Hölleluja! - Stefan Kretzschmar - E-Book

Hölleluja! E-Book

Stefan Kretzschmar

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Beschreibung

Stefan Kretzschmar steht für Handball wie kein anderer. In den 90er und 2000er Jahren einer der besten Spieler der Welt, gilt der TV-Experte heute als bekanntester und renommiertester Vertreter dieses spektakulären Sports. Handball ist in Deutschland nach Fußball der beliebteste Mannschaftssport, mit 800.000 Aktiven, regelmäßig ausverkauften Hallen und Einschaltquoten in zweistelliger Millionenhöhe , wenn die Nationalmannschaft bei einer WM oder EM um Medaillen kämpft. In Höllelluja! geht es um die Einzigartigkeit dieser vielleicht spannendsten, auf jeden Fall aber härtesten Hallen-Mannschaftssportart. Meinungsstark und charismatisch, mit viel Expertise und nsiderwissen, aber auch einer gehörigen Portion Humor erzählt Stefan Kretzschmar unglaubliche Geschichten, erklärt Zusammenhänge, greift Probleme auf und bietet hochspannende Einblicke hinter die Kulissen dieses populären und faszinierenden Sports.

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Seitenzahl: 481

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Edel Books

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

Copyright © 2018 Edel Germany GmbH, Neumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edelbooks.com

Projektkoordination: Dr. Marten Brandt

Lektorat: Dr. Marten Brandt / Alex Raack

Coverfoto: Nela König Photography & Production

Layout und Satz: Datagrafix GSP GmbH

Covergestaltung: Groothuis. Gesellschaft der Ideen und Passionen mbH | www.groothuis.de

ePub-Konvertierung: Datagrafix GmbH, Berlin | www.datagrafix.com

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

eISBN 978-3-8419-0658-8

INHALT

EINWERFEN

Mann oder Maus? - Minuten des Wahnsinns in der Königsklasse

HYMNE

Herz und Hand - Eine Ode an den geilsten Sport der Welt

ERSTE HALBZEIT

Nummer 17 - Ein steiniger Weg in den Handball

Oben ohne - Meine erste Vertragsverhandlung

Erste Klasse - Die Handball-Bundesliga, mein Zuhause

Spielkunst - Von Artisten, Genies und Strategen

Härtefall - Kampf, Herz und Schmerz im Handball

TIME OUT

Piet Krebsüber die harten wilden 80er

(R)Evolution! - Wie sich Spiel und Spieler verändert haben

Höllentrips - Hexenkessel, Schweinehallen, Handballtempel

Sternstunden - Titel, Trips und Teambuilding im Europapokal

Reykjavik - Wer feiern kann, der muss auch siegen

PAUSE

Seitenwechsel - Vom Spieler zum Sportdirektor und Funktionär

ZWEITE HALBZEIT

Die Auserwählten - Triumphe, Tiefpunkte und die Rolle der Nationalmannschaft

Dompteure - Der Job des Handball-Bundestrainers

Anführer - Kapitäne, Leitwölfe und Hierarchien

Unterste Schublade - Fiese Fouls, böse Attacken, miese Nummern

Moneten - Gehälter, Gelder und Geschäfte

Grauzone - Erlaubte und unerlaubte Mittel im Handball

All Stars - Meine ganz persönliche erste Sieben

Harzblut - Was Hand und Ball zusammenhält

VERLÄNGERUNG

Familiensache - Handball im Blut, Zusammenhalt und Abschied

AUSLAUFEN

Maus oder Mann? - Minuten des Leidens in der Handball-Provinz

Danksagungen

EIN WER

Mann oder Maus?

Minuten des Wahnsinns in der Königsklasse

Wie ein Blitz zuckte der Schmerz in meinen Rücken. Ich hatte den Fehler gemacht, mich zu bewegen, und doch hatte ich gar keine andere Wahl. Ich lag bäuchlings auf dem Sofa meiner Wohnung in Magdeburg und jede Bewegung hatte Höllenschmerzen zur Folge, also war ich bemüht, so regungslos wie möglich zu bleiben. Doch schon nach kurzer Zeit kam der Schmerz auf andere Weise, langsam schlich er sich an, wurde bald stärker, so stark, dass sich alles verkrampfte und ich mir eine neue Liegeposition suchen musste. Auch das war mit Schmerzen verbunden. Ein Teufelskreis.

Ich muss ein erbärmliches Bild abgegeben haben. Hätte mich damals jemand anderes außer meinen nächsten Angehörigen so gesehen, mein Image als cooler Handball-Punk wäre total im Eimer gewesen.

Ächzend, stöhnend, jammernd, seufzend, mit dem Schicksal hadernd vegetierte ich auf dem Sofa vor mich hin – wie Männer nun mal sind, wenn der Körper streikt und sie leiden. Jedenfalls wenn keine anderen Männer in der Nähe sind und sie sich nicht beweisen müssen, wie hart im Nehmen sie sind.

Handball war das Allerletzte, an das ich in dieser Situation dachte. Meine ganze Kraft und Konzentration brauchte ich, um mit minimalem Bewegungsradius maximalem Schmerz auszuweichen – in Superzeitlupe und Endlosschleife. Die größte sportliche Herausforderung im Tagesverlauf bestand darin, mich zwischendurch aufs Klo zu schleppen, verbunden mit der entscheidenden taktischen Frage: Wann ist der richtige Moment loszugehen, um – kurze Pausen eingerechnet – noch rechtzeitig in der hauseigenen Keramikabteilung anzukommen. In diesen Tagen verfluchte ich mich nicht nur einmal, dass ich mir als Heim unbedingt eine 300 Quadratmeter große Fabriketage auf dem Gelände des ehemaligen VEB-Kombinats „Gurken und Senf“ zum Loft hatte ausbauen müssen. Schon cool, vorübergehend aber schön blöd.

Ich hatte also alles andere als Handball im Kopf, als das Telefon klingelte. Ein folgenschwerer Anruf, wie sich herausstellen sollte. Der Name auf dem Display hätte mich eigentlich stutzig machen sollen: Alfred Gislason. Das war mein damaliger Trainer beim SC Magdeburg, heute Coach des THW Kiel, einer der erfolgreichsten Vereinstrainer der Welt. Es waren nur noch wenige Tage bis zum Auswärtsspiel am 1. Dezember 2001 in der Champions League bei Vardar Skopje, dem mazedonischen Spitzenklub. Wir spielten unsere erste Saison in der Königsklasse, nachdem wir ein paar Monate zuvor erstmals gesamtdeutscher Meister geworden waren. Champions League, die Besten der Besten in Europa, das war eine große Sache für den SCM und jede Partie ein Highlight.

Eigentlich unvorstellbar, dass Alfred in der Vorbereitungsphase Kontakt zu einem verletzten Spieler aufnahm. Normalerweise existierte dieser für ihn in der Situation gar nicht. Das klingt hart, aber er war dann total im Tunnel. Wer in seinen taktischen Überlegungen keine Rolle spielte, weil er nicht spielen konnte, war in dieser Phase Luft. Das galt auch für mich. Ich hatte mir eine sogenannte Bandscheibenvorwölbung im unteren Bereich der Lendenwirbelsäule zugezogen, wahrscheinlich im Training. Aber so genau weiß man das als Handballer meist gar nicht, wann welche Blessur zustande gekommen ist – auch so ein Phänomen unserer Sportart. Die Bandscheibe war ein Stück herausgerutscht und drückte auf den Nerv. Medizinisch gesehen keine allzu dramatische Sache, aber eben äußerst schmerzhaft, auch für Handballerverhältnisse. Um genau zu sein: Es war sogar unerträglich. Ich war seit einer Woche außer Gefecht und mir war von der medizinischen Abteilung meines Vereins absolute Schonung auferlegt worden. An Sport war nicht im Geringsten zu denken.

Einigermaßen verwundert nahm ich den Anruf entgegen.

„Kretzsche, ich brauche dich“, fiel Alfred mit seiner tiefen, rauen Stimme ohne Umschweife mit der Tür ins Haus. Hatte er überhaupt Hallo gesagt?

Zu seiner Entschuldigung sei an dieser Stelle angemerkt: Alfred ist Isländer. Und Isländer sagen, wie ich aus vier Dekaden Handball weiß, in denen ich die Freude hatte, diverse Vertreter dieses wunderbaren, aber auch wundersamen Völkchens aus nächster Nähe zu erleben, oft nur das Allernötigste.

„Hallo“, entgegnete ich irritiert, „ich kann mich kaum bewegen.“

Schweigen am anderen Ende der Leitung. Eisernes, bleiernes Schweigen. Taktik, natürlich. Alfred ist ein Fuchs. Natürlich war ich derjenige, der schwach wurde.

„Was soll ich tun?“, fragte ich mit mulmigem Gefühl.

„Du musst mit nach Skopje fliegen.“

„Alfred!“, beschwor ich ihn. Was zum Teufel sollte das, hatte er mich nicht verstanden?

