Ich habe ihnen nicht immer gut getan - Brigitte Harries - E-Book

Ich habe ihnen nicht immer gut getan E-Book

Brigitte Harries

0,0

Beschreibung

„In einem früheren Leben war sie bestimmt ein Wolf“, das äußern Insider schon mal schmunzelnd über die Autorin. Unbestritten ist sie eine Fachfrau in Sachen Hund. In ihrem Leben (Jahrgang 1943) sind Hunde immer wichtig gewesen. Mein Hund – mein Freund, das ist selbstverständlich für sie. Und doch hat sie Hunden nicht immer gut getan. In ihrer Jugend hat sie im Zeittrend Hundenasen in Urin getunkt, wenn eine Pfütze in der Wohnung passiert war. Sie hat Hunde gerüttelt und gehauen, weil sie dachte, Erziehung muss so sein. Später hat sie dann mit den Hundeflüsterern „Fein“ gesäuselt und Leckerlis verteilt. Anfangs hielt sie Rassehunde für was Besseres und fand Hunde mit amputierten Schwanz- und Ohrteilen schnittig schön. Später hat sie erfolgreich für „ganze Hunde“ gekämpft. Als Studentin hat sie sich ein geschundenes Hundekind bei einem Händler gekauft und sich später bis hin zur Verhandlung vor dem Hamburger Landgericht gegen den Hundehandel stark gemacht… Alles in diesem Buch ist wahr. Die Texte sind eine spannende, oft anrührende, aber nie rührselige, völlig unvollständige, einseitige 'Kulturgeschichte' von Hunden und ihren Menschen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 229

Veröffentlichungsjahr: 2015

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

„In einem früheren Leben war sie bestimmt ein Wolf“, das äußern Insider schon mal schmunzelnd über die Autorin.

Unbestritten ist sie eine Fachfrau in Sachen Hund. In ihrem Leben (Jahrgang 1943) sind Hunde immer wichtig gewesen. Mein Hund – mein Freund, das ist selbstverständlich für sie.

Und doch hat sie Hunden nicht immer gut getan. In ihrer Jugend hat sie im Zeittrend Hundenasen in Urin getunkt, wenn eine Pfütze in der Wohnung passiert war. Sie hat Hunde gerüttelt und gehauen, weil sie dachte, Erziehung muss so sein. Später hat sie dann mit den Hundeflüsterern „Fein“ gesäuselt und Leckerlis verteilt.

Anfangs hielt sie Rassehunde für was Besseres und fand Hunde mit amputierten Schwanz- und Ohrteilen schnittig schön. Später hat sie erfolgreich für „ganze Hunde“ gekämpft.

Als Studentin hat sie sich ein geschundenes Hundekind bei einem Händler gekauft und sich später bis hin zur Verhandlung vor dem Hamburger Landgericht gegen den Hundehandel stark gemacht…

Alles in diesem Buch ist wahr. Die Texte sind eine spannende, oft anrührende, aber nie rührselige, völlig unvollständige, einseitige 'Kulturgeschichte' von Hunden und ihren Menschen.

Autorin

Brigitte Harries hat Verhaltensbiologie und Pädagogik studiert und wird schon ein Leben lang von Hunden begleitet.

Sie ist Expertin für Hundeverhalten und hat diverse Bücher über Hunde geschrieben, sowie jahrelang eine Kolumne in verschiedenen Hundezeitschriften verfasst, in der sie Hundehalter bei Problemen mit ihrem Hund beraten hat.

Außerdem besucht sie mit ihrem Hund Grundschulklassen, um den Kindern den richtigen Umgang mit Hunden zu vermitteln und sie hilft Kindern mit übergroßer Angst vor Hunden.

ISBN 9783739283968

Inhalt

Cervas letzte Jagd

Straßengeschäft

Und plötzlich war er weg

Töten auf Befehl

Ängste

Der Geruch von zerrissenem Schilf

Erpressung

Kettenhunde

Rasse muss sein

Der Retter

Vom Fox zum Tea-Cup-Hund

Punkt für die Menschennase

Die missverstandene Hundeversteherin

Nur mit Mitgift Mini !

