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Nadia Murad

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Beschreibung

Von der IS-Sklavin zur Trägerin des Friedensnobelpreises 2018: Das bewegende Schicksal der Jesidin Nadia Murad und ihr Kampf um Gerechtigkeit. Am 3. August 2014 endet das Leben, wie Nadia Murad es kannte. Truppen des IS überfallen ihr jesidisches Dorf Kocho im Norden Iraks. Sie töten die Älteren und verschleppen die Jüngeren. Kleine Jungen sollen als Soldaten ausgebildet werden. Die Mädchen werden verschleppt und als Sklavinnen verkauft. An diesem Tag verliert Nadia Murad 44 Angehörige. Für sie beginnt ein beispielloses Martyrium: Drei Monate ist sie in der Gewalt des IS, wird Opfer von Demütigung, Folter, Vergewaltigung. Nur mit Glück und unvorstellbarem Mut gelingt ihr die Flucht vor ihren Peinigern. Sie schafft es in ein Flüchtlingslager und kommt von dort aus nach Deutschland. Tausende andere junge Frauen befinden sich bis heute in der Gewalt des IS. Deren Stimme zu sein und sie zu befreien hat Nadia Murad sich zur Aufgabe gemacht. Heute kämpft sie dafür, dass das Verbrechen des IS als Völkermord anerkannt wird und die Verantwortlichen vor den Internationalen Strafgerichtshof gestellt werden. Die Vereinten Nationen ernannten Nadia Murad zur Sonderbotschafterin, darüber hinaus wurde sie mit dem Friedensnobelpreis und dem Vaclav-Havel-Preises für Menschenrecht ausgezeichnet. Nun erzählt sie ihre bewegende Geschichte.

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Seitenzahl: 534

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Nadia Murad

mit Jenna Krajeski

ICH BIN EURE STIMME

Das Mädchen, das dem Islamischen Staat entkam und gegen Gewalt und Versklavung kämpftMit einem Vorwort vonAmal Clooney

Aus dem Amerikanischen von Ulrike Becker, Jochen Schwarzer und Thomas Wollermann

Knaur e-books

Über dieses Buch

Als Gefangene des Islamischen Staats erlebt Nadia Murad ein unvorstellbares Martyrium: Sie verliert ihre Familie, wird zum Opfer von Demütigung, Folter und Vergewaltigung. Als sie erstmals vor den Vereinten Nationen von ihrem Schicksal berichtet, hört ihr die Weltöffentlichkeit schockiert zu.

Heute setzt die UN-Sonderbotschafterin und Friedensnobelpreiskandidatin sich ein für jesidische Frauen, die noch immer in der Gewalt der Terroristen sind, und kämpft dafür, dass die Täter strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden.

Inhaltsübersicht

WidmungKarteNobelpreisredeVorwort von Amal ClooneyTeil I1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. KapitelTeil II11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. KapitelTeil III23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. KapitelEpilogBildteil
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Dieses Buch ist allen Jesiden gewidmet.

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Nobelpreisrede der Friedensnobelpreisträgerin 2018 Nadia Murad

Oslo, den 10. Dezember 2018

Eure Majestäten, Eure königlichen Hoheiten, Exzellenzen, sehr geehrte Mitglieder des Komitees, meine Damen und Herren – ich grüße Sie alle herzlich!

 

Zunächst möchte ich mich bei dem Nobelkomitee dafür bedanken, dass es mir diese Ehre zuteil werden lässt. Es ist eine große Ehre, dass mir diese hohe Auszeichnung gemeinsam mit meinem Freund Dr. Denis Mukwege verliehen wird, der sich seit vielen Jahren unermüdlich für Opfer sexueller Gewalt einsetzt und Frauen, die Gewalttaten erlitten haben, eine Stimme gibt.

 

Ich möchte aus tiefstem Herzen zu Ihnen sprechen und Ihnen davon erzählen, wie sich mein Leben und das Leben aller Jesiden durch diesen Völkermord verändert hat und wie der sogenannte »Islamische Staat« eine ganze Bevölkerungsgruppe des Irak auszulöschen versuchte, indem er Frauen gefangen nahm, Männer tötete und unsere Pilgerstätten und Tempel zerstörte.

 

Heute ist für mich ein ganz besonderer Tag. Es ist der Tag, an dem das Gute über das Böse gesiegt hat, der Tag, an dem die Menschlichkeit den Terrorismus bezwungen hat, der Tag, an dem die verfolgten Kinder und Frauen über ihre Peiniger triumphieren.

 

Ich hoffe, dass der heutige Tag den Beginn einer neuen Ära markiert, einer Ära, in der der Frieden im Vordergrund steht und die Welt gemeinsam ein neues Regelwerk entwirft, um Frauen, Kinder und Minderheiten vor Verfolgung und besonders vor sexueller Gewalt zu beschützen.

 

Ich habe meine Kindheit als Bauernmädchen in dem Dorf Kocho im Süden der Region Sindschar verlebt. Ich wusste nichts vom Friedensnobelpreis. Ich wusste nichts von den Konflikten und Massakern, die sich tagtäglich in unserer Welt ereignen. Ich wusste nicht, dass Menschen einander so abscheuliche Verbrechen antun können.

 

Als junges Mädchen war es mein Traum, nach meinem Schulabschluss in unserem Dorf einen Schönheitssalon zu betreiben und in der Nähe meiner Familie in Sindschar zu leben. Doch dieser Traum verwandelte sich in einen Albtraum. Unerwartete Dinge geschahen. Ein Völkermord fand statt. Im Zuge dessen verlor ich meine Mutter, sechs meiner Brüder und die Kinder meiner Brüder. Jede jesidische Familie kann aufgrund dieses Völkermords eine ähnliche Geschichte erzählen, eine entsetzlicher als die andere.

 

Ja, unser Leben hat sich über Nacht vollkommen verändert, auf eine Weise, die wir kaum verstehen können. In jeder jesidischen Familie gibt es Menschen, die voneinander getrennt wurden. Das soziale Gefüge einer friedlichen Gemeinschaft wurde auseinandergerissen, und eine ganze Gesellschaft, die das Banner des Friedens hochhielt und eine Kultur der Toleranz pflegte, fiel einem sinnlosen Krieg zum Opfer.

 

Im Laufe unserer Geschichte waren wir aufgrund unseres Glaubens vielen völkermörderischen Angriffen ausgesetzt. Infolge dieser Völkermorde leben heute in der Türkei nur noch wenige Jesiden. Von den etwa achtzigtausend Jesiden, die es einmal in Syrien gab, leben dort heute nur noch fünftausend. Im Irak sehen sich die Jesiden mit dem gleichen Schicksal konfrontiert; auch dort nimmt ihre Zahl deutlich ab. Der »Islamische Staat« wird sein Ziel, diese Religion vom Angesicht der Erde zu tilgen, erreichen, wenn den Jesiden nicht der erforderliche Schutz gewährt wird. Gleiches gilt auch für andere Minderheiten in Syrien und im Irak.

 

Nachdem uns die irakische Regierung und die Regierung von Kurdistan im Stich gelassen hatten, versagte auch die internationale Staatengemeinschaft dabei, uns vor dem »Islamischen Staat« zu schützen und den Völkermord an uns zu verhindern, und sah untätig zu, wie eine ganze Gemeinschaft vernichtet wurde. Unsere Häuser, unsere Familien, unsere Traditionen, unsere Menschen, unsere Träume – alles wurde zerstört.

 

Zwar wurde uns nach dem Völkermord viel Mitgefühl zuteil, sowohl vor Ort als auch international, und viele Länder erkannten diesen Völkermord an, aber der Völkermord hörte nicht auf. Die Gefahr der vollständigen Vernichtung besteht nach wie vor.

 

An der Notlage der Jesiden, die sich immer noch in der Gefangenschaft des »Islamischen Staats« befinden, hat sich nicht geändert. Die jesidischen Vertriebenen konnten die Lager bisher nicht verlassen, und nichts von dem, was der »Islamische Staat« zerstört hat, wurde wieder aufgebaut. Keiner der Täter, die gemeinschaftlich diesen Völkermord begangen haben, wurde bisher vor Gericht gestellt. Ich möchte kein Mitgefühl mehr – ich möchte, dass diese Gefühle umgemünzt werden in Taten vor Ort.

 

Wenn es der internationalen Gemeinschaft ernst damit ist, den Opfern dieses Völkermords beizustehen, und wenn wir wollen, dass die Jesiden die Flüchtlingslager verlassen, in ihre Heimat zurückkehren und wieder Zuversicht schöpfen können, sollte ihnen die internationale Gemeinschaft unter Aufsicht der Vereinten Nationen internationalen Schutz gewähren. Ohne diesen internationalen Schutz gibt es keine Gewähr dafür, dass wir nicht weiteren Völkermorden durch andere Terrorgruppen ausgesetzt sein werden. Die internationale Gemeinschaft muss sich dazu verpflichten, den Opfern dieses Völkermords Asyl zu gewähren und Einwanderungsmöglichkeiten zu eröffnen.

 

Heute ist ein besonderer Tag für alle Iraker, nicht nur, weil ich als erste Irakerin mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet werde. Am heutigen Tag feiern wir auch die siegreiche Befreiung des irakischen Territoriums von der Terrororganisation »Islamischer Staat«. Iraker vom Norden bis zum Süden unseres Landes haben ihre Kräfte vereint und im Namen der ganzen Welt einen langen Kampf gegen diese Extremisten ausgefochten.

