"I think of you constantly with love …" - Ludwig Wittgenstein - E-Book

"I think of you constantly with love …" E-Book

Ludwig Wittgenstein

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Beschreibung

Es ist, was es ist, sagt die Liebe: In persönlichen Briefen schreibt Ludwig Wittgenstein über seine Beziehung mit Ben Richards. Ludwig Wittgenstein: Philosoph, Mensch, Liebender Ludwig Wittgenstein zählt zu den bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts. Sein "Tractatus logico-philosophicus" und seine "Philosophischen Untersuchungen" haben die Geschichte der modernen Philosophie grundlegend verändert. Auch wenn über den Philosophen Wittgenstein viel bekannt ist: weniger greifbar ist er als Mensch. Als Mensch, der lieben kann und will: Es ist Herbst – der erste nach Ende des Zweiten Weltkriegs – als Ludwig Wittgenstein in Cambridge den Medizinstudenten Ben Richards kennenlernt. Die darauffolgende Beziehung der beiden wird das Leben des Philosophen bis zu seinem Lebensende prägen. Eine Vielzahl erhaltene gebliebene Briefe, Ansichtskarten und Telegramme aus den Jahren 1946 bis 1951 sind stille, aber bewegende Zeugen dieser Liebe und tiefen Freundschaft. Briefe als Quelle des Glücks – und der Unsicherheit Wenn Wittgenstein etwas Schönes sieht, möchte er es mit Richards teilen. Wenn er ein Musikstück hört, das ihn besonders beeindruckt hat, empfiehlt er es Richards in der Hoffnung, dass er beim Hören an ihn denkt. Er schickt ihm Blumen, um seinen Tag zu erhellen. Die Liebe der beiden zueinander ist beglückend, der Briefwechsel Herzensnahrung. Doch kaum ist ein Brief an Richards geschrieben, folgt für Wittgenstein die Marter: das Warten auf die Antwort. Die ständige Angst vor dem Ende einer Beziehung zu einem jüngeren Mann beherrscht und belastet ihn. Was bedeutet es, im 20. Jahrhundert als Mann einen Mann zu lieben? Wittgenstein unterbricht seine Arbeit in dieser Zeit oft spontan, um über seinen seelischen Zustand und sein Verhältnis zu Ben Richards zu reflektieren. Die Gedanken zu Richards notiert er fast durchwegs in einem von ihm gebrauchten Code: Jemand, der einen Blick auf die Notizen wirft, soll den Inhalt nicht erfassen können. Wittgensteins Briefe an Richards geben Einblick in die individuelle Liebesgeschichte zweier Menschen. Sie sind aber auch ein Zeugnis über die Liebe zwischen zwei Männern in einer Zeit, in der diese Liebe nicht geduldet wurde.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort von Ray Monk

Einleitung

Editorische Notiz

Liste in den Briefen häufig erwähnter Bekannter und Freunde Wittgensteins

Briefe

I.

In Cambridge und Swansea (Juni 1946 – Juli 1947)

II.

Exil Irland (August 1947 – Juli 1949)

III.

Bei Norman Malcolm, Ithaca (NY) (Juli – Oktober 1949)

IV.

Bei von Wright, Cambridge, und in Wien (November 1949 – April 1950)

V.

Bei Miss Anscombe, Oxford (April 1950 – Februar 1951)

VI.

Bei Dr. Bevan, Cambridge (Februar – April 1951)

VII.

Nicht datierbare Briefe und Karten, Mitteilungen „John Smith“

Anmerkungen

Zeittafel

Literaturverzeichnis

Dank

Personenregister

Autorenbiografien

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„Die Liebe, die ist die Perle von großem Wert, die man am Herzen hält, für die man nichts eintauschen will, die man als das Wertvollste schätzt. Sie zeigt einem überhaupt – wenn man sie hat – was großer Wert ist.“

(L. Wittgenstein, Manuskript 133, S. 8v.)

Vorwort von Ray Monk

„Zu einer rechten Liebe gehört, daß man daran denkt, was der Andre leidet. Denn der Andre leidet auch, ist auch ein armer Teufel.“1

Das notiert Wittgenstein im August 1946 in ein Notizbuch. Die „wahre Liebe“, die er dabei im Sinn hatte, war die, die er für Ben Richards empfand, einen Studenten am King’s College in Cambridge, den er gegen Ende 1945 kennengelernt hatte. Wittgenstein war schon mehrere Male verliebt gewesen, aber wie diese bewegende und faszinierende Sammlung von Briefen zeigt, war seine Beziehung zu Richards etwas Besonderes. Es war nicht nur die letzte Liebe seines Lebens, es war auch die glücklichste.

Bei der Recherche meiner Wittgenstein-Biographie traf ich Richards mehrmals in seinem Haus in Hemel Hempstead, aber er vertraute mir nie an, dass er im Besitz dieser wunderbaren Sammlung von Liebesbriefen war. Als Alfred Schmidt sie mir zeigte, erschienen sie mir als eine wunderbare Offenbarung.

Mit seiner ersten Liebe, David Pinsent, konnte Wittgenstein oft (wie Pinsent in seinen Tagebüchern für 1912–13 festhält) mürrisch, streitsüchtig und wertend sein, und mit Marguerite Respinger (die Wittgenstein 1929 hatte heiraten wollen) konnte er streng und bestimmend sein. Francis Skinner, mit dem Wittgenstein in den 1930er Jahren mehrere Jahre zusammenlebte, wurde vollständig von ihm dominiert. In diesen Briefen an Richards sehen wir jedoch einen ganz anderen Wittgenstein, der sich tatsächlich darüber Gedanken macht, was der andere denkt und fühlt. „Ich wünschte“, schreibt Wittgenstein an Richards, „ich wüsste ein bisschen mehr darüber, wie glücklich und/oder unglücklich Du Dich in Deiner Arbeit fühlst.“2 Wenn Richards Angst vor seinen medizinischen Prüfungen hat, leidet Wittgenstein mit ihm und möchte helfen. Wenn Wittgenstein etwas Schönes sieht, möchte er es mit Richards teilen. Wenn er ein Musikstück hört, das ihn besonders beeindruckt hat, empfiehlt er es Richards in der Hoffnung, dass er, wenn er es auch hört, an ihn denkt. Er schickt ihm Blumen, um seinen Tag zu erhellen. Er will Richards glücklich machen.

Auch er war sich ständig bewusst, wie glücklich Richards ihn machte. „Alles ist Glück“, schrieb er am 8. Oktober 1946. „Ich könnte jetzt nicht so schreiben, wenn ich die letzten zwei Wochen nicht mit B[en] verbracht hätte.“3 Einige Wochen später: „Die Liebe ist ein Glück.“4

Diese Freude kommt in diesen wunderbar einfachen und warmen Briefen zum Ausdruck, von denen viele mit einem einzigen Ziel geschrieben wurden: „Ich möchte dir sagen, wie sehr ich dich liebe + wie sehr ich dich brauche.“ Der vielleicht ergreifendste dieser Briefe ist einer, der kurz vor seinem Tod geschrieben wurde. Er wusste, dass er nicht lange leben würde, und es gab etwas, das er noch zu sagen hatte:

„Es gibt eine Sache, die ich Dir sagen möchte. Was auch immer mir jetzt passiert, ich möchte, dass Du weißt, dass Du mir mehr gegeben hast, als ich mir jemals erhofft hätte. Du hast mir Glück und Freude gegeben, die ich niemals verdient habe, und mein Leben insgesamt so verändert, wie es ohne Dich nie gewesen wäre. Danke für alles, was Du für mich getan hast. Du bist der Hintergrund meines ganzen Glücks.“5

Als er im Sterben lag, wurde ihm gesagt, dass seine engen Freunde, einschließlich Richards, ihn am nächsten Tag besuchen würden. Er wusste, dass er nicht lange genug leben würde, um sie noch zu sehen, und bevor er das Bewusstsein verlor, sagte er: „Sag ihnen, dass ich ein wundervolles Leben hatte.“ Einige Leute waren davon verwirrt. Wie konnte jemand, der so intensive Qualen und Ängste erlebt hatte, dass er wiederholt über Selbstmord nachgedacht hatte, sein Leben als „wunderbar“ beschreiben? Diese Briefe lassen seine letzten Worte weniger rätselhaft erscheinen, und Alfred Schmidt und Gabriel Citron ist zu ihrer akribischen Arbeit zu gratulieren, die uns allen einen Einblick in eine Seite von Wittgensteins Leben gewährt, das in der Tat wundervoll war.

Einleitung

Im Herbst 1945 lernt Ludwig Wittgenstein in Cambridge den 21-jährigen Studenten Ben Richards kennen. Die leidenschaftliche Beziehung zu dem um 35 Jahre jüngeren Freund prägte Wittgensteins folgende Jahre bis zu seinem Lebensende entscheidend.

„Das größte Glück des Menschen ist die Liebe“, notiert Wittgenstein in sein Manuskriptbuch im Dezember 1948.1 Es ist wohl keine Übertreibung zu behaupten, dass seine Korrespondenz mit Ben Richards ein berührendes Zeugnis dieses größten Glücks in seinen letzten sechs Lebensjahren gibt. Die Briefe zeigen uns aber auch einen zutiefst verletzlichen, vereinsamten Menschen, der sich der Abhängigkeit von der Zuwendung seines geliebten Freundes in jedem Moment schmerzlich bewusst ist. Als authentische biographische Quellen geben die Briefe unmittelbare und neue Einblicke in Wittgensteins Persönlichkeit und geistige Welt, die seit Jahrzehnten unzählige Wittgenstein-LeserInnen und ForscherInnen fasziniert und inspiriert hat.