„Du sollst nur mitreisen, damit die denken, du spielst.“

Aha, das war es also, ein Psychospielchen, um den Gegner im Unklaren zu lassen, denn außer mir waren noch weitere Spieler unserer Mannschaft angeschlagen. Ich war fast erleichtert.

Aber wie sollte das gehen? Auch wenn ich gewollt hätte, ich konnte nicht. Ich versuchte ihm das begreiflich zu machen, aber je mehr ich redete, desto weniger kamen meine Worte an. Zumindest überzeugten sie ihn nicht – ihn, der nach eigenem Bekunden als Spieler sogar mit gebrochener Hand aufgelaufen war. Ich könne auf der Fahrt zum Flughafen ja im Bus auf dem Gang liegen, und das Flugticket bezahle er, aus eigener Tasche – first class! Damit ich es auf dem Liegesitz so bequem wie möglich hätte.

„Okay, aber die Ärzte …“, wandte ich schließlich noch ein. Mit denen sei alles geklärt, Hoffi habe grünes Licht gegeben.

Damit war das Gespräch beendet. Als Sportler entwickelt man ein Gefühl dafür, wann man verloren hat.

Unsere Teamärztin Dr. Birgit Hoffmeyer, von allen „Hoffi“ gerufen, konnte Alfreds Ausführungen nicht so ganz bestätigen, wie ich im anschließenden Telefonat mit ihr feststellen musste. Hätte ich mir gleich denken können. Alfred hatte ihr gesagt, dass ich den Trip nach Skopje auf mich nehmen wollte. Nun, das war nicht falsch. Aber ich hatte mich ja eben erst bereit erklärt, nachdem Alfred mich angerufen hatte! Das passte von der Chronologie her schon mal überhaupt nicht zusammen, und Hoffi schien von dem Plan auch nicht allzu begeistert. Aber jetzt hatte ich Alfred nun mal mein Okay gegeben, und dem Trainer gegenüber konnte man keinen Rückzieher machen. Es sei denn, man legte es darauf an, die kommenden Wochen auf der Reservebank zu schmoren oder sogar gleich den Verein zu wechseln. Zur damaligen Zeit war das jedenfalls so.

Ja, ich gebe ganz offen zu: Ich hatte einfach Schiss, den Respekt und die Wertschätzung des Trainers zu verlieren. Und Hoffi äußerte zwar Bedenken, aber sie versicherte mir auch, dass die Reise kein schwerwiegendes Risiko für die Bandscheibe darstellte und es mit dem Fliegen schon irgendwie gehen würde. Ich müsste halt nur die Schmerzen aushalten. Sie spritzte mir ein Gel in den Rücken, das die Vorwölbung wie eine Schutzhülle umschließen und ein weiteres Herausflutschen verhindern sollte. Das Ergebnis sah aus, als hätte ich einen halben Tennisball unter der Haut. Selbst für mich, der zu dieser Zeit einen nicht unbeträchtlichen Teil seines Gehalts dafür verwendete, sich Tinte auf den Leib und Metall durch diverse Körperstellen stechen zu lassen, war das ein ziemlich krasser Anblick. Wie eine Figur aus einem Science-Fiction-Horror-Film.

Und so fand ich mich am Tag vor dem Spiel über den Wolken wieder – inmitten meiner gut gelaunten Mitspieler. In der Holzklasse. Hätte ich mir gleich denken können, dass es auf der Strecke Berlin – Ljubljana – Skopje keine first class gab! Alfred, du Schlitzohr, dachte ich, und konnte mir bei all den Schmerzen ein Grinsen nicht verkneifen. Ich war zu gutgläubig gewesen, und er hatte mich verdammt nochmal gekriegt.

Am Spieltag fuhr ich zusammen mit der Mannschaft in die Halle, und wie alle hatte ich den Trainingsanzug des SC Magdeburg an. Den Weg vom Bus in die Kabine versuchte ich vor den Blicken der Gegner so lässig wie möglich zu bewältigen, fühlte mich aber eher wie ein Pinguin, der über das antarktische Packeis watschelt. Egal, es galt den Gegner hinters Licht zu führen. Und das gefiel mir irgendwie.

Etwa eine Stunde vor Spielbeginn schickte Alfred die Mannschaft durch die Katakomben zum Aufwärmen in die Halle.

„Mach Dich mal mit warm“, raunte er mir zu.

Und da er vermutlich die Panik in meinem Blick erkannte, ergänzte er:

„Du musst nicht laufen. Stell Dich einfach an den Pfosten und mach ein paar leichte Dehnübungen.“

Eine Diskussion an diesem Ort, zu dieser Stunde wäre unpassend und auch zwecklos gewesen. Mit der Geschwindigkeit einer Wanderdüne bewegte ich mich über das Parkett der Halle und hoffte, dass mir das als Selbstbewusstsein und Coolness ausgelegt würde.

Die Bezeichnung „Halle“ traf es übrigens in diesem Fall nicht ganz. Es war eher die Hölle, und die Hölle war klein und eng und zum Bersten gefüllt. Die Sicht war eingeschränkt. Das lag zum einen daran, dass es damals kein Rauchverbot in den Hallen gab, zumindest nicht auf dem Balkan, und zum anderen an der Tatsache, dass die Nichtraucher in der kuscheligen Betonhölle in der absoluten Minderzahl waren. Und nicht zuletzt hielten einige der Fans es anscheinend für eine gute Idee, die Silvesterfeierlichkeiten einen Monat vorzuziehen und Bengalos abzufackeln und Böller zu zünden. Das war sehr faszinierend, aber auch sehr furchteinflößend.

Der Platz neben dem Pfosten erwies sich als gar nicht mal so übel, denn er versprach ein wenig Schutz. Aber weder die einschüchternde Atmosphäre noch mein schmerzender Rücken waren schuld daran, dass dieser Moment einer der unangenehmsten in meiner ganzen Karriere war.

Selten habe ich mich so geschämt wie in diesen Minuten. Die Kollegen liefen inmitten des Getöses zwischen Torauslinie und Mittellinie auf und ab, zogen gemeinsam ihr Warm-up-Programm durch, wie man das im Handball so macht, nur ich – lehnte am Torpfosten und machte ein paar Dehnübungen. Halbherzig ist noch stark untertrieben. Ich erntete einige finstere Blicke des Gegners und konnte förmlich die Gedanken dahinter lesen: „Was für eine arrogante Sau! Der Möchtegern-Superstar hält es nicht mal für nötig, sich für das Spiel gegen uns warmzulaufen.“ Die Spieler von Skopje müssen mein Verhalten als absolute Respektlosigkeit ihnen gegenüber interpretiert haben. Wie hätten sie auch ahnen sollen, dass das Ganze nur als Ablenkungsmanöver gedacht war und ich mich im körperlichen Grenzbereich bewegte!

Der Anpfiff war wie eine Erlösung für mich. Natürlich hielt ich es nicht für die beste Idee von Alfred, mich mit auf die Auswechselbank zu setzen, aber erstens war – genau – an Widerspruch nicht zu denken, und zweitens galt es, das Verwirrspiel bis zum Ende durchzuziehen und den Gegner weiter glauben zu machen, ich sei einsatzbereit und könne jederzeit ins Spiel eingreifen. Ich würde die Sache also bis zum Ende aussitzen, auf die Zähne beißen und so tun, als hielte ich mich bereit.

Das Spiel lief von Anfang an nicht gut für uns, fast die gesamte Spielzeit über waren wir im Rückstand. Ein paar Minuten vor Schluss lagen wir mit zwei Toren hinten. Das ist im Handball schnell aufzuholen, aber bei uns klappte in dieser Phase einfach gar nichts mehr. Alfred lief wie ein Tiger im Zoo an der Seitenlinie auf und ab, schaute sich immer wieder unruhig um – und blieb plötzlich vor mir stehen. Mir rutschte das Herz in die Hose. Ich starrte angestrengt auf den Hallenboden und dachte nur: „Nee, das macht er jetzt nicht, das kann er jetzt nicht bringen.“

„Kretzsche!“, hörte ich seine Stimme durch den Höllenlärm.

Ich hob den Kopf und blickte direkt in seine Augen. Und dann sagte Alfred den Satz, den ich mein Leben lang nicht vergessen werde und den ich bis heute immer mal wieder hervorkrame, in verschiedensten Lebenslagen. Es waren nur drei Worte und er schrie sie mir ins Gesicht:

„Mann oder Maus?!“

Ich war total verdattert und verfiel in Schockstarre, während seine Worte wie ein Echo in meinem Kopf nachhallten.

„Ja, was ist jetzt?!“, rief er und riss mich aus meiner Schockstarre. „Hilfst du uns? Bist du Teil der Mannschaft oder nicht?“

Ich sah ihn an, links und rechts von mir saßen meine Mitspieler, alle hatten es gehört. Hatte ich eine Wahl? Man muss kein großer Psychologe sein, um an dieser Stelle zu erkennen: Der Trainer hatte mich aber so was von bei den Eiern!