 

Diese Einheit hat uns Kraft gegeben. Nun gilt es, mit vereinten Bemühungen die Verbrechen des »Islamischen Staats« zu untersuchen und diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die es ihm erst ermöglichten, weite Gebiete des Irak zu kontrollieren, indem sie ihn begrüßten, ihn unterstützten oder sich ihm gar anschlossen. Im Irak darf es nach dem »Islamischen Staat« keinen Platz mehr für Terrorismus und extremistisches Gedankengut geben. Wir müssen unser Land mit vereinten Kräften wieder aufbauen und dazu beitragen, dass allen Irakern ein Leben in Sicherheit, Stabilität und Wohlstand ermöglicht wird.

 

Wir müssen uns jeden Tag daran erinnern, wie die Terrororganisation »Islamischer Staat« und diejenigen, die ihre Ideen umsetzten, 2014 mit beispielloser Brutalität die Jesiden angriffen, mit dem Ziel, einen der ursprünglichen Bestandteile der irakischen Gesellschaft auszulöschen. Sie verübten diesen Völkermord aus einem einzigen Grund: Weil wir Jesiden sind, die einen anderen Glauben haben, andere Bräuche pflegen und dagegen sind, einander umzubringen, in Gefangenschaft zu halten oder zu versklaven.

 

Im 21. Jahrhundert, im Zeitalter der Globalisierung und der Menschenrechte, wurden über 6.500 jesidische Kinder und Frauen verschleppt, verkauft, sexuell und psychisch missbraucht. Trotz unserer täglichen Appelle seit 2014 ist das Schicksal von über dreitausend Kindern und Frauen, die sich in der Gewalt des »Islamischen Staats« befinden, immer noch ungeklärt. Tag für Tag werden weiterhin Mädchen in der Blüte ihres Lebens verkauft, gefangen gehalten und vergewaltigt. Es ist einfach nicht zu fassen, dass sich die führenden Politiker der 195 Staaten dieser Erde nicht von ihrem Gewissen dazu bewegen lassen, diese Mädchen zu befreien. Was wäre, wenn es sich dabei um eine Geschäftstransaktion handelte, um ein Ölfeld oder eine Waffenlieferung? Dann hätte man sicherlich längst alle Hebel in Bewegung gesetzt.

 

Jeden Tag höre ich tragische Geschichten. Hunderttausende oder gar Millionen Kinder und Frauen auf der ganzen Welt leiden unter Verfolgung und Gewalt. Jeden Tag höre ich die Schreie von Kindern in Syrien, im Irak und Jemen. Jeden Tag sehen wir, wie in Afrika und anderswo hunderte Frauen und Kinder Massakern und Kriegen zum Opfer fallen, ohne dass jemand eingreift, um ihnen beizustehen oder die Täter zur Rechenschaft zu ziehen.

 

Seit fast vier Jahren reise ich nun um die Welt, um meine Geschichte und die der Jesiden und anderer gefährdeter Gemeinschaften zu erzählen, ohne dass ich irgendeine Gerechtigkeit erlangt hätte. Die Männer, die gegen jesidische und andere Frauen und Mädchen sexuelle Gewalt verübt haben, werden für ihre Taten immer noch nicht zur Verantwortung gezogen. Wenn keine Gerechtigkeit geübt wird, wird sich dieser Völkermord an uns und anderen gefährdeten Gemeinschaften wiederholen. Die juristische Aufarbeitung ist unerlässlich, damit eine friedliche Koexistenz zwischen den Bevölkerungsgruppen des Irak möglich wird. Wenn wir nicht wollen, dass sich die massenhafte Vergewaltigung und Gefangennahme von Frauen wiederholt, müssen wir diejenigen zur Rechenschaft ziehen, die sexuelle Gewalt als Waffe eingesetzt haben, um Verbrechen gegen Frauen und Mädchen zu begehen.

 

Ich bin Ihnen sehr dankbar für diese Ehrung, aber Tatsache ist, dass der einzige Preis der Welt, der unsere Würde wiederherstellen kann, darin besteht, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wird und die Täter zur Rechenschaft gezogen werden. Keine Auszeichnung kann uns die vielen geliebten Menschen ersetzen, die nur deshalb getötet wurden, weil sie Jesiden waren. Der einzige Preis, der ein normales Leben zwischen unserem Volk und unseren Freunden wiederherstellen wird, ist Gerechtigkeit und Schutz für den Rest unserer Gemeinschaft.

 

Wir begehen dieser Tage den 70. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die auf die Verhinderung von Völkermorden abzielt und die Verfolgung der Täter verlangt. Meine Gemeinschaft ist seit über vier Jahren einem Völkermord ausgesetzt. Die internationale Gemeinschaft hat nichts unternommen, um das zu verhindern oder dem Einhalt zu gebieten. Sie hat die Täter nicht vor Gericht gestellt. Auch andere gefährdete Gemeinschaften waren unter den Augen der internationalen Gemeinschaft ethnischen Säuberungen, rassistischen Angriffen oder der versuchten Auslöschung ihrer Identität ausgesetzt.

 

Der Schutz der Jesiden und anderer gefährdeter Gemeinschaften in aller Welt liegt in der Verantwortung der internationalen Gemeinschaft und internationaler Institutionen, die für die Verteidigung der Menschenrechte, den Minderheitenschutz und den Schutz der Rechte von Frauen und Kindern zuständig sind, insbesondere in Konflikt- und Bürgerkriegsgebieten.

 

Ich hatte die Ehre, am Pariser Friedensforum teilzunehmen. Auf dieser Konferenz wurde des Endes des Ersten Weltkriegs vor hundert Jahren gedacht. Wie viele Völkermorde und Kriege aber hat es nicht seit jener Zeit gegeben? Die Opfer all dieser Kriege, zumal der Bürgerkriege, sind gar nicht zu zählen. Die Welt hat diese Kriege verurteilt und diese Völkermorde anerkannt. Es gelang ihr jedoch nicht, Kriegshandlungen ein Ende zu setzen und zu verhindern, dass sie sich wiederholen.

 

Es stimmt, dass es in der Welt zahlreiche Konflikte und Probleme gibt, aber es gibt auch viele Initiativen zur Unterstützung der Opfer, und enorme Anstrengungen werden unternommen, um für Gerechtigkeit zu sorgen.

 

So wäre auch ich ohne die Initiative und die Unterstützung der baden-württembergischen Landesregierung und namentlich von Herrn Kretschmann heute nicht in der Lage, meine Freiheit zu genießen, die Verbrechen des »Islamischen Staats« anzuprangern und über das Leiden der Jesiden zu berichten. Meiner Meinung nach verdienen alle Opfer eine sichere Zuflucht, bis ihnen Gerechtigkeit widerfahren ist.

 

Bildung spielt eine wesentliche Rolle bei der Weiterentwicklung zivilisierter Gesellschaften, die an Toleranz und Frieden glauben. Deshalb müssen wir in unsere Kinder investieren, denn ein Kind gleicht einem unbeschriebenen Blatt, und statt Hass und Sektierertum kann man ihm Toleranz und friedliche Koexistenz vermitteln. Auch Frauen kommt bei der Lösung vieler Probleme eine Schlüsselrolle zu, und sie müssen an der Schaffung eines dauerhaften Friedens zwischen den Gemeinschaften beteiligt sein. Mit der Stimme und der Beteiligung von Frauen können wir in unseren Gemeinschaften grundlegende Veränderungen bewirken.

 

Ich bin stolz auf die Jesiden, stolz auf ihre Kraft und Geduld. Unsere Gemeinschaft wurde viele Male ins Visier genommen und in ihrem Fortbestand bedroht, aber wir kämpfen weiterhin für unser Existenzrecht. Die Gemeinschaft der Jesiden verkörpert Frieden und Toleranz und sollte damit als beispielhaft für die Welt angesehen werden.

 

Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um mich bei denjenigen zu bedanken, die meine Botschaft vom ersten Tag an verteidigt und in die Welt hinausgetragen haben, insbesondere bei meinem Team, das mir tagein, tagaus zur Seite steht.

 

Ich danke allen Regierungen, die den Völkermord an den Jesiden anerkannt haben, und den Regierungen, die gefährdeten Gemeinschaften beigestanden haben. Vielen Dank an Kanada und Australien für die Aufnahme von Opfern des Völkermords an den Jesiden. Ich danke Frankreich und Präsident Macron für die humanitäre Unterstützung unserer Sache. Mein Dank gilt auch der Bevölkerung von Irakisch-Kurdistan für ihre Unterstützung der Binnenvertriebenen in den vergangenen vier Jahren. Ich danke dem Emir von Kuwait und der norwegischen Regierung für die Organisation der Konferenz für den Wiederaufbau des Irak. Ich danke meiner Freundin Amal Clooney und ihrem Team für ihre enormen Anstrengungen, den »Islamischen Staat« zur Rechenschaft zu ziehen. Ich danke Griechenland für die uneingeschränkte Unterstützung der Flüchtlinge.

 

Lasst uns alle zusammenkommen, um Ungerechtigkeit und Unterdrückung zu bekämpfen; lasst uns gemeinsam unsere Stimmen erheben und sagen: Nein zur Gewalt, ja zum Frieden, nein zur Sklaverei, ja zur Freiheit, nein zur Rassendiskriminierung, ja zur Gleichheit und zu Menschenrechten für alle.

 

Nein zur Ausbeutung von Frauen und Kindern, ja zur Gewährleistung eines menschenwürdigen und unabhängigen Lebens für sie alle, nein zur Straffreiheit für die Täter, ja zu ihrer Strafverfolgung und zur Übung von Gerechtigkeit.

 

Vielen Dank für Ihre Gastfreundschaft und Ihre freundliche Aufmerksamkeit. Mögen Sie alle in dauerhaftem Frieden leben.