Zur Person Ben Richards

Ben (Robert Benedict Oliver) Richards, geboren am 23. Juni 1924, entstammte einer Londoner Ärztefamilie. Sein Vater William Arthur Richards war praktischer Arzt in Uxbridge, einem Vorort nordwestlich von London; seine Mutter Noel Richards (geb. Olivier, 1892–1969) arbeitete als Kinderärztin im Westminster Hospital. Aufgewachsen in einem links-liberalen Elternhaus, war sie – zusammen mit ihren drei älteren Schwestern Margery, Brynhild und Daphne – eine schillernde Figur.2 Ihr Vater Sydney Olivier gehörte zu den führenden Köpfen der sozialistischen Fabian-Society in England und war mit Persönlichkeiten wie H. G. Wells und G. B. Shaw eng befreundet. Die Jahre 1907 bis 1913 verbrachte Sydney Olivier mit seiner Familie als englischer Gouverneur auf der Kronkolonie Jamaica. Von Virginia Woolf wurde der Freundeskreis um die vier Olivier-Schwestern und den englischen Dichter Rupert Brooke (1887–1915) wegen ihrer naturverbundenen, freizügigen Lebensweise als „Neo-Pagans“ bezeichnet. Brooke, der nach seinem frühen Tod im Ersten Weltkrieg in Großbritannien zu einem nationalen Idol wurde, verliebte sich leidenschaftlich in die erst 15-jährige Noel Olivier.3 Zusammen mit ihren drei Schwestern stand sie auch dem Bloomsbury-Kreis um Virginia Woolf und den Apostles nahe. Es ist ein nicht uninteressantes Detail, dass auch Wittgenstein zu etwa dieser Zeit während seines ersten Aufenthalts in Cambridge 1911–1913 in diesen Zirkeln verkehrte (vgl. McGuiness (1992), S. 238 und Monk (1992), S. 83ff).

Bis in die 1930er Jahre war Noel Richards außerdem eng mit dem Psychoanalytiker James Strachey (1887–1967), dem Bruder des Schriftstellers Lytton Strachey, befreundet.4 James Strachey war der Herausgeber der ersten kompletten deutschen Übersetzung der Werke Sigmund Freuds (The Standard Edition of the Complete Psychological Works of Sigmund Freud (1953–1974), London: Hogarth Press), an der auch Ben Richards’ älteste Schwester Angela mitarbeitete. Angela wird in Wittgensteins Briefen immer wieder erwähnt und trifft Wittgenstein während seines Aufenthalts in Oxford (1950) einige Male persönlich. Auch die erhaltenen zwei Briefe und fünf Karten Wittgensteins an Angela Richards sind in diesem Band wiedergegeben. Ben Richards hatte neben Angela (geb. 1929) drei jüngere Schwestern: Virginia (genannt „Jinny“, geb. 1931), Isabella (genannt „Tazza“, geb. 1933) und Julia (genannt „Heshe“, geb. 1940).

Ben Richards besuchte die renommierte Beltane School in London und begann im November 1942 sein Studium am King’s College in Cambridge. Im Juni 1945 erlangte er seinen Bachelor im Rahmen des ersten Teils des naturwissenschaftlichen Tripos und legte 1949/50 seine Prüfungen zum M. B. (Medicinae Baccalaureus) ab.5 Nach zweijähriger Tätigkeit als Arzt bei der Royal Navy praktizierte er viele Jahre als Spezialist für Orthopädie und Rheumatologie am Watford General Hospital (Hertfordshire, England).6 Richards war neben seinem Beruf als Arzt begeisterter Bergsteiger und interessierte sich leidenschaftlich für Musik. Er spielte Viola in einem Streicherensemble und sang in Chören. Sein Briefwechsel mit Georg Henrik von Wright, einem der engsten Freunde Wittgensteins und Nachfolger auf seinem Lehrstuhl in Cambridge, zeigt zudem sein tiefes Interesse für Philosophie.7 Ben Richards starb am 22. Jänner 1995, er hinterließ seine Frau Tara, mit der er seit 1976 verheiratet war, und seine Tochter Miranda.

Chronologie einer leidenschaftlichen Liebesgeschichte

Nach seiner Mitarbeit in einem medizinischen Forschungsteam in Newcastle während des Zweiten Weltkriegs unterrichtet Wittgenstein ab Herbst 1944 wieder in Cambridge; seine Ferien verbringt er in diesen Jahren regelmäßig in Swansea, wo sein Schüler und Freund Rush Rhees ab 1940 Philosophie unterrichtet. Die Lebensphase Wittgensteins, in der er Ben Richards begegnete, war geprägt von wiederkehrenden depressiven Stimmungen und dem Gefühl der Vereinsamung: „Ich leide sehr unter Furcht vor der gänzlichen Vereinsamung, die mir jetzt droht“, notiert er etwa am 9. Februar 1942 (MS 125, 36v). Mit schuld daran war wohl das Ende seiner Freundschaft zu Keith Kirk, die abrupt endete, als dieser 1942 heiratete.8

Ben Richards beginnt 1942 sein Studium der Naturwissenschaften am King’s College in Cambridge, besucht aber auch philosophische Vorlesungen, wo er im Herbst 1945 Wittgenstein kennenlernt.9 Aus den ersten Monaten ihrer Bekanntschaft gibt es keine schriftlichen Zeugnisse. Erst im Juli 1946 setzt der (erhaltene) Briefwechsel ein. Zu dieser Zeit taucht der Name Ben Richards auch wiederholt in Wittgensteins Manuskriptbänden auf, erstmals am 22. Juli 1946: Wittgenstein notiert eine verzweifelte Klage über seine leidenschaftlichen Gefühle, denen er sich nicht gewachsen fühlt:

„Ich bin furchtbar bedrückt. Über meine Zukunft ganz und gar unklar. Meine Liebesgeschichte10 mit Richards hat mich ganz entkräftet. Sie hat mich während der letzten 9 Monate, wie ein Wahnsinn beinahe, festgehalten. Es ist, als wäre ich mit meiner ganzen Kraft einem Phänomen nachgerannt; manchmal mit der Hoffnung es zu erhaschen, öfter noch in Furcht oder Verzweiflung. Ich kann mir aber keinen Vorwurf machen, d. h., ich mache mir keinen darüber. War es gut, war es schlecht? Ich weiß es nicht. Ich möchte nur sagen: es war ein schreckliches Verhängnis.“ (MS 130, S. 185)

In den folgenden Wochen häufen sich die Bemerkungen über Richards, alle im gleichen Ton einer leidenschaftlichen Liebe, die aber von Anfang an von Verlustängsten geprägt ist. Die Liebe zu Ben verändert Wittgensteins gesamte Lebensperspektive.

„Ich bin sehr traurig, sehr oft traurig. Ich fühle mich so, als sei das jetzt das Ende meines Lebens. Und doch ist es möglich das mein Leben noch jahrelang weitergeht; wie? weiß Gott. Das Eine was die Liebe zu B. für mich getan hat ist: sie hat die übrigen kleinlichen Sorgen, jene Stellung und Arbeit betreffend, in den Hintergrund gejagt; wenigstens auf kurze Zeit. Ich sehe manchmal, daß es wichtiger ist, zu leben, als die und die Stellung zu haben.“ (MS 130, S. 287 vom 8.8.1946)

Wittgensteins psychischer Zustand im Sommer und Herbst 1946 ist äußerst angespannt. Die akademische Atmosphäre in Cambridge wird ihm zunehmend unerträglich:

„Heute in Cambridge angekommen. Alles in dem Ort stößt mich ab. Das Steife, Künstliche, Selbstgefällige der Leute. Die Universitäts-Atmosphäre ist mir ekelhaft.“ (MS 132, S. 85 vom 30.9.1946)

Sein psychisches Gleichgewicht ist gänzlich von Richards’ Zuwendung abhängig, die Liebe zu ihm sieht er als „das große, seltene Geschenk“, den „seltenen Edelstein“. Gleichzeitig aber ist er sich auch bewusst, „daß sie nicht ganz von der Art ist, von der ich geträumt hatte“ (MS 132, S. 77, Eintrag vom 29.9.1946). Die Angst, dass seine Beziehung zu dem um 35 Jahre jüngeren Freund nicht von Dauer sein kann, belastet Wittgenstein. Er ringt um eine gefasste Einstellung zu ihrem möglichen Ende:11

„Möge das Herzweh mich zur richtigen Handlung führen. Kannst du dir nicht folgendes denken: daß B. ganz aus seiner Liebe zu dir herauswächst; so nämlich, wie man sich schon als Knabe nicht mehr an das erinnert, was man als kleines Kind gefühlt hat und jede Kindeszuneigung, ohne Treulosigkeit, |desavouiert| vergißt.“ (MS 131, S. 26, codierter Eintrag vom 12.8.1946)

„Upset. Höre nicht von R. Ich denke täglich darüber nach, und daß ich die richtige Stellung zu diesem Verlust gewinnen sollte. Nichts scheint mir wahrscheinlicher, als daß er mich verlassen hat, oder im Begriffe steht es zu tun, und nichts, in einem Sinne natürlicher. Ja ich fühle auch daß ich diesem Geschehen freien Lauf lassen muß, daß ich getan habe was ich konnte und es jetzt aus meiner Hand ist. Und doch ist mir an jedem Morgen, wenn ich wieder keinen Brief finde unheimlich zumute. Ich fühle, als hätte ich etwas noch nicht eingesehen; als müsse ich einen Standpunkt finden von dem aus mehr Wahrheit zu sehen ist.“ (MS 131, S. 37–38, codierter Eintrag vom 14.8.1946)

Immer wieder unterbricht Wittgenstein seine philosophischen Bemerkungen in den Manuskriptbänden aus dieser Zeit, um über seinen kritischen geistigen Zustand und sein Verhältnis zu Ben Richards zu reflektieren. Die Bemerkungen über Richards notiert er fast durchwegs in dem von ihm häufig gebrauchten, einfachen Code (A=Z, B=Y usf.), der verhindert, dass jemand, der nur einen flüchtigen Blick auf die Seite wirft, den Inhalt erfassen könnte. Wittgenstein leidet unter Erschöpfungszuständen und fürchtet ernsthaft um seine psychische Gesundheit.12

„Ich fühle, meine geistige Gesundheit hänge an einem dünnen Faden. Es ist natürlich die Sorge und Angst wegen B. die mich so abgenützt hat. Und doch könnte auch das nicht geschehen, wenn ich nicht eben leicht entzündbar wäre ‚highly inflammable‘.“ (MS 131, S. 65–66, codierter Eintrag vom 18.8.1946)

„Ich fürchte mich oft sehr für mein geistiges Gleichgewicht. Es ist ein seltsamer Zustand. Es ist einfach, als bewege sich der Boden ein wenig. Nur genug, um erkennen zu lassen, daß der Grund vulkanisch ist. Ich habe dabei einen sehr leichten Kopfschmerz vorn. Zugleich fühle ich eine gewisse Müdigkeit, eine unheimliche Müdigkeit, eigentlich als hätte alle Fröhlichkeit für mich aufgehört, als wäre sie erloschen, wie es sonst nur im Tode geschieht. Als nähmen die finsteren Mächte von mir Besitz, wie sie es täten, wenn ich mir selber das Leben nähme.“ (MS 131, S. 220f, codierter Eintrag vom 8.9.1946)

Ende September, Anfang Oktober 1946 verbringt Wittgenstein zwei Wochen mit Ben Richards in Swansea. Er fühlt, dass sein Glück wie auch seine Fähigkeit zu philosophischer Arbeit in dieser Zeit völlig von seiner Beziehung zu Richards abhängen.