Wie in Trance erhob ich mich von der Bank und zog meine Trainingsjacke aus. Eine Schmerztablette vor dem Spiel und die Überdosis Adrenalin im Körper, für die das Mitfiebern mit meiner Mannschaft und die hitzige Atmosphäre auf den Rängen gesorgt hatte, ließen den Schmerz im Rücken nicht verschwinden, aber auf eine gewisse Art und Weise verblassen. Er war nicht weg, hatte aber in diesem Moment nicht mehr das Sagen. Das Sagen hatte Alfred.

„Du gehst auf Mitte!“

Auch das noch! Er beorderte mich nicht etwa auf meine angestammte Linksaußenposition, sondern auf die des Spielmachers. Auf der hatte ich zwar schon öfter agiert und fühlte mich dort auch ganz wohl, aber es ist nicht gerade die Position, auf der man sich aus dem Gröbsten raushalten kann. Das war es, was ich in diesem Moment dachte. Das, was ich in diesem Moment machte: Ich nickte.

In dem Moment, in dem ich das Spielfeld betrat, dachte ich an gar nichts mehr. Ich funktionierte. Automatismen griffen, Abläufe wurden abgespult, Spielzüge durchgezogen. Es ging wie von selbst. Alles andere war scheißegal. Ich holte einen Siebenmeter heraus, den Joël Abati verwandelte. Kurz vor Schluss warf ich selbst noch ein Tor, ich habe die Szene noch genau vor Augen: Kreuzung gegen die Hand, durchgetankt zum Kreis, Wurf, Tor. Wenig später die Schlusssirene. Unentschieden. Eine Erlösung. Meine Teamkollegen jubelten, ich war einfach nur froh, dass es vorbei war.

Nach dem Spiel kam Alfred in die Kabine. Ich erwartete jetzt keine überschwängliche Lobshymne, denn erstens ist Alfred wie bereits erwähnt Isländer, und zweitens fühlte ich mich überhaupt nicht wie ein Matchwinner, geschweige denn wie ein Held. Ich hatte ganz andere Sorgen. Die Bandscheibe meldete sich wieder. Sie schlug Alarm. Alfred aber schlug mir mit beiden Händen auf die Schultern und lächelte mich an: „Geht doch!“

Ich kann es bis heute kaum glauben. Danach hatte er sich einfach umgedreht und war weggegangen. Mehr war nicht. Nicht am nächsten Morgen, nicht nach der Ankunft in Magdeburg. Für ihn war die Sache damit abgehakt. Geht doch.

Eine gute Stunde nach Spielschluss ging bei mir aber gar nichts mehr. Vollkommen bewegungsunfähig lag ich in einem schmucklosen Zimmer eines schmucklosen Hotels in Skopje allein auf meinem Hotelbett, den Bauch auf der Matratze, das Gesicht im Kissen. Dass meine Mannschaftskameraden ausgeflogen waren, um gemeinschaftlich den Punktgewinn zu begießen, machte die Sache nicht besser. Auf der von 1 bis 10 reichenden Selbstmitleids-Skala bewegte ich mich in diesem Moment ganz klar im Bereich zwischen 11 und 12.

Heute können Alfred und ich über diese Episode lachen. Und auch wenn man es angesichts dieser Vorgeschichte kaum glauben kann: Wir schätzen und mögen uns sehr. Ab und zu, wenn wir uns treffen, kommen wir auf Skopje zu sprechen. Allerdings weichen unsere Erinnerungen an einigen Stellen erheblich voneinander ab. So erzählte Alfred schon mal, dass meine damalige Verletzung für ihn in die gleiche Kategorie wie Kreislaufprobleme falle. Ich hoffe, er wollte einen Witz machen. Direkt gefragt habe ich ihn nie. Vielleicht aus Angst, er könnte es doch ernst meinen. Immerhin hatte ich in der damaligen Magdeburger Mannschaft den zweifelhaften Ruf, einer von der eher zimperlichen Sorte zu sein. Möglicherweise überspielte Alfred mit Humor auch nur sein schlechtes Gewissen. Ich denke, er würde heute anders handeln. Ich übrigens auch. Ich würde einfach nicht ans Telefon gehen.

Erst viele Jahre nach diesen irrwitzigen Stunden von Skopje wurde mir klar, dass diese Episode weit mehr ist als ein verrücktes Erlebnis, das als gute Geschichte taugt. Dass sie keine klassische Heldensaga ist, dürfte jedem, der einen gesunden Menschenverstand hat, klar sein, denn sie erzählt von Leichtsinn, Unvernunft, Wahnsinn und der Schwäche, im richtigen Moment das Falsche zu tun.

Die Episode macht anschaulich, wie der Handball war. Und wie er manchmal heute noch ist. So extrem diese Anekdote auch sein mag, im Kern geht es in ihr um eine der entscheidenden Fragen, die durchaus Allgemeingültigkeit besitzt und eine Verdichtung vieler Fragen ist, die dir dieser herausfordernde Sport stellt. Das habe ich als Spieler erlebt und das erlebe ich noch heute, wenn ich als Experte im Einsatz bin oder einfach nur aufmerksamer Zuschauer meiner Sportart. Wenn ein Spiel auf Messers Schneide steht, Spitz auf Knopf, nur noch wenige Minuten auf der Uhr sind, ganz egal ob bei einer Weltmeisterschaft, in der Bundesliga oder in der Oberliga, dann taucht immer diese Frage auf. Sie steht im Raum, schwebt unausgesprochen über den Köpfen:

Mann oder Maus?

Und alle Beteiligten wissen, dass die Antwort mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit über Sieg oder Niederlage entscheiden wird.

Und nicht zuletzt hat diese Geschichte auch eine historische Dimension. Damit meine ich nicht nur, dass der SC Magdeburg am Ende der Spielzeit gleich im ersten Anlauf und noch dazu als erster deutscher Verein die Champions League gewann, nein. Sie enthält auch eine ganz persönliche Note, die mich bis heute wurmt: Es war das erste und einzige Mal in meiner Karriere, dass ich den Abend nach einem Europapokalspiel auf dem Hotelzimmer verbrachte, anstatt im Rahmen des traditionellen Team-Kulturprogramms, für das ich stets federführend zuständig war, Land und Leute kennenzulernen – insbesondere deren abendliche Trinkgewohnheiten.

HY MN

Herz und Hand

Eine Ode an den geilsten Sport der Welt

Adrenalin! Sobald ich eine zum Bersten gefüllte Handballhalle betrete, in der es brodelt, sich Erwartungsfreude mit Herzblut und der Bereitschaft, alles zu geben, mischt, in der eine gesunde Portion Grundaggressivität in der schlechten Luft liegt, weil jeder Spieler und jeder Zuschauer mit allen Fasern einem großen Spiel entgegenfiebert, dann spüre ich dieses Kribbeln. Der Kamm stellt sich auf. Die Hände werden feucht. Der Pulsschlag erhöht sich. Und ich denke: Wo ist die Kabine? Wo kann ich mich umziehen? Wo sind meine Jungs?

In der nächsten Sekunde fällt mir wieder ein, dass diese Zeiten längst vorbei sind. Das ist auch ganz gut so. Seit mehr als zehn Jahren spiele ich nun schon nicht mehr Handball. Ich rede darüber. Das ist für mich die schönste Nebensache der Welt – im Handball, versteht sich. Am Mikrofon kommt man ganz ohne Schrammen, Beulen und blaue Flecken davon. Der Handball lässt mich aber nicht los, er fasziniert und fesselt mich noch immer. Er ist eine Leidenschaft, die ich nach wie vor lebe, nur anders. Wenn die klebrige Kugel fliegt, werde ich zum Fachmann, aber auch zum Fan. Ich liebe diesen Sport.

Handball bietet für mich die perfekte Mischung aus Tempo, Dynamik, Athletik, Explosivität, Aggressivität, Spaß, Spannung und jeder Menge Emotionen.

Auf dem Spielfeld geht es voll zur Sache und Zweikampf ist nicht nur ein Wort. Es wird mit harten Bandagen gekämpft. Das zeichnet unseren Sport aus. Normal.

Wenn es nicht kracht, ist es nicht Handball.

Hart, aber herzlich geht es unter Handballern zu und in der Regel fair. Austeilen, einstecken, Hand geben, weitermachen. Der gegenseitige Respekt ist groß. Man versteht sich.

Handball ist Kampf und Geist. Auch der Kopf ist voll gefordert. Das Spiel ist komplex, taktisch und mental anspruchsvoll. Es gilt, in Sekundenbruchteilen Entscheidungen zu treffen – in höchstem Tempo. Es ist kein Sport für Dummköpfe. Das gilt gleichermaßen für das Parkett wie für die Tribünen.

Handball ist Vollgas. Es gibt kein lahmes Ballgeschiebe, sondern Tore am Fließband. Zeitspiel wird bestraft, Schauspiel ist verpönt – und wer es nicht lassen kann, bekommt die „Goldene Himbeere“ überreicht, verbal.