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Vorwort von Amal Clooney

Nadia Murad ist nicht nur meine Mandantin, sie ist auch meine Freundin. Als wir einander in London vorgestellt wurden, fragte sie mich, ob ich nicht ihre Anwältin sein wolle. Geld könne sie allerdings nicht aufbringen, erklärte sie, und wahrscheinlich werde der Fall langwierig und nicht von Erfolg gekrönt sein. Aber bevor du dich entscheidest, sagte sie, hör dir meine Geschichte an.

 

Im Jahr 2014 griff der »Islamische Staat« Nadias Dorf im Irak an und zerstörte das Leben der einundzwanzigjährigen Schülerin. Sie musste mit ansehen, wie ihre Mutter und ihre Brüder weggebracht wurden, um später getötet zu werden. Nadia selbst wurde von einem Kämpfer des »Islamischen Staats« zum nächsten weitergereicht. Man zwang sie zu beten; man zwang sie, sich vor den Vergewaltigungen schön anzuziehen und zu schminken; und eines Nachts wurde sie von einer ganzen Gruppe von Männern brutal missbraucht, bis sie das Bewusstsein verlor. Sie zeigte mir die Narben von brennenden Zigaretten und von Schlägen. Und sie erzählte mir, dass die Kämpfer des »Islamischen Staats« sie während ihres Martyriums immer wieder als »dreckige Ungläubige« beschimpften und damit prahlten, dass sie die jesidischen Frauen unterworfen hatten und das Jesidentum vollständig auslöschen würden.

Nadia gehörte zu den Tausenden Mädchen und Frauen, die der »Islamische Staat« verschleppte, um sie auf Märkten und über Facebook zu verkaufen, oft für nicht mehr als zwanzig US-Dollar. Nadias Mutter wurde zusammen mit achtzig anderen älteren Frauen hingerichtet und in einem Massengrab verscharrt. Sechs ihrer Brüder gehörten zu den Hunderten von Männern, die an einem einzigen Tag ermordet wurden.

Es war Völkermord, was Nadia da schilderte. Und Völkermord ereignet sich nicht zufällig. Er setzt Planung voraus. Bevor der Völkermord begann, befasste sich die »Forschungs- und Fatwa-Abteilung« des »Islamischen Staats« mit den Jesiden und kam zu dem Schluss, dass es sich bei dieser Kurdisch sprechenden Gemeinschaft, die keine Heilige Schrift besitzt, um Ungläubige handelte, deren Versklavung mit der Scharia vereinbar sei. Deshalb ist es nach den verqueren Moralvorstellungen des »Islamischen Staats« zulässig, Jesidinnen – anders als Christinnen, Schiitinnen und andere – systematisch zu vergewaltigen. Dies sollte tatsächlich zu einer der wirksamsten Methoden ihrer Vernichtung werden.

Was folgte, war ein groß angelegtes System des Bösen. Der »Islamische Staat« veröffentlichte eine Art Leitfaden mit dem Titel Fragen und Antworten zur Gefangennahme und Versklavung. »Frage: Ist es erlaubt, mit einer Sklavin, die noch nicht in der Pubertät ist, Geschlechtsverkehr zu haben? Antwort: Es ist erlaubt, mit einer Sklavin, die die Pubertät noch nicht erreicht hat, Geschlechtsverkehr zu haben, wenn sie körperlich dazu in der Lage ist. Frage: Ist es erlaubt, eine weibliche Gefangene zu verkaufen? Antwort: Es ist erlaubt, weibliche Gefangene und Sklavinnen zu kaufen, zu verkaufen oder zu verschenken, denn sie sind weiter nichts als Besitzstücke.«

 

Als Nadia mir in London ihre Geschichte erzählte, war es schon fast zwei Jahre her, dass der Völkermord an den Jesiden durch den »Islamischen Staat« begonnen hatte. Tausende jesidische Frauen und Kinder wurden immer noch gefangen gehalten, und doch war weltweit bisher kein einziges Mitglied des »Islamischen Staats« wegen dieser Verbrechen vor Gericht angeklagt worden. Beweise gingen verloren oder wurden zerstört. Und die Aussicht auf Gerechtigkeit war düster.

Selbstverständlich übernahm ich den Fall. Nadia und ich engagierten uns über ein Jahr lang gemeinsam für dieses Anliegen. Wiederholt trafen wir uns mit Vertretern der irakischen Regierung und der Vereinten Nationen, mit Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats und anderen Opfern des »Islamischen Staats«. Ich verfasste Berichte, Vorlagen und juristische Analysen und appellierte in zahlreichen Reden an die Vereinten Nationen, sich einzuschalten. Die meisten unserer Gesprächspartner sagten uns, es sei aussichtslos: Der Sicherheitsrat habe schon seit Jahren nicht mehr in internationalen Rechtsfragen interveniert.

Doch jetzt, während ich dieses Vorwort schreibe, hat der UN-Sicherheitsrat eine richtungsweisende Resolution verabschiedet, mit der eine Ermittlungsgruppe eingesetzt wird, die Beweise für die vom »Islamischen Staat« im Irak begangenen Verbrechen zusammentragen soll. Dies ist ein großer Sieg für Nadia und die anderen Opfer, denn es bedeutet, dass Beweismaterial gesichert und einzelne Mitglieder des »Islamischen Staats« vor Gericht gestellt werden können. Ich saß neben Nadia im Sicherheitsrat, als die Resolution einstimmig angenommen wurde. Als sich alle fünfzehn Hände hoben, haben Nadia und ich uns angesehen und gelächelt.

 

Meine Aufgabe als Menschenrechtsanwältin ist es oft, denen eine Stimme zu geben, die zum Schweigen gebracht wurden: dem Journalisten hinter Gittern oder den Opfern von Kriegsverbrechen, die dafür kämpfen, bei Gericht Gehör zu finden. Es besteht kein Zweifel, dass der »Islamische Staat« versucht hat, Nadia zum Schweigen zu bringen, als er sie verschleppte und versklavte, vergewaltigte und folterte und an einem einzigen Tag sieben Mitglieder ihrer Familie tötete.

Aber Nadia ließ sich nicht zum Schweigen bringen. Sie hat sich in keine der Rollen zwingen lassen, die ihr das Leben zugedacht hat: Waise. Vergewaltigungsopfer. Sklavin. Flüchtling. Stattdessen hat sie sich neue gesucht: Überlebende. Anführerin der Jesiden. Anwältin der Frauen. Anwärterin auf den Friedensnobelpreis. Sonderbotschafterin der Vereinten Nationen. Und nun auch Autorin.

Seit ich sie kenne, hat Nadia nicht nur ihre eigene Stimme gefunden, sondern ist zur Stimme aller Jesiden geworden, die Opfer des Völkermords wurden, aller Frauen, die missbraucht wurden, und aller Flüchtlinge, die zurückgelassen wurden.

Diejenigen, die glaubten, sie durch Grausamkeit zum Schweigen bringen zu können, haben sich gründlich getäuscht. Nadia Murads Kampfgeist ist ungebrochen, und ihre Stimme wird nicht verstummen. Ganz im Gegenteil – mit diesem Buch wird sie in aller Welt zu hören sein.

 

Amal Clooney

Rechtsanwältin

September 2017

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Teil I

1

Im Frühsommer 2014, als ich mich gerade auf mein letztes Schuljahr vorbereitete, verschwanden außerhalb von Kocho, dem kleinen jesidischen Dorf im Nordirak, in dem ich geboren wurde und das ich bis vor Kurzem noch für den Ort hielt, an dem ich auch den Rest meines Lebens verbringen würde, zwei Bauern von ihren Feldern. Die beiden Männer, die sich eben noch friedlich im Schatten improvisierter Planen ausgeruht hatten, fanden sich von einem Moment auf den anderen als Gefangene in einem kleinen Raum in einem der Nachbardörfer wieder, wo hauptsächlich sunnitische Araber lebten. Außer den beiden Bauern hatten die Entführer auch eine Henne und eine Handvoll ihrer Küken mitgenommen, was uns verblüffte. »Vielleicht hatten sie einfach Hunger«, sagten wir uns, auch wenn dieser Gedanke nicht direkt dazu beitrug, uns zu beruhigen.

Kocho ist Zeit meines Lebens ein jesidisches Dorf gewesen, gegründet von nomadischen Bauern und Schafhirten, die in dieser einsamen Gegend eine Siedlung errichteten, um ihre Frauen vor der wüstenartigen Hitze zu schützen, während sie mit ihren Schafen zu besseren Weidegründen zogen. Sie wählten einen Landstrich, der sich gut für die Bewirtschaftung eignete, aber riskant gelegen war – am südlichen Rand des Sindschar-Distrikts, in dem die meisten der irakischen Jesiden lebten, sehr nah am nicht-jesidischen Teil des Irak. Als Mitte der Fünfzigerjahre die ersten jesidischen Familien dort eintrafen, wurde Kocho noch von sunnitischen Arabern bewohnt, die für Großgrundbesitzer in Mossul arbeiteten. Die jesidischen Familien hatten jedoch einen Anwalt engagiert, um das Land zu kaufen – dieser Mann, selbst Muslim, wird heute noch als Held gepriesen –, und als ich auf die Welt kam, war Kocho bereits auf etwa zweihundert Familien angewachsen, alle Jesiden und so eng miteinander verbunden wie eine einzige große Familie, und das waren wir auch beinahe.

