Hope Dealer - Vom Drogenhändler zum Hoffnungsbringer - Niels Petersen - E-Book

Hope Dealer - Vom Drogenhändler zum Hoffnungsbringer E-Book

Niels Petersen

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Beschreibung

Get rich or die tryin'! Werde reich oder stirb bei dem Versuch! Niels Petersen will das große Geld machen und beginnt bereits auf dem Schulhof in Flensburg mit Drogen zu dealen. Als er sich nach Kolumbien absetzt, steigt er tief in den Drogenhandel ein – und arbeitet bald mit einem gnadenlosen Drogenboss zusammen. Inmitten des gefährlichen Kartells, zwischen Geldwäsche, Morddrohungen und Entführungen, entkommt er nur knapp dem Tod. Als er beim Kokainschmuggel erwischt wird, landet er in der Hölle auf Erden, in "La Modelo" in Bogotá, einem der gefährlichsten Gefängnisse der Welt. Doch ausgerechnet hier, am tiefsten Punkt, den ein Mensch erreichen kann, hört er von Gottes Gnade und Vergebung. Alles, woran er geglaubt und wofür er gearbeitet hat, wird nun unwichtig. Seine radikale Kehrtwende führt zu einem neuen Leben – voller Freiheit, Friede und dem Wunsch, vor allem junge Menschen vor einem ähnlichen Weg zu bewahren.

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Wo wär ich jetzt wohl ohne Dich, Gott?

vielleicht unter der Erde mit ner Kugel im Kopf

vielleicht wieder im Knast wegen Drogenimport

wär auf dem Weg in die Verdammnis, alle Hoffnung verlorn’

180°, Du hast mein Leben geswitched

führtest mich aus dem Dunkeln durch den Nebel ins Licht

mein Schöpfer, mein Retter ohne Dich gäbe es mich nicht

Du hast jeden kleinen Riss in meiner Seele geflickt

Du hast mich gefunden in der dunkelsten Stunde

drehte Runden um Pudding, mir ist die Flucht nicht gelungen

viel zu viel Zeit verbracht in dieser Einzelhaft

ich hab nach Dir geschrien, Du hast mich freigemacht

Du ergriffst die Initiative

hast in der Ewigkeit entschieden, mich für immer zu lieben

Du gibst mir den inneren Frieden

ich hab mich entschieden, Dich für immer zu lieben!

(Auszug aus dem Song „Frei“ von R.E.A.L x Double M vom Realtalk Records Sampler 2)

Aus Gründen der eigenen Sicherheit und der Wahrung aller Persönlichkeitsrechte sind einige Namen, Orts- und Zeitangaben verändert worden.

INHALT

Prolog

Wie alles anfing

Street Credibility

Südamerika – eine Liebe fürs Leben

Auf Abwegen in Kolumbien

Ein kurzer Traum

Bruchlandung in den Bergen

Volles Risiko

Der Alptraum beginnt

La Modelo – die Hölle auf Erden

Ein Stück Himmel in der Hölle

Neue Hoffnung

Gefangen, aber frei

Eine zweite Chance

Made in Heaven

Vom Dope-Dealer zum Hope-Dealer

RealTalk – Gospel statt Gangster

Epilog

Anhang – Wenn du mehr wissen möchtest

Nachwort

Vita

Danksagung

Bildteil

Prolog

„Machs gut, Alter! Und viel Glück“, ruft mein Kumpel Oscar mir noch zu, als ich am El-Dorado-Flughafen in Bogotá aus seinem Auto steige. Er weiß, was ich vorhabe, und sein Glück-Wunsch ist keine hohle Phrase.

Ich nehme meinen Koffer und meinen Rucksack und gehe zum Air-France-Schalter. Checke ein, gebe den Koffer ab, alles ganz normal. Den Rucksack behalte ich natürlich als Handgepäck bei mir. Der Flug hat drei Stunden Verspätung, erfahre ich. Mist. Drei Stunden mehr Zeit, nervös zu sein. Drei Stunden mehr, in denen irgendwas schiefgehen kann. Aber wohl nicht zu ändern. Auf der positiven Seite haben die von der Air France mir zur Entschädigung einen Gutschein mitgegeben für eins der Restaurants, die sich in der Abflughalle befinden, „Crepes & Waffles“. Ein echt guter Laden mit viel Auswahl für den süßen Zahn, aber auch herzhafte Sachen. Nicht schlecht!

Ich schultere meinen Rucksack und gehe hoch in die Halle, wo die ganzen Restaurants sind. Setze mich im „Crepes & Waffles“ an einen freien Tisch. Und plötzlich kommt da ein ganzes Rudel bildschöner Frauen herein. An ihren Schärpen erkenne ich, dass es sich um eine Abordnung von „Missen“ aus den ganzen kolumbianischen Departamentos, also den Bundesländern, handelt. Anscheinend wollten sie gerade gemeinsam zu irgendeiner Misswahl fliegen. Alter, das ist wirklich ein Fest für die Augen – ein Mädchen ist schöner als das andere. Und ich denke: Wow, das ist jetzt wohl für längere Zeit das letzte Mal, dass ich so hübsche Frauen sehe. Eigentlich bezog sich das nur darauf, dass ich Südamerika und seine Naturschönheiten verlasse. Doch plötzlich macht sich in mir irgendwie so ein Bauchgefühl bemerkbar, das mir sagt: Das geht schief! Du wirst auffliegen! Die verhaften dich und dann siehst du für Jahre nicht das Sonnenlicht.

Ich weiß, dass ich eine 50/50-Chance habe, durchzukommen oder gepackt zu werden. Die vielleicht beste Drogenpolizei der Welt sitzt in diesem Flughafen. Das schlechte Gefühl ist so stark, dass ich tatsächlich blitzschnell im Kopf meine Optionen durchgehe – in Sekundenbruchteilen mache ich Pläne: Noch ist nichts passiert. Niemand hat irgendwas gemerkt. Ich kann jetzt einfach aufstehen und den Flughafen verlassen. Und dann soll Oscar mich abholen, ganz egal, dass mein Koffer dann ohne mich nach Paris fliegt. Schon überlege ich mir, wie ich das dann mache, wo ich den Rucksack verstecke und wie ich den schnell wieder loswerde. Doch fast genauso schnell kickt mein Hustler-Gen wieder rein und ich denke: Nein, ich bin jetzt hier und ich zieh das durch, koste es, was es wolle. Es gibt kein Zurück mehr.

Gibts ja auch tatsächlich eigentlich nicht, denn ich brauche diese Kohle. Ganz einfach. Außerdem ist das bei Weitem nicht das größte Ding, das ich gedreht habe. Da sind schon ganz andere Sachen gelaufen, dagegen ist das hier echt ein Witz.