Handball ist vielfältig. Er hat Platz für verschiedene Spielertypen. Kämpfer, Künstler, Strategen, Genies. Du kannst mit 1,70 Metern oder 2,10 Metern Weltklasse sein.

Handball ist authentisch und ungekünstelt. Obwohl es in der Natur der Sportart liegt, abzuheben, sind Handballer bodenständige Typen. Wenig Glamour, kein Bling-Bling, reichlich Herzblut. Langweilig? Ansichtssache. Wir haben wenig Superstars, aber viele gute Typen. Aus Erfahrung kann ich sagen: Im Handball ist die Arschloch-Quote relativ gering.

Handballer sind emotional. Für viele ist es mehr als nur ein Sport. Ein Lebensgefühl, das verbindet, über Ligen und Ländergrenzen hinweg. Man mag das für ein Klischee halten. Doch dann ist es ein vielfach gelebtes.

Handball ist mein Leben. Das ist in meinem Fall nicht übertrieben. 40 Jahre ist es her, seit ich als Knirps erstmals zu einem Handballtraining gegangen bin und Feuer gefangen habe. Ein kleines Jubiläum. Nicht das einzige. Vor 25 Jahren habe ich mein Debüt in der Bundesliga und auch in der Nationalmannschaft gefeiert. Seitdem bin ich meinem Sport treu.

Ich möchte in diesem Buch von Handball erzählen. Wie er mal war und wie er wurde, was er heute ist: Der zweitbeliebteste Mannschaftssport der Deutschen. Nicht mit dem Blick von außen werde ich berichten, sondern von innen, aus dem Herzen des Handballs. Vom Gewinnen und Verlieren. Von Bronze, Silber, Gold und Aluminium. Blut, Schweiß, Tränen und Harz. Von besonderen Typen und verrückten Trips. Aber auch die Schattenseiten spare ich nicht aus. Die Fehler, Defizite und Desaster. Den Raubbau, die Verletzungen, Schmerzen, Wunden und Narben.

Es ist kein Fachbuch, sondern eine persönliche Sicht auf den Handball, so wie ich ihn erlebt habe und noch immer erlebe, in verschiedenen Rollen und damit aus unterschiedlichen Perspektiven, die mir immer wieder einen neuen, spannenden Blick auf meine alte Liebe eröffnet haben. Ich war Spieler, Sportdirektor, Co-Trainer, Spielerberater und bin heute TV-Experte, Aufsichtsrat des DHfK Leipzig und Vater von zwei Handball spielenden Kindern, der einst selbst als Kind berühmter Eltern aufgewachsen ist. Ein Kreis schließt sich, mein Leben im Lieblingssport dreht sich weiter.

Es sind spannende Zeiten für den deutschen Handball, mit der Heim-Weltmeisterschaft 2019, die Deutschland zusammen mit Dänemark ausrichtet. Wer erinnert sich da nicht gerne an das goldene Wintermärchen 2007? Ja, auch ich, obwohl ich nur Zuschauer war. 2020 finden die nächsten Olympischen Spiele statt, ebenfalls eine große Gelegenheit für unsere Sportart, und 2024 sind wir schon wieder Gastgeber der Europameisterschaft. Vielleicht gab es nie eine bessere Zeit, um hierzulande Handballfan zu sein – oder es zu werden. Wenn nicht jetzt, wann dann?

Die Nähe zum Fan zeichnet den Handball aus. Das ist auf diesem Niveau eine Besonderheit und ein Riesenpfund in Zeiten, in denen der Fußball zunehmend mit dem Image zu kämpfen hat, im Zuge der Kommerzialisierung abgehoben zu sein, in einer Blase zu leben, den Draht zu den Fans verloren zu haben. Der Handball hierzulande hat eine große Chance, im Schatten von „König Fußball“ in seiner Prinzenrolle zu glänzen: Als Sport zum Anfassen, der Weltklasse aus nächster Nähe bietet, mit Sportlern, mit denen man auf Tuchfühlung gehen kann. Ich warne davor, diese Nahbarkeit, die im Handball Tradition hat, aufzugeben. Es gibt erste gefährliche Tendenzen, aber ich hoffe und setze darauf, dass der Horizont der Entscheider nicht an den Wänden der eigenen Halle endet. Apropos. Bei großen Turnieren wohnen die Mannschaften unter einem Dach. Morgens mit dem Rivalen gemütlich einen Kaffee trinken und abends mit aller Härte gegeneinander um WM-Medaillen kämpfen: Im Handball geht das noch.

Wer denkt, Handballer seien notorisch neidisch auf die Fußballer und nur Ballwerfer geworden, weil sie mit dem Fuß zu schlecht waren, dem sei gesagt: Auch Handballer spielen gerne und durchaus passabel Fußball – zum Warmmachen.

Handball ist nah am echten Leben und gerade deshalb keine heile Welt. Es ist ein forderndes Spiel voller Schönheit und Schmerz, mit viel Härte und noch mehr Herz. Ein Sport der Extreme, der dich in einer Sekunde zu Boden schlägt und dir im nächsten Moment die Hand reicht. Gipfel und Abgrund liegen nah beieinander, der Grat ist schmal, manchmal sind es nur Wimpernschläge oder Zentimeter, die darüber entscheiden, wohin die Reise geht. Es ist diese Gemengelage, die den besonderen Reiz des Handballs ausmacht, der in Hallen gespielt wird, in denen regelmäßig die Luft brennt und eine Höllenstimmung herrscht, die einfach nur himmlisch ist und das Adrenalin durch die Venen jagt.

Das alles und noch viel mehr macht Handball für mich zum geilsten Sport der Welt, in dem Wahnsinn Normalität ist und die Liebe zum Spiel oft wehtut. Handball ist Himmel und Hölle. In einem.

Hölleluja!

ERSTE HALB

Nummer 17

Ein steiniger Weg in den Handball

Ich hätte niemals Handballer werden dürfen. Das war gegen die Regeln, das war nicht der Plan. In der Deutschen Demokratischen Republik, in der ich geboren und aufgewachsen bin, gab es ja bekanntlich die Planwirtschaft. Dass ich dennoch Handballer wurde, verdanke ich der Intervention meines Vaters. Seine Einmischung hat mir die brutalsten zwei Jahre meines Lebens beschert, aber anschließend auch die aufregendsten und die schönsten – es waren derer so viele mehr. Sein kalkulierter Regelbruch hat mir schlussendlich das Leben geschenkt, das ich heute führe, führen kann und darf und für das ich unendlich dankbar bin: mein Leben im Handball. Ein in vielerlei Hinsicht außerplanmäßiges Leben.

Wie wird man Handballer? Auf jeden Fall nicht einfach so. Schon gar nicht, weil alle anderen auch Handball spielen. Tun sie ja nicht. Du wirst eigentlich nicht als Handballer geboren. Aber vielleicht musst du zum Handballer geboren sein. Jedes Kind – zumindest jeder Junge – spielt irgendwann mal Fußball, klar, da kommst du gar nicht drum herum. Überall wird gekickt. Im Garten, auf der Wiese, auf dem Schulhof, auf der Straße. Rund um den Globus. Bei Handball ist das anders. Wer als Kind mit Handball anfängt, macht das, weil der Papa spielt oder die Mama. Vielleicht auch Onkel oder Tante, der Patenonkel, der große Bruder, die Schwester, der Nachbar, der beste Kumpel, der Postbote, was weiß ich. Jedenfalls gibt es meistens eine persönliche Verbindung, irgendjemanden, der dir sagt:

„Hör mal, Kleiner, probiere es mal mit Handball. Das ist etwas für die Starken und Furchtlosen. Wenn du auf viele Tore stehst, aber nicht so auf frische Luft, und wenn du eine gewisse Affinität zu Schrammen und blauen Flecken hast, dann ist Handball dein Sport.“

So oder so ähnlich. Eine andere Möglichkeit ist, dass du als Kind Handball im Fernsehen siehst und die Bilder dich nicht mehr loslassen. Aber auch das geschieht so gut wie nie zufällig, sondern in der Regel, wenn die Eltern gezielt auf den hinteren Sendeplätzen den Kanal ausgewählt haben, der Handball zeigt, weil sie Fans des Sports sind. Im Idealfall schleppt dich jemand mal mit in die Halle zu einem Handballspiel. Wenn du das große Glück hast, dass es ein Bundesligaspiel oder Länderspiel ist, dann stehen die Chancen ausgezeichnet, dass es nicht dein letztes als Zuschauer war. Und sie stehen gar nicht mal so schlecht, dass du dich irgendwann nicht mehr nur mit der Rolle des Betrachters begnügen willst, es sei denn, blaue Flecken und stickige Luft sind so gar nicht dein Ding.