„Alles ist Glück! Ich könnte jetzt so nicht schreiben, wenn ich nicht die letzten 2 Wochen mit B. verbracht hätte. Und ich hätte sie nicht so verbringen können, wenn Krankheit oder irgend ein Unfall dazwischen gekommen wäre. – (!!!)“ (MS 132, S. 147, codierter Eintrag vom 8.10.1946)

In seinen Manuskripten bekennt Wittgenstein auch, nicht die Kraft zu haben, ein Ende der Beziehung, diese „Todeswunde“, zu ertragen. So hofft er weiter verzweifelt, dass dieses „Fürchterlichste“ – die Trennung von Richards – nicht geschehen wird:

„Ich bin in der Liebe zu wenig gläubig und zu wenig mutig. Wohl muß man vorsichtig sein um den Andern nicht zu kränken, aber Du sollst dich getrost auf ihn stützen und wenn er das nicht erträgt so ist er nicht dein Freund. Aber ich bin leicht verletzt und fürchte mich davor verletzt zu werden, und sich in dieser Weise selbst schonen ist der Tod aller Liebe. Zur wirklichen Liebe braucht es Mut. Das heißt aber doch, man muß auch den Mut haben abzubrechen und zu entsagen, also den Mut eine Todeswunde zu ertragen. Ich aber kann nur hoffen, daß mir das fürchterlichste erspart bleibt.“ (MS 132, S. 205, codierter Eintrag vom 21.10.1946)

„Ich habe nicht den Mut und nicht die Kraft und Klarheit den Tatsachen meines Lebens gerade ins Gesicht zu schauen. – B. hat zu mir eine Vor-Liebe. Etwas, was nicht halten kann. Wie diese verwelken wird, weiß ich natürlich nicht. Wie etwas von ihr zu erhalten wäre, lebendig, nicht gepreßt in einem Buch als Andenken, weiß ich auch nicht. Es ist unendlich unwahrscheinlich, daß diese Liebe, wenn sie von einer andern, oder anderen Umständen gedrängt wird, dann noch Zähigkeit genug haben wird, nicht zu reißen. Das ist nun eine furchtbare Schwierigkeit meines Lebens. Ich weiß nicht ob und wie ich es aushalten werde, dies Verhältnis mit dieser Aussicht weiter zu nähren. Es abzubrechen aber habe ich nicht die Klarheit und nicht die Kraft. Wenn ich mir vorstelle, daß ich es abgebrochen hätte, so fürchte ich mich vor der Einsamkeit; davor mir sagen zu müssen, ich hätte treulos und ungeduldig ein Band zerrissen, das ein großes und ungemein selt sames Geschenk des Himmels war, und das ich nicht zum Guten zu verwenden wußte. Es wird mir so erscheinen, daß hier, als ich es nie erwarten durfte mir eine Gelegenheit geboten wurde, und ich, statt sie nun wohl zu benützen, sie weggeworfen habe. Das ist schwer: Wenn ich diese Neigung benützen will, kann ich’s nur tun indem ich viel leide. – Und ob es dann gehen wird weiß ich auch nicht, noch, ob ich diesen Schmerz aushalten kann.

Kannst du nicht auch ohne seine Liebe fröhlich sein? Mußt du ohne diese Liebe in Gram versinken? Kannst du ohne diese Stütze nicht leben?

Denn das ist die Frage: kannst du nicht aufrecht gehn, ohne dich auf diesen Stab zu lehnen? Oder kannst Du dich nicht entschließen ihn aufzugeben? Oder ist es beides? – Du darfst nicht immer Briefe erwarten, die nicht kommen! Aber wie soll ich es ändern? Es ist nicht Liebe, was mich zu dieser Stütze zieht, sondern, daß ich auf meinen zwei Beinen allein nicht sicher stehen kann.“ (MS 133, S. 42v, 43r, codierter Eintrag vom 27.11.1946)

„Dämonen haben dieses Band gewoben und halten es in den Händen. Sie können’s zerreißen, oder [dauern| leben] lassen.“ (MS 133, S. 7r ff, codierter Eintrag vom 25.10.1946)

Wittgensteins psychische Stimmung und seine Zukunftsperspektive in dieser Zeit – Herbst 1946 – sind überaus düster:

„Ich sehe ein böses Ende für mein Leben voraus. Einsamkeit, vielleicht Wahnsinn. …“

„In üblem Zustand. Schaue mit Verzweiflung in die Zukunft. Mein Leben scheint öde vor mir || wie eine Einöde zu liegen. Und ich kann mich nicht dreinfinden, es so hinzunehmen. Ich sinne immer, und ganz vergebens, nach einer günstigen Veränderung.“ (MS 133, S. 41, codierte Einträge vom 19.11. und 22.11.1946)

In seinen Briefen an Richards wiederholt Wittgenstein stets, wie sehr dieser für ihn zum zentralen seelischen Ankerpunkt und zur einzigen Quelle echter Lebensfreude geworden ist. Er beschwört Richards regelmäßig zu schreiben. Längere Schreibpausen, die teilweise auch nur durch Verzögerungen auf dem Postweg etwa durch unzureichende Frankierung verursacht werden13, verunsichern ihn zutiefst und stürzen ihn in Depressionen.

In der durch diese Verunsicherung und Angst vor einer möglichen Trennung von Richards ausgelösten seelischen Spannung notiert Wittgenstein in seinen Manuskriptbänden aus dieser Zeit Bemerkungen, die zu den persönlichsten und emotionalsten Texten gehören, die wir von ihm kennen. Wer Wittgensteins Spätwerk nur aus seinen (posthum) von den Trustees publizierten philosophischen Schriften kennt, begegnet hier einem ganz anderen Aspekt seines Denkens. Er reflektiert über die Liebe als jene Erfahrung, die uns erst erkennen lässt, was wirklichen Wert in unserem Leben hat. Sie ist wie „die Perle von großem Wert, die man am Herzen hält, für die man nichts eintauschen will, die man als das Wertvollste schätzt“. Aber sie ist zugleich auch die Quelle der quälenden Unsicherheit, die seine Beziehung zu Richards von Anfang an kennzeichnet:

„Die Liebe ist ein Glück. Vielleicht ein Glück mit Schmerzen, aber ein Glück. Fehlt das Glück, oder schrumpft es auf ein kurzes Aufflackern zusammen, so fehlt die Liebe. – In der Liebe muß ich sicher ruhen können. – Aber kannst du ein warmes Herz zurückweisen? Ist es ein Herz, das warm für mich schlägt? – ‚I’ll rather do anything than to hurt the soul of friendship.‘ – I must know: || – he won’t hurt our friendship. Der Mensch kann aus seiner Haut nicht heraus. Ich kann nicht eine Forderung, die tief in mir, mit meinem ganzen Leben verankert, liegt, aufgeben. Denn die Liebe ist mit der Natur verbunden; und würde ich unnatürlich, so müßte || würde die Liebe aufhören. – Kann ich sagen: ‚Ich werde vernünftig sein, & das nicht mehr verlangen.‘? Bei manchem geht es. Es geht vielleicht bei den meisten für eine Zeit. Aber doch nur als Mittel zu einem andern Ende, nicht als Ende. Ich kann sagen: Laß ihn gewähren, – es wird einmal anders werden. – Die Liebe, die ist die Perle von großem Wert, die man am Herzen hält, für die man nichts eintauschen will, die man als das Wertvollste schätzt. Sie zeigt einem überhaupt – wenn man sie hat – was großer Wert ist. Man lernt, was es heißt: den Wert erkennen. Man lernt, was es heißt: ein Edelmetall von allen andern aussondern. Die ungeheure Vorliebe dafür lehrt uns die Idee || den Begriff des einzigartigen Wertes. Die ungeheure Vorliebe führt uns dazu zu sehen: es ist unsere Pflicht das zu verteidigen. Die Vorliebe führt uns zum Ernst. Die Leidenschaft, zum Ernst. – Tut das die Vorliebe nicht, so ist sie nicht Liebe.“

„Das Furchtbare ist die Ungewißheit. Und in der Ungewißheit beschäftigt sich mein Geist immer damit, mir Möglichkeiten, und fast immer schlechte auszumalen. Das ist manchmal recht, meistens aber übel. ‚Auf Gott vertrauen‘. Aber vom Gottvertrauen bin ich weit entfernt. Von da, wo ich bin, zum Gottvertrauen ist ein weiter Weg.