Augen zu … ich bin dann mal weg

Atemlos

Sorry, wollt' ich nicht

Schlafende Hunde soll man nicht wecken

Kalter Stempel

Schmuggler

Nora

Garfields Grab

Der Landgraf

Dinner auf dem Bahnsteig

„Stöbi, komm schnell!“

Die schrille Wilde im Ganovenlook

Kleine Wirbelstürme

Von zwei Hunden gut bewacht

Strenger Chef oder Die Kissenprobe

Ende eines Ausflugs

Im Nebel des Vergessens

Sorgenkind

Hilferuf

Wiedergutmachung

Die Seherin

Eurasier mit drei Beinen

Der Unwiderstehliche

Schutzengel oder großes Glück

Nichts als Löwenzahn

Dirki

Charlie Hebdo

Sich unehrlich machen …

Abgeledert

Göttervater und Zigeuner

Priscilla in Penetanguishene

Leben mit den Wolfskindern

Rattenfreuden

Sind so gute Seelen

Cervas letzte Jagd

Wenn ich vom ersten Hund in meinem Leben berichte, muss ich mich auf das verlassen, was mir andere erzählt haben, vor allem meine Mutter, für die dieser Hund sehr wichtig war.

Cerva hieß sie und war eine schokoladenbraune Deutsch-Langhaar-Vorsteh-Hündin, die mein Großvater sich etwa 1938 fertig ausgebildet von einem Förster gekauft hatte. Sie hat ihn 1000 Reichsmark gekostet und bekundete in der ersten Woche bei meinem Großvater entschieden, dass sie bei ihm nicht bleiben wollte. Sie verweigerte jegliches Futter. Ihrer früheren Besitzerin, der Förstersfrau, ging es offenbar nicht viel besser: Sie bedrängte meinen Großvater, ihr die Hündin wieder zurück zu geben, den Kauf rückgängig zu machen. Sie habe inzwischen gemerkt, wie sehr sie an der Hündin hängen würde. Der Verkauf hatte unter Männern stattgefunden und die verstanden solche Sentimentalitäten nicht. Mein Großvater hatte sie teuer bezahlt, sie gehörte ihm und damit basta! Es wäre doch gelacht, wenn sie sich nicht an ihn gewöhnen würde!

Nach einer Woche konnte Cerva Bücklingsresten nicht widerstehen. Daraufhin wurde noch ein Bückling für sie gekauft und von da an fing sie an, sich mit dem neuen Leben zu arrangieren. Sie lebte in einer Hütte im Hausgarten und wurde oft angekettet, nachdem sie einmal über den Zaun gesprungen war und den Rehpinscher von Opas Buchhalter erbissen hatte.

Mein Großvater nahm sie mit zur Jagd und fühlte sich bald mit dem hohen Kaufpreis übers Ohr gehauen, denn Cerva verhielt sich nicht verlässlich leise, wenn er sie unten am Hochsitz ablegte. Sie fing nach einiger Zeit an zu winseln.

Letztlich behielt mein Opa sie trotzdem und fuhr mit ihr, als sie läufig war, weite Strecken, um einen passenden Rüden für sie zu finden. Meine Mutter erzählte begeistert, wie wonnig die Welpen waren. Die Kleinen kamen in der Hütte zur Welt und wurden draußen im Hausgarten groß. Meine Mutter, damals ein junges Mädchen, kümmerte sich fürsorglich um die Kleinen, musste sich aber der Dominanz ihres Vaters unterordnen. Mein Großvater ließ sich von Frauen nicht reinreden. Er bestimmte als Geschäftsführer in der Miederwarenfabrik, die er leitete, und er bestimmte in seinem Haus. Er bestimmte, dass meine sehr begabte Mutter nicht auf eine weiter führende Schule gehen durfte und warf ihre Lehrerin, als die sich für sie einsetzen wollte und einen Hausbesuch machte, kurzerhand hinaus:

„Die alte Jungfer hat mir gar nichts zu sagen!“

Er bestimmte, dass sein Sohn den Beruf des Webers zu lernen hatte, obwohl dessen Interessen ganz woanders lagen. Er bestimmte, dass seine Frau die Hühner und Tauben zu brühen und zu rupfen und auszunehmen hatte, obwohl es sie vor jeglichem Getier schauderte; er bestimmte, dass Cerva auch als säugende Mutter zeitweise an die Kette musste, weil sie während dieser Zeit besonders scharf war, und er mit seinem Buchhalter wegen des erbissenen Pinschers genug Ärger gehabt hatte. Nicht, dass ihm der kleine Kriepel, wie er ihn nannte, leid tat, aber er musste dafür bezahlen... und er nahm in Kauf, dass Cerva beim Rausrennen aus der Hütte einen ihrer Welpen in die Kette wickelte und ihm den Brustkorb zerquetschte. Das Hundekind starb langsam und qualvoll.

Die Tierliebe' meines Großvaters war eine andere: Er fühlte sich zu Tieren hingezogen, hatte schon in seiner Jugend einen schwarzen Schäferhund und immer Rassehühner (Hamburger Silberlack und fürs Brüten Rhodeländer, weil die eleganten Silberlackhennen nicht verlässlich auf ihren Gelege saßen), Rassetauben (Kröpfer, die ihren Kropf so aufpusteten, dass sie ihn manchmal nicht mehr entlüften konnten; Möwchen mit so winzigen Schnäbeln, dass sie ihre Jungen nicht selbst füttern konnten, Coburger Lerchen).

Er gab viel Geld für die Tiere aus, ging mit ihnen auf Ausstellungen und köpfte sie auf dem Haublock neben dem Taubenschlag, wenn er sie essen wollte Die wenigen Hühner und ihr Hahn hatten einen großen Auslauf, der so ausgedehnt war, dass sich darin sogar das Gras hielt. Sie konnten nach Würmern und Insekten scharren, sie konnten sich sonnen und ein Sandbad nehmen; sie suchten Deckung, wenn der Hahn sie vor einem Greifvogel warnte und rannten zu ihm hin, wenn er sie lockte, weil er einen Leckerbissen für sie gefunden hatte. Sie hatten für schlechtes Wetter einen Scharr-Raum, weich gepolsterte Nester für ihre Eier und Sitzstangen für die Nacht. Sie hatten ein artgerechtes Leben und einen schnellen Tod. Mein Großvater mochte sie auf seine Art. Er saß oft in ihrem Auslauf und lockte sie mit Körnern auf seine Oberschenkel und auf die Schultern.

Er machte sich aber auch einen Spaß daraus, vom Fenster des Scharr-Raums aus Spatzen anzufüttern und sie tot zu schießen. Er tötete auch Katzen, die sich am Taubenschlag zu schaffen machten. Sie waren für ihn Raubzeug. Andererseits päppelte er mal einen Erpel gesund, den Cerva flügellahm apportiert hatte. Er besorgte ihm ein Weibchen und freute sichan den Küken der beiden. Irgendwann ist ihm die ganze Stockentenfamilie weg geflogen...

Er redete geradezu euphorisch vom schönen Tod der Rehböcke und Hirsche, die er beim ersten Morgenlicht erlegt hatte. So mitten aus dem Leben wolle er auch mal sterben, sagte er mehr als einmal und dabei kamen ihm die Tränen. Leider starb er einen langsamen Tod.

Auch Cerva war ihm wichtig, und doch schlug er sie mit seinem dicken Spazierstock, wenn sie nicht 'parierte'. Er musste seit einer schweren Verletzung im 1. Weltkrieg für sein stark verkürztes Bein immer einen orthopädischen Schnürstiefel mit ganz dicker Sohle tragen, um den Längenunterschied seiner Beine auszugleichen, und er ging immer mit Stock.