Mir wurde der Handball in die Wiege gelegt. In den ersten 16 Jahren meines Lebens war ich nicht Stefan Kretzschmar. Ich war der Sohn, genauer gesagt Der-Sohn-von. Der Sohn von Waltraud und Peter. Und so wurde auch über mich gesprochen. Für alle, die es nicht wissen, die mein vor zehn Jahren erschienenes Buch Anders als erwartet nicht gelesen oder es wieder vergessen haben: Meine Eltern waren in der DDR echte Sportgrößen, was für mich ungeahnte Folgen hatte.

Man kann durchaus von Handball-Legenden sprechen. Meine Mutter war als Spielerin dreimal Weltmeisterin und galt lange als beste Handballerin auf diesem Planeten. Ja, den Westen der Erde mit eingerechnet! Das war mir als Kind lange gar nicht klar. Sie war eine Sportikone in der DDR. Mein Vater wiederum hat das äußerst seltene Kunststück fertiggebracht, sowohl als Spieler als auch als Nationaltrainer WM-Gold zu erringen, letzteres zweimal, übrigens als Coach meiner Mama, was schon eine absolut außergewöhnliche Konstellation war. Bei den Olympischen Spielen 1976 in Montreal gewannen sie gemeinsam Silber und bei den Spielen 1980 in Moskau Bronze. Die olympische Historie meiner Eltern sollte mein Sportlerleben nachhaltig prägen, denn sie war verbunden mit einem familiären Wunsch, dem ich mich in meiner Karriere verschrieben habe, den ich aber nie erfüllen konnte, was mich lange belastet hat und auch heute noch manchmal gedanklich beschäftigt. Es bereitet mir aber glücklicherweise keine schlaflosen Nächte mehr.

Wer verstehen will, was Handball für mich bedeutet, wie ich den Handball gelebt habe und heute noch lebe, mit welchen Augen ich ihn sehe, wie ich über ihn denke und welche Gefühle er in mir auslöst, der muss die Geschichte von meinem Weg in den Handball und meinem Großwerden in diesem Sport kennen.

Mein Handballer-Leben begann in Berlin. Ich bin zwar in Leipzig geboren, wo meine Mama für den großen SC spielte, aber an diese Zeit habe ich so gut wie gar keine Erinnerungen mehr. Es gibt ein altes Foto aus DDR-Archiven, da steht sie in der Halle und gibt ein Interview, im völlig verschwitzten Trikot und mit einer unfassbar engen Sporthose, die eher an eine Wurstpelle erinnert. Mama lehnt lässig an der Wand und ich stehe in meiner Latzhose neben ihr und starre mit offenem Mund zu ihr hoch, es wirkt fast ehrfürchtig. Da muss ich vier gewesen sein. Ich erinnere mich an das Foto, nicht aber an die Situation. Natürlich war ich bei Spielen meiner Mutter in der Halle des SC Leipzig in der Brüderstraße immer dabei.

In den Halbzeiten – so hat es mir mein Vater oft erzählt, ich selbst habe keine Erinnerung daran – bin ich mit dem Sohn einer Mitspielerin meiner Mutter auf das Spielfeld gestürmt und wir sind dann zur Belustigung der Anwesenden selbst auf Torejagd gegangen, aber mit den Füßen. Ich hatte immer so einen gestreiften Rollkragenpullover an, einen Ringelpulli, und eine schwarze Cordhose. Das war mein Sport-Outfit. Der andere Junge hieß Frank. Frank Rost. Später Fußballtorwart bei Werder Bremen, beim HSV und in der Nationalmannschaft. Vor einigen Jahren heuerte er als Geschäftsführer beim HSV Handball an, doch die eigentlich vielversprechende Kombination war nach wenigen Wochen und einigen Querelen schon wieder Geschichte.

Die Halle, in der ich meine ersten Schritte als Handballer gemacht habe, stand in Berlin. Dorthin zogen wir, als ich fünf war, weil mein Vater als Nationaltrainer seinen beruflichen Mittelpunkt in die Hauptstadt hatte verlegen müssen. Eines Tages hat mich Papa zu einer dieser Schulsportgemeinschaften geschleift, die bei uns verbreitet waren, da muss ich sieben gewesen sein. Viele mögen denken, meine Eltern haben forciert, dass ich Handball spiele, weil es ihr Sport war, aber das stimmt nicht. Ich hatte einfach Bock darauf – und mehr Spaß am Bällewerfen, als meinen Eltern lieb war.

Wir hatten in unserer Wohnung im neunten Stock eines Plattenbaus in Lichtenberg einen Flur, der bestimmt zehn Meter lang war. Halt, Stopp! Bevor an dieser Stelle jemand Mitleid bekommt oder denkt, dies ist eine dieser Storys, in der sich jemand aus ganz ärmlichen Verhältnissen zum Sportstar hochkämpft: Es war ein moderner Plattenbau, ich wage sogar zu behaupten, ein schöner, für damalige Verhältnisse jedenfalls. Gute Lage, bürgerliche Nachbarschaft, privilegiertes Wohnen. Fernwärme statt Kohleheizung. Keine Bronx des Ostens jedenfalls. Ich erinnere mich noch genau an mein Zuhause: Rechts ging das Schlafzimmer ab, weiter rechts das Kinderzimmer meiner jüngeren Schwester Katharina, die kurz nach dem Umzug zur Welt kam, gegenüber waren das Bad und die Küche, ganz hinten rechts war mein Zimmer und hinten links das Wohnzimmer.

Für die Erwachsenen mag das einfach nur ein langer Flur gewesen sein. Für mich war es eine Sportarena. Ich habe dort Fußball gespielt, mit einem Tennisball oder einem etwas größeren Schaumstoffball, bin dribbelnd den Flur auf und ab gerannt, habe mit der Wand Doppelpass geübt. Das habe ich manchmal eine Stunde lang gemacht und war anschließend klitschnass geschwitzt, aber glücklich. In der Mitte des Flures war so ein Kettenvorhang angebracht, der eigentlich Fliegen abhalten sollte, aber wir hatten ihn nur zu Deko-Zwecken aufgehängt – nach heutigen Maßstäben war das geschmacklich schon etwas fragwürdig, aber ich fand den cool, denn es machte unglaublich viel Spaß, durch den Vorhang zu flitzen, wenn er geschlossen war. Meine Mutter ist durchgedreht, weil alle drei Sekunden die Ketten geklimpert haben. Irgendwann habe ich angefangen, einen Ball durch den Flur zu prellen und am Ende gegen die Haustür zu werfen, so wie ich es mir in der Handballhalle abgeschaut hatte. Davon waren wiederum die Bewohner von nebenan und auch die, die unter uns wohnten, nicht ganz so begeistert wie ich selbst, und so wurde das Läuten der Türklingel zu einem vertrauten Geräusch an Schlechtwetternachmittagen.

Das Fass zum Überlaufen brachte dann aber einer meiner spektakulären Sprungwürfe, die ich mir antrainiert hatte, bei dem ich mich anmutig und unglaublich hoch in die Luft schraubte – so erinnere ich es jedenfalls und nur so kann es gewesen sein – mit Adleraugen zielte, den rechten Arm mit einer Mischung aus vollendeter Geschmeidigkeit und unbändiger Kraft voll durchzog und dabei leider die Flurlampe mitriss, deren Karriere als Lichtgestalt in diesem Moment ein so brutales wie jähes Ende nahm. Genau genommen war das ein Foul, denn die Lampe hatte mir eindeutig in den Wurfarm gegriffen, aber das interessierte meine Eltern in diesem Moment trotz ihrer ausgewiesenen Handball-Expertise wenig und änderte deshalb auch nichts an ihrem einmütigen Beschluss: Wenn der Junge unbedingt Handball spielen will, dann darf er das liebend gerne tun – aber nicht hier.

Mein Vater schleppte mich also zu dieser Schulsportgemeinschaft, die vier oder fünf U-Bahn-Stationen von unserer Wohnung entfernt war. Sie hieß Schulsportgemeinschaft Dr. Kurt Ritter. Ein geiler Name. Ritter Sport sozusagen. Ich kann mich noch an die dunkle Halle mit den dicken, etwas Licht durchlassenden Glasbausteinen erinnern. Das Parkett war total abgeranzt und in allen Ecken sammelte sich der Staub. Für mich war es das Paradies, denn ich konnte den Ball prellen, werfen oder schießen, wie ich wollte, wohin ich wollte, wogegen ich wollte. Und genau das war es, was ich wollte. Die Handbälle waren damals aus echtem Leder und ich habe sie als sehr schwer in Erinnerung. Diese Geschosse in der heimischen Flursportgemeinschaft Dr. Kretzschmar zu verwenden, hätte fatale Auswirkungen gehabt, nicht nur auf die Inneneinrichtung unserer Wohnung, sondern auch auf das Innenverhältnis der Familie. Zum Glück für alle hatte ich ein neues Spielzimmer gefunden, in dem ich mich mit meiner im Übermaß vorhandenen Energie gefahrlos auspowern konnte.