Als ich mich auf den Weg zum Security-Check mache, bin ich daher auch nicht mal groß nervös, geschweige denn, dass ich irgendwelche verdächtigen Stressanzeichen zeigen würde. Ich stelle mich brav in der Schlange an, und am Band vor dem Scanner angekommen lege ich vorschriftsmäßig meine Uhr und meinen Gürtel ab, leere die Hosentaschen, lege Handy und Laptop in diese Plastikwanne und den Rucksack in eine zweite. Während ich darauf warte, dass der Beamte am Scanner mich durchwinkt, sehe ich hinter der Station Anti-Narcóticos-Leute mit ihren Drogen-Suchhunden stehen.

Mir ist klar: Jetzt kommt es drauf an. Wenn etwas schiefgeht, dann hier. Wenn ich hier durchkomme, hab ich es geschafft.

Ich gehe durch den Sicherheitscheck und nichts passiert. Niemand sagt etwas, niemand merkt etwas. Ich nehme meinen Rucksack und die anderen Sachen wieder an mich und gehe an den Drogenhunden vorbei. Auch die schlagen nicht an und ich gehe einfach unbehelligt weiter.

Dann der Zoll und Passkontrolle. Nur ein kurzer, desinteressierter Blick des Beamten, dann bekomme ich den Ausreisestempel in meinen Pass. Fertig.

Ich gehe wie ferngesteuert zum Gate. Setze mich hin und denke: Geschafft. Das Ding ist gelutscht. Jetzt kann nichts mehr schiefgehen. Der Flug an sich wird kein Problem sein, warum auch. Das Handgepäck liegt die ganze Zeit schön in den Gepäckfächern im Flugzeug, da guckt niemand mehr nach irgendwas. Und der Flug von Paris nach Hamburg ist ein Transitflug, da passiert auch nichts mehr. Fett! Die Anspannung löst sich fühlbar von meinen Schultern. Ich bücke mich, ziehe meine Sneakers aus und fange an, mich zu entspannen. Und schon geht es wieder los mit dem Gedankenfeuerwerk: Ey, das war ja sowas von easy going. Krass! Wenn ich wieder zurück in Kolumbien bin und das alles abgewickelt habe, schicke ich als Nächstes gleich fünf oder zehn Mulas los, also Leute, die man Drogen schmuggeln lässt. Und nicht nur mit 600 Gramm Base, sondern gleich mit zwei, drei Kilo! Bei einer kurzen Überschlagsrechnung, was das an Umsatz bedeutet, kriege ich das Grinsen gar nicht mehr aus meinem Gesicht.

Eine halbe Stunde später schrecke ich aus meinen rosaroten Gedanken hoch, als plötzlich eine ganze Horde Polizisten von den Anti-Narcóticos das Gate entert. Blitzartig bauen sie drei Tische auf und rufen: „Alle Passagiere des Flugs nach Paris kommen bitte nochmals aus dem Gate raus und dann hierher für eine letzte Sicherheitskontrolle.“

Mit so einer Aktion habe ich nicht gerechnet. Wie ich im Nachhinein mitbekommen habe, ist das wohl bei „vuelos calientes“, also „heißen Flügen“, auf denen viel geschmuggelt wird, inzwischen gang und gäbe.

Ich bin wie vor den Kopf gestoßen. Realisiere gar nicht sofort, was das bedeutet. Fühle gar nichts. Mein Kopf ist wie im Leerlauf. Ich weiß nur: Das ist richtig, richtig schlecht. Aber ich muss mich jetzt zusammenreißen. Darf mir nichts anmerken lassen.

Tatsächlich gehe ich sogar als einer der Ersten nach vorn, um den Eindruck zu erwecken, dass ich nichts zu verbergen hätte. Aber ich sehe, wie sie das Handgepäck der anderen auseinandernehmen und ohne viel Aufhebens mit großen Nadeln in Taschen und Rucksäcke stechen. Und dann geht alles ganz schnell. Sie leeren meinen Rucksack aus, schauen hinein. Und als sie nichts finden, stechen sie mit ihren Nadeln in den Boden und das Rückenteil. Sie riechen daran, schauen sich gegenseitig vielsagend an und dann mich.

Der eine Polizist sagt zu mir: „Setzen Sie sich bitte hier in die erste Reihe“ und ich denke: Die erste im Flugzeug wäre vielleicht ganz gut gewesen … aber hier im Gate nach dieser Ansage, das heißt nichts Gutes.

In diesem Moment weiß ich: Das wars. Diese große Show „Drogenbusiness in Kolumbien“, das ist alles vorbei. Nach diesem Hype eben, wo ich dachte, ich habs geschafft, ist das ein verdammt tiefer Fall. Noch weiß ich nicht, was auf mich zukommt, aber mir ist klar, dass das, was jetzt folgt, brutal hart werden wird und ich stark sein muss.

WIE ALLES ANFING

Ich bin am 13. März 1983 geboren. Es war ein sonniger Tag. Ach nein, wahrscheinlich eher nicht, denn ich kam in Flensburg zur Welt, einer kleinen Hafenstadt an der dänischen Grenze. Doch meine Eltern, Uwe und Inis Maria Petersen, hatten sich tierisch auf mich gefreut und waren sehr glücklich über meine Ankunft.

Mein Vater Uwe ist in eher ärmlichen Verhältnissen in Flensburg in einer Zweieinhalbzimmerwohnung aufgewachsen, die er sich mit seinen Eltern, drei Geschwistern und einer kleinen Schneiderei teilen musste. Meine Großeltern väterlicherseits sind früh gestorben, ich habe sie kaum kennengelernt. Und wenn wir mal da waren, war das Interesse ihrerseits nicht sehr groß. Nach dem, was mein Vater mir erzählt hat, hatte er eine nicht so leichte Kindheit. Er war das jüngste Kind und wurde von seinen Eltern nicht immer ganz fair behandelt. Während seine Zwillingsschwester aufs Gymnasium durfte, musste er die Hauptschule besuchen. Aber mein Vater hat doch über den zweiten Bildungsweg seine Fachhochschuleignung gemacht, und nach einer Kfz-Mechanikerlehre dann Ingenieurwesen studiert.