Freudevolle Hoffnung und Furcht sind einander verschwistert. Ich kann die eine nicht haben ohne daß sie an die andre grenzt.“ (MS 133, S. 8ff, codierter Eintrag vom 26.10.1946)

Ab 1947 absolviert Richards seine praktische medizinische Ausbildung am St. Bartholomew’s Hospital in London und wohnt bei seinen Eltern in Ickenham/Uxbridge. An den Wochenenden treffen sich die Freunde regelmäßig in London oder Cambridge. Wittgenstein hält im Easter Term 1947 seine letzten Vorlesungen in Cambridge. Er befindet sich an einem Wendepunkt seines Lebens. Wittgenstein ist überzeugt, in Cambridge zu kreativer philosophischer Arbeit nicht fähig zu sein und sein Buch (die Philosophischen Untersuchungen), an dem er seit November 1936 arbeitet, nicht fertigstellen zu können. Den Entschluss, seinen Lehrstuhl in Cambridge niederzulegen, hat er längst gefasst und setzt dies zu Jahresende 1947 in die Tat um.14

Es folgt eine längere Periode – mit Unterbrechungen bis Juni 1949 –, die Wittgenstein hauptsächlich in Irland verbringt. Das Leben in der irischen Einsamkeit zunächst in Wicklow, dann an der irischen Westküste in Rosro, Connemara, im Frühling und Sommer 1948 macht Wittgenstein seine Abhängigkeit von Richards noch deutlicher bewusst. Der Gedanke an den Freund und dessen sehnlichst erwartete Briefe sind der einzige Rückhalt, der ihm weiter Kraft gibt: „Wenn ich mich niedergeschlagen fühle, gibt es mir Kraft, an Dich zu denken“, schreibt er am 8. Jänner 1948 aus Wicklow. Und wenig später aus Rosro: „Deine Briefe sind Essen und Trinken für eine ganze Woche und das ist keine Übertreibung. … Ich habe oft gedacht, dass ich ohne Dich überhaupt nicht hier leben könnte.“ (Brief vom 2.6.1948) Auch später während seines USA-Aufenthalts im Sommer 1949 heißt es im selben Ton: „Nichts, was ich tue oder anschaue, bereitet mir so viel Vergnügen, wie wenn Du bei mir bist.“ (Brief vom 2.8.1949) „An Dich zu denken ist das Einzige, was mir ein wirklich gutes Gefühl gibt.“ (Brief vom 16.9.1949)

Wittgenstein betont von Anfang an das Schicksalhafte seiner Beziehung zu Richards („Dämonen haben dieses Band gewoben …“, MS 133, S. 8r). Sie ist ihm ein „großes und ungemein seltsames Geschenk des Himmels“, die Stütze, die ihm die Kraft gibt, um überhaupt weiterleben zu können. Zugleich aber erkennt er die Gefahr seiner völligen Abhängigkeit von der Zuwendung des Freundes („So sind die Dinge – ich bin so sehr von unserer Beziehung abhängig …“, Brief vom 8.6.1948). Nur der Gedanke an seinen Freund „hält mich am Laufen“, schreibt er am 1. Dezember und 27. Dezember 1948. Für seine Abhängigkeit von Richards bzw. dessen Briefen findet Wittgenstein ein eindrückliches Bild:

„Stell Dir vor, Du hättest einen Hund gekauft. Eine Zeit lang gibst Du ihm regelmäßig sein Essen und erfreust Dich an seiner Freude und Dankbarkeit. Dann wird es vielleicht eintönig, und Du bist beschäftigt und fütterst ihn zu unregelmäßigen Zeiten, wann es Dir passt. Du machst das Tier elend und krank. – Nun gibt es keinen Grund, warum man ein so sensibles Tier halten sollte (andererseits ist das Tier nicht schuld, dass es so ist). Wenn Du das Gefühl hast, dass Du nicht mit all dieser Regelmäßigkeit beim Füttern gerechnet hast, musst Du ihn unverzüglich loswerden.“ (Brief vom 19.1.1949)

Wiederholt schreibt er Richards, er werde das Ende ihrer Beziehung aber sofort akzeptieren, falls sich Richards’ Gefühle ihm gegenüber verändert haben, falls die Beziehung nicht mehr im Gleichgewicht ist (vgl. die Briefe vom 8.6.1948 und 16.6.1948). Von Richards fordert er vor allem unbedingte Ehrlichkeit: „Denn Unwahrheit ist das Schlimmste, so traurig die Wahrheit auch sein mag.“ (Brief vom 26.11.1949)

Obwohl sein Gesundheitszustand sich verschlechtert, folgt Wittgenstein von Juli bis Oktober 1949 einer Einladung seines Schülers Norman Malcolm nach Ithaca (NY) in die USA. Richards verbringt zu dieser Zeit einen längeren Sommerurlaub mit seinen Eltern in Ventimiglia, Italien. In den letzten Wochen von Wittgensteins USA-Aufenthalt verschlechtert sich sein Gesundheitszustand empfindlich, er leidet unter anhaltender Schwäche und starken Schmerzen im Schulterbereich. Vor seiner Rückkehr nach England kommt es zudem zu einer ernsten Krise in der Beziehung zu Richards, ausgelöst durch Wittgensteins Entsetzen über dessen Entschluss, sich einen Bart wachsen zu lassen (vgl. die Briefe vom 10. und 13.10.1949).

Im November 1949, kurz nach seiner Rückkehr aus den USA, stellt Dr. Bevan die Diagnose Prostatakrebs. Wittgenstein bekennt in seinem Brief vom 29. November 1949: „Wenn ich Dich sehen könnte, würde mir das etwas Kraft geben; denn seit vielen Jahren waren meine einzigen glücklichen Stunden irgendwie mit Dir verbunden.“

Trotz Wittgensteins angegriffenem Gesundheitszustand unternimmt er mit Richards im Oktober/November 1950 noch eine letzte längere Reise nach Skjolden in Norwegen, die schon für den Sommer 1950 geplant war, aber verschoben werden musste, da Richards seine Abschlussprüfungen zunächst nicht bestanden hatte.

Letzte Station Wittgensteins ist ab Februar 1951 das Haus seines Arztes Dr. Bevan in Cambridge, wo er nach der Unterbrechung der Hormontherapie eine intensive Schreibphase von Mitte März bis knapp vor seinem Lebensende am 29. April 1951 erlebt. In seinem vorletzten Brief an Richards vom 11. April 1951 fasst Wittgenstein noch einmal sein Gefühl der Dankbarkeit gegenüber dem Freund mit folgenden berührenden Worten zusammen:

„Du hast mir Glück und Freude gegeben, die ich niemals verdient habe, und mein Leben insgesamt verändert, so wie es ohne Dich nie gewesen wäre. Danke für alles, was Du für mich getan hast. Du bist der Hintergrund meines ganzen Glücks.“

Unter seinen engsten Freunden, die sich zu seinem Tod in Dr. Bevans Haus versammeln, ist auch Ben Richards. Das Testament Wittgensteins enthält einen eigenen an Richards gerichteten Passus. Wittgenstein vermacht ihm darin folgende persönlichen Gegenstände: „meine französische Reiseuhr, meinen Pelzmantel, meine komplette Ausgabe der Märchen der Brüder Grimm und mein Buch ‚Hernach‘ von Wilhelm Busch“.

Wie die Eltern Ben Richards’ auf seine Beziehung zu dem um 35 Jahre älteren Philosophieprofessor reagierten, lässt sich nur vermuten. In einigen Briefen Wittgensteins finden sich Andeutungen, dass sein Verhältnis zu Bens Mutter zumindest zeitweise angespannt war (vgl. die Briefe vom 30.6.1947 sowie vom 27.3. und 2.4.1949). Von ihm erwähnte Briefe an Noel Richards sind leider nicht erhalten (vgl. die Briefe an Ben Richards vom 26.11.1947 und 16.12.1947). Immer wieder ist Wittgenstein aber Gast im Haus der Richards in Ickenham. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang ein Brief an Richards vom Juni 1947. Wittgenstein schreibt darin über seinen geplanten Besuch in Ickenham im Sommer und fügt hinzu, dass Bens Eltern möglicherweise einen Verwandten einladen werden, um zu verhindern, dass Ben alleine mit Wittgenstein im Haus wäre, da alle anderen Familienmitglieder zu dieser Zeit auf Urlaub sind. Wittgenstein erklärt sehr deutlich, in diesem Fall würde er nicht nach Ickenham kommen, da die Anwesenheit eines Fremden „alles vollkommen zerstören würde, auf das ich mich schon so sehr freue“. (Brief vom 30.6.1947)

Auch in seinem Brief vom 3. Oktober 1948 berührt Wittgenstein offenbar ein sensibles Thema. Als er eine Doppelkabine (möglicherweise für eine Überfahrt nach Irland) für Richards und sich bucht, weil keine Einzelkabinen mehr frei waren, ist er vom Widerstand Richards’ überrascht. Er erklärt seinem Freund daraufhin umständlich:

„Wie auch immer Du darüber denkst, ich werde offen sein und erklären, warum ich den Vorschlag gemacht habe, dass wir uns eine Kabine für zwei Personen teilen könnten. (Am Freitag dachte ich, meine Gründe seien offensichtlich, aber ich nehme an, das waren sie nicht.)

a) Miss Parker hatte mir gesagt, dass sie keine Einzelkabine für mich bekommen könne.

b) Ich würde es vorziehen, eine Kabine mit Dir zu teilen, anstatt sie mit einem Fremden zu teilen.

c) Ich dachte (dummerweise), dass es Dir auch nichts ausmachen würde, sie zu teilen, wenn es mit mir wäre.

d) Miss Parker sagte, sie könnte uns vielleicht eine Kabine für zwei besorgen.

Erst als ich Dich auf der Station darauf angesprochen habe, habe ich bemerkt, dass ich leichtsinnig davon ausgegangen war, dass (c); aber hättest Du es mir doch direkt gesagt, dass Dir die Idee, eine Kabine mit mir zu teilen, nicht gefallen hat, ich glaube, ich wäre klug genug gewesen, es zu verstehen und diese Idee fallen zu lassen.“

Es ist müßig, darüber zu spekulieren, ob zwischen Wittgenstein und Richards auch eine körperliche Beziehung bestand – darauf geben die publizierten Briefe keine eindeutige Antwort. Vielsagend ist aber eine Bemerkung Wittgensteins vom 21. August 1946, also etwa ein halbes Jahr, nachdem er Richards kennen gelernt hatte:

„21.8.1946

Man kann zagen & zögern, wenn es sich darum handelt, einen geliebten Menschen anzufassen; aber am Schluß muß man handeln, denn auch zagen & zögern ist ein Handeln! Und hüte Dich zu viel zu schonen, sonst handelst du unnatürlich.“ (MS 131, S. 81)

Unnatürliches, affektiertes Verhalten war Wittgenstein zeit seines Lebens zutiefst verhasst. Ob er fünf Jahre zagte und zögerte? – Wir wissen es nicht.