Vielleicht bestärkt durch meine Oma, die nicht auch noch lebendiges Viehzeug im Haus haben wollte, vielleicht aber auch gegen ihren Willen, ließ er Cerva auch im eisigen Thüringer Winter draußen. Zeulenroda liegt 500 Meter hoch und hat lange, strenge Winter. Und in der Hütte war nur ein Strohsack, der nicht einmal immer trocken war.

Meine Mutter hätte Cerva sehr gern rein geholt, aber gegen meinen Großvater kam sie nicht an. Als mein Vater, den sie 1940 in Berlin kennen gelernt hatte, sie während eines Fronturlaubs in Zeulenroda besuchte, tat dem die Hündin, allein gelassen in der eisigen Kälte, so leid, dass er ihr eines Nachts seinen Uniformmantel aus dem Schlafzimmerfenster raus in den Garten warf. Das wurde oft erzählt, ich fragte mich allerdings schon als Kind, was so ein Mantel im Schnee dem frierenden, einsamen Hund nützen konnte. Wahrscheinlich war die Aktion nur eine Demo gegen meinen Großvater, gegen den offenbar auch mein Vater, der gewohnt war seine Meinung zu sagen und zu vertreten, nicht wirklich ankam. Nun wollte er ja als zukünftiger Schwiegersohn auch einen guten Eindruck machen.

Meine Mutter erzählte oft mit Rührung in der Stimme, dass mein Großvater einmal seine Macht testen wollte: Er legte Cerva in der Mitte zwischen sich und meiner Mutter ab, dann forderte er meine Mutter auf Cerva zu sich zu rufen und befahl sie gleichzeitig zu sich. Cerva litt sichtlich Entscheidungsqualen und ist schließlich auf dem Bauch zu meiner Mutter gekrochen. Das hat was vom Kaukasischen Kreidekreis, finde ich.

Als ich im Februar `43 geboren wurde, war Cerva schon sterbenskrank. In ihrer Not soll sie sich mehrmals in meinen Kinderwagen gelegt haben, aus dem sie jedes Mal verjagt wurde. Er war ein 'tiefer gelegtes' Modell, sie konnte deshalb leicht hinein steigen. Ob sie dort Wärme suchte oder Hilfe oder ob ihre Gedanken vielleicht zurück in die Försterei gingen?

Die Hündin wurde immer schwächer und schließlich wurde meine Mutter mit ihr zum Tierarzt geschickt. Dienstleistungen delegierte mein Großvater gern. Cerva musste den Weg bis in die Schopperstraße 'unten' im Ort, selbst laufen. Das fiel ihr sehr schwer und meine Mutter machte mehrere Pausen … Sie sagte, dass sie Cervas hilfesuchenden, traurigen Blick nie vergessen würde.

Die Diagnose des Arztes ließ keine Hoffnung: Sie hatte Gehirnstaupe.

Der Heimweg bergauf fiel ihr noch schwerer.

Als sich ihr Zustand in den nächsten Tagen weiter verschlechterte, holte mein Großvater den Handwagen, so eine Art Bollerwagen mit Holzlatten an den Seiten, forderte Cerva auf hinein zu steigen und er half ihr, als sie es nicht schaffte. Dann holte er sein Gewehr und fuhr mit ihr in den großen Garten.

Er hat danach oft erzählt, dass Cervas Blick erwartungsvoll wurde: „Jetzt gehen wir auf die Jagd! Wo ist das Wild?“, schien er zu sagen. Ob sie, als er sie erschoss, wirklich die Erwartung auf Beute hatte?!

Der tote Hund wurde im großen Garten begraben, bei den drei hohen Edelfichten, zwischen denen auf einem kleinen geschützten Hügel ein Gartentisch und Stühle standen. Dort saßen wir manchmal. Ich kenne die Stelle, wo sie begraben liegt: Da liegt kein Gedenkstein und es blüht auch keine Blume. Es ist ein handtuchgroßes Rasenstück, das einige Zentimeter gegenüber dem Rasen rund herum abgesunken ist.