Er hat einen guten Job ergattert und viel gearbeitet. Jeden Werktag musste er früh raus und kam spät nach Hause, wenn ich schon ins Bett ging. Aber er hat dennoch an den Wochenenden viel Zeit mit mir verbracht, hat mit mir draußen Fußball gekickt und wirklich das bisschen Freizeit, das er hatte, in mich investiert. Ich kann mich noch an viele Aktivitäten mit ihm erinnern, und heute, wo ich selbst Vater bin, weiß ich vermutlich noch mehr zu schätzen, was er da geleistet hat. Auch für seinen Arbeitseifer bewundere ich ihn und bin ihm sehr dankbar für alles, was er für uns geschafft hat.

Meine Mutter war Sekretärin und hat erst in einem Steuerbüro gearbeitet und später bei meinem Onkel, der ein erfolgreiches Architektenbüro hatte. Aber immer nur halbtags, damit sie für mich da sein konnte. Und wenn ich aus der Schule kam, stand das warme Mittagessen schon auf dem Tisch.

Meine Eltern haben sich beide immer sehr bemüht, dass zu Hause alles bestens klappt. Bei uns lief es gesittet und ordentlich ab, meine Eltern sind im besten Sinne gute Vorbilder, sehr liebevolle und hilfsbereite Menschen. Ich habe von ihnen nie ein schlechtes Wort über andere gehört, geschweige denn hätte es irgendwelche Heimlichtuereien gegeben. Sie waren total ehrlich und transparent, und so haben sie mich auch erzogen.

Soweit ich weiß, hätten sie gerne noch mehr Kinder gehabt, aber es hat einfach nicht geklappt. Anscheinend sollte es so sein, dass ich das einzige Kind bleibe, und entsprechend viel Liebe und Aufmerksamkeit habe ich bekommen. Das war einerseits schön, andererseits ist es bestimmt auch ganz angenehm, wenn man zu zweit oder zu dritt ist und sich als Kind auch mal der Aufmerksamkeit entziehen kann.

Bis 1990 haben wir in Harrislee bei Flensburg gelebt, in einem grauen, hässlichen Hochhausblock. Später haben meine Eltern in einem Neubaugebiet eine Doppelhaushälfte gebaut, in der ich meine Kindheit und Jugend verbracht habe. Harrislee ist eine Gemeinde direkt an der dänischen Grenze, der letzte Ort, durch den man muss, wenn man nach Dänemark will. Es ist eine schöne, ruhige Gemeinde mit so um die 12000 Einwohnern. Und dafür, dass das eigentlich ein eher verschlafenes Nest war, ist es dort doch ganz schön abgegangen. Aber dazu später mehr.

Wir waren nicht reich, wir waren aber auch auf gar keinen Fall arm, also eigentlich diese typische Mittelschicht, die man heutzutage fast gar nicht mehr hat. Wir hatten unser Reihenhäuschen, ich habe schöne Geschenke zum Geburtstag und zu Weihnachten bekommen und wir konnten ein-, zweimal im Jahr Urlaub machen. Zwar oftmals nur in Dänemark und nicht dick in die Karibik oder so, aber es hat an nichts gefehlt. Natürlich war es nicht so, wie man das vielleicht bei manchen anderen Kindern gesehen hat, deren Eltern wirklich reich waren und die einfach alles bekamen, was sie haben wollten. Ich konnte mir nicht dauernd die neuesten Schuhe oder die teure Jacke anschaffen. Klar, ich habe auch mal die angesagten Adidas-Sneakers bekommen, aber eben nicht viermal im Jahr.

Im Hinblick auf Religion waren meine Eltern der Ansicht, dass ich selbst entscheiden sollte, woran ich irgendwann mal glaube und auch, wie meine politischen Einstellungen sein werden. Meine Oma und Opa mütterlicherseits waren aber sehr fromme Menschen, in deren Leben der Glaube an Gott eine große Rolle gespielt hat. Ich kann mich daran erinnern, dass ich immer, wenn ich bei den Großeltern übernachtet habe, abends vor dem Schlafengehen mit ihnen gebetet habe: „Ich bin klein, mein Herz ist rein, darf niemand drin wohnen als Jesus allein.“ Sie haben mir auch aus der Kinderbibel vorgelesen, das hat übrigens auch meine Mutter immer mal getan. Aber dadurch, dass mein Vater gar keinen Bezug dazu hatte und meine Mutter eher so einen traditionellen Glauben hatte, war Gott bei uns eigentlich kein Thema. Mein Vater ist Ingenieur, er betrachtet die Dinge eher von einer wissenschaftlichen Warte. Es war aber auch nicht so, dass bei uns gegen Religion geredet wurde oder jemand Atheist war.

Mit 13 habe ich mich dazu entschieden, mich konfirmieren zu lassen, aber natürlich nicht etwa, weil ich so ein großes Interesse an Gott hatte, sondern wegen der Kohle, die ich bekommen würde, wie ich wusste. Der Konfirmandenunterricht war auch leider nicht so pralle, ich habe nichts daraus mitgenommen. Wie es leider auch in so vielen traditionellen Landeskirchen heutzutage ist, ging es halt nicht um einen Gott, der dir auch in größter Verzweiflung einen Ausweg schenkt, um Liebe und Hoffnung, sondern es wurde mit gepflegter Langeweile über den Klimawandel oder moralische Fragen geredet. Aber das sind Themen, die dich nicht verändern können, die machen dich geistig nicht lebendig.

Dennoch hatte ich schon so ein Grundvertrauen und einen Glauben daran, dass es einen Gott gibt. Wenn man mich gefragt hätte, ob ich Christ bin, hätte ich vermutlich Ja gesagt. Aber das hat mich jetzt nicht weiter in meinem Leben tangiert. Das ist ja bei vielen Leuten so, dass sie eben mit einer bestimmten Religion aufwachsen und sie dann irgendwie als gegeben hinnehmen, ohne sich jemals wirklich damit zu befassen oder für sich selbst eine Meinung zu bilden. Ich bin zum Beispiel mit vielen Jungs aufgewachsen, die ich als „Shisha-Lounge-Moslems“ bezeichnen würde. Wenn Ramadan ist, fasten sie halt mal ein bisschen und essen vielleicht kein Schweinefleisch. Aber sie haben weder den Koran gelesen noch beten sie regelmäßig, aber dafür saufen sie und haben Frauengeschichten. Nicht missverstehen, das sind Freunde, die ich alle liebhabe. Aber sie sind für mich keine Moslems, nur weil sie da reingeboren sind. So wie ich eben auch kein „richtiger“ Christ war. Ich habe einfach wenig Gedanken daran verschwendet. Vielleicht ist es im Rückblick auch ganz gut, dass ich ein sehr unbeschriebenes Blatt war, was Religion anging.