Inhaltliche Aspekte der Korrespondenz

In den Briefen Wittgensteins wie auch Ben Richards’ dominieren alltägliche Themen, wie die Vereinbarung ihrer nächsten Treffen, die Organisation von Übernachtungsmöglichkeiten für Wittgenstein in London bzw. für Richards in Cambridge, Richards’ Studium, seine Spitalspraktika und Prüfungen, gemeinsame Urlaubspläne und in den späteren Jahren zunehmend auch Wittgensteins gesundheitliche Probleme.

Daneben sind es zwei Themenkreise, die immer wieder auftauchen: einerseits die Musik, andererseits Naturbeobachtungen. Die Bedeutung der Musik in Wittgensteins Leben kann kaum überschätzt werden.15 In Richards findet er einen ebenso musikbegeisterten Freund. Richards schildert in seinen Briefen Chor-Aufführungen von Bach-Messen und Mozarts Requiem, bei denen er mitwirkt, Wittgenstein empfiehlt ihm seine besonderen Lieblingsstücke, etwa Stellen aus Anton Bruckners VIII. Symphonie (vgl. Brief Kap. II(22)ff); Schubertlieder (Brief Kap. II(53)) oder Carl Reineckes Kinderlieder (Brief Kap. II(48)). Sie hören gemeinsam Schallplatten, Rundfunkaufnahmen, Interpreten werden kritisch diskutiert.

Einen ebenso dominanten Themenkreis bilden Naturbeobachtungen. Wittgenstein erweist sich vor allem während seiner Aufenthalte in Irland (1948/49) und bei Norman Malcolm in den USA (Sommer 1949) als sensibler, aufmerksamer Naturbeobachter. An der irischen Westküste in Rosro (Frühjahr 1948) sind es insbesondere die Vögel, die er auch füttert und deren Arten er nach einem Fachbuch, das Richards ihm schickt, zu bestimmen versucht. In Dublin ist er regelmäßiger Gast in den Botanischen Gärten in Glasnevin, wo er in den Glashäusern im Winter ein angenehmes Klima findet, um zu arbeiten. Während seines USA-Aufenthalts bei Norman Malcolm bestaunt er auf seinen regelmäßigen Spaziergängen die ihm fremde Flora. Mit derselben Aufmerksamkeit und Liebe schildert er Richards aber auch die in den Blumenkisten auf seinem Fenster im Trinity College blühenden Ringelblumen, Krokusse, Zyklamen usf. (vgl. z. B. den Brief vom 17.3.1947). Sowohl Wittgenstein wie auch Richards legen ihren Briefen immer wieder getrocknete Pflanzen bei, die sich teilweise erhalten haben.

Wittgenstein nimmt in seinen Briefen an Richards häufig – wenn auch meist nur sehr allgemein – Bezug auf den Fortgang seiner philosophischen Arbeit wie auch auf seine Vorlesungen bzw. seine „at homes“ genannten privaten Diskussionsrunden in Cambridge. Letztere beurteilt er zumeist positiv, ganz im Gegensatz zu den Treffen des Moral Science Clubs in Cambridge, deren Niveau und Atmosphäre er als schrecklich beschreibt. Die Redner – so schreibt er an Richards – so verschieden ihre Positionen auch sein mögen, seien sich einzig in ihrem Hass gegen ihn einig (vgl. Wittgensteins Brief an Richards vom 2.5.1947). Dies steht in einem seltsamen Kontrast zu Schilderungen etwa von Gilbert Ryle, wonach Wittgenstein bei den Treffen im Moral Science Club von seiner Anhängerschaft „geradezu hemmungslos verehrt wurde“.16 Ausführlich und sehr positiv schildert Wittgenstein einen Gastauftritt als Diskussionsleiter bei einer Veranstaltung der Jowett Society in Oxford im Mai 1947 (Brief vom 17.5.1947). Ebenso informiert er Richards über Elizabeth Anscombes Aufsehen erregende Kritik an C. S. Lewis in einem Treffen des Socratic Club in Oxford am 2. Februar 1948 (Briefe vom 31.1. und 11.2.1948). Wittgenstein legt dabei auch einen bislang unbekannten Brief Elizabeth Anscombes, datiert mit 3.2.[1948], an ihn bei, der einen ausführlichen Bericht über ihre berühmt gewordene Kontroverse mit C. S. Lewis enthält.

1945 war die Arbeit an Teil I der Philosophischen Untersuchungen (§ 1–693) im Wesentlichen abgeschlossen. In den folgenden Jahren entstehen die Manuskripte 130 bis 138 sowie die Reinschrift des Textes, der posthum als Teil II der Philosophischen Untersuchungen publiziert wurde (MS 144, 1949).17 Wittgenstein beschäftigt sich primär mit Gedanken zur „Philosophie der Psychologie“, unter anderem mit dem Aspekt-Sehen.

In den Briefen an Richards beklagt er häufig das zeitweise völlige Stocken oder nur sehr langsame Fortschreiten seiner philosophischen Arbeit. In einem bildlichen Vergleich in einem Brief an Richards vom 12. März 1948 beschreibt er seine Gedankenbewegung als schraubenförmig, was viele Kreisbewegungen notwendig macht, um auch nur ein kleines Stück vorwärtszukommen. Obwohl er zeitweise mit seiner philosophischen Arbeit nicht unzufrieden ist, lebt er in der ständigen Sorge, dass er seine Fähigkeit zu ernsthafter philosophischer Arbeit völlig verlieren könnte. In diesem Fall werde er sich eine Stelle als Deutschlehrer suchen, schreibt er im Juni 1948 an Richards (Brief vom 1.6.1948).

Vielen Briefen eigen ist ein für Wittgenstein typischer spielerischer Humor, wenn er etwa darauf verweist, dass die seitliche Lochung im Briefpapier der Belüftung dient (Brief vom 25.5.1948). Auch die unter dem Pseudonym „John Smith“ von Wittgenstein an Richards adressierten Nachrichten (vgl. Kap. VII) gehören hierher. Besondere Aufmerksamkeit verdient die Vorderseite einer Ansichtskarte aus Arklow in Irland vom 19. April 1948. Wittgenstein parodiert darauf die Eitelkeit des in dieser Zeit populären BBC-Journalisten und Philosophen Prof. C. E. M. Joad. Auf der Ansichtskarte zeichnet Wittgenstein sich selbst mehrfach als Strichmännchen in die Landschaft und kommentiert die Bilder so: „Neulich sah ich eine illustrierte Zeitung mit einem halben Dutzend Bildern von Prof. Joad beim Baden, also ließ ich mir diese Karte machen, die mich in verschiedenen Positionen zeigt.“ Als Richards sich auf seine Fahrprüfung vorbereitet, schreibt Wittgenstein: „Fahr langsam und pass auf Dich auf. (Versuche nicht, nur auf den Hinterrädern zu fahren, mit den Vorderrädern in der Luft und den Fußgängern zuzuwinken. Es sieht nett aus, ist aber ein bisschen gefährlich.)“ (1.2.1949) Als Beilage zu seinen Briefen überlegt er auch Hagelkörner: „Während ich dies schreibe, gibt es einen heftigen Hagelschauer. Ich dachte kurz daran, ein paar der Hagelkörner beizulegen, aber sie könnten brechen, wenn der Brief auf der Post grob behandelt würde.“ (1.6.1949)

Eine andere amüsante – geradezu hellsichtige – Passage stammt aus seinem Brief vom 28. November 1946:

„Bei unserer Korrespondenz ist eine kleine Schwierigkeit aufgetreten. Ich habe neulich einen Verleger getroffen, der sagte, er würde alle unsere Briefe drucken, wenn wir tot sind. Aber er sagte, die Reproduktion Deiner Bilder würde das Buch für den gewöhnlichen Leser zu sehr verteuern. Er sagte, Du sollest Dich in Zukunft ganz auf gerade Linien beschränken, das käme billiger.“

Richards’ Briefe sind durchwegs knapper im Inhalt und auch weniger häufig in ihrer Frequenz. Es ist allerdings davon auszugehen, dass ein bedeutender Teil seiner Briefe an Wittgenstein verloren gegangen ist (im gesamten Zeitraum von Ende 1947 bis Mitte 1949 sind keine Briefe von Richards erhalten). Die erhaltenen Briefe zeigen aber eine nicht weniger tiefe emotionale Verbundenheit mit seinem Freund wie auch seine sensible Anteilnahme an Wittgensteins Gesundheitszustand. Richards schildert ausführlich seine ersten Erfahrungen und Unsicherheiten während seiner medizinischen Praktika, für die Wittgenstein immer lebhaftes Interesse zeigt und ihm psychologischen Rückhalt zu geben versucht, wie auch bei seinen Prüfungen. Richards nimmt die oft moralischen Ratschläge und Kritik seines väterlichen Freundes stets dankbar und schuldbewusst an (vgl. etwa Wittgensteins Brief von 9.7.1947 und Richards’ Antwortbrief).

Immer wieder fügt Richards seinen Briefen auch Zeichnungen bei (vgl. etwa den Weihnachtsbrief 1946). Zu Weihnachten, Ostern und zu den Geburtstagen werden regelmäßig Glückwunschkarten ausgetauscht.

Die hier erstmals publizierte Korrespondenz Wittgenstein-Richards ist eine bedeutende biographische Quelle, die eine teilweise neue, detaillierte Sicht auf Wittgensteins letzten Lebensabschnitt ermöglicht. Seine wie auch Richards’ Briefe zeigen eine emotionale Nähe und Verbundenheit wie wohl kein anderer seiner Briefwechsel. Es sind berührende, oft auch verzweifelte Liebesbriefe, die keinen Zweifel darüber lassen, dass Ben Richards Wittgensteins engster Freund und Geliebter in diesen letzten Lebensjahren war – vielleicht die größte Liebe seines Lebens.