Das Land, das uns zu etwas Besonderem machte, machte uns zugleich auch verwundbar. Wir Jesiden werden seit Jahrhunderten unseres Glaubens wegen verfolgt, und verglichen mit den meisten anderen jesidischen Dörfern und Städten liegt Kocho weit entfernt vom Dschabal Sindschar, dem schmalen Höhenzug, der uns seit Generationen Zuflucht geboten hat. Lange waren wir ein Spielball im Machtkampf zwischen den sunnitischen Arabern und sunnitischen Kurden im Irak; beide gegnerischen Kräfte verlangten von uns, dass wir unser jesidisches Erbe verleugnen und uns der kurdischen oder arabischen Kultur anpassen sollten. Bis 2013, als die Straße von Kocho ins Gebirge endlich befestigt wurde, brauchten wir mit unserem weißen Datsun-Pick-up für die Fahrt über sandige Pisten und durch die Stadt Sindschar fast eine Stunde bis dorthin. Der Ort, an dem ich aufgewachsen bin, lag deshalb näher an Syrien als an unseren heiligsten Tempeln, näher an der Fremde als an den sicheren Bergen.

Eine Fahrt in Richtung Gebirge war immer ein schönes Erlebnis. In Sindschar gab es Süßigkeiten und besondere Lammsandwiches, die man in Kocho nicht bekam, und mein Vater hielt fast immer dort an, damit wir uns kaufen konnten, was wir gerne haben wollten. Unser Pick-up wirbelte beim Fahren jede Menge Staub auf, aber trotzdem fuhr ich lieber hinten mit, an der frischen Luft, legte mich, bis wir aus dem Dorf heraus waren, flach auf die Ladefläche des Wagens, um vor den neugierigen Blicken unserer Nachbarn geschützt zu sein, und hob dann den Kopf, um den Wind in den Haaren zu spüren und das weidende Vieh zu betrachten, an dem wir vorbeirauschten. Schnell vergaß ich alles um mich herum und richtete mich immer weiter auf, bis mein Vater oder mein ältester Bruder Elias mir zubrüllten, ich solle aufpassen, sonst würde ich von der Pritsche fliegen.

In der Gegenrichtung, fort von jenen Lammsandwiches und dem schützenden Gebirge, lag der restliche Irak. In Friedenszeiten brauchte ein jesidischer Händler, wenn er es nicht eilig hatte, vielleicht eine Viertelstunde für die Fahrt von Kocho bis ins nächstgelegene sunnitische Dorf, um dort sein Getreide oder seine Milch zu verkaufen. Wir hatten Freunde in diesen Dörfern – Mädchen, die ich auf Hochzeiten traf, Lehrer, die während des Schulhalbjahrs in der Schule von Kocho übernachteten, Männer, die wir einluden, unsere neugeborenen Jungen bei der rituellen Beschneidung zu halten, und die der betreffenden jesidischen Familie danach als kiriv verbunden blieben, das ist eine Art Patenonkel. Muslimische Ärzte kamen nach Kocho oder Sindschar, um uns zu behandeln, wenn wir krank waren, und muslimische Händler machten bei uns halt und verkauften Kleider und Süßigkeiten, Dinge, die es in den wenigen Läden von Kocho, die größtenteils Waren des täglichen Bedarfs führten, nicht gab. Meine heranwachsenden Brüder fuhren oft in nicht-jesidische Dörfer, um sich dort mit Gelegenheitsjobs ein bisschen Taschengeld zu verdienen. Die Beziehungen waren durch Jahrhunderte des Misstrauens belastet – es fiel schwer, darüber hinwegzusehen, wenn ein muslimischer Hochzeitsgast unser Essen ablehnte, auch wenn dies noch so höflich geschah –, aber dennoch gab es aufrichtige Freundschaften. Diese Verbindungen gingen etliche Generationen zurück, hatten die osmanische Herrschaft, die britische Kolonisation, Saddam Hussein und die Zeit der amerikanischen Besatzung überdauert. In Kocho waren wir besonders bekannt für unsere engen Beziehungen zu den Bewohnern sunnitischer Dörfer.

Doch wenn im Irak gekämpft wurde – und im Irak schien ständig gekämpft zu werden –, wirkten diese Dörfer auf uns, ihren kleinen jesidischen Nachbarort, bedrohlich, und alte Vorurteile verwandelten sich schnell in Hass. Dieser Hass führte nicht selten zu Gewalt. Seit mindestens zehn Jahren, seit die Iraker in einen Krieg gestürzt worden waren, der 2003 mit dem Einmarsch der Amerikaner begann, sich dann zu noch brutaleren lokalen Auseinandersetzungen steigerte und schließlich in umfassenden Terrorismus überging, war die Entfremdung zwischen uns und diesen Nachbardörfern enorm angewachsen. Ihre Bewohner begannen, Extremisten Unterschlupf zu gewähren, die Christen und nicht-sunnitische Muslime kategorisch ablehnten und, schlimmer noch, uns Jesiden als kuffār ansahen, als Ungläubige, die den Tod verdienten. 2007 fuhren einige dieser Extremisten mit einem Tankfahrzeug und drei Wagen in das belebte Zentrum von zwei gut sechzehn Kilometer nordwestlich von Kocho gelegenen jesidischen Ortschaften, sprengten dort jeweils ihre Wagen in die Luft und töteten damit viele Hundert Menschen, die ihnen entgegengelaufen kamen in der Annahme, sie hätten Waren gebracht, die auf dem Markt verkauft werden sollten.

Das Jesidentum ist eine uralte monotheistische Religion, tradiert durch mündliche Überlieferungen heiliger Männer. Obwohl sie durchaus Gemeinsamkeiten mit den zahlreichen anderen Religionen im Nahen Osten aufweist, vom Mithraismus und Zoroastrismus bis hin zum Islam und Judentum, ist sie doch einzigartig und manchmal selbst für die heiligen Männer, die unsere erinnerten Glaubenslehren und Brauchtümer bewahren, schwer zu erklären. Ich stelle mir meine Religion als einen uralten Baum vor, mit Tausenden von Jahresringen, von denen jeder eine Geschichte aus der langen Tradition der Jesiden zu erzählen hat. Leider nehmen viele dieser Geschichten einen tragischen Verlauf.

Heute gibt es weltweit nur etwa eine Million Jesiden. Zeit meines Lebens – und auch schon lange vor meiner Geburt, das weiß ich – war und ist es diese Religion, die unsere Identität bestimmt und uns als Gemeinschaft zusammenschweißt. Sie hat uns aber auch zum Ziel der Verfolgung durch größere Gruppen gemacht, von den Osmanen bis zu Saddams Baathisten, die uns attackierten oder uns zwingen wollten, uns ihnen zu unterwerfen. Sie beleidigten unsere Religion, bezeichneten uns als Teufelsanbeter oder Unreine und verlangten, dass wir unserem Glauben abschwören sollten. Jesiden überlebten über Generationen hinweg immer wieder solche Angriffe, mit denen man uns auslöschen wollte, indem man uns entweder tötete, uns zum Konvertieren zwang oder uns einfach von unserem Land vertrieb und uns alles nahm, was wir besaßen. Bis 2014 hatten dreiundsiebzigmal Kräfte von außen versucht, uns zu vernichten. Früher nannten wir diese Anschläge auf Jesiden Fermane, ein osmanischer Begriff – das war, bevor wir das Wort »Genozid« lernten.

Auch deshalb brach, als wir von den Lösegeldforderungen für die beiden entführten Bauern erfuhren, im ganzen Dorf Panik aus. »Vierzigtausend US-Dollar«, verlangten die Entführer am Telefon von den Frauen der Bauern. »Oder ihr kommt mit euren Kindern her, und die ganze Familie konvertiert zum Islam.« Andernfalls, sagten sie, würden sie die Männer töten. Das Geld war nicht der Grund, weshalb die Frauen vor Ahmed Jasso, unserem Mukhtar oder Dorfältesten, weinend zusammenbrachen; vierzigtausend US-Dollar waren zwar eine absurd hohe Summe, aber letztlich war es nur Geld. Doch wir alle wussten, dass die Bauern lieber sterben als konvertieren würden, und daher vergossen die Dorfbewohner Tränen der Erleichterung, als die Männer eines Nachts durch ein zerbrochenes Fenster entkommen konnten, durch die Gerstenfelder flohen und lebend bei ihren Familien eintrafen, bis zu den Knien mit Schmutz bedeckt und atemlos vor Angst. Doch die Entführungen hörten nicht auf.

Bald darauf wurde Dishan, ein Angestellter meiner Familie, der Tahas, von einer Weide in der Nähe des Sindschar-Gebirges verschleppt, wo er unsere Schafe hütete. Meine Mutter und meine Brüder hatten Jahre darauf verwandt, diese Schafe zu kaufen und zu vermehren, und jedes einzelne davon war wie eine Trophäe. Wir waren stolz auf unsere Schafe, hielten sie, wenn sie nicht gerade außerhalb des Dorfes weideten, im Innenhof unseres Hauses und behandelten sie fast wie Haustiere. Die jährliche Schafschur war ein regelrechtes Fest. Ich liebte dieses Ritual, den Anblick der weichen Wolle, die in wolkig-flockigen Haufen zu Boden fiel, den Moschusgeruch, der sich im Haus verbreitete, das ruhige, hinnehmende Blöken der Tiere. Zu gern schlief ich unter den dicken Bettdecken, die meine Mutter Shami aus der Wolle machte, indem sie farbenprächtige Stoffbahnen damit füllte. Manchmal hing ich so sehr an einem der Lämmer, dass ich es nicht im Haus aushielt, wenn es geschlachtet wurde. Zu der Zeit, als Dishan verschleppt wurde, besaßen wir über einhundert Schafe – für unsere Verhältnisse ein kleines Vermögen.

