Ich bin viele - Lars Röper - E-Book

Ich bin viele E-Book

Lars Röper

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Beschreibung

Mein Name ist Thea. Ich erzähle diese, meine Geschichte. Gebe mein Bestes, es angemessen und fair zu tun. Dabei ist es kaum möglich, für alle meine Innenpersonen zu sprechen. Es sind sehr viele, die in mir leben. Wie sie unterschiedliche Handschriften haben, sind auch ihre Geschichten, Wünsche und Erfahrungen verschieden und mir oft unbekannt. Besonders die vielen Kinder in mir haben sich, nach den grausamen Ereignissen, die sie geboren haben, oft in die hintersten Winkel meiner Psyche verkrochen. Gleichwohl möchte ich dieses Buch für uns alle schreiben. Wir gehören zusammen. Haben bis heute überlebt, auch wenn ich und einige von euch dem Tod mehrmals sehr nahe waren. Setzt eine oder einer von uns sich ein Ende, sterben wir alle. Mein Körper verlässt diese Welt und wir gehen mit ihm. Lasst so etwas nicht geschehen, uns mehr voneinander erfahren und die Bösen unter uns verwandeln, um eine Zukunft und etwas Glück für uns alle zu finden. Dieses Buch, unsere Geschichte, wird uns dabei helfen.

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„Ich muss jetzt erst einmal einen Stopp machen.

Es sind jede Menge Anteile hier im Raum.

Kleine, Jugendliche, Große.

Alle haben Angst.

Ich bringe alle in Sicherheit.“

(Beobachterin)

Inhaltsverzeichnis

Erster TeilDie kleine Thea

Zweiter TeilDie heile Welt

Dritter TeilIch bin viele

Vierter TeilHeute – aus dem Schattenhaus ins Licht

Erster Teil – Die „kleine Thea“

Lisa und Maria waren die ersten. Nach meinem vierten Geburtstag wurden die Zwillinge von meiner Psyche geboren. Abgespalten von meinem Ich, lebten sie fortan, um mich zu beschützen. Traten hinter mein Gesicht, stellten sich der Realität, nahmen meine Gefühlswelt ein und schauten aus meinen Augen, wenn es wieder so weit war – mein Vater, der Namenlose, und meine jugendlichen Brüder, Josef und Hans, sich betrunken hatten, aufeinander losgingen und bald darauf zu mir kamen. Der kleinen Thea. Um sich an mir zu vergehen. Auf das Grausamste. Zehn Jahre lang. Beinahe täglich.

Hörte ich, wie der Alkohol sie aggressiv und böse werden ließ, krabbelte ich unter mein Bett, zog mich zusammen und stellte mich schlafend. Sie fanden mich immer.

Auch Lisa und Maria ertrugen nicht, was geschah. Konnten dem Grauen, das mein Vater und meine älteren Brüder über uns brachten, unmöglich etwas entgegensetzen. Als zerstörte Kinderseelen lebten die Zwillinge fortan in mir. Verkrochen sich, genau wie ich es tat, zerrissen von Angst und Schmerzen in der Dunkelheit meiner Psyche.

Ich konnte Lisa und Maria nicht helfen, wusste als Kind nicht einmal von ihrer Existenz. Hatte keine Ahnung von ihrem selbstzerstörerischen Auftrag, zu ertragen, was der Namenlose, Hans und Josef über uns brachten. An meiner Stelle kämpften die Zwillinge mit der schrecklichsten Realität. Noch heute leben sie als die vierjährigen Mädchen in mir, die mir damals in meinem Kinderzimmer das Leben retteten. Dankbar kann ich dafür nicht genug sein.

Mein Vater und meine älteren Brüder zerstörten Lisa und Maria innerhalb eines Jahres so sehr, dass meine Psyche sich erneut spaltete. Um zu überleben, würden wir mehr werden müssen. Rita wurde geboren. Sie ist fünf Jahre alt. Lisa, Maria und ich ließen nun sie an die Front der Realität.