Ich ging auf die Zentralschule in Harrislee. Das Lernen fiel mir leicht, ich war ein guter Schüler, weshalb meine Eltern auch die Empfehlung bekommen haben, mich aufs Gymnasium zu schicken. Was sich aber auch schon früh abzeichnete, war, dass ich ein Draufgänger war, der immer irgendwelche Flausen im Kopf hatte und den Lehrern das Leben schwer gemacht hat. Ich war derjenige, der in der Klasse den Ton angegeben hat und auch immer ganz vorn dabei war, wenn irgendwelcher Mist verzapft wurde. Die anderen Kinder mochten mich größtenteils ganz gern, wahrscheinlich, weil ich stets versucht habe, das Heft in die Hand zu nehmen und Leben in die Bude zu bringen.

Wir hatten eine Lehrerin, die noch so richtig vom alten Schlag war. Eine kleine zierliche kurzhaarige Dame, immer sehr gut gekleidet, die, wenn sie sauer wurde, immer so ein bisschen weißen Schaum im Mundwinkel hatte. Und sie wurde ziemlich oft sauer über mich und hat mich öfters mal nach Hause geschickt, obwohl das noch wirklich harmlose Sachen waren. Ich habe rumgealbert, vielleicht mal Leute in der Klasse mit Papierkügelchen beworfen oder sie verbal geärgert. Heute würde man das Mobbing nennen, aber es war damals noch nicht ganz so extrem.

Aber von Jahr zu Jahr steigerten sich die Missetaten, und in der dritten, vierten Klasse ging es dann los mit den ersten Schlägereien auf dem Schulhof. Ich habe mich sehr früh danach ausgestreckt, anerkannt zu sein und von anderen respektiert zu werden. Und ich hatte eine sehr kurze Lunte, wenn ich das Gefühl hatte, ich werde provoziert oder jemand will mir blöd kommen. Ebenfalls schon in jungen Jahren waren Mädchen sehr interessant für mich. Ich war immer hinterher, dass ich mit den hübschesten Mädels rumhing oder dass eine davon meine „Freundin“ war – was erst mal nur bedeutete, dass man sich kleine Liebesbriefe geschrieben und Händchen gehalten hat. Und schon bald sneakte ich mich an Mädchen aus den älteren Klassen ran und konnte tatsächlich mit 10 Jahren bei einer landen, die schon 14 war. Natürlich wollte ich auch fresh aussehen und immer die angesagtesten Klamotten tragen. Zu der Zeit waren das Doc Martens oder Adidas-Streetball-Sneaker und Levis-Jeans.

Meine Eltern haben wirklich bestmöglich versucht, mich so zu erziehen, dass ich auf den geraden Weg komme. Aber es war irgendwie so, als wären die Grenzen, die sie mir setzten, für mich einfach nur dazu da, sie zu übertreten. Als ich mir beispielsweise in der vierten Klasse Ohrringe schießen lassen wollte, verboten sie mir das. Und dann ging ich hin und ließ mir nicht nur ein Ohrloch stechen, sondern gleich drei – eins in ein Ohr und zwei in das andere. Ich habe mich schon in jungen Jahren extrem entschlossen über jede Art von Grenzen hinweggesetzt und einfach meinen Willen durchgesetzt. Es war gar nicht so, dass ich unbedingt gegen meine Eltern rebellieren wollte, so nach dem Motto: „Jetzt mach ich aber genau das Gegenteil von dem, was sie sagen.“ Sondern es ging eher in die Richtung: „Ich hab da jetzt Bock drauf, ich darf es nicht, aber ich mach’s einfach trotzdem. Weil ich es kann.“

In der Grundschule hatte ich ein ganz gutes Standing. In unserer Klasse war ein Junge, der schon zweimal backen geblieben war – nennen wir ihn mal Alex. Er kam aus einem komplett zerrütteten Elternhaus wie man hörte: Die Eltern waren wohl irgendwie auf Drogen und haben sich nicht um ihn und seine Schwester gekümmert. Zudem hatte Alex auch mal Krebs gehabt und das zum Glück überstanden. Heute kann ich total nachvollziehen, was mit ihm los war, und er tut mir im Nachhinein mega leid. Aber damals war er für mich einfach nur strange, zudem war er sehr ungepflegt und stank unglaublich, und er wurde natürlich von Jungs wie mir mit meiner großen Klappe gnadenlos gemobbt. Da er zwei Köpfe größer war als wir anderen und auch sehr aggressiv, hatten wir schon irgendwie Respekt vor ihm, aber wir haben ihn trotzdem geärgert bis zum Geht-nicht-mehr. Dann ist er uns immer hinterhergerannt und wollte uns verprügeln, und das war unser Adrenalinstoß für den Tag. Weil wir wussten: Wenn der uns in die Hände bekommt, dann gibt es richtig Lack.

Aber eines Tages entschied ich mich, nicht mehr wegzulaufen. Ich war immer schon ein sehr kräftiger Junge, habe Fußball gespielt und tausend andere Sportarten gleichzeitig gemacht – Tennis, Schwimmen, Tischtennis, Judo. Mit meinem Vater habe ich oft Spaßkämpfe gemacht. Natürlich haben wir uns nicht geschlagen, aber er hat mir viele Griffe gezeigt. Es war für mich einfach sehr instinktiv, irgendwie wusste ich von Grund auf, wie man kräftig zuschlägt. Ein Naturtalent sozusagen. Normalerweise hat man da ja so eine Hemmschwelle, jemandem wirklich eine ins Gesicht zu hauen. Die hatte ich auch. Bis zu dem Moment, als ich gedacht habe: Nee, jetzt laufe ich nicht mehr weg. Und wenn Alex jetzt auf mich losgeht, dann wird der mich plattmachen. Also bevor ich auf die Fresse bekomme, schlage ich lieber zuerst zu.

Und so habe ich ihm einfach drei Schläge in die Schnauze verpasst. Da lag er dann auf dem Schulhof mit blutender Lippe und war K.O., und alle haben es gefeiert. Und ich habe in der Folge gemerkt, dass mir das noch mal ein anderes Standing gab, weil selbst Kinder aus den oberen Klassen Angst vor Alex gehabt hatten. Und ich war erst in der Vierten. In einem kleinen Ort wie Harrislee, wo alle sich irgendwie kennen, habe ich deutlich die neue Anerkennung gespürt.

Bei all den Sportarten, die ich gemacht und ausprobiert habe, war ich immer einer der Besten. Das soll keine dumme Angeberei sein, es war gar nicht mein Verdienst, das ist mir alles irgendwie zugefallen. Ich habe mit Tischtennis angefangen und dann war ich plötzlich Landesmeister. Im Judo habe ich auf dem Turnier als Noch-Weißgurt die ganzen Gelb- und Orangegürtel auf die Matte gelegt. Bei der Leichtathletik hat mir der Trainer gesagt: „Du bist so gut, du musst mit den ganzen anderen Sachen aufhören und dich nur auf Leichtathletik konzentrieren.“ Ich sagte: „Okay, also nur noch Fußball?“, und als er meinte: „Nein, auch kein Fußball“, war das das letzte Mal, dass er mich gesehen hat.