Hier sind wir an einem ganz entscheidenden Punkt angelangt, der unserer Sportart Grenzen setzt, in mehrfacher Hinsicht. Handball funktioniert nicht ohne Halle und nur in der Halle. Es draußen zu spielen, macht keinen Spaß – von Beach-Handball, den es in Deutschland ja erst seit den 1990ern gibt, einmal abgesehen. Es hat ja Gründe, warum der Feldhandball in den 1970ern vom Hallenhandball verdrängt wurde und so gut wie ausgestorben ist. Deshalb wird Handball auch nie ein Freizeitsport werden, den man im Urlaub, bei Freunden oder zu Hause betreibt – es sei denn, der Flur ist groß genug, die Eltern sind nie zu Hause und die Nachbarn taub.

Du brauchst vor allem einen vernünftigen Untergrund. Sprungwürfe auf Betonboden? Schönen Gruß an die Gelenke. Flugeinlagen von der Außenposition mit einer Landung auf Asphalt? Uns Handballern wird ja nachgesagt, dass wir hart im Nehmen sind, aber wir sind keine Masochisten. Handballspielen im Garten? Da wird schon das kontrollierte Prellen des Balles auf dem Rasen zu einer eigenen kniffligen Disziplin.

Ich weiß, wovon ich rede. Ich habe viele Sommer im Garten meiner Großeltern in Damsdorf verbracht, einem Örtchen in Brandenburg, in der Gemeinde Lehnin. Kein Scheiß, der Ort heißt wirklich so. Dort gab es einen großen Garten. Aber Handball zu spielen, war sinnlos, weil der Ball versprang. Es hat einfach keinen Spaß gemacht. Ich habe das Gartentor als Handballtor genutzt und Würfe geübt. Das fand dann mein Opa nicht so lustig, denn die stetige Verbesserung meiner Zielgenauigkeit und Wurfhärte ging einher mit dem stetigen Verfall des Tores. Er musste es andauernd reparieren. Irgendwann kam ich auf die grandiose Idee, meine fast sechs Jahre jüngere Schwester ins Tor zu stellen, woraufhin sich meine Zielfläche halbierte, nicht aber die Trefferfläche. Das trug zwar zur Schonung des Materials bei, aber nicht gerade zur Schonung meiner kleinen Schwester. Der Spaß dabei, im Tor zu stehen, wenn der große Bruder wie ein Vollhorst und ohne Rücksicht draufballert, selbst aber gar nicht werfen zu dürfen, hielt sich für sie in engen Grenzen. Die Folge war, dass entweder Opa schimpfte oder Katharina heulte. Das hatte keine Perspektive und irgendwann gab ich es auf.

Alle Versuche, den Handball aus der Halle zu holen, auf die Straße zu bringen oder als Freizeitsport zu etablieren, sind gescheitert. Handball wird immer ein Sport bleiben, der in seinen besten Momenten – wie dem Finale einer WM oder EM mit deutscher Beteiligung – die Massen begeistert, aber niemals wird die Masse Handball spielen. Wenn man heute einen Outdoor-Handballplatz in ein Wohngebiet bauen würde, wäre das Ergebnis nach spätestens zwei Tagen, dass die Kids Fußball darauf spielen und eben auf die kleinen Handballtore kicken. Feindliche Übernahme. Diktat der Mehrheit. So war das auch in meinem Umfeld. Wenn ich aus der Schule kam und guckte, was auf dem Hof zwischen den Plattenbauten so los ist, dann wurde da meistens Fußball gespielt. Dann habe ich mir die Sportsachen angezogen und mitgekickt. Manchmal habe ich mir auch einen Tennisschläger geschnappt und den Ball stundenlang gegen eine Betonwand gedroschen. Das ging auch.

Wenn wir also mal über die Zukunft des Handballs reden: Wir brauchen gar nicht erst versuchen, ihn hip und cool zu machen und ihn irgendwie streetballmäßig neu zu erfinden. Denn das scheitert schon an der Zielgruppe: Kein Handballer würde auf die Idee kommen, in seiner Freizeit draußen Handball zu spielen. Der echte Handball ist und bleibt ein Drinnensport.

Für mich war es also völlig okay, dass sich meine handballerischen Aktivitäten irgendwann auf die vier Wände der Ritter-Sport-Halle beschränkten. Dabei hatte mich schon nach den ersten Besuchen das Handball-Virus gepackt. Ich fand Handball cool. Ich fand nie etwas lässiger als Handball. Das ist bis heute so geblieben. In meiner Freizeit habe ich immer gerne andere Sportarten betrieben und viel Fußball gespielt. Mit dem Ball am Fuß war ich sogar recht talentiert, aber ich hatte nie das Bedürfnis, in einer Mannschaft zu kicken. Handball fand ich einfach geiler als Fußball – und rückblickend glaube ich, dass die Tatsache, dass aus meiner Nachbarschaft niemand sonst Handball spielte, den Coolnessfaktor nochmal deutlich erhöht hat.

Der Coolnessfaktor meiner ersten Turnschuhe, die ich als Handballer trug, bewegte sich dagegen auf niedrigstem Niveau. Die Dinger hießen „Sportus“, ein Modell der Marke Germina. Das waren Schuhe aus Leinen, deren Atmungsaktivität enorm hoch war – genau wie ihr Verschleiß, was nicht verwunderlich war angesichts der Leichtbauweise. Ein bisschen Gummi, das die Bezeichnung Sohle nach heutigen Maßstäben nicht ansatzweise verdiente, ein bisschen Stoff, fertig war der Fünfmarkturnschuh. Und dann musste man auch noch Glück haben, überhaupt ein Paar dieser Dinger zu ergattern, die je nach Trainingseifer ein bis zwei Monate hielten. Etwas später bekam ich auch mal ein Paar Lederturnschuhe von Zeha – das war die hochwertigere Marke. Es gab sogar spezielle Handballmodelle, die „Tempo“ und „Finalist“ hießen, witzigerweise beides Begriffe, die meine Karriere kennzeichnen. Germina und Zeha – es gab nur diese beiden Turnschuh-Marken in der DDR. Und beide waren nicht leicht zu kriegen.

Meine ersten Adidas-Schuhe schenkte mir mein Vater ein paar Jahre später, sie waren mein ganzer Stolz. Als Sportgrößen genossen meine Eltern Privilegien, und dazu gehörte, von Sportreisen ins kapitalistische Ausland begehrte Westprodukte mitbringen zu dürfen, die alle zwar offiziell ablehnten, aber insgeheim natürlich unbedingt haben wollten. Zwei Schuhe, drei Streifen. Das war der Hammer. Mein Faible für Turnschuhe hat sich bis heute gehalten.

Nach fünf Jahren in der Schulsportgemeinschaft Dr. Kurt Ritter wechselte ich an das Trainingszentrum Dr. Kurt Fischer, da war ich zwölf. Schon wieder Kurt. Der Name verfolgte mich. Muss irgendwie mal in Mode gewesen sein. Oder im Angebot. Der Begriff „wechseln“ trifft es übrigens nicht ganz. Ich wurde für das Trainingszentrum nominiert und dorthin delegiert. Dort wurden die besten Talente aus Berlin zusammengezogen und gezielt gefördert, und ich gehörte damals dazu. Das Trainingszentrum lag in Pankow. Für mich bedeutete das, dass ich für jedes Training eine Stunde mit Bahn und Bus dorthin fahren musste und eine Stunde wieder zurück, fünfmal die Woche. Ich habe das gerne gemacht, denn es hat mich sportlich weitergebracht. Vor allem den Wettkampf habe ich geliebt.

Ich bin ein Wettkampftyp. Bis heute. Brettspiel, Federball, Tischtennis – da gebe ich alles und will mit aller Macht gewinnen. Meine Lieben hassen mich dafür. Mein Ehrgeiz, etwas aus meinem Talent zu machen, war damals, im Kurt-Zentrum, längst entfacht. Zwei Jahre später, in der achten Klasse, sollte der entscheidende Schritt folgen. Im Alter von 14 Jahren wurden die begabtesten Nachwuchssportler des ganzen Landes an einer Sportschule zusammengezogen. In meinem Fall war es das Sportgymnasium von Dynamo Berlin, die große Kinder- und Jugendsportschule, kurz KJS, in Berlin-Hohenschönhausen, wo alle großen Dynamo-Sportler zur Schule gegangen sind. Franziska van Almsick, die Radrennfahrer Jan Ullrich und Robert Bartko, oder Fußballer wie Andreas Thom und Thomas Doll. Das war das größte von fünf großen Trainingszentren des Landes, die Kaderschmiede der DDR schlechthin, was auch daran lag, dass sie von der Stasi gefördert wurde. Wenn du es dorthin geschafft hattest, hast du die besten Bedingungen vorgefunden. Super Schwimmhalle, super Trainingshalle, super Leichtathletikanlagen. Das war in Sachen Trainingsbedingungen das Nonplusultra. Für mich war klar, dass ich diesen Weg gehen wollte. Ich wollte nach Hohenschönhausen und ein richtig guter Handballer werden.