Ritas Kinderseele wurde zerschossen und zerstört. Eben so, wie es mir und den Zwillingen zuvor ergangen war. Schutzschilde waren Lisa, Maria und Rita. Ohne sie wäre ich gestorben. Daran besteht kein Zweifel. Meine Psyche erschuf diese lebenden Schutzschilde, um mich und uns alle zu retten. Allesamt zerbarsten wir im fortwährenden Missbrauch. Es war an der Zeit, dass es wieder geschah. Um nicht zu sterben, mussten wir mehr werden. Und wir wurden viele.

Wie viele Kinder heute in mir leben, ist mir nicht bekannt. Einige von euch kenne ich, weiß eure Namen und Geschichten, zu welcher Zeit ihr geboren wurdet. Für immer werdet ihr als Kinder in mir leben.

Andere von euch kenne ich nicht. Weiß, dass ihr da seid. Fühlende Schutzschilde, die zu zerstörten Kinderseelen in mir wurden. Ich höre euch nicht. Ihr kommt nicht nach vorne, wie andere von uns es tun, schreibt nicht oder hinterlasst Spuren in meiner Wohnung, die mir ein Zeichen geben. Nicht einmal bedanken kann ich mich, eure Wünsche oder Nöte sind für mich nicht zu vernehmen. So weit ins Finstere habt ihr euch verkrochen. Doch weiß ich, dass auch ihr bei uns seid und Hilfe benötigt. Uns alle, so hoffe ich von ganzem Herzen, werden wir im Laufe meiner Therapien aus der Dunkelheit in das heilende und beschützende gelbe Licht führen können.

Wie alles begann: die Geburt von Lisa, Maria und Rita im Alter von vier und fünf Jahren.

Neue Innenpersonen wurden abgespalten, traten als Schilde in die Realität, zogen sich fast gänzlich vernichtet zurück. Weitere kamen, stellten sich dem Grauen dort draußen. Hörten mit meinen Ohren, wie der Namenlose, Hans und Josef im Nebenzimmer immer besoffener und aggressiver wurden. Hörten ihr Gegröle und die Schritte auf dem Flur. Verkrochen sich mit meinem Körper unter dem Bett. Sahen mit meinen Augen die Schuhe, die Hände, die nach uns griffen.

Wie Kanonenfutter traten die neuen Kinder in mir an die Front, wurden zerschossen und – wie wir alle – plötzlich auch rücklings aus dem Hinterhalt meiner Psyche angegriffen. Die Hölle da draußen war nun auch in mir geboren worden. Es gab keinen Rückzugsort mehr. Der Namenlose, Josef und Hans waren als Introjekte in mir entstanden. Das unverarbeitete, zerstörerische Außen der Misshandlungen hatte ich derart verinnerlicht, dass mein Vater und meine beiden Brüder ebenfalls als Innenpersonen in das Haus meiner Psyche eingezogen waren. Lagen sie nach ihren Gelagen auch sturzbesoffen herum, wüteten sie trotzdem in mir. Der Krieg in meinem Kopf und Körper hatte begonnen. Er sollte fünfzig Jahre andauern.

Als Richard abgespalten wurde, war mein Märchenerzähler mit der roten Mütze geboren. Fünfzehn Jahre alt, übernahm er schlimme Aufgaben für mich, trat oft hinter mein Gesicht und stellte sich der Realität.