Fußball war nämlich absolut mein Ding. Das war mein Sport. Ich bin als kleiner Butscher schon zum Training gegangen und mein Vater musste auch noch und nöcher mit mir kicken, wann immer er Zeit hatte. Also mich hat da niemand hingeschoben, sondern es war wirklich meine Leidenschaft. Auf Fußball habe ich immer Bock gehabt. Und entsprechend war ich auch darin sehr gut, ein richtiges Talent. Das konnte man schon sehr früh sehen. Ich habe ohne Ende Tore geschossen, und mein Vater, der bei jedem Spiel dabei war, hat mir erzählt, dass es in der F-Jugend schon immer hieß: „Ihr müsst den Rothaarigen decken, den Rothaarigen!“ Und dann haben alle den Rothaarigen gedeckt, aber der Rothaarige hat trotzdem fünf Tore geschossen.

In der D-Jugend wurde für die Kreisauswahl gesichtet, die besten 16 Spieler des Kreises Schleswig-Flensburg wurden ausgesucht, um dann in den Landesmeisterschaften zu spielen. Ich war natürlich dabei und hatte von da an jeden Montag Kreisauswahl-Training. Dann kam die Landesmeisterschaft, auf der alle Mannschaften aus den Kreisen in Schleswig-Holstein gegeneinander gespielt haben. Und da wiederum wurde für die Landesauswahl gesichtet. Auch hier wurde ich zu den Landesauswahltrainings eingeladen, die in Malente stattfanden, anderthalb Stunden von Flensburg entfernt. Meine Mutter hat mich immer hingefahren, weil die Trainings unter der Woche waren und es sonst zu viel Zeit gekostet hätte. Sie hat da echt viele Kilometer mit mir geschrubbt.

Meine ganze Jugend über bis zum frühen Männerbereich war ich in der Landesauswahl und habe bei den Deutschen Meisterschaften gespielt, in Duisburg oder auch in Berlin. Und bei diesen Gelegenheiten hat der DFB für die U16, U17 und so weiter nach Nachwuchs geschaut. Ansonsten spielte ich in den besten Teams rund um Flensburg. Ich hatte auch Angebote von VFB Lübeck und Holstein Kiel, dort zu größeren Vereinen zu gehen, aber da ich nun mal in Flensburg lebte und dort aufs Gymnasium ging, bin ich vereinsmäßig auch dort geblieben.

Es gibt fünf deutsche Gymnasien bei uns in Flensburg. Meine Freunde von der Zentralschule und ich haben uns entschieden, aufs Alte Gymnasium zu gehen. Das ist schon eine Art Elitegymnasium, eine richtig gute Schule, auf die die ganzen Kinder aus den reichen Familien von und zu soundso gingen.

Da ich wie gesagt schon immer vom Typ her ein Draufgänger war, hing ich natürlich immer mit den Älteren in Harrislee rum. Wir trafen uns am Jugendheim, wo wir Billard und Tischtennis spielen konnten. Die Älteren haben schon gekifft und es lief auch einiges mit Mädels. Dafür, dass Harrislee eher eine kleine Gemeinde war, ging es echt schon ziemlich ab. Die sozialen Brennpunkte von Flensburg grenzten direkt an Harrislee. Dadurch war Harrislee ein Dreh- und Angelpunkt für alle möglichen Sachen. Und es war Grenzstadt zu Dänemark. Als ich 15 oder 16 war, haben sich 100 bis 120 Jugendliche am Wochenende auf dem Marktplatz getroffen, zusammen gesoffen und Schlägereien angezettelt und noch einiges mehr. Es war echt ganz schön wild.

Ich zog meine Fußballleidenschaft beständig durch, hatte aber immer Lust auf Nervenkitzel, auf das Ausprobieren von neuen Sachen, die man so sah bei den Älteren. Die saßen auf den Spielplätzen und haben sich die Kurzen reingehauen. Also haben wir uns beim Supermarkt auch welche gezockt und so sind wir schon mit 10, 11 Jahren das eine oder andere Mal besoffen am Spielplatz aufgelaufen. Zum ersten Mal geraucht habe ich auch um den Dreh.

1993, ich war 10 Jahre alt, kam etwas in mein Leben, was mich sehr geprägt hat: meine erste große Liebe. Und das war der Hip-Hop. Ich weiß es noch, als wäre es gestern gewesen: Ich saß zu Hause in der Wohnstube und habe MTV laufen gehabt. Natürlich. Das war nun mal das Programm, das man gucken musste, wenn man Musik mochte und aktuell informiert sein wollte. Und Musik hatte ich schon immer gemocht, auch wenn ich selbst keine machte. Ich hatte zwar mal Keyboard-Unterricht gehabt, aber das hatte mich nicht so richtig gepackt. Doch Musik hören, das war super. Am besten rockig. Ich war ein riesiger Guns N’ Roses-Fan, auch Metallica und AC/DC fand ich super.

Ich überlegte gerade, ob ich mal im Kühlschrank gucken sollte, was so zu essen da war. Da passierte es: Auf MTV wurden Neuheiten vorgestellt und ein extrem cooler Beat erwischte mich wie eine kühle Brise. Ich starrte fasziniert auf die Mattscheibe: „Snoop Doggy Dogg“ stand da, mit dem Video „Who Am I (What’s My Name)“. Diese Melodie und der Beat und diese Attitude – der Typ war einfach durch und durch cool, und ich saß da wie gebannt und dachte: Alter, was ist das?!? Wie er sich bewegte, wie er angezogen war … die hübschen Frauen an seiner Seite, die fetten Autos … In dem Video verwandelte er sich vom Menschen in einen Dobermann, dem er auch tatsächlich irgendwie ähnlich sah. Es war witzig, es war stylish, es war einfach der Hammer. Von einem Moment auf den nächsten war ich in diese Musik verliebt. Ich brauchte mehr davon!