Es gab nur ein Problem. Ich war zu klein. Mit 14 Jahren maß ich gerade mal 1,60 Meter und ein paar Zerquetschte und war zu allem Überfluss auch noch sehr schmächtig. Ein Spargel. Es gab einen Sichtungslehrgang mit Leistungstests, da wurden rund 300 Talente eingeladen, ich auch. Alle anderen Jungs bei der Aufnahmeprüfung waren locker über 1,80 Meter groß, manche sogar 1,90. Wenn die einen Schritt machten, machte ich zwei. Ich war flink und konnte sehr gut mit dem Ball umgehen, aber bei allem, was mit Kraft zu tun hatte, war ich außer Konkurrenz. Wenn ich mir das vorstelle, wie ich damals ausgesehen habe, muss ich lachen: Ein ziemlich schmächtiger Knirps in einem viel zu großen Trikot.

Ich war wirklich eine halbe Portion. Und davon die Hälfte. Körperlich hatte ich keine Chance, die Tests zu bestehen, um einen der begehrten 16 Plätze in der Handballer-Klasse zu ergattern. Die Klassen wurden nach Sportarten eingeteilt. Weil meine Fähigkeiten mit dem Ball unbestritten waren und man natürlich auch wusste, dass ich der Sohn von Peter und Waltraut bin, hat man versucht, anhand von Knochenmessungen meine finale Körpergröße, die ich als Erwachsener erreichen würde, zu ermitteln. Das Ergebnis nach meiner Erinnerung: 1,72 Meter. Bescheiden. Das reichte einfach nicht, um es in die Klasse der besten 16 zu schaffen. Die Größe war ein wichtiges Kriterium. Mit Wollen war da nichts. Da wurde gnadenlos ausgesiebt und ich fiel durch. Das tat unglaublich weh. Es gab keinen Plan B, keine andere Sportart, in der ich so gut war, dass es für einen Platz auf der Sportschule gereicht hätte. Aber es gab Vitamin B. Man könnte auch sagen: Vitamin P, wie Papa.

Mein Vater wollte nicht akzeptieren, dass mein Weg als Handballer an dieser Stelle enden sollte, auf diese Art und Weise, aus diesen Gründen. Ich weiß nicht, ob es ihn gekränkt hat, dass ausgerechnet sein Sohn, der Filius von Waltraut und Peter Kretzschmar, abgelehnt worden war, oder ob er es nicht aushalten konnte, mich so niedergeschlagen zu sehen, oder ob er in mir etwas Besonderes erkannte, rein sportlich, meine ich – immerhin war er ja Weltmeistertrainer und hatte einen Blick für so etwas. Jedenfalls intervenierte er bei der Führung der Sportschule und machte für mich all seinen Einfluss geltend. Und so kam es, dass nach dem Sommer zum ersten Mal überhaupt 17 Schüler in einer Handballklasse waren. Für mich wurde tatsächlich ein neuer Platz geschaffen, obwohl der ja auch mit einer Menge Kosten für die Förderung verbunden war.

Meine anfänglich überschäumende Freude über diese glückliche Fügung wich schnell der Erkenntnis, dass keiner meiner neuen Mitschüler sie teilte. Im Gegenteil. Sie ließen mich spüren, was sie von der Ausnahmegenehmigung hielten: Nichts. Ich war Nummer 17. Überzählig. Überflüssig. Die Wende und der Mauerfall sind wahrscheinlich die prägendsten Ereignisse meiner Generation – ich war damals 16 Jahre alt. Der für mich persönlich viel krassere Wendepunkt war aber mein Start auf der Sportschule, zwei Jahre früher. Da habe ich innerlich Mauern aufgebaut, um mich zu schützen. Bis dato war es ein Privileg gewesen, der Sohn von Waltraud und Peter Kretzschmar zu sein. Es hatte nur Vorteile gebracht, und ich war immens stolz auf meine Eltern. Vom ersten Schultag in Hohenschönhausen an habe ich aber verflucht, dass meine Eltern die waren, die sie waren. Das war der Turning Point, wo sich der Stolz, „der Sohn von“ zu sein, mit dem ich durchaus hausieren gegangen war, ins Gegenteil verkehrte. Es war plötzlich eine Last, eine Bürde. Ich wollte einfach nur Stefan sein. Das Problem war, dass natürlich jeder an dieser Sportschule wusste, wer ich war und wie ich es in meine Klasse geschafft hatte – alle Schüler, alle Lehrer, alle Trainer.

Mir wurde auf unmissverständliche Art klargemacht, dass ich dort eigentlich nichts verloren hatte, mit allzu deutlichen Worten: „Du bist nur hier, weil deine Eltern das durchgedrückt haben“, oder: „Du gehörst hier nicht her“, oder: „Wir wollen dich hier nicht haben.“ Oftmals reichten einfach nur Blicke. Dass ich eine rote Cordhose trug und mit meinen etwas längeren Locken von hinten wie ein Mädchen aussah, machte die Sache nicht gerade besser. Ich wurde gehänselt, beschimpft oder belächelt, im besten Fall einfach gar nicht beachtet. Das Schlimme war ja, und davon habe ich noch nie so ausführlich erzählt, dass sich dieser Spießrutenlauf nicht nur auf meine Sportschule oder wenigstens die Stadt Berlin beschränkte. Das zog verdammt weite Kreise. Das war in der ganzen DDR so. Wenn wir ein Klubturnier gegen die anderen großen Sportschulen Rostock, Frankfurt/Oder, Magdeburg oder Leipzig hatten – und das waren erbitterte Rivalitäten, vor allem zwischen Dynamo Berlin und Magdeburg –, dann war ich automatisch die erste Zielscheibe für die Gegner.

Die wussten alle, wer ich war. Die wussten auch ganz genau, dass ich meinen Platz eigentlich nicht verdient hatte und es mindestens einen Spieler auf meiner Linksaußen-Position gab, der geeigneter war als ich, der die Ausnahmeregelung zum damaligen Zeitpunkt mehr verdient gehabt hätte, nämlich Torsten Pfeil aus Brandenburg. Das hat natürlich kein Schüler, der sich an seiner jeweiligen Sportschule durch die Aufnahmeprüfung hatte kämpfen müssen, und auch kein Jugendtrainer verstanden. Für die meisten war das eine schreiende Ungerechtigkeit, und ich wurde zum Feindbild. Ich habe überall Hohn und Spott abgekriegt. „Da kommt ja der Zwerg von Waltraut und Peter“ war noch mit das Netteste, was ich zu hören bekam. Ich war die Pflaume, die Lusche, der Nichtskönner. Während der Spiele saß ich meistens auf der Bank, ganz am Ende, weil ich ja der Kleinste und Schmächtigste und dem Spielgeschehen körperlich noch nicht gewachsen war. Das war nicht zu leugnen. Das war Fakt.

Wäre ich Trainer gewesen, hätte ich mich auch draußen gelassen, allein schon aus Fürsorgepflicht. Und wenn ich dann doch mal ins Spiel kam, stand ich natürlich unter besonderer Beobachtung und hatte Angst, einen Fehler zu machen, was bekanntlich keine gute Voraussetzung ist. Habe ich zu allem Überfluss mal einen Ball verworfen, dann gab es nicht nur Gejohle von den Zuschauern des Gegners, sondern ich wurde von meinen eigenen Mannschaftskameraden zusammengeschissen oder runtergemacht. Ich bot natürlich auch andere Angriffspunkte mit meinen Adidas-Schuhen und den West-Knieschonern, die mir viel zu groß waren und an meinen dürren Beinchen immer herunterrutschten. Ich dachte, das wäre cool, es sah jedoch albern aus und lieferte denen, die es auf mich abgesehen hatten, ungewollt noch mehr Munition. Understatement kannte ich zu der Zeit nicht, zumindest nicht im materiellen Bereich.

Die folgenden zwei Jahre waren die brutalsten meines Lebens. Wenn ich Internatsschüler gewesen wäre, hätte mich das kaputt gemacht, dann hätte ich dieser Hölle nicht entfliehen können und wäre daran zerbrochen. Aber ich war ein sogenannter Stadtschüler, wohnte zu Hause und hatte dort in der Nachbarschaft meinen Freundeskreis. Die Jungs waren cool, für sie war ich einfach der Stefan. Das war meine Oase. Meine Eltern merkten zwar, dass es mir oftmals nicht gut ging, wenn ich nach der Schule nach Hause kam, aber zur damaligen Zeit herrschte diese Mentalität, dass man sich durchzubeißen hat, gerade bei meinen Eltern, die ja Leistungssportler waren und diese Mentalität voll verinnerlicht hatten.

Aufstehen, weitermachen. Kopf hoch, wird schon. Ich wollte meinen Kummer denn auch um keinen Preis zeigen, wollte meinen Eltern keine Sorgen bereiten, vor allem meinem Vater nicht, der ja so dafür gekämpft hatte, dass ich den Platz an der Sportschule bekam. Und es herrschte jetzt auch nicht die allergrößte Wärme und Geborgenheit bei uns zu Hause, in der man sich in den Arm nahm und tröstete. Ich habe meine Probleme und Sorgen in erster Linie mit mir selbst ausgemacht. Das war mein Weg. Das ist eigentlich immer so geblieben.