Editorische Notiz

Nach Ben Richards’ Tod 1995 erwarb die Österreichische Nationalbibliothek von seiner Frau Tara Richards 150 Briefe von Ludwig Wittgenstein an ihren verstorbenen Mann. Sie reichen vom August 1947 bis wenige Tage vor Wittgensteins Tod am 29. April 1951. Die Briefe blieben auf Ben Richards’ testamentarischen Wunsch bis zum Jahr 2020 für die Öffentlichkeit gesperrt. Bei den Vorbereitungen zur Edition dieser Briefe informierte mich Miranda Richards, die Tochter Ben und Tara Richards’, dass sich noch weitere Briefe aus der Korrespondenz Wittgensteins mit ihrem Vater in ihrem Besitz befinden. Es handelte sich um über 100 Briefe von Ludwig Wittgenstein an Ben Richards sowie etwa 90 Gegenbriefe aus dem Zeitraum Juli 1946 bis April 1951, dazu Glückwunschkarten, Telegramme und Fotos. Miranda Richards war es ein Anliegen, die komplette Sammlung an einem Ort vereinigt und für die Zukunft gesichert zu wissen. 2021 konnte die Österreichische Nationalbibliothek so auch diesen, bislang völlig unbekannten zweiten Teil der Korrespondenz Wittgenstein-Richards erwerben. Aus welchem Grund diese Teilung ursprünglich – möglicherweise noch von Ben Richards selbst – vorgenommen wurde, lässt sich nicht mehr eruieren. Alle insgesamt 373 Korrespondenzstücke werden hier erstmals veröffentlicht.

Die Originale aller in dieser Ausgabe wiedergegebenen Briefe befinden sich in der Sammlung von Handschriften und alten Drucken der Österreichischen Nationalbibliothek.1 Sie umfassen folgende Signaturgruppen:

Autogr. 1840/1 bis 33

Autogr. 1841/1 bis 35

Autogr. 1842/1 bis 34

Autogr. 1843/1 bis 40

Autogr. 1844/1 bis 45

Autogr. 1845/ 5 bis 8 und 21

sowie Autogr. 1900/1 bis 35

Die Scans der englischen Originalbriefe sind über den Katalog der ÖNB online abrufbar.

Die ins Deutsche übersetzten Briefe sind in sechs den jeweiligen Le- bensabschnitten Ludwig Wittgensteins zugeordnete Kapitel gegliedert. Ein abschließendes Kapitel enthält nicht datierbare Briefe und Glückwunschkarten sowie Nachrichten, die Wittgenstein unter dem Pseudonym „John Smith“ für Richards verfasste. Am Beginn jedes Kapitels steht eine kurze Einleitung, die einen biographischen Überblick zum jeweiligen Zeitabschnitt gibt. Bei den Kommentaren zu den Briefen wurde versucht, alle zum Verständnis der Briefe notwendigen Informationen zu ergänzen und auch parallele Quellen – primär aus anderen Briefen von und an Wittgenstein2 – anzuführen, die sich direkt auf erwähnte Inhalte beziehen.

Die meisten der enthaltenen Briefe sind datiert; viele der undatierten Briefe Wittgensteins wurden später mit Bleistift mit einem Datum versehen. Es ist wahrscheinlich, dass Richards damit das Ankunftsdatum der Briefe notierte.

Bei der deutschen Übersetzung war die Intention bestimmend, dem Originaltext möglichst nahe zu bleiben. Formale Merkmale der Originalbriefe wie Durchstreichungen und Einfügungen sind in der deutschen Übersetzung nicht wiedergegeben, Abkürzungen wurden aufgelöst.

Die in den Text der Briefe eingefügten Skizzen und Zeichnungen werden – soweit als möglich – durch Abbildungen wiedergegeben, außerdem die Ansichts- und Glückwunschkarten. Vielen der Briefe legten Wittgenstein und Richards getrocknete Blüten bzw. Pflanzen bei, die häufig auch im Brieftext erwähnt werden; auch sie werden in Abbildungen wiedergegeben, soweit sie erhalten sind.

Liste in den Briefen häufig erwähnter Bekannter und Freunde Wittgensteins

Anscombe, Elizabeth (1919–2001): Schülerin und enge Vertraute Wittgensteins. Sie besuchte als Postgraduate Wittgensteins Vorlesungen ab 1942 regelmäßig, erhielt ein Research and Teaching Fellowship am Somerville College in Oxford, 1970 einen Lehrstuhl für Philosophie in Cambridge. Zusammen mit Rush Rhees und Georg Henrik von Wright war sie eine der drei von Wittgenstein 1951 testamentarisch eingesetzten Nachlassverwalter*innen (Trustees) und Mitherausgeberin seiner nachgelassenen Schriften. Wittgenstein wohnte von April 1950 bis Februar 1951 in ihrem Haus in Oxford, 27 St. John Street.

Bevan, Edward (1907–1988): Freund Drurys und in seinen letzten Jahren Wittgensteins Hausarzt in Cambridge; er arbeitete auch am St. Mary’s Hospital in London. Wittgenstein verbrachte die letzten Wochen seines Lebens im Haus von Edward Bevan und seiner Frau Joan in Cambridge. Er schätzte Dr. Bevan sehr und empfahl Ben Richards auch auf seinen Rat zu hören.

Drury, Maurice O’Connor (1907–1976): meist „Con“ genannt; Schüler und enger Freund Wittgensteins. Drury studierte in Cambridge Philosophie, wo er Wittgenstein 1929 kennenlernte. Seine ursprüngliche Absicht, anglikanischer Priester zu werden, gab er unter dem Einfluss Wittgensteins auf und begann 1933 ein Medizinstudium, das Wittgenstein teilweise auch finanzierte. Wittgenstein verfolgte alle Schritte von Drurys medizinischer Laufbahn mit großem Interesse. Drury schloss sein Medizinstudium 1939 ab und absolvierte anschließend eine Fachausbildung für Psychiatrie. Ab 1947 arbeitete Drury als Psychiater im St.-Patrick’s-Krankenhaus in Dublin, ab 1969 als Chefarzt der psychiatrischen Abteilung. Besonders in Wittgensteins Zeit in Irland 1947/48 zählte Drury zu seinen engsten Freunden.

Malcolm, Norman (1911–1990): Schüler und enger Freund Wittgensteins. Malcolm besuchte Wittgensteins Vorlesungen in Cambridge ab 1938 und wurde ein enger Vertrauter. Er promovierte 1940 in Harvard, ab 1940 lehrte er zunächst an der Princeton University, 1947 bis 1958 unterrichtete er an der Cornell University in Ithaca (NY). Wittgenstein besuchte ihn und seine Frau Leonida („Lee“) dort im Sommer 1949 für drei Monate.

Moore, George Edward (1873–1958): bedeutender englischer Philosoph, er unterrichtete ab 1898 in Cambridge, von 1925–1939 als Professor für Philosophie. Moore besuchte in den 30er Jahren regelmäßig die Vorlesungen Wittgensteins und war mit ihm eng befreundet. Wittgenstein folgte ihm 1939 auf seinem Lehrstuhl nach.

Rhees, Jean (1903–1981): erste Frau von Rush Rhees. Jean Rhees wuchs in Italien auf und besuchte die internationale Schule in Neapel. Sie war hochmusikalisch und interessierte sich sehr für Kunst und Literatur. Jean Rhees arbeitete als Psychoanalytikerin der Richtung C. G. Jungs in London und war Mitglied der Society of Analytical Psychology in Großbritannien. Wittgenstein übernachtete bei seinen kurzen Aufenthalten in London in den 40er Jahren häufig bei ihr in 104 Goldhurst Terrace.

Rhees, Rush (1905–1989): Schüler und enger Freund Wittgensteins. Rhees studierte zunächst in Edinburgh, Manchester und Innsbruck Philosophie, bevor er als Postgraduate-Student 1933 nach Cambridge kam, um bei Moore zu studieren. Ab 1936 besuchte er regelmäßig Wittgensteins Vorlesungen und wurde zu einem seiner bevorzugten Gesprächspartner. Von 1940–1966 unterrichtete Rhees an der Universität in Swansea. Wittgenstein besuchte ihn zwischen 1942 und 1947 in den Ferien regelmäßig in Swansea. Zusammen mit Elizabeth Anscombe und Georg Henrik von Wright war er einer der drei von Wittgenstein 1951 testamentarisch eingesetzten Nachlassverwalter (Trustees) und Mitherausgeber seiner nachgelassenen Schriften.

Richards, Angela (1928–): die älteste der vier jüngeren Schwestern Ben Richards’, die Wittgenstein persönlich gut kannte. Besonders während seines Aufenthaltes in Oxford (April 1950–Februar 1951) traf Wittgenstein Angela, die dort studierte, einige Male. Es sind auch einige Briefe Wittgensteins an Angela Richards erhalten, die in dieser Edition enthalten sind (vgl. die Briefe II(45); V(5); V(14); V(74) sowie Weihnachtskarten in Kapitel VII).

Richards, Isabella (1931–): meist „Tazza“ genannt, die drittälteste Schwester von Ben

Richards, Julia (1940–): meist „Heshe“ genannt, die jüngste Schwester von Ben

Richards, Virginia (1929–): meist „Jinny“ genannt, die zweitälteste Schwester von Ben

Salzer, Helene (1879–1956, geb. Wittgenstein): die mittlere der drei Schwestern Wittgensteins, verheiratet mit Max Salzer, lebte in Wien.

Smythies, Yorick (1917–1980): Student und enger Freund Wittgensteins. Smythies kam 1935 nach Cambridge und besuchte Wittgensteins Vorlesungen auch noch lange nach seinem Studienabschluss. Er arbeitete in Oxford zunächst als Forscher am Nuffield College und dann als Bibliothekar bei der Cambridge Philosophical Society, am Department of Forestry und später am Department of Social Studies. Einige seiner Vorlesungsmitschriften wurden später publiziert.

Stonborough-Wittgenstein, Margaret (1882–1958, geb. Wittgenstein): die jüngste der drei Schwestern Ludwigs, verheiratet mit Jerome Stonborough. Ludwig Wittgenstein erbaute für sie das Haus Wittgenstein im 3. Bezirk in Wien. Sie lebte teilweise in Berlin, der Schweiz und in New York.

Wittgenstein, Hermine (1874–1950): die älteste der drei Schwestern Ludwig Wittgensteins, lebte in Wien.