Also fuhr ich am selben Nachmittag mit dem Bus nach Flensburg, das dauerte von Harrislee zum Glück nur ein paar Minuten, und ging schnell zu Brinkmann. Dort konnte man sich CDs aussuchen und anhören, bevor man sie kaufte. Das Album von Snoop Dogg hieß „Doggy Style“, und ich habe es rauf und runter gehört. Und von da an habe ich fast jeden Tag gefragt: „Darf ich in die Stadt fahren, eine neue CD kaufen?“ Ich habe mir alles angehört, was in dieser Richtung zu kriegen war: Wu-Tang Clan, N.W.A., Dr. Dre, Mobb Deep und DMX. Und dann kam irgendwann 2Pac auf, mein favourite Rapper, bei dem ich dann komplett hängengeblieben bin.

Ich habe dieses ganze Hip-Hop-Ding einfach komplett gelebt. Mein Kleidungsstil wurde umgestellt. Bald hatte ich nur noch Dickies- und Carhartt-Sachen und irgendwann dann Southpole und Karl Kani. Weite Schnitte, die Hosen etwas tiefer hängend, die Cap ein bisschen schief auf dem Kopf. Ich war einer der Ersten in der Gegend, was diesen Style und diese Kultur anging. Zu der Zeit war in so einer kleinen Stadt wie Flensburg Hip-Hop noch gar nicht richtig angekommen, das war also für die anderen voll strange, wie ich rumlief und was ich verkörperte. Das machte mir aber wenig aus; ich hatte mein Ding gefunden.

Der Hip-Hop als Kultur hat vier Elemente, und das sind Breakdancing, Graffiti, DJing und Rappen. Was das Breakdancen angeht, konnte ich nichts reißen, ich war als Fußballer ein steifer Bock. Ich habe zwar Rhythmus, tanze auch heute Salsa. Aber wenn ich damals versuchte zu breakdancen, sah das eher aus, als hätte ich einen epileptischen Anfall. Graffiti war auch eher low. Klar, wir sind mit Eddings rumgelaufen und haben unsere Tags überall hingeschmiert. Aber das war nicht wirklich etwas, wofür ich eine Begabung oder Leidenschaft hatte. DJing hat mich ebenfalls nicht so getriggert, das war zu der Zeit auch nicht mehr ganz so im Fokus, wie es in den 1980er-Jahren noch war. So richtig interessiert hat mich nur das Rappen. Ich habe begonnen, mich da reinzufuchsen, und später, als ich dann so 15, 16 war, haben wir auch immer mal mit ein paar Leuten Freestyle-Sessions gemacht.

1993 aber ging es erstmal los. Natürlich waren die Texte ein wichtiger Teil der Faszination, und ich habe auch irgendwie leichten Zugang dazu gehabt. Ich habe nicht alles verstanden, die Texte waren ja auf Englisch, aber doch überraschend viel. Irgendwie habe ich das rasch durchschaut, die Punchlines gerafft und auch die Kunst dahinter wirklich gesehen und gefeiert. Und ich konnte mich auch sehr schnell mit dem Street Slang identifizieren. Was ich in diesen Songs gehört habe, hat mich sehr geprägt: Es ging darum, dass du dir einen Namen machen musst auf der Straße, es ging um Respekt und Anerkennung, es ging um Drogendeals, um schöne Frauen mit dicken Ärschen, um Schmuck und Autos, um Loyalität, um das Streetgame. Hauptsächlich waren es Schwarze und ein paar Chicanos, die in den USA zu der Zeit als Rapper bekannt waren, und in ihren Texten ging es oft um das Leben in der Hood und darum, wie schwer es ist für sie, da rauszukommen und etwas aus sich zu machen. Um die ständigen Struggles mit der Polizei, die sie nur wegen ihrer Hautfarbe oder Herkunft schon als Kriminelle abstempeln und ihnen das Leben schwermachen. Obwohl ich ja nun weder farbig noch aus der Gosse war, identifizierte ich mich voll mit alledem. So setzte sich schon in jungen Jahren in mir die Überzeugung fest, dass die Polizei mein Gegner sei.

Und dazu gab es auch die entsprechenden Filme. Ich weiß noch, dass ich zwei Jahre lang fast jeden Tag einen Film geguckt habe, der in den Ghettos von L.A. spielte, „Menace II Society“. Ein sehr brutaler Streifen, in dem jede Menge Leute sterben und der die Realität in diesen Ghettos auf schockierende Weise zeigt. Oder auch „Boyz in The Hood“, ein anderer Film dieser Art. So etwas lässt einen natürlich nicht unberührt. Die ganze Attitude, die in den Videos von den Rappern rüberkam, und die Aussagen in den Texten haben sich dadurch für mich noch mehr visualisiert und mich komplett geprägt. Ich wollte mehr. Ich wollte so ein Mann sein, ich wollte ein Gangster sein. Aber die Realität war, dass ich einfach ein Kind aus einem guten Elternhaus aus einer Kleinstadt an der dänischen Grenze war. Genau wie die meisten meiner Freunde, mit denen ich rumhing und diese Liebe zum Hip-Hop teilte.

Zu der Zeit waren wir mit dieser Leidenschaft für Rap eine Minderheit, zumindest in Harrislee. In den Neunzigern war ja noch die Neue Deutsche Welle angesagt und die Backstreet Boys oder die Kelly Family und was es da nicht alles gab. Auf Snoop Dogg, Dr. Dre und 2Pac und Konsorten standen nur wenige Jugendliche. In Flensburg gab es ein paar mehr, hauptsächlich Türken oder Araber, die den Style auch gefeiert haben. Und das bedeutete, dass wir unsere Kreise vom Jugendheim in Harrislee immer weiter ausgedehnt haben und auch viel in Flensburg unterwegs waren. Die Leute aus der Stadt kamen aus anderen Verhältnissen und da kursierten auch ganz andere Sachen und da wurde auch schon mal das eine oder andere Ding besprochen.

Hinter dem Fußballplatz in Harrislee, wo wir immer kickten, war der dänische Supermarkt „Fleggaard“. In dessen Hinterhof, das konnten wir vom Fußballplatz aus sehen, standen oft Paletten mit Getränken. Und irgendwie kam dann einer von den Jungs auf die Idee, dass wir doch mal den Zaun aufflexen und uns ein paar Kisten schnappen sollten. So ging es mit den ersten kriminellen Gedanken und Handlungen los. Es war natürlich auch kostspielig, immer die ganzen Rap-Alben bei Brinkmann zu kaufen, also habe ich angefangen, sie stattdessen zu klauen. In der Schule hatten wir einen Typen, der Computerspiele brannte, und ich habe immer die originalen Computerspiele für ihn gezockt und sie ihm dann verkauft. In der 5. oder 6. Klasse fingen viele an, dieses Odol-Spray zu benutzen, weil sie heimlich rauchten und den Geruch damit überdecken wollten. Also habe ich mir immer im Krankenhausladen in der Nähe der Schule die Taschen vollgemacht mit diesen Sprayflaschen und sie dann vertickt.