Meinem Bruder Saeed fielen die Henne und die Küken ein, die zusammen mit den beiden Bauern verschwunden waren, und er raste in unserem Lieferwagen zum Fuße des Sindschar-Gebirges – seit die Straße befestigt war, eine Fahrt von etwa zwanzig Minuten –, um nach unseren Schafen zu sehen. »Sie haben sie bestimmt mitgenommen«, jammerten wir. »Diese Schafe sind alles, was wir haben.«

Als Saeed später meine Mutter anrief, klang er verwirrt. »Nur zwei Tiere fehlen«, berichtete er – ein alter, gebrechlicher Bock und ein junges Lamm. Die übrige Herde grase zufrieden auf dem braun-grünen Weideland und würde ihm nach Hause folgen. Wir lachten, so erleichtert waren wir. Elias aber, mein ältester Bruder, machte sich Sorgen. »Ich verstehe das nicht«, sagte er. »Diese Dörfler sind nicht reich. Warum haben sie die Schafe dagelassen?« Er glaubte, das müsse etwas zu bedeuten haben.

Am Tag nachdem Dishan verschleppt worden war, herrschte Aufruhr in Kocho. Die Dorfbewohner hockten vor ihren Häusern und hielten ebenso wie die Männer, die abwechselnd einen neuen Checkpoint vor den Dorfmauern besetzten, Ausschau nach unbekannten Fahrzeugen, die durch Kocho fuhren. Hezni, ein weiterer Bruder von mir, kam von seiner Arbeit als Polizist in Sindschar heim und schloss sich den anderen Männern aus dem Dorf an, die lautstark darüber diskutierten, was zu tun sei. Dishans Onkel war auf Vergeltung aus und beschloss, mit einer Gruppe von Männern ein Dorf östlich von Kocho heimzusuchen, das von einem konservativen sunnitischen Stamm beherrscht wurde. »Wir greifen uns zwei von ihren Schafhirten«, erklärte er wütend. »Dann müssen sie uns Dishan zurückgeben!«

Es war ein riskanter Plan, und nicht alle unterstützten das Vorhaben von Dishans Onkel. Selbst meine Brüder, die alle die Tapferkeit und Kampfbereitschaft unseres Vaters geerbt hatten, waren geteilter Meinung darüber, wie wir uns verhalten sollten. Saeed, der nur ein paar Jahre älter war als ich, verbrachte viel Zeit damit, sich den Tag auszumalen, an dem er sich endlich als Held beweisen würde. Er war für den Racheplan, während Hezni, über ein Jahrzehnt älter und der Einfühlsamste von uns allen, ihn als zu gefährlich fand. Trotzdem zog Dishans Onkel mit allen Freiwilligen, die er auftreiben konnte, los, schnappte sich zwei sunnitische Araber aus dem Stamm, die gerade Schafe hüteten, brachte sie nach Kocho, sperrte sie in seinem Haus ein und wartete dann ab, was geschehen würde.

* * *

Ein Streit im Dorf wurde meist von Ahmed Jasso geschlichtet, unserem pragmatisch und diplomatisch gesinnten Mukhtar, und der war auf Heznis Seite. »Unser Verhältnis zu den sunnitischen Nachbarn ist ohnehin schon gespannt«, sagte er. »Wer weiß, was sie machen werden, wenn wir ihnen den Kampf ansagen.« Außerdem, mahnte er, sei die Lage außerhalb von Kocho noch wesentlich schlimmer und komplizierter, als wir uns das vorstellten. Das stimmte. Eine Gruppe, die sich »Islamischer Staat« nannte und größtenteils hier im Irak entstanden und im Laufe der letzten Jahre drüben in Syrien immer größer geworden war, hatte Dörfer eingenommen, die so nah an unserem lagen, dass wir die schwarz verhüllten Gestalten auf ihren Lastwagen zählen konnten, wenn sie vorüberfuhren. Sie seien es, die unseren Hirten gefangen hielten, meinte unser Mukhtar. »Ihr macht alles nur noch schlimmer«, sagte Ahmed Jasso zu Dishans Onkel, und kaum einen halben Tag nachdem man die beiden sunnitischen Hirten entführt hatte, waren sie schon wieder auf freiem Fuß. Dishan jedoch blieb in Gefangenschaft.

Ahmed Jasso war ein kluger Mann, zudem besaß die Familie Jasso jahrzehntelange Erfahrung im Verhandeln mit den sunnitischen Arabern. Jeder aus dem Dorf wandte sich mit seinen Problemen an sie, und auch außerhalb von Kocho waren Ahmed und seine Familie für ihr diplomatisches Geschick bekannt. Trotzdem fragten sich jetzt einige von uns, ob Ahmed sich dieses Mal nicht allzu entgegenkommend verhielt und den Terroristen damit zu verstehen gab, dass die Jesiden sich nicht wehren würden. Die Lage war die, dass zwischen uns und dem »Islamischen Staat« nur noch die kurdischen Streitkräfte standen, die Peschmerga, die aus der Autonomen Region Kurdistan zur Bewachung von Kocho entsandt worden waren, nachdem Mossul zwei Monate zuvor beinahe gefallen war. Wir behandelten die Peschmerga-Soldaten wie Ehrengäste. Sie schliefen auf Pritschen in unserer Schule, und jede Woche schlachtete eine unserer Familien ein Lamm für sie, was für die armen Dorfbewohner ein großes Opfer bedeutete. Auch ich schaute zu diesen Kämpfern auf. Ich hatte von Kurdinnen aus Syrien und der Türkei gehört, die Waffen trugen und Terroristen bekämpften, und allein beim Gedanken daran fühlte ich mich tapfer und mutig.

Manche Leute, darunter auch einige meiner Brüder, waren der Meinung, man sollte uns gestatten, uns selbst zu verteidigen. Sie wollten die Checkpoints besetzen, und Ahmed Jassos Bruder Naif versuchte, die kurdischen Behörden zu überzeugen, ihn bei der Bildung einer jesidischen Peschmerga-Einheit zu unterstützen, fand damit aber kein Gehör. Niemand bot an, die jesidischen Männer auszubilden oder sie zu ermutigen, sich dem Kampf gegen die Terroristen anzuschließen. Die Peschmerga versicherten uns, solange sie da seien, hätten wir nichts zu befürchten, und sie würden die Jesiden genauso entschlossen verteidigen wie die Hauptstadt des irakischen Kurdistan. »Eher würden wir Erbil aufgeben als Sindschar«, sagten sie. Man riet uns, ihnen zu vertrauen, und das taten wir.

Dennoch hatten die meisten Familien in Kocho Waffen im Haus – schwere Kalaschnikows und ein oder zwei große Messer, mit denen sonst an Feiertagen geschlachtet wurde. Viele jesidische Männer, darunter auch diejenigen meiner Brüder, die alt genug dafür waren, hatten nach 2003, als solche Jobs angeboten wurden, Arbeit beim Grenzschutz oder der Polizei angenommen. Wir waren überzeugt, dass unsere Männer, solange diese Profis Kocho bewachten, in der Lage sein würden, ihre Familien zu beschützen. Immerhin waren nicht die Peschmerga, sondern sie es gewesen, die nach den Angriffen von 2007 mit bloßen Händen einen schützenden Erdwall um unser Dorf errichtet hatten. Und es waren auch Männer aus Kocho gewesen, die diesen Wall ein ganzes Jahr lang Tag und Nacht bewacht, an provisorischen Checkpoints Autos überprüft und allgemein nach Fremden Ausschau gehalten hatten, bis wir uns wieder sicher genug fühlten, um zu einem normalen Leben zurückzukehren.

Dishans Entführung versetzte uns alle in Schrecken. Doch die Truppen der Peschmerga taten nichts, um uns zu helfen. Für sie war das vielleicht nur ein unbedeutender Streit zwischen zwei Dörfern und nicht der Grund, weshalb Masud Barzani, Präsident der Autonomen Region Kurdistan, sie aus der sicheren kurdischen Heimat in die ungeschützten Gebiete des Irak entsandt hatte. Vielleicht hatten sie auch genauso große Angst wie wir. Einige der Soldaten sahen nicht viel älter aus als Saeed, der jüngste Sohn meiner Mutter. Doch der Krieg verändert die Menschen, vor allem die Männer. Es war noch gar nicht so lange her, dass Saeed mit unserer Nichte Kathrine und mir in unserem Hof gespielt hatte und noch zu jung gewesen war, um zu wissen, dass Jungen sich eigentlich nicht für Puppen interessieren sollten. In letzter Zeit hingegen war Saeed geradezu besessen von der Gewalt, die den Irak und Syrien erschütterte. An einem der Tage hatte ich ihn dabei erwischt, wie er sich auf seinem Handy Videos von Enthauptungen des »Islamischen Staats« anschaute; die Bilder wackelten in seiner zitternden Hand, und ich war erstaunt, als er das Mobiltelefon so hielt, dass ich sie auch sehen konnte. Als unser älterer Bruder Massoud ins Zimmer kam, wurde er sehr wütend. »Wie kannst du zulassen, dass Nadia das sieht!«, schrie er Saeed an, der sich erschrocken duckte. Es tat ihm leid, aber ich konnte ihn verstehen. Es war nicht leicht, sich von den grausigen Szenen abzuwenden, die sich ganz in der Nähe unseres Heimatdorfes abspielten.