Heute kann ich kaum glauben, dass ich das damals so durchgezogen habe. Dass ich daran nicht zerbrochen bin. In dieser Zeit lernte ich, wenn man so will, Durchhaltevermögen und Leidensfähigkeit – auf die harte Tour. Das mag mir in meiner späteren Karriere mitunter geholfen haben, hat mich aber auch blind gemacht für meine persönlichen Grenzen und, ja, vielleicht auch abgestumpft und argwöhnisch werden lassen, was den Aufbau von Vertrauen zu anderen Menschen angeht. Das versuche ich gerade nachzuholen.

Mein bester Freund an der Sportschule war der Ball. Es war auch mein einziger Freund an der KJS. Der war immer für mich da, der hat mich nie im Stich gelassen und meistens das gemacht, was ich wollte. Mit jedem Training mehr. Eigentlich ist es ja so, dass du den Ball festhältst. In meinem Fall hat der Ball mich festgehalten, auf gewisse Weise. Vielleicht war er meine Rettung. In den zwei Jahren, in denen ich der Kleinste und Schwächste in der Mannschaft blieb, trainierte ich wie ein Irrer. Wir hatten damals als einziger Verein der Welt in unserer Trainingshalle einen Schaumgummikreis vor dem Tor. Das war ein Sechsmeterkreis, der ausgelegt war mit einer speziell angepassten Matte. Das fand ich so geil, da habe ich vor und nach jedem Training fünfzig oder hundert Fallwürfe von der Außenposition gemacht. Das konntest du nachher natürlich nicht genau so aufs Parkett übertragen, aber da habe ich abrollen geübt und Wurfvarianten ausprobiert. Andere Würfe wie Aufsetzer oder Dreher habe ich vor einem der normalen Tore trainiert, aber die Sprünge auf die Matte haben am meisten Laune gemacht. Es gab auch eine Anlage, die die Wurfgeschwindigkeit gemessen hat. Das war so ein Loch in der Wand, in das man werfen musste, und in dem Loch befand sich ein Fangnetz mit Sensoren, die gemessen haben, wie hart der Wurf ist.

Mein liebstes Spielgerät war aber ein spezielles Tor, vor das eine Platte geschraubt war, aus der nur die vier Winkel, also links oben, rechts oben, links unten, rechts unten, herausgeschnitten waren, wie vier Tortenstücke. Da solltest du lernen, genau zu werfen. Das habe ich geliebt. Das war absolut mein Ding. Ich bin sicher, jeder, der Handball spielt oder mal gespielt hat, wird verstehen, dass diese Halle ein absolutes Wunderland war, in dem ich so viel Zeit wie nur möglich verbringen wollte und auch verbrachte. Manchmal habe ich das Tor mit Strickseilen in verschiedene Teile aufgeteilt, wie es jeder Vereinshandballer kennen dürfte, und mir dann selbst Aufgaben gestellt. Je schwieriger, desto besser. Die Bedingungen waren ein Traum, und ich kann mir nicht vorstellen, dass es bessere gab oder gibt für einen Handballer.

Am Ende des Trainings wurden oftmals noch kleine Spielchen mit Wettkampfcharakter angesetzt. Nach manchen Einheiten haben die Trainer auf das spezielle Tor mit den vier kleinen Löchern gezeigt und gesagt: „Jeder fünf oben, fünf unten, und wer fertig ist, kann duschen gehen.“ Ich war meistens einer der Schnellsten, dabei hätte ich liebend gerne noch weitergeworfen, während andere ewig brauchten und nach fünfzig verschossenen Bällen eine Strafübung machen mussten, weil die zunehmend genervten Trainer ja auch irgendwann mal Feierabend machen wollten. Da schrumpften die größten Jungs mit dem härtesten Wurf schon mal kläglich auf Normalmaß zusammen. Fand ich gut.

Der Zwerg konnte sich wie ein Riese fühlen, wenigstens für ein paar Minuten. Auch bei anderen Übungen, wenn es auf Schnelligkeit, Wendigkeit, Geschicklichkeit und Ballgefühl ankam und meine körperlichen Defizite kein Hindernis mehr waren, konnte es vorkommen, dass Nummer 17 plötzlich Nummer eins war.

Das war die Dosis Selbstvertrauen, die ich dringend brauchte, und es machte mich glücklich und stolz, dass ich sie nicht geschenkt bekam, sondern sie mir selbst verdiente. Die Revanche der Großen folgte meist tags darauf im nächsten Trainingsspiel, in dem mir ohne Worte recht eindrucksvoll gezeigt wurde, dass Handball immer noch ein Vollkontaktsport ist, dem ich nicht gewachsen war.

Und dann wuchs ich. Sehr schnell, sehr viel. Endlich. Mit 16 Jahren hatte ich einen Schub, der mich im wahrsten Sinne des Wortes auf Augenhöhe mit den meisten meiner Mannschaftskameraden brachte. Innerhalb weniger Monate schoss ich um zehn Zentimeter in die Höhe und später auf meine heutige Größe von 1,90 Meter. Ich wuchs glücklicherweise auch etwas in die Breite und wurde kräftiger. Ich war ein Spätentwickler, der bis zum Zeitpunkt des Wachstumsschubs biologisch drei Jahre in Rückstand war. Das bedeutete, dass ich es als körperlich 11-Jähriger mit 14-Jährigen hatte aufnehmen müssen, von denen einige wiederum Frühentwickler waren, was zur Folge hatte, dass sie biologisch sogar weiter waren als andere Jungs in ihrem Alter. Es führte auch dazu, dass ich in den ersten beiden Jahren an der Sportschule nicht mit meinen Mitschülern duschen wollte, denn untenrum hatte ich so viele Haare wie eine Barbie in ihrem Plastikgesicht, während die meisten anderen schon einen beachtlichen Dschungel vorweisen konnten. Das war mir peinlich. Mit 16 sprießte es bei mir dann endlich auch südlich der Gürtellinie. Eine Nachwuchsarbeit der etwas anderen Art, die deutlich zur Entspannung meines Trainingsalltages beitrug.

Und auf einmal wendete sich das Blatt. Ich war nun nicht mehr der Kleinste und Schwächste, ich war körperlich ebenbürtig, konnte aber besser mit dem Ball umgehen als viele andere, weil ich in den zwei Jahren zuvor aus der Not eine Tugend gemacht hatte. Vorsprung durch Technik, die ich mir schon als kleiner Junge angeeignet und immer weiter verfeinert hatte. Jetzt verfügte ich über den dazugehörigen Körper und konnte im Zweikampf meine technischen Fähigkeiten voll ausspielen. Andere, die jahrelang von ihrer Größe und Wurfkraft gelebt hatten, weil das reichte, um durchzukommen, blieben in der Entwicklung stehen. Ich erinnere mich an meinen Teamkollegen Ingo. Der war schon mit 14 fast zwei Meter groß und hatte einen furchteinflößenden Wurf. Der musste in den ersten beiden Jahren nicht einmal hochspringen, um über den Block auf die Kiste zu zimmern. Der hat alles kurz und klein geschossen. Aber er hat sich als Handballer nicht entscheidend weiterentwickelt und irgendwann war sein Vorteil verspielt, weil alle groß waren. Nicht so groß wie Ingo, aber athletischer, beweglicher, einfach besser. Mit dem Ball in der Hand war ich mittlerweile einer der Besten. So erinnere ich es zumindest, und ich habe keine Lust, an dieser Erinnerung zu zweifeln, denn sie fühlt sich gut an.

Mein Vorbild in diesen Jahren war Jean Baruth, besser bekannt als Jonny, der Linksaußen der ersten Männermannschaft von Dynamo und später auch als Nationalspieler mein Vorgänger auf der Linksaußenposition. Jonny fand ich geil. Der war schnell, der konnte schon den Dreher, der war einfach ein cooler Typ. Das war mein erster Lieblingsspieler, den ich live gesehen habe. Damals schaute ich noch nicht so viel Fernsehen, und deswegen waren es eigentlich immer nur die Spiele unserer ersten Männermannschaft, bei denen ich zugeschaut und mitgefiebert habe. Manchmal begleiteten wir sie auch zu Auswärtsspielen, machten das Vorspiel gegen die jeweilige Jugendmannschaft des Gastgebers und guckten danach beim Spiel der Männer zu. Ich muss zugeben, dass ich als Kind lange Zeit gar nicht so gerne Handball geschaut habe. Ich habe lieber selbst gespielt. Zugucken fand ich langweilig. Ich habe nicht einmal die Spiele unserer Handball-Frauen bei Olympia in Moskau 1980 geschaut, obwohl da Mama und Papa im Einsatz waren. Ich war zu dieser Zeit bei meinen Großeltern in Damsdorf und hatte mehr Lust, mich im Garten herumzutreiben als vor dem Fernseher zu hocken.