Wright, Georg Henrik von (1916–2003): Student und enger Freund Wittgensteins. Von Wright studierte Philosophie in Helsinki, ab 1939 auch in Cambridge bei G. E. Moore und Wittgenstein. Er zählte zu Wittgensteins engsten Freunden und folgte ihm 1948 auf seinem Lehrstuhl in Cambridge nach. Wittgenstein verbrachte von November 1949 bis April 1950 einige Monate in seinem Haus in Cambridge. Zusammen mit Elizabeth Anscombe und Rush Rhees war von Wright einer der drei von Wittgenstein 1951 testamentarisch eingesetzten Nachlassverwalter (Trustees) und Mitherausgeber seiner nachgelassenen Schriften.

I. In Cambridge und Swansea (Juni 1946 – Juli 1947)

Nach seiner Rückkehr aus Newcastle, wo Wittgenstein in einem medizinischen Forschungsteam mitarbeitete, unterrichtet er ab dem Michaelis-Term 1944 wieder in Cambridge. Im November 1945 lernt er in seinen Vorlesungen den 21-jährigen Ben Richards kennen, der am King’s College studiert. Es entsteht eine leidenschaftliche emotionale Beziehung, die Wittgenstein zutiefst verunsichert, wie aus späteren Manuskripteinträgen ab Juli 1946 hervorgeht (vgl. dazu die Einleitung).

Der erhaltene Briefwechsel beginnt im Juni 1946. Wittgenstein besucht seinen Freund an den Wochenenden regelmäßig in London, wo Richards am „Bart’s“ (St. Bartholomew’s Hospital) seine praktische medizinische Ausbildung absolviert. Den Sommer 1946 verbringt Wittgenstein wie gewöhnlich in Swansea. Im Juli 1946 treffen er und Richards Maurice O’Connor Drury für einige Tage in Exeter. Anschließend fährt Richards zu einem Kletterurlaub nach Turtagrø, Jotunheimen, eine der beliebtesten Gebirgsregionen Norwegens nicht weit entfernt von Skjolden, jenem Ort, wo Wittgenstein in den Jahren 1913/14, 1921, 1931 und 1936/37 viele Monate verbrachte und sich ein eigenes Haus am Eidsvatnet-See hatte erbauen lassen.1 Wittgenstein schreibt an seine Bekannte Anna Rebni in Skjolden und bittet sie, Richards freundlich aufzunehmen: „Please be nice & kind to him, & think you’re doing it for me.“ (Brief vom 18.7.1946)2 Anna Rebni gibt Richards einen Brief an Wittgenstein mit, den er am 21. August 1946 beantwortet. An seine Norwegenreise im Sommer 1946 erinnert sich Richards später in einem Brief an G. H. von Wright vom 15. August 1990:

„I had been once before in Norway with the Climbers Club in July-August 1946 to climb in the Horungtinder, staying in Turtagrø which is reached via Skjolden. Wittgenstein has given me Frøken Raebni’s address among others and one day I came down from Turtagrø to visit her. Someone on the bus pointed out the hut and told me it had been built by ‚an eccentric Englishman‘. She told me then how during the wartime occupation with Germans stationed in Skjolden less than a mile away, she used to take in British airmen and others on their way across the mountains to the coast to escape to Britain.“ (Von-Wright-Archiv der Finnischen Nationalbibliothek in Helsinki, Signum COLL.714.202)

Ende September 1946 verbringt Richards einen zweiwöchigen Urlaub mit Wittgenstein in Swansea. Das Easterterm 1947 ist das letzte, in dem Wittgenstein regulär in Cambridge unterrichtet. Seine Vorlesungstätigkeit war ihm zunehmend zur Last geworden, die akademische Atmosphäre in Cambridge empfindet er als unerträglich. (Vgl. den Brief an Richards vom 6. Oktober 1946: „The worst thing about this place is the cold, inhuman atmosphere which makes me feel lonely & as though I were condemned to live with wax-works.“) Wittgenstein flüchtet, sooft es möglich ist, nach Swansea, auch die Weihnachtsfeiertage 1946/1947 verbringt er dort. Er wohnt bei Reverend Morgan, später, ab April 1947, bei deren Nachbarn, der Familie Clement (Cwmdonkin Terrace, Uplands). Besonders bei seinen Aufenthalten in Wales arbeitet Wittgenstein intensiv, es entstehen die Manuskripte 130 bis 134.

(1) Ben Richards an Ludwig Wittgenstein, 26.6.1946

Robertson Lamb Hut

Great Langdale

Nr. Ambleside

26.6.46

Lieber Ludwig,

ich danke Dir vielmals für das Buch. Ich werde es nach Exeter mitbringen und wir können es zusammen lesen. Die Schubert-Lieder3 leihe ich mir auch aus. Würdest Du mich bitte wissen lassen, welches der beste Zeitpunkt wäre zu kommen. Ich sollte besser vor dem 20. Juli ein paar Tage zu Hause sein, um mich auf die Reise vorzubereiten. Ich werde Ende nächster Woche wieder zu Hause sein.

Heute Morgen hat es in Strömen gegossen, jetzt ist es schön. Es sieht so aus, als ob ich hier eine gute Zeit verbringen werde, aber ich wünschte, Du wärest hier, um sie mit mir zu teilen.

Ich freue mich sehr darauf, Drury4 zu treffen.

In Liebe

immer

Ben

(2) Ludwig Wittgenstein an Ben Richards, 28.6.1946

Von: c/o Rev. Morgan5

2 Cwmdonkin Terrace

Swansea

28.6.6

Lieber Ben,

bitte schreibe mir, verschiebe es nicht länger. Bitte denke an die Gefühle und Gedanken, zu denen ich neige, wenn ich nichts von Dir höre; verursache mir keine schlechte Zeit; und mögest Du selber eine gute und glückliche Zeit haben!

In Liebe, immer

Ludwig

(3) Ludwig Wittgenstein an Ben Richards, 1.7.1946

c/o Rev. Morgan

2 Cwmdonkin Terrace

Swansea

1.7.46.

Mein lieber Ben,

ich war froh, von Dir zu hören. Ich denke sehr viel an Dich. – Warum fragst Du „Wann wäre der beste Zeitpunkt“ für Dich zu kommen? Wir haben in Cambridge vereinbart, dass Du am 12. Juli nach Exeter kommst und 6 Tage bis zum 18. bleibst. Drury hat für uns Zimmer in einem Hotel (dem „Royal Clarendon“) reserviert. Bitte ändere diese Pläne nicht, wenn Du es irgendwie vermeiden kannst! – Drury kommt am 8. Juli nach Swansea, und er und ich werden hier am 12. früh aufbrechen und am Nachmittag in Exeter sein. Wenn Du also abends in Exeter ankommst, bin ich am Bahnhof. Die genauen Zeiten der Züge schreibe ich Dir später.

Das Wetter hier war bisher abscheulich – Nebel, Regen und Kälte. Ich hoffe, es ist besser dort, wo Du bist! Und auch, dass es in Exeter besser sein wird. (Obwohl wir auch bei schlechtem Wetter zurechtkommen werden.)

Mein Lieber, bitte lass keine Probleme und keine Enttäuschung entstehen.

Gott segne Dich! Lass von Dir hören.

In Liebe, immer

Ludwig

Beilage zu Brief (3):

[Am oberen Rand notiert Wittgenstein mit Pfeil auf das Bild in der linken oberen Ecke:] „Diese Scheußlichkeit ist die Freude und der Stolz von Swansea.“

[Rückseite ohne Text]

(4) Ludwig Wittgenstein an Ben Richards, 2.7.1946

[Postkarte, Civic Centre Swansea]

[Rückseite:]

c/o Rev. Morgan

2 Cwmdonkin Terrace

Swansea

2.7.46

Lieber Ben, das ist nur ein Nachtrag zu dem Brief, den ich Dir gestern geschickt habe. Zunächst möchte ich sagen, wenn es für Dich unbedingt notwendig ist, unsere Pläne zu ändern, komme lieber einen Tag früher nach Exeter, als Deinen Besuch zu verkürzen. Aber ändere unsere Pläne wenn irgend möglich nicht. Lass es mich jedenfalls so schnell wie möglich wissen.

Zweitens hat sich das Wetter etwas aufgeklärt. Es ist jetzt schwül, aber man kann raus und das ist verdammt gut. – Drittens hoffe ich, dass Du Dich gut amüsierst.

Viertens freue ich mich sehr auf Dich. Fünftens dachte ich, dass Du vielleicht gerne etwas mehr von unserem Bürgerzentrum sehen möchtest. – Pass auf Dich auf, sei vorsichtig und sei gut!

Gott segne Dich.

In Liebe

Ludwig

(5) Ludwig Wittgenstein an Ben Richards (Datum des Poststempels: 8.7.19467)

c/o. Rev. Morgan, 2 Cwmdonkin Terr.

Swansea

Montag

Mein lieber Ben, das ist mein neues Briefpapier. Ich habe es extra für unsere Korrespondenz anfertigen lassen. – Drury und ich kommen am Freitagnachmittag8 in Exeter an. Bitte nimm den Zug, der Waterloo um 14:50 Uhr verlässt und um 18:43 Uhr in Exeter ankommt. Ich werde Dich vom Zug abholen. In diesem Zug gibt es einen Speisewagen. Ich freue mich sehr darauf, Dich zu sehn!