Die Videos kamen mir unwillkürlich wieder in den Sinn, wenn ich an unseren armen verschleppten Schafhirten dachte. Wenn uns die Peschmerga nicht helfen, Dishan zurückzuholen, muss ich selbst etwas unternehmen, dachte ich und lief ins Haus. Ich war das Nesthäkchen der Familie, das jüngste von elf Kindern und ein Mädchen. Dennoch sagte ich meist unverblümt meine Meinung und war daran gewöhnt, Gehör zu finden, und jetzt fühlte ich mich riesengroß in meiner Wut.

Unser Haus lag am nördlichen Dorfrand, eine einstöckige Reihe von Zimmern aus Lehmziegeln, die sich wie Perlen einer Kette aneinanderreihten und mit türlosen Durchgängen verbunden waren, die alle auf einen großen Innenhof mit Sandboden führten, in dem es einen Gemüsegarten und einen Tandur-Ofen zum Brotbacken gab und der oft auch von Schafen und Hühnern bevölkert wurde. Dort wohnte ich mit meiner Mutter, mit sechs meiner acht Brüder und meinen beiden Schwestern sowie zwei Schwägerinnen und deren Kindern, in Fußnähe zu meinen anderen Brüdern, Halbbrüdern und Halbschwestern und den meisten meiner Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen. Im Winter regnete es durchs Dach, und im irakischen Sommer herrschte im Haus manchmal eine solche Gluthitze, dass wir die Treppe zum Dach hinaufstiegen und uns dort oben schlafen legten. Wenn ein Teil des Dachs nachgab oder einstürzte, flickten wir es mit Metallteilen, die wir aus dem Schrott in Massouds Werkstatt heraussuchten, und wenn wir mehr Platz brauchten, bauten wir weitere Zimmer an. Wir sparten Geld für den Bau eines neuen Hauses, eines dauerhafteren aus Betonblöcken, und kamen diesem Traum jeden Tag ein Stückchen näher.

Ich lief durch die Vordertür ins Haus und in ein Zimmer, das ich mir mit den anderen Mädchen teilte und in dem es einen Spiegel gab. Ich wickelte mir ein helles Tuch um den Kopf, das ich sonst immer trug, wenn ich gebückt in den Gemüsebeeten stand, damit mir das Haar bei der Arbeit nicht in die Augen fiel, und versuchte mir vorzustellen, was ein Kämpfer wohl tat, um sich auf die Schlacht vorzubereiten. Durch die jahrelange Arbeit im Garten und auf den Feldern war ich stärker, als man es mir ansah. Dennoch hatte ich keine Ahnung, was ich tun sollte, wenn ich die Entführer oder Leute aus deren Dorf durch Kocho fahren sah. Was sollte ich ihnen an den Kopf werfen? »Terroristen haben unseren Schafhirten entführt und in euer Dorf gebracht«, übte ich vor dem Spiegel und setzte eine wütende Miene auf. »Ihr hättet sie aufhalten müssen. Sagt uns wenigstens, wo sie ihn hingebracht haben.« Aus einer Ecke im Hof nahm ich mir einen Holzstock, wie ihn die Hirten benutzen, und lief damit wieder zur Haustür, wo einige meiner Brüder gerade in ein Gespräch mit meiner Mutter vertieft waren. Sie bemerkten kaum, dass ich mich zu ihnen gesellte.

Ein paar Minuten später kam ein weißer Pick-up aus dem Dorf der Entführer die Hauptstraße herunter. Zwei Männer saßen vorne drin, zwei weitere auf der Ladefläche. Es waren Araber, die mir irgendwie bekannt vorkamen, aus dem sunnitischen Stamm, von dem Dishan gekidnappt worden war. Wir sahen zu, wie der Wagen die unbefestigte Straße, die sich durchs Dorf schlängelte, hinabfuhr – ganz langsam, als hätten die Insassen nicht die geringste Angst. Sie hatten keinen Grund, durch Kocho zu fahren, denn die Straßen nach Sindschar und Mossul verliefen außerhalb des Dorfes, und ihre Anwesenheit wirkte wie eine bewusste Provokation. Ich löste mich von meiner Familie, lief mitten auf die Straße und stellte mich dem Wagen in den Weg. »Halt!«, schrie ich und schwenkte den Stock über meinem Kopf, um größer zu wirken. »Sagt uns, wo Dishan ist!«

Meine halbe Familie musste eingreifen, um mich zu bändigen. »Was hast du dir nur dabei gedacht?«, schimpfte Elias. »Wolltest du sie etwa angreifen? Ihnen die Windschutzscheibe einschlagen?« Er und ein paar meiner anderen Geschwister waren gerade von der Feldarbeit heimgekommen, sie waren erschöpft und rochen nach den Zwiebeln, die sie geerntet hatten. Für sie war mein Versuch, Dishan zu rächen, nichts weiter als ein kindischer Wutausbruch. Auch meine Mutter war außer sich, dass ich auf die Straße gelaufen war. Unter normalen Umständen ließ sie mich gewähren, zeigte sich von meinen Temperamentsausbrüchen sogar belustigt, doch in jenen Tagen waren bei allen die Nerven bis zum Äußersten gespannt. Es schien gefährlich zu sein, wenn man die Aufmerksamkeit auf sich zog, besonders als junge, unverheiratete Frau. »Komm rein und setz dich hin«, sagte sie streng. »Du solltest dich schämen, so etwas zu tun, Nadia, das ziemt sich nicht. Das ist Sache der Männer.«

Das Leben ging weiter. Iraker – ganz besonders die Jesiden und andere Minderheiten – sind gut darin, sich an immer neue Bedrohungen anzupassen. Das muss man auch können, wenn man in einem Land, das jeden Augenblick auseinanderzufallen droht, ein halbwegs normales Leben führen will. Manchmal bestand die Anpassung nur in Kleinigkeiten. Wir schraubten unsere Ambitionen herunter – gaben etwa den Traum auf, die Schule zu beenden oder eines Tages einer anderen Tätigkeit als der strapaziösen Feldarbeit nachgehen zu können oder einfach wie geplant eine Hochzeit zu feiern –, und es fiel uns nicht schwer, uns einzureden, dass diese Träume von Anfang an unrealistisch gewesen waren. Manchmal fand die Anpassung schleichend statt, ohne dass es jemand überhaupt bemerkte. Wir sprachen nicht mehr mit den Muslimen in der Schule, oder wir zogen uns angstvoll ins Haus zurück, wenn Fremde durchs Dorf kamen. Wir sahen Nachrichten von Anschlägen im Fernsehen und machten uns mehr Gedanken über die Politik. Oder wir verdrängten alle politischen Fragen vollständig, weil wir das Gefühl hatten, es sei am sichersten, sich einfach still zu verhalten. Nach jedem dieser Anschläge erweiterten die Männer den Erdwall außerhalb von Kocho, zuerst im Westen, Richtung Syrien, bis wir eines Tages aufwachten und feststellten, dass wir nun gänzlich von ihm umgeben waren. Und weil wir uns immer noch nicht sicher fühlten, huben die Männer anschließend auch noch einen Graben um das Dorf herum aus.

Im Laufe vieler Generationen hatten wir uns an kleine leidvolle Erfahrungen und Ungerechtigkeiten gewöhnt, sodass es normal wurde, sie einfach hinzunehmen. Ich glaube, das ist der Grund, weshalb wir uns mit bestimmten Kränkungen – wenn jemand etwa unser Essen ablehnte –, auf die andere Leute, wenn sie so etwas zum ersten Mal erlebten, wahrscheinlich ganz und gar empört reagiert hätten, einfach abfanden. Sogar an drohende neue Fermane hatten sich die Jesiden gewöhnt, auch wenn diese Anpassung einer Verrenkung gleichkam. Sie tat weh.

Während Dishan noch immer gefangen war, kehrte ich mit meinen Geschwistern auf die Zwiebelfelder zurück. Dort war alles beim Alten. Das Gemüse, das wir Monate zuvor gepflanzt hatten, war inzwischen gewachsen; wenn wir es nicht ernteten, würde es niemand tun. Wenn wir die Zwiebeln nicht verkauften, hätten wir kein Geld. Also knieten wir alle in einer Reihe zwischen den grünen Sprossen und zogen die Knollen aus der Erde, immer mehrere auf einmal, und sammelten sie in gewebten Plastiksäcken, in denen wir sie lagern wollten, bis sie reif waren und es Zeit wurde, sie zum Markt zu bringen. »Ob wir sie dieses Jahr wohl in die muslimischen Dörfer bringen werden?«, fragten wir uns, wussten aber keine Antwort darauf. Wenn einer von uns eine matschig-schwarze, giftig stinkende verfaulte Zwiebel aus der Erde zog, stöhnten wir auf, hielten uns die Nase zu und machten weiter.

Weil wir es sonst auch immer taten, tratschten wir bei der Arbeit und zogen uns gegenseitig auf, erzählten Geschichten, die wir alle schon hundertmal gehört hatten. Meine Schwester Adkee, der Witzbold der Familie, erinnerte sich an die Szene, wie ich an jenem Tag, als der weiße Pick-up durch unser Dorf fuhr, versucht hatte, hinter dem Wagen herzurennen, ein dünnes Bauernmädchen, dem das Kopftuch in die Augen fiel und das einen Stock über dem Kopf schwang. Wir konnten uns vor Lachen kaum halten. Wir verwandelten die Arbeit in ein Spiel, wetteiferten darum, wer die meisten Zwiebeln pflücken konnte, genau wie wir einige Monate zuvor um die Wette die Samen gesetzt hatten. Als die Sonne langsam unterging, kehrten wir nach Hause zurück, aßen mit unserer Mutter im Hof zu Abend und lagen später Schulter an Schulter auf Matratzen auf dem Dach des Hauses, betrachteten den Mond und unterhielten uns flüsternd, bis die ganze Familie erschöpft einschlief und alles still wurde.

