Schellings, 1803).

1804

Umzug zu Sinclair nach Homburg, Anstellung als Hofbibliothekar.

1805

Sinclairs Verhaftung wegen revolutionärer Handlungen, massive psychische Krise Hölderlins, Tod Schillers.

1806–1807

Gut halbjährige Zwangsbehandlung und Entmündigung im Autenrieth’schen Klinikum in Tübingen, gelegen in der Bursagasse, medizinisch versorgt von dem damaligen Studenten Justinus Kerner.

1807–1843

Aufenthalt bei der Familie des Schreinermeisters Ernst Zimmer als Pflegling im später so genannten Hölderlinturm am Tübinger Neckarufer. Vormundschaft durch die Mutter, nach deren Tod durch den Oberamtspfleger Burk. Abgesichert durch ein privates Erbe und eine Sonderrente (Gratial) vom württembergischen Hofe.

1807–1812

Wiederaufnahme des dichterischen Schaffens. Häufig starke und länger andauernde Erregungszustände mit nachfolgender Apathie, im April 1812 schwere körperliche Erkrankung.

1812–1816

Erregungszustände seltener und milder, Ausdehnung der sozialen und künstlerischen Aktivität (Poesie, Musik). Wiederaufnahme der Korrespondenz mit der Mutter, Geburt von Lotte Zimmer 1813.

1816–1822

Phase des Rückzugs auf die Hausgemeinschaft, eingeschränkte künstlerische und sonstige Aktivität, jedoch fortgesetzte Korrespondenz mit der Mutter.

1822–1829

Besuche durch Wilhelm Waiblinger (bis 1826), erneute Ausdehnung der sozialen und künstlerischen Aktivität und der Korrespondenz mit der Mutter bis zu deren Tod 1828, briefliche Kontaktversuche mit Halbbruder und Schwester.

1826

Publikation einer ersten Werksammlung durch Gustav Schwab und Ludwig Uhland ohne direkte Beteiligung Hölderlins an der Herausgabe des Bandes.

1829–1837

Zunehmend zahlreichere, nicht selten als störend empfundene Besuche von Fremden (Hölderlin als »Tübinger Attraktion«). Begrenzung der Kontakte auf die Hausgemeinschaft sowie Abbruch der Kommunikation mit der eigenen Familie. Fortgesetzte künstlerische Aktivität bis kurz vor dem Tod 1843.

1837

Beginn der Verwendung des Pseudonyms »Scardanelli« (u.a. im dichterischen Schaffen).

1838

Tod von Ernst Zimmer, Lotte übernimmt die Verantwortung der Pflege.

1841–1843

Mehrfache Besuche von Christoph Theodor Schwab.

1843

Hölderlin stirbt am 7. Juni um Mitternacht aus weitgehender körperlicher Gesundheit in Anwesenheit von Lotte Zimmer.

Bereits die tabellarische Darstellung biografischer Rohdaten ist Interpretation: Was lassen wir weg? Was nehmen wir auf? Die immer noch übliche Darstellung der biografischen Daten folgt dem Klischee des umnachteten Genies, da sie einen einzigen Kurzschnitt zur zweiten Lebenshälfte anbietet, meist im Sinne » 1807–1843: Aufenthalt in geistiger Umnachtung bei der Familie des Schreinermeisters Ernst Zimmer im später so genannten Hölderlinturm in Tübingen«. Dies wirkt so, als wäre in dieser Zeit nichts weiter Berichtenswertes passiert, als wäre diese »Turmzeit« ein monolithischer Lebensabschnitt, in dem Hölderlin zwar geatmet haben und biologisch gealtert sein muss, sonst aber nichts weiter passiert ist. Dies ist falsch. Bereits die grobe Gliederung der 36 Jahre Turmzeit zeigt: Hölderlin hat Dinge unternommen, Menschen getroffen, war künstlerisch aktiv.

Zeittafel zur überlieferten seelischen Verfassung in der zweiten Lebenshälfte

1.Die ersten Monate in seiner Pflegefamilie, in denen man glaubt, ihn überwachen und am Schreiben, das ihn zu sehr erregt, hindern zu müssen: Hölderlin steht noch unter dem Eindruck des Krankenhausaufenthalts, muss sich psychisch und physisch erholen und erst Vertrauen zu seiner neuen Umgebung finden.

2.Der Zeitraum von Mitte 1807 bis Anfang 1812: Hölderlin ist ruhiger, dichtet intensiv und ist auch sonst aktiv und interessiert. Häufig treten starke, zum Teil länger andauernde Erregungszustände auf, gefolgt von apathischen Phasen, in denen er sich von seiner Umwelt zurückzieht. Seine Poesien, in denen er offen seine Gefühle ausdrückt, werden von einer neuen Einstellung zum Leben und zu seinem Schicksal bestimmt: ruhige Darstellung seines Leidens, sehnsüchtige Erinnerung und glückliches Versenken in die Natur. Parallel dazu findet sich ein Übergang zu einfacheren Gedichtformen. Am 19. April 1812 erkrankt Hölderlin für einige Tage schwer.

3.Nach der körperlichen Erkrankung 1812 bis etwa 1816: Die Erregungszustände sind in Intensität, Dauer und Häufigkeit deutlich verringert, Ernst Zimmer beschreibt Hölderlin als »recht Braf und immer sehr Lustig« (zit. n. HÖLDERLIN 2004, Bd. 12, S. 57). Er spielt die Flöte, die er 1811 bekommen hat, und beginnt spätestens 1814, Klavier zu spielen. Regelmäßig schreibt er Briefe an seine Mutter, in einem distanzierten und aktiv distanzierenden, oft formelhaften Stil, in dem sich aber immer wieder einzelne sehr persönliche Sätze finden.