Als dann irgendjemand von den Leuten aus Flensburg, mit denen wir rumhingen, plötzlich eine Gasknarre hatte, war sofort klar: Ich will auch so ein Ding haben. Hatte ich dann auch bald. Mit 13. Ich bin mit meiner Gasknarre rumgelaufen und fand, dass ich der absolut krasseste Typ war. Währenddessen arbeitete ich weiter an meiner Fußballkarriere. Bis darauf, dass ich dauernd Rote Karten bekam, weil ich so unbeherrscht war, lief es wirklich gut. Und im Gymnasium kam ich auch recht gut klar, obwohl ich echt wenig Zeit für die Schule investierte. Ich war ein durchschnittlicher Schüler, habe aber ständig Probleme gemacht, und einige Lehrer hatten mich entsprechend auf dem Kieker. Öfter hörte ich Dinge wie: „… aber der Allerschlimmste ist dieser Niels!“

Dabei habe ich zuerst wirklich keine großartigen Sachen angestellt. Das Schlimmste war, als ich mit ein paar Kumpels im Schulkiosk „Kernbeißer“ gearbeitet habe. Zuerst haben wir uns selbst vollgefressen und nachher dann auch mal in die Kasse gegriffen. Als es überhandnahm, wurden wir erwischt und man sagte mir: „Bei der nächsten Sache fliegst du!“ Das muss in der 9. Klasse gewesen sein.

Durch den Fußball hatte ich viele Kontakte zu Älteren, und da kursierten auch Drogen. Der eine oder andere kiffte und das hat mich natürlich auch gereizt. Durch die Filme und die Rap-Songs war ich voll darauf geeicht, dass Drogen einfach dazugehörten. Und für mich war ganz klar, dass ich das ausprobieren würde. Ich muss etwa 15 gewesen sein, als ich das erste Mal an einem Joint gezogen habe. Zu meiner Enttäuschung habe ich gar nichts gemerkt und mir gesagt: Das nächste Mal muss ich dann wohl gleich ne Bong rauchen.

Wenig später habe ich genau das auch gemacht. Und war gleich voll high. Ja, das hat mich krass getriggert. Ich habe mir eine eigene Bong besorgt und dann ging es los. Ich habe von da an so ziemlich jeden Tag gekifft. Und damit verschob sich auch noch mal mein Fokus. Bis dahin war ich immer auf der Straße unterwegs gewesen, bin von Jugendheim zu Jugendheim, habe hier und da auch Mist gebaut und vielleicht die eine oder andere Schlägerei gehabt. Jetzt zog es mich in die Kifferbuden, wo ich Zugang zu Stoff hatte – zu Gras und Hasch. Ich war beileibe nicht der Einzige in meiner Klasse, der gekifft hat, und so haben wir uns dann in der Pause im Stadtpark direkt gegenüber der Schule hingesetzt und geraucht. Die anderen hatten nicht so die Möglichkeiten, an den Stoff ranzukommen. Ich schon.

Und so ging es los, dass ich immer ein bisschen was für andere mitgebracht habe. Noch hatte ich in dieser Hinsicht keine größeren Pläne, aber es war sehr angenehm, dass ich mir so ganz easy meinen eigenen Konsum finanzieren konnte. Zeitgleich gab es wieder irgendein Problem auf meinem Gymnasium, und ich war ja sowieso schon angezählt. Ich weiß nicht mehr, was letztlich der ausschlaggebende Grund war, auf jeden Fall hieß es: „Entweder, du gehst jetzt selbst von der Schule und suchst dir eine andere, oder wir schmeißen dich raus.“ Das war ja noch echt nett, dass sie mir diese Möglichkeit gegeben haben, denn wenn du irgendwo geschmissen wirst, ist es schwierig, dann anderswo aufgenommen zu werden.

Ich kannte vom Fußball ein paar Jungs, die auf die Goetheschule gingen. Die war zwar von mir aus ein bisschen weiter weg – auf der anderen Seite des Hafens in Flensburg –, aber laut meiner Kumpels ging es da total entspannt zu. Ich habe meinen Eltern also gesagt, dass ich gern dorthin wechseln würde, und sie haben dem zugestimmt. Sie waren wohl auch ganz froh, dass ich auf eine andere Schule gehen wollte, weil ich auf dem Alten Gym nur Probleme hatte und sie sich auf den Elternabenden das Gejaule über mich von den Lehrern und auch teilweise von anderen Eltern anhören mussten. Bis dato wussten sie noch nichts vom Kiffen, das habe ich schön vor ihnen geheim gehalten. Wir haben mich also dort angemeldet. Die Lehrer dort wussten nicht genau den Grund, warum ich die Schule gewechselt habe, den wollten sie auch nicht wissen, aber sie konnten sich denken, dass ich ein Problemschüler war. Ich habe ein halbes Jahr Probezeit bekommen und mich so lange auch schön ruhig verhalten. Das war beim Übergang von der 9. in die 10. Klasse.

Alles, was sonst so im Hintergrund lief, ging natürlich weiter. Meine Eltern wussten zunächst wie gesagt nichts davon. Als ich angefangen habe, die ersten Tüten oder Pillen zu verkaufen, habe ich das sehr sorgfältig vor ihnen versteckt. Dass meine Eltern mitbekommen, dass ihr Sohn kriminell ist, war das Letzte, was ich wollte.

Sie hatten dann sowieso andere Sorgen. Mein Vater hatte einen guten Job als Ingenieur in Flensburg. Doch dann wurde die Firma umstrukturiert und mein Vater wurde gefeuert. Ich habe mitbekommen, wie sehr ihn das fertiggemacht hat, und das hat mich ziemlich geschockt. Für mich war es krass, meinen Vater so zu sehen: am Boden zerstört und mit Tränen in den Augen. Klar, er hatte Familie, das Haus musste abbezahlt werden, vermutlich hatte er echt Existenzängste.

Das war der Moment, in dem ich mir geschworen habe, dass ich nie für jemanden arbeiten möchte. Ich wollte nicht für irgendeinen Hampelmann knechten, der mich dann abservieren könnte, wenn ich ihm nicht mehr gut genug war. Ich wollte mein eigener Chef sein, egal wie! Und ich glaube, der Moment war auch der Grundstein für meinen frühen Fokus darauf, noch vor meinem 30. Geburtstag Millionär werden zu wollen. Und zwar um so ziemlich jeden Preis. „Get rich or die tryin‘“, wie 50 Cent so schön singt.