Warum die Entführer unsere Tiere – die Henne, die Küken und die beiden Schafe – gestohlen hatten, erfuhren wir erst knapp zwei Wochen später, nachdem der »Islamische Staat« Kocho und einen Großteil des Distrikts Sindschar eingenommen hatte. Einer der Kämpfer, der mitgeholfen hatte, die Bewohner von Kocho in der Dorfschule zusammenzutreiben, erklärte einigen Frauen aus dem Dorf, was es mit den Entführungen auf sich hatte. »Ihr sagt, wir wären aus dem Nichts gekommen, aber wir haben euch vorher Botschaften gesandt«, bemerkte er, während das Gewehr an seiner Seite baumelte. »Als wir die Henne und die Küken geholt haben, wollten wir euch damit sagen, dass wir eure Frauen und Kinder holen werden. Als wir den Schafbock holten, war das, als hätten wir eure Stammesführer geholt, und als wir den Bock töteten, bedeutete das, dass wir auch sie töten würden. Und das junge Lamm, das waren eure Mädchen.«

2

Meine Mutter liebte mich, aber eigentlich wollte sie mich nicht haben. Bevor ich gezeugt wurde, sparte sie, wo sie nur konnte, Geld, legte monatelang einen Dinar hier, einen Dinar dort zur Seite und hob nach jedem Marktbesuch kleine Wechselgeldbeträge oder den Erlös eines heimlich verkauften Kilos Tomaten auf, um dafür Verhütungsmittel bezahlen zu können, denn sie traute sich nicht, meinen Vater darum zu bitten. Bei Jesiden ist eine Heirat außerhalb der Glaubensgemeinschaft verpönt, und es werden auch keine Konvertiten aufgenommen, daher war eine große Familie der beste Weg, um sicherzustellen, dass unser Volk nicht vollständig ausstarb. Und je mehr Kinder man hatte, desto mehr Hilfe hatte man auch bei der Landarbeit. Meiner Mutter gelang es, drei Monate lang die Pille zu kaufen, dann ging ihr das Geld aus, und fast unmittelbar darauf wurde sie schwanger mit mir, ihrem elften und letzten Kind.

Sie war die zweite Ehefrau meines Vaters. Seine erste war jung gestorben und hatte ihm vier Kinder hinterlassen, die nun eine neue Mutter brauchten. Meine Mutter war wunderschön, die Tochter einer armen, tiefreligiösen Familie aus Kocho, und ihr Vater gab sie mit Freuden meinem Vater zur Frau. Mein Vater besaß bereits etwas Land und ein paar Tiere, und verglichen mit den anderen Einwohnern von Kocho war er gut situiert. Noch vor ihrem zwanzigsten Geburtstag, und ehe sie überhaupt Kochen gelernt hatte, wurde meine Mutter also Ehefrau und Stiefmutter von vier Kindern, und schon bald war sie selbst schwanger. Sie hat nie die Schule besucht und konnte weder lesen noch schreiben. Wie viele Jesiden, deren Muttersprache Kurdisch ist, sprach sie nur wenig Arabisch und vermochte mit den Arabern aus der Gegend, die zu Hochzeiten oder als Händler in unser Dorf kamen, kaum zu kommunizieren. Selbst zu unseren religiösen Geschichten hatte sie kaum Zugang. Doch sie leistete harte Arbeit und übernahm bereitwillig die vielen Aufgaben, die eine Bauersfrau zu bewältigen hatte. Es reichte nicht, elf Kinder zu gebären – alle zu Hause, bis auf die Zwillinge Saoud und Massoud, bei deren Geburt es Komplikationen gab. Von einer schwangeren Jesidin wurde erwartet, dass sie so lange weiterhin Feuerholz schleppte, Felder bestellte und Traktor fuhr, bis die Wehen einsetzten, und dass sie nach der Entbindung ihr Baby während der Arbeit bei sich trug.

Mein Vater war in Kocho und Umgebung bekannt für sein Traditionsbewusstsein und seine Frömmigkeit. Er trug sein Haar in vier langen Zöpfen und bedeckte seinen Kopf stets mit einem weißen Tuch. Wenn die Qawwali-Sänger, reisende religiöse Gelehrte, die mit Flöten und Trommeln durch die Lande zogen und Hymnen rezitierten, nach Kocho kamen, war mein Vater immer unter den Männern, die sie empfingen und begrüßten. Auch im jevat, dem Versammlungsort, an dem sich die Männer aus dem Dorf trafen, um mit unserem Mukhtar über Belange der Gemeinschaft zu debattieren, war er eine wichtige Stimme.

Ungerechtigkeit machte meinem Vater mehr zu schaffen als körperliche Verletzungen, und sein Stolz gab ihm große Kraft. Die Dorfbewohner, die ihm nahestanden, erzählten zu gern Geschichten von seinen Heldentaten, zum Beispiel wie er einmal Ahmed Jasso vor einem benachbarten Stamm gerettet hatte, dessen Männer entschlossen waren, unseren Mukhtar zu töten, oder wie die teuren Araberpferde, die einem sunnitisch-arabischen Stammesführer gehörten, aus ihrem Stall ausgebrochen waren und mein Vater Khalaf, einen armen Bauern aus Kocho, den man dabei sah, wie er auf einer nahe gelegenen Wiese eines der Pferde ritt, mit vorgehaltener Pistole verteidigt hatte.

»Euer Vater wollte immer tun, was richtig war«, erzählten uns seine Freunde nach seinem Tod. »Einmal ließ er einen kurdischen Rebellen, der auf der Flucht vor dem irakischen Militär war, in seinem Haus übernachten, obwohl der Mann die Polizei direkt zu seiner Türschwelle führte.« Man erzählte sich, als der Rebell bei ihm entdeckt wurde, habe die Polizei beide Männer festnehmen wollen, doch meinem Vater sei es gelungen, sich herauszureden. »Ich habe ihm nicht aus politischen Gründen geholfen«, sagte er den Polizisten. »Ich habe ihm geholfen, weil er ein Mensch ist und ich auch ein Mensch bin.« Da ließen sie ihn gehen. »Und dieser Rebell entpuppte sich dann als Freund von Masud Barzani!«, erinnerten sich seine Freunde und staunten auch nach all den Jahren noch über diese Geschichte.

Mein Vater war kein Schläger, aber wenn es sein musste, setzte er sich zur Wehr. Er hatte durch einen Unfall bei der Feldarbeit auf einer Seite das Augenlicht verloren, und aufgrund der kleinen, milchig-trüben Kugel, die sich noch in seiner Augenhöhle befand und große Ähnlichkeit mit den Murmeln aus meiner Kindheit hatte, wirkte er manchmal bedrohlich. Ich habe oft gedacht, dass mein Vater, wenn er noch am Leben gewesen wäre, als der »Islamische Staat« nach Kocho kam, ganz bestimmt einen bewaffneten Aufstand gegen die Terroristen angeführt hätte.

1993, als ich geboren wurde, ging die Beziehung meiner Eltern allmählich in die Brüche, und meine Mutter litt darunter. Der älteste Sohn der ersten Frau meines Vaters war ein paar Jahre zuvor im Krieg zwischen dem Iran und dem Irak, dem Ersten Golfkrieg, gefallen, und danach, sagte meine Mutter, sei nichts mehr so gewesen, wie es sein sollte. Mein Vater hatte zudem eine zweite Frau nach Hause gebracht, Sara, die er heiratete und die inzwischen mit ihren Kindern am anderen Ende des Hauses wohnte, das meine Mutter jahrelang für ihr eigenes gehalten hatte. Polygamie ist im Jesidentum nicht verboten, aber nicht jeder in Kocho hätte sich so etwas erlauben dürfen. Das Verhalten meines Vaters jedoch wurde von niemandem hinterfragt. Als er Sara heiratete, verfügte er über beträchtlichen Landbesitz und viele Schafe, und in einer Zeit der Sanktionen und des Kriegs gegen den Iran kämpfte im Irak ein jeder ums Überleben; mein Vater brauchte eine große Familie, die ihm half – größer als die, die meine Mutter ihm bieten konnte.

Mir fällt es immer noch schwer, meinen Vater dafür zu kritisieren, dass er Sara heiratete. Jeder, dessen Überleben unmittelbar von der Anzahl der Tomaten abhängt, die in einem Jahr geerntet werden, oder von der Zeit, die verfügbar ist, um die Schafe auf bessere Weiden zu führen, wird verstehen, warum mein Vater eine zweite Frau und weitere Kinder haben wollte. Diese Dinge sollte man nicht persönlich nehmen. Später allerdings, als er meine Mutter ganz offiziell verließ und wir alle in ein kleines Gebäude hinter unserem Haus umziehen mussten, kaum noch Geld hatten und auch kein Land mehr besaßen, wurde mir klar, dass er die Entscheidung, eine zweite Frau zu nehmen, doch nicht ausschließlich aus praktischen Gesichtspunkten getroffen hatte. Er liebte Sara mehr als meine Mutter. Ich habe das akzeptiert, genau wie ich akzeptiert habe, dass er meiner Mutter das Herz gebrochen haben muss, als er sich eine neue Frau ins Haus holte. Nachdem er uns verlassen hatte, sagte meine Mutter zu mir und meinen beiden Schwestern Dimal und Adkee: »Möge Gott nicht zulassen, dass euch das Gleiche widerfährt wie mir.« Ich wollte in jeder Hinsicht so werden wie sie, aber verlassen zu werden, das wünschte ich mir nicht.