4.Von 1816 bis 1822: Hölderlin hat seine künstlerischen und sonstigen Aktivitäten eingeschränkt, und seine Kontakte sind auf die Hausgemeinschaft begrenzt. Ein Zeitraum deutlichen, generellen Rückzugs.

5.Von Juli 1822 bis etwa 1829 nach dem Tod der Mutter: Hölderlin hat zeitweise intensiven Kontakt mit Waiblinger (Erstkontakt am 3. Juli 1822), zu dem er Vertrauen fasst und mit dem er Gespräche führt und Ausflüge macht. Er gewinnt wieder Interesse an seiner Umwelt, auch in politischer Hinsicht, und nimmt wieder künstlerische und andere Aktivitäten auf. In Briefen an seine Mutter schreibt er über persönliche Themen, drückt seine Gefühle und den Wunsch aus, nach Nürtingen zurückzukehren. Er schreibt 1823 an seinen Halbbruder und um 1828 mehrfach an seine Schwester. Vom Tod der Mutter 1828 ist er betroffen. Im weiteren Verlauf des Jahres nimmt seine geistige und körperliche Aktivität wieder ab.

6.Von 1829 bis 1837: Hölderlin hat die Kontakte zu seiner Familie beendet und ist auf seine Hausgemeinschaft beschränkt, hat aber Kontakt mit den zahlreicher werdenden Besuchern, die ihn zum Teil wie eine Tübinger Attraktion aufsuchen. Er schreibt von nun an ausschließlich Gedichte mit einfachen Formen und reduzierter Themenwahl, die Persönliches und Gefühle nicht mehr direkt ausdrücken.

7.Von 1837 bis 1843: Seit 1837 unterzeichnet Hölderlin seine Gedichte, die jetzt ausschließlich gereimt sind bei reduzierter Themenwahl, mit angenommenen Namen und besteht vor allem in Bezug auf sein Werk darauf, nicht mehr Hölderlin zu heißen. Nach dem Tod von Ernst Zimmer am 18. November 1838 übernimmt Lotte Zimmer die Verantwortung für seine Pflege. Die Erregungszustände werden wieder etwas stärker und häufiger. Ab Anfang 1841 hat Hölderlin häufig Kontakt mit Christoph Theodor Schwab, zu dem er Vertrauen fasst und dem gegenüber er Gefühle ausdrücken kann. Er spricht zum ersten Mal seit langer Zeit von einigen ihn persönlich stark berührenden Themen: Susette Gontard, seinem Aufenthalt in Frankreich, Goethe. Am 7. Juni 1843 stirbt Hölderlin um Mitternacht aus weitgehender körperlicher Gesundheit an akutem Herz-Kreislauf-Versagen.

(WALLNER, GONTHER 2010, S. 123 ff.)

Bereits diese beiden Darstellungen zeigen, dass das Sprechen vom »geistig umnachteten« oder »schizophrenen Genie im Turm« eine massive Verkürzung ist. Denn jegliche Eigenaktivität und Individualität der Person verschwindet, wenn nur noch vom »Aufenthalt im Turm« gesprochen wird. Ebenso inhaltsunbestimmt könnte man auch von einem »Aufenthalt in der Psychiatrie« sprechen. Dann geht es nur noch um den Ort, an dem sich aufgehalten wird, nicht mehr um die Person, die sich dort aufhält. Vergleichbares geschieht, wenn von »geistiger Umnachtung« oder »Schizophrenie« gesprochen wird: Hier rückt ein entindividualisiertes Idealbild eines seelischen Zustands in den Vordergrund. Konsequenterweise wird die Deutungshoheit dann an die mutmaßlichen Experten für »geistige Umnachtungen« und »Turm- bzw. Psychiatrieaufenthalte« abgegeben. Seit den letzten 200 Jahren sind dies die Psychiater. Dies wäre nicht problematisch, wenn sich die Betreffenden nicht primär für Diagnosen und Aufenthaltsbestimmungen, sondern für den Menschen interessieren würden. Leider war nur allzu oft das Gegenteil der Fall.

Zeittafel posthumer psychiatrischer Schizophreniediagnostik bei Hölderlin

1908

schreibt Wilhelm Lange-Eichbaum die Pathografie »Hölderlin«. Darin sieht er die spätesten Gedichte und auch schon die Hymnen als Ausdruck der Krankheit, als »schizophrene Kunst«. Lange-Eichbaums Pathografie ist der erste Sündenfall einer Anwendung des erst wenige Jahre zuvor in der Psychiatrie von Emil Kraepelin bzw. Auguste Morel entwickelten Schizophreniekonzepts auf Hölderlin. Kraepelin versteht dabei Schizophrenie, die von Morel zunächst als Dementia praecox (= vorzeitige Verblödung) bezeichnet wurde, als eine hirnorganische Krankheit mit ausschließlich biologischen Ursachen.

1911

nennt Eugen Bleuler den angeblichen Sprachzerfall der Hymnen als typisch für Schizophrenie, dargestellt am Beispiel »Patmos«. Dieses Werk lag zu jener Zeit für Bleuler noch außerhalb der künstlerischen Norm. Bleuler, der das Wort »Schizophrenie« erfand, verstand es als einen Sammelbegriff verschiedener Erkrankungstypen, die sowohl psychische als auch organische Ursachen hätten und psychosozialen Therapien zugänglich seien.

1922