Schließlich fand mein Vater einen neuen Job, allerdings auf Sylt. Daher war er nur noch am Wochenende zu Hause. Das war gerade in der übelsten Zeit, in der Pubertät, als ich 13 war. Meine Mutter hatte es wirklich schwer mit mir. Im Nachhinein tut mir das furchtbar leid. Natürlich kam es, wie es kommen musste, und irgendwann fand meine Mutter Stoff in meinem Zimmer. Ich habe die üblichen Ausreden angebracht, um sie zu beschwichtigen: dass das nicht mein Zeug sei, dass ich es nur für jemanden aufbewahren sollte … Sie hat das damals schon nicht geglaubt und dann immer wieder probiert, mit mir ins Gespräch zu kommen und mich zu warnen: „Das ist ganz schlecht, Niels. Wenn das rauskommt, fliegst du von der Schule und dann …“ Aber ich habe es abgeblockt. Und nach und nach wurde es mir auch immer egaler, ob sie es nun mitkriegt oder nicht. Wenn sie gemeckert oder versucht hat, vernünftig mit mir zu reden, bin ich in mein Zimmer, hab mich eingeschlossen und meine Bong geraucht. Und was sollte sie schon machen?

Meine Eltern waren in diesen Dingen selbst zwar unbeleckt – als in den Siebzigerjahren die wilde Drogenzeit war, haben sie beide nie welche genommen –, aber sie haben miterlebt, wie Freunde von ihnen so richtig Christiane-F.-mäßig komplett lost gegangen und teilweise gestorben sind. Meinen Vater hat es daher massiv belastet, als er mitbekommen oder zumindest geahnt hat, was ich so trieb.

Für mich war der Graskonsum bereits ein fester Bestandteil meines Lebens geworden. Das ist in der Hip-Hop-Kultur komplett verankert. Jeder, den ich kannte, hat gesmoked, in allen Raptexten und -videos drehte es sich um Drogen, man konnte dem gar nicht entkommen. Es gehörte einfach dazu, es musste irgendwie sein. Und so waren wir dann halt auch fast ständig stoned. Seitdem ich 15 war. Immer und überall. Nur wenn ich zum Fußball gegangen bin, war ich klar. Aber in der Schule und überall sonst war ich dauer-high. Ich habe mich mit meinen Jungs oben im Zimmer eingeschlossen und dann ist die Bong rumgegangen. Und wenn es nicht bei mir war, dann eben woanders.

Das ging natürlich ganz schön ins Geld. Und wenn ich mir die Typen, von denen wir das Zeug bezogen, genauer ansah, waren das eigentlich mega die Lappen, die aber ziemlich viel Geld verdienten. Das setzte bei mir gewisse Denkprozesse in Gang.

Ein Riesenthema wurden auch sehr bald schon Mädels. Mit meinem besten Freund Dogan, der halb Türke, halb Kurde ist, hatte ich einen Kumpel an meiner Seite, der sogar noch einen Tick schlimmer war als ich. Wir waren wirklich total fokussiert darauf, uns zu besaufen und Mädchen klarzumachen.

Meine erste ernsthafte Freundin hatte ich mit 16. Sie hieß Lara. Wir waren ein halbes Jahr zusammen und mit ihr hatte ich auch mein erstes Mal. Doch irgendwann ging es auseinander, und da war für mich klar: Okay, jetzt weiß ich, wie es funktioniert – jetzt geht es richtig los. Und das tat es auch. Am Anfang ging es mir vor allem ums Partymachen, und dabei hat man natürlich auch dann und wann was mit Mädels gehabt. Aber das kehrte sich nun um und bald war die Party gar nicht mehr wichtig, sondern nur noch, dass man eine Frau klarmachte.

Da ich nach wie vor viel in Flensburg unterwegs war, hatte ich viele Connections zu allen möglichen Leuten. Mit 16, 17 Jahren fing es dann an, dass wir als Hip-Hop-Leute auch mal Abstecher in andere Szenen gemacht haben. Es gab in der Gegend keine Hip-Hop-Partys, dafür aber in den Großraumdissen recht heftige Technopartys, wo die Leute alle hingepilgert sind. Dort wurden andere Drogen genommen – Ecstasy, Speed. Kokain. Und irgendwann war es dann so weit, dass ich das auch mal ausprobieren wollte. Ich glaube, da war ich 17. Wir sind nach Hamburg auf den G-Move gefahren, das war so eine Art kleine Love Parade. Und dort habe ich ein halbes Teil eingeschmissen. Eine halbe Stunde später war ich auf Wolke 7, völlig in Ekstase, und dachte nur: Boah, voll krass! Wir haben durchgefeiert, also wirklich bis zum nächsten Tag um 12 Uhr mittags, und ich spürte keine Müdigkeit und fühlte mich bombastisch.

Hip-Hop blieb meine Nummer 1, aber von da an war ich fast jedes Wochenende auf irgendeiner heftigen Techno-Party, wo ich mir was eingeschmissen und wieder neue Kontakte geknüpft habe.

Auf der neuen Schule wurde noch viel mehr gekifft als auf der alten, und rasch fing es an, dass irgendjemand fragte: „Ey, du hast immer so heftig gutes Gras. Kannst du nicht auch mal 50 Gramm besorgen, ich würde das gerne bei mir auf’m Dorf verchecken.“ Also habe ich dem Menschen 50 Gramm verkauft und beim nächsten Mal dann schon 200 Gramm und so weiter.

So ergab es sich, dass ich mit 17 immer mehr verkauft habe. Auf den großen Partys hatte ich bald immer 50 oder 100 Pillen Ecstasy und paar Tüten mit Speed dabei, schön an den Eiern versteckt. Die Türsteher kannte ich größtenteils auch schon, und so ging ich rein in die Disco, feierte und kam hinterher mit einem Batzen Geld wieder raus.

STREET CREDIBILITY

Es ging mir bei dem Ganzen nicht nur ums Geldverdienen, obwohl das natürlich sehr praktisch war. Vor allem aber wollte ich mir auf der Straße einen Namen machen, ich wollte Anerkennung bekommen, Respekt von anderen. Street Credibility, wie man so schön sagt.

Ich bin quasi ganz „organisch“ ins Drogenmilieu reingerutscht. Weil ich auf den Partys die Pillen verkauft habe, haben die Leute im Umkreis mitbekommen, dass man über mich an Stoff rankommt. Das sprach sich dann rum, und so wurden es immer mehr Leute, die auf mich zukamen. Ich war gerade 18 und innerhalb von einem Jahr hatte ich Kunden, die direkt Hunderte von Pillen abgenommen haben, kiloweise Gras und Amphetamin. Für so einen kleinen Butscher wie mich war das schon ein recht großes Geschäft.