„Richard holt meinem Vater, Hans und meinem Onkel das Bier“, schrieb ich kurz nach Weihnachten, am 28.12.2003, während einer Traumatherapie über die Zeit meiner Kindheit. „Ich bin in der Ecke und beobachte, was passiert. Wenn alle genug getrunken haben, ist bei uns die Hölle los. Ich habe nur noch Angst. Richard hält mich ganz fest. Wenn jetzt einer was von mir will, bin ich tot. Dann lassen sie mich vielleicht in Ruhe. Ich stelle mich schlafend. (…) Ich verstecke mich jetzt in meiner kleinen Welt, da sind nur ganz liebe Wesen. Die Elfen, der große Löwe, der so schön warm ist. Bei ihm darf ich immer etwas schlafen.“

Richard mit seiner roten Mütze, er hat verstanden, mich in seine Märchenwelt mitzunehmen. Auch zaubern lehrte er mich: „Schaut, ein großer Feuerball, damit niemand hier reinkommt, um uns wehzutun.“

„... damit niemand hier reinkommt, um uns weh zu tun.“

Ich sollte nie geboren werden. War ganz und gar ungewollt, wie meine Eltern mich wissen ließen.

Drei Brüder waren vor mir auf die Welt gekommen, dann meine Schwester. Ein Mädchen! Meine Mutter wird sich gefreut haben. Ein kleines Mädchen, das hatten sie nun auch. Wie ein Fluch kam bald noch ein Kind über sie. Sie gaben ihm den Namen Thea und setzten alles daran, mich zu vernichten.

Neun Personen lebten in der bescheidenen Wohnung im dritten Stock, wo meine Geschichte beginnt. Neben meinen Eltern und Geschwistern hatten mein Großvater und meine Großmutter väterlicherseits Zimmer bei uns bezogen. Gleich einem Wal schob sich mein schwergewichtiger Großvater durch die Wohnung, werkelte – unfähig sich dort drehen zu können – seinen gewaltigen Körper rücklings ins Badezimmer und zermalmte mit seinem Hintern regelmäßig den Toilettensitz.

Meine Mutter nahm regelmäßig Tabletten. Anders hielt sie offenbar nicht aus, was täglich geschah, wenn mein Vater, meine zwei älteren Brüder und wohl auch ein Onkel nach dem Saufen und Kartenspielen sich zu ihren Schlägereien und Schändungen erhoben.

Meine Schwester rührten sie nicht an. Nicht nur stellte meine Mutter sich zwischen Carmen und die Männer. Ganz anders, als ich es zu tun vermochte, wehrte meine Schwester sich auch, schlug um sich, trat mit den Füßen und schrie wie am Spieß. Für alle Zeiten ließen sie die Hände von ihr und zogen mich unter dem Kinderbett hervor.

Mein grausamer Vater existierte, obwohl er viele Jahre vorher starb, bis zum Winter 2018 als Introjekt Der Namenlose II in mir. Während mehrerer Therapiesitzungen haben wir ihn beerdigt und in eine andere, neutrale Innenperson, Der Namenlose I, verwandelt. Folgende Zeilen schrieb Der Namenlose II während einer der Sitzungen über meine Brüder, meine Schwester Carmen und mich:

„Meine drei Söhne sind so brutal geworden durch mich. Die Carmen hat sich immer gewehrt, durch Schreien oder durch Treten, aber Thea nicht. (…) Das Schlimme ist, dass meine Söhne den Außenleuten das Gleiche angetan haben. Sprich Hans und Josef …

… und Franz hat das Trinken mit vierzehn Jahren angefangen, weil ich es auch getan habe.“

Ein Großteil der Stütze, die meine Eltern am Monatsersten vom Amt holten, ging für Alkohol drauf. Die Sozialhilfe kaum in der Tasche, gingen sie einkaufen und schafften einen Monatsvorrat an Essen, Schnaps und Bier heim. Von den verbliebenen DM kauften sie billige Lebensmittel. Aus Schweinepfoten und -schwänzen kochte meine Mutter Sülze. Emily wurde damals in mir geboren. Noch heute verweigert sie die Nahrungsaufnahme. Ist Emily meine Außenperson, nimmt sie sich der Realität an, esse ich nichts. Noch vor wenigen Jahren war Emily sehr dominant und hungerte meinen Körper bis auf 48 Kilogramm herunter. Offenbar wollte sie uns alle töten. Hätten wir Emily nicht irgendwie besänftigt, wäre es ihr gelungen.