Gott segne Dich! In Liebe

Name

Ludwig9

Adresse

genau nirgendwo

Stadt

des Zorns

Zustand

ziemlich mies

P. S. Unser Hotel in Exeter heißt nicht „Royal Clarendon“, wie ich geschrieben habe, sondern „Royal Clarence“.

(6) Ludwig Wittgenstein an Ben Richards (o. D., Poststempel am Umschlag: 20.7.1946)

c/o Morgan

2 Cwmdonkin Terrace, Swansea

Samstag

Mein lieber Ben, altes Herz,

ich habe gestern den beigefügten Brief bekommen; zu spät, um Dich in Uxbridge zu erreichen. Ich lege auch eine Karte bei, die ich von „Isis“ „Das Auge, das alles sieht“ für einen Groschen bekommen habe. Studiere sie bitte sorgfältig. Ich hätte gerne Grassamen für Dich beigelegt, um ihn in meinem Namen auf Dich selbst zu werfen, aber es gibt keinen hier, wo ich schreibe. Ich habe Exeter gestern Nachmittag verlassen. Ich war am Donnerstagnachmittag und gestern bei Drury, bis ich abfuhr. Das vorletzte Lied, das wir uns vorgenommen hatten, habe ich immer vor mich hin gesummt10, „Der Kreuzzug“11. Ich habe dieses Lied mit Dir fast mehr genossen als die anderen. Ich weiß nicht, warum, obwohl ich sie alle genossen habe. – Die Schokolade, die Du mir gegeben hast, ist herrlich; nur esse ich wahrscheinlich zu viel davon. – Eben musste ich kurz raus und fand Grassamen; aber es ist nicht die richtige Sorte. Also nimm es als Symbol.

Ich denke viel an Dich; mit vielen tiefen und guten Wünschen, und

Gott segne Dich!

In Liebe, immer,

Ludwig

Beilage 1 zu Brief (6):

DER SPIEGEL SIEHT – Sie sind ungestüm, stürzen Sie sich nicht in Entscheidungen und lehnen Sie freundliche Ratschläge nicht leichtfertig ab.

Sie sind fähig, Dinge zu erledigen, und sollten mit mehr Stabilität weit kommen. Liebenswertes Wesen und bei Ihren Freunden sehr beliebt.

Studieren Sie diesen persönlichen Text in Verbindung mit den Merkmalen Ihres Geburtsmonats umseitig.

ISIS

Beilage 2 zu Brief (6):12

(7) Ben Richards an Ludwig Wittgenstein, 24.7.1946

Hotel Turtagrö13

Norwegen

24/7/46

Lieber Ludwig

ich bin um 1 Uhr morgens mit dem Bus von Leikanger hier angekommen und heute – es war sehr nass – haben wir einen kurzen Spaziergang zum Fuß des Skagastöls-Gletschers und zurück gemacht. Wir hatten eine sehr sanfte Überfahrt über die Nordsee und sind am Sonntagabend für ein oder zwei Stunden in Stavanger an Land gegangen. Unser Schiff – die m/v „Astrea“ – legte als Nächstes in Hangesund an und erreichte Bergen um etwa 8:30 Uhr am Montagmorgen, wo wir herumschlenderten und ein bisschen einkauften – einige gingen die Hügel hinauf, zu Fuß oder mit der Bahn – bis der Fjorddampfer – die „Fanaraaken“ – um 22:30 Uhr abfuhr. Ich wachte auf, als wir Vadheim am Sognefjord erreichten. Wir fuhren den ganzen Tag den Sogn hinauf, hielten an etwa einem halben Dutzend Orten und kamen um 7 Uhr in Leikanger an. Es war Mitternacht, als wir an Deinem Haus vorbeikamen, und obwohl es noch dämmerte, konnte ich es nicht wirklich sehen. Ungefähr an der richtigen Stelle, über dem See, war ein Schatten, der entweder ein Haus oder ein Felsen sein konnte. Es war zu spät, um Deine Briefe zu überbringen, aber in ein paar Tagen werde ich einen freien Tag nehmen und mit dem Bus nach Skjolden fahren.

Es war neblig und ziemlich nass, aber ich war sehr beeindruckt von einigen Landschaften am Fjord. Ich hoffe, es wird auf der Rückfahrt klarer sein – wir fahren mit dem Bus nach Hermansvaeste und nehmen den Dampfer nach Flaam.

Ich hoffe, es geht Dir gut.

Ich habe die Woche in Exeter sehr genossen und bin sehr froh, dass Du mich mit Drury bekannt gemacht hast.

In Liebe, immer

Ben

(8) Ludwig Wittgenstein an Ben Richards, 28.7.1946

c/o Rev. Morgan

2 Cwmdonkin Terrace

Swansea

28.7.4614

Mein lieber Ben,

ich habe in letzter Zeit eine Menge sehr schöner Spaziergänge gemacht, viele davon ziemlich neu für mich. Ich arbeite15 in moderatem Maße und hoffe, dass es im Laufe der Zeit immer mehr wird. Manchmal denke ich, dass ich vielleicht doch bald veröffentlichen werde.16 Es ist gut, weg von Cambridge und hier zu sein, und unter freundlichen Menschen.17 Das Wetter ist sehr wechselhaft; Regen fast jeden Tag, aber einen Teil des Tages gut. – Ich denke sehr viel an Dich. Gott segne Dich immer!

In Liebe

Ludwig

Ich hoffe, Du hast gutes Wetter! In Liebe Ludwig

(9) Ludwig Wittgenstein an Ben Richards, 3.8.1946

c/o Rev. Morgan

2 Cwmdonkin Terrace

Swansea

3.8.46.

Mein lieber Ben,

damit will ich nur, oder fast nur, sagen, dass ich Anfang der Woche Deinen Brief erhalten habe. Es war schön, von Dir zu hören. Ich hoffe, Du bekommst etwas Sonnenschein! Wir haben ein wenig, gelegentlich, aber meistens Regen, und es ist ziemlich kalt. Ich nehme an, Du warst inzwischen in Skjolden und hast mein Haus und, wie ich hoffe, auch meine Freunde gesehen. Bitte schreib mir darüber. – Die Person, die mir in Skjolden am nächsten stand, Arne Draegni, starb Anfang des Jahres.18Ich wünschte, Du hättest ihn noch treffen können. – Mir geht es gut und ich arbeite moderat. Ich wünschte, das Wetter wäre schöner.

Pass auf Dich auf und sei gut! Gott segne Dich!

In Liebe, immer

Ludwig

Ich lege etwas Minze aus unserem Garten bei. Lass mich wissen, ob sie noch riecht, wenn sie in Norwegen ankommt.

(10) Ludwig Wittgenstein an Ben Richards, 15.8.1946

2 Cwmdonkin Terrace

Swansea

15.8.46.

Mein lieber Ben,

ich kann mir nicht wirklich vorstellen, dass irgendwelche Briefe von uns verloren gegangen sind. Aber da solche Dinge passiert sind, möchte ich sagen, dass ich Dir drei Briefe nach Norwegen geschickt und einen von Dir erhalten habe, datiert mit 24. August.19 Danach bekam ich nichts mehr.20 Ich will heute nicht mehr schreiben, außer dass ich an Dich denke und mich frage, ob es Dir gut geht.21

Gott segne Dich und behüte Dich! Wie immer in Liebe

Ludwig

(11) Ben Richards an Ludwig Wittgenstein (o. D., zweite Hälfte August 1946)

c/o Mrs Michell

Boswinger

Near St Austell

Cornwall

Lieber Ludwig,

wie Du siehst, bin ich aus Norwegen zurück und zelte mit meiner Familie in der Nähe der Südküste von Cornwall. Ich habe die Zeit in Turtagrö sehr genossen, trotz des Wetters, das im Juli und August das feuchteste im Westen Norwegens seit vielen Jahren war. Im Landesinneren und weiter nördlich war es schön und im letzten Sommer gab es viele Wochen Sonnenschein ohne Regen. Wir unternahmen einige gute Klettertouren und ich habe Erfahrung auf Gletschern und Schnee gesammelt, die ich natürlich noch nie zuvor hatte. Ich bin zweimal nach Skjolden gefahren und habe Frau Rebni22 besucht. Sie war sehr nett zu mir. Sie hat die Farm im Februar dieses Jahres wegen der Arbeit aufgegeben, aber sie arbeitet immer noch sehr hart im Haus. Zu Beginn der Besatzung gewährte sie mehreren Engländern Unterschlupf und half ihnen bei der Flucht. Die Deutschen besetzten Skjolden nicht dauerhaft, sondern kamen von Zeit zu Zeit, und wenn sie es taten, mussten sich die Engländer im Tal oben und in den Wäldern verstecken. Sie sagte, sie wurden wie Tiere gejagt, und wenn herausgekommen wäre, dass sie ihnen geholfen hat, wäre sie erschossen und ihre Farm niedergebrannt worden.

Ich konnte Frau Holme23 nicht besuchen, weil sie sich die ganze Zeit, während ich in Turtagrö war, mit ihrer Mutter, die operiert wurde und sich erholt, in Bergen aufhielt. Ich habe ihr den Brief in Skjolden hinterlegt.

Ich habe Dein Haus auf der anderen Seite des Sees gesehen und habe eine Ansichtskarte davon. Derzeit wohnt niemand dort.

Wir hatten eine ziemlich raue Überfahrt auf der Heimreise und die meisten, mich eingeschlossen, wurden seekrank.

Ich kam von zu Hause direkt hierher. Es regnet und der Wind bläst stark, während ich in meinem Zelt schreibe, aber wir hatten drei schöne Tage von fünf. Gestern besuchten wir die alljährliche Schwimmgala im Hafen von Mevagissey – es gab ein Wettschwimmen, Tauchwettbewerbe und Wasserball. Jimmy Kelly aus Mevagissey gewann die Meisterschaft von Cornwall im Schwimmen. Ich mag diesen Teil von Cornwall sehr. Ich war das letzte Mal hier, als ich zehn war.

Ich freue mich darauf, Dich in Swansea zu sehen. Ich denke viel an Dich.

Ich lege einen Brief bei, den Frau Rebni mir für Dich mitgegeben hat. Sie möchte die Adresse einer Freundin wissen, die in Skjolden übernachtet hat, als Ihr dort gewesen seid.24

Mit all meiner Liebe

immer, Ben

(12) Ludwig Wittgenstein an Ben Richards, 21.8.1946

2 Cwmdonkin Terrace

Swansea

21.8.

Mein lieber Ben,

danke für Deinen Brief, der gestern angekommen ist. Ich freue mich, dass Du eine angenehme Zeit in Norwegen hattest und dass es Dir in Cornwall gefällt. Das Wetter hier ist schrecklich wechselhaft und regnerisch; aber vielleicht bedeutet das, dass es gut wird, wenn Du hier bist. – An Deinem Brief sind mir zwei Dinge aufgefallen. Erstens – dass Du keinen der 4 Briefe erwähnst, die ich Dir geschrieben habe.25