Meine Brüder hatten nicht alle so viel Verständnis wie ich. »Gott wird dich dafür strafen!«, brüllte Massoud einmal wütend unserem Vater ins Gesicht. Aber selbst sie gaben zu, dass das Leben etwas einfacher wurde, als Mutter und Sara nicht mehr zusammenwohnten und um die Zuwendung meines Vaters wetteiferten, und nach einigen Jahren hatten wir gelernt, friedlich nebeneinanderher zu leben. Kocho war klein, und wir sahen Vater oft mit Sara. Ich ging jeden Tag auf dem Weg zur Grundschule an ihrem Haus entlang, dem Haus, in dem ich geboren wurde; ihr Hund war der einzige auf dem ganzen Weg, der mich gut genug kannte, um nicht zu bellen, wenn ich vorbeilief. Die Feiertage verbrachten wir gemeinsam, und mein Vater fuhr manchmal mit uns nach Sindschar oder ins Gebirge. 2003 hatte er einen Herzinfarkt, und wir mussten mit ansehen, wie aus meinem starken Vater plötzlich ein kranker, älterer Mann wurde, der im Hospital lag und auf einen Rollstuhl angewiesen war. Als er einige Tage später starb, kam es uns so vor, als könne sein Tod ebenso gut seiner Scham über die eigene Gebrechlichkeit zuzuschreiben sein wie seinem kranken Herzen. Massoud tat es im Nachhinein leid, dass er ihn angebrüllt hatte. Er hatte geglaubt, sein Vater sei so stark, dass nichts ihm etwas anhaben könne.

Meine Mutter war eine tiefreligiöse Frau und glaubte an die Zeichen und Träume, die viele Jesiden benutzen, um die Gegenwart zu deuten oder die Zukunft vorherzusagen. Wenn der Mond im Neulicht zum ersten Mal als Sichel am Himmel erschien, fand ich sie im Hof, wo sie Kerzen anzündete. »In dieser Zeit sind Kinder am anfälligsten für Krankheiten und Unfälle«, erklärte sie. »Ich bete darum, dass keinem von euch etwas zustoßen möge.«

Ich musste mich als Kind oft übergeben, und wenn das vorkam, brachte mich meine Mutter zu jesidischen Heilern, die mir Kräuter und Tee gaben, den ich trinken musste, obwohl er scheußlich schmeckte. Und wenn jemand starb, besuchte Mutter einen Kochek, einen jesidischen Mystiker, der bestätigen konnte, dass ein Verstorbener den Weg ins Jenseits gefunden hatte. Viele jesidische Pilger nehmen aus Lalisch – dem Tal im Nordirak, in dem unsere heiligsten Tempel stehen und wo Baba Sheikh, unser wichtigster spiritueller Führer, und Baba Tschawusch über die Heiligtümer wachen – ein bisschen Erde mit und legen sie in ein kleines Tuch, das sie zu einem Dreieck falten und als Talisman bei sich tragen. Meine Mutter hatte immer etwas von dieser heiligen Erde dabei, vor allem, als meine Brüder nach und nach zu Hause auszogen und zum Militär gingen. »Sie brauchen so viel Schutz wie nur möglich, Nadia«, sagte sie. »Was sie da machen, ist gefährlich.«

Meine Mutter war aber auch sehr praktisch veranlagt und arbeitsam und versuchte unermüdlich, uns trotz vieler Widerstände ein besseres Leben zu ermöglichen. Die Jesiden gehören zu den ärmsten Bevölkerungsgruppen im Irak, und meine Familie war selbst für Kochoer Verhältnisse arm, jedenfalls seit der Trennung meiner Eltern. Jahrelang huben meine Brüder in Handarbeit Brunnen aus, gruben sich Zentimeter um Zentimeter in die feuchte, schwefelhaltige Erde vor, ganz vorsichtig, um sich keine Knochenbrüche zuzuziehen. Außerdem bestellten sie, gemeinsam mit meiner Mutter und meinen Schwestern, die Felder anderer Leute und erhielten dafür einen kleinen Anteil vom Erlös der geernteten Tomaten und Zwiebeln. Während der ersten zehn Jahre meines Lebens gab es bei uns nur selten Fleisch; wir lebten hauptsächlich von gekochtem Gemüse, und meine Brüder sagten immer, sie würden sich erst dann neue Hosen kaufen, wenn die alten so fadenscheinig geworden waren, dass man schon ihre Beine sehen konnte.

Dank der harten Arbeit meiner Mutter und des Wirtschaftswachstums im Nordirak nach 2003 besserte sich unsere Lage – wie die der meisten Jesiden – allmählich. Nachdem sowohl die Zentral- als auch die kurdische Regierung Jesiden zum Staatsdienst zuließ, fanden meine Brüder Anstellungen beim Grenzschutz und bei der Polizei. Die Arbeit war gefährlich – mein Bruder Jalo ging zu einer Polizeieinheit, die den Flughafen von Tal Afar bewachte und schon im ersten Jahr etliche Männer im Kampf verlor –, wurde aber gut bezahlt. Nach einiger Zeit konnten wir vom Land meines Vaters in unser eigenes Haus umziehen.

Wer meine Mutter nur als sehr gläubige und hart arbeitende Frau kannte, war oft überrascht, wie witzig sie sein konnte und wie gut sie sich darauf verstand, ihr schweres Leben mit Humor zu nehmen. Sie hatte eine neckische Art zu scherzen und klammerte dabei kein Thema aus, nicht einmal den Umstand, dass sie höchstwahrscheinlich nie wieder heiraten würde. Ein paar Jahre nach der Trennung meiner Eltern kam eines Tages ein Mann nach Kocho, der sich Hoffnungen auf die Zuneigung meiner Mutter machte. Als sie hörte, dass er vor ihrer Tür stand, griff sie sich einen Stock und verjagte ihn damit, wobei sie ihm zurief, er solle verschwinden, sie werde nie wieder heiraten. Als sie ins Haus zurückkehrte, lachte sie nur. »Ihr hättet sehen sollen, was der für eine Angst hatte!«, sagte sie zu uns und äffte ihn nach, bis wir ebenfalls in Gelächter ausbrachen. »Sollte ich wirklich noch einmal heiraten, dann ganz bestimmt keinen Mann, der vor einer alten Frau mit einem Stock in der Hand davonläuft!«

Sie scherzte über alles Mögliche – darüber, dass mein Vater sie sitzen gelassen hatte, über meine Begeisterung für Frisuren und Make-up, über ihre eigenen Unzulänglichkeiten. Bevor ich geboren wurde, hatte sie angefangen, in einem Kurs für Erwachsene Lesen und Schreiben zu lernen, und als ich alt genug war, gab ich ihr Unterricht. Sie lernte schnell, zum Teil wohl auch, weil sie die Gabe besaß, mit einem Lachen über ihre Fehler hinwegzugehen.

Wenn sie erzählte, wie sie sich vor meiner Zeugung abgeplagt hatte, um genug Geld für Verhütungsmittel zu sparen, klang das wie eine Geschichte aus einem Buch, das sie vor langer Zeit gelesen hatte und das ihr hauptsächlich wegen seiner Pointen gefiel. Ihren Widerwillen, mit mir schwanger zu werden, fand sie lustig, denn jetzt konnte sie sich ein Leben ohne mich nicht mehr vorstellen. Sie lachte darüber, wie sehr sie mich von dem Moment an, da ich auf der Welt war, geliebt hatte, und sie lachte darüber, dass ich jeden Morgen bei ihr draußen vor dem Ofen saß, um mich zu wärmen und mit ihr zu reden, während sie Brot backte. Wir lachten, weil ich eifersüchtig war, wenn sie statt mich meine Schwestern oder Nichten herzte, und weil ich schwor, niemals von zu Hause wegzugehen, und weil wir immer im selben Bett geschlafen hatten, vom Tag meiner Geburt bis zu dem Tag, an dem der »Islamische Staat« nach Kocho kam und uns alle auseinanderriss. Sie war für uns Mutter und Vater zugleich, und als wir schließlich alt genug waren, um zu begreifen, wie sehr sie gelitten haben musste, liebten wir sie umso mehr.

* * *

Ich bin in enger Verbundenheit zu meiner Heimat aufgewachsen und hätte nie gedacht, dass ich je woanders leben würde. Außenstehenden mag Kocho zu arm erscheinen, als dass man dort glücklich sein könnte, und zu abgelegen und karg, um je aus dieser Armut herauszukommen. Die amerikanischen Soldaten müssen jedenfalls diesen Eindruck gehabt haben angesichts der vielen Kinder, die sie aufgeregt umringten, wenn sie das Dorf aufsuchten, und um Stifte und Bonbons bettelten. Ich war auch eins dieser Kinder, die um Geschenke bettelten.

Manchmal besuchten kurdische Politiker Kocho, allerdings erst in den letzten Jahren und meist nur in Wahlkampfzeiten. Eine der kurdischen Parteien, Barzanis DPK (Demokratische Partei Kurdistans), eröffnete nach 2003 in Kocho ein kleines Büro mit zwei Räumen, aber es schien hauptsächlich als eine Art Klubhaus für die männlichen Parteimitglieder aus dem Dorf zu dienen. Viele Leute klagten hinter vorgehaltener Hand darüber, dass die DPK sie dazu drängte, die Partei zu unterstützen und zu sagen, die Jesiden seien Kurden und Sindschar gehöre zu Kurdistan. Irakische Politiker ließen uns links liegen, und Saddam Hussein hatte uns zwingen wollen, uns als Araber zu bezeichnen, so als würden wir seiner Drohungen wegen unsere Identität aufgeben und uns anschließend nicht mehr gegen ihn auflehnen.