Eigenartig, ich habe Cerva nie bewusst gesehen, und doch meine ich sie zu kennen. Ich habe die Zuneigung meiner Mutter zu ihr gespürt und durch diese Hündin viel über meine Großeltern und die Jugend meiner Mutter erfahren. Es braucht offenbar solche Schlüsselerlebnisse wie die rund um Cerva, um Vergangenes zu begreifen. Selbst, wenn man es nur erzählt bekommt.

Meine kleine Tigerkatze Püppi habe ich neben Cerva begraben. Sie war so klein, dass der Rasen über ihrem zarten Körper nie eingesunken ist.

Straßengeschäft

Um von Flocki zu erzählen, muss ich auf der Zeitleiste weit zurück gehen, weit zurück, was den Zeitraum eines Menschenlebens angeht, aufs Ganze gesehen ist es dagegen nur ein winziger Hüpfer. Um die Flocki-Geschichte richtig verstehen zu können, braucht es wohl einen Rundumblick durch das Zeitfenster.

Im Winter 1951, ich war sieben oder gerade acht Jahre alt, wohnten wir in der DDR in Thüringen in Zeulenroda in einer kleinen, einfachen Wohnung auf der Hohen Straße. Wenige Minuten entfernt, in herrlicher Stadtrandlage mit weitem freien Blick über die Landschaft, wohnten meine Großeltern in einem Einfamilienhaus.

Davon hatten sie allerdings nur noch das Erdgeschoss behalten dürfen, oben wohnte als Einquartierung ein VOPO (Volkspolizist)mit Frau und Sohn. Meine Großeltern hatten diesen Teil des Hauses abgeben müssen. Seit dem Krieg funktionierte die Zentralheizung nicht mehr, folglich gab es auch zentral keine Warmwasserversorgung aus der Leitung mehr. Jeden Morgen mühte sich mein Opa, der seit dem ersten Weltkrieg ein stark verkürztes Bein hatte, die Treppe hinauf ins Badezimmer, das meine Großeltern mitbenutzen durften Er nahm immer ein Töpfchen mit warmem Wasser mit nach oben, das meine Oma auf dem Gasherd, manchmal auch auf dem Kohleherd, erwärmt hatte. Opa wollte sich zumindest mit warmem Wasser rasieren. Im Erdgeschoss gab es eine geräumige Küche mit Sofa, auf dem meine Oma ihren Mittagsschlaf hielt, eine Speisekammer, ein Wohn- und ein Schlafzimmer, die durch eine breite Schiebetür verbunden waren. Vor dem Krieg waren es Wohn- und Herrenzimmer gewesen. Außerdem war da noch eine Toilette, die ich immer sehr ekelig fand, weil das Klobecken mit Urinstein verkrustet war. Neue Klobecken gab es damals in der DDR nicht, es gab überhaupt viele Sachen nicht. Bananen kannte ich gar nicht, Apfelsinen nur aus einem Westpaket. Wenn die Westverwandten meines Vaters, der aus Kiel stammte, ab und zu ein Paket schickten, war es für mich das Allergrößte, wenn darin eine Dose Heringe in Remouladensoße war...

Ich ging mit vielerlei Ermahnungen ausgerüstet durchs DDR-Leben:

„Verrate deinen Lehrern bloß nicht, dass wir Westradio hören! Alle Lehrer sind rot! Das sind Spitzel.“ „Die Vopos und die russischen Soldaten sind ganz gefährlich!“

Ich wusste zwar nicht so richtig, warum, aber ich fand, dass sie bedrohlich aussahen, wenn sie in ihren ocker-grünlichen Uniformen mit den großen breiten Mützen immer zu zweit durch den Ort gingen.

Ich wusste damals auch nicht so richtig, weshalb plötzlich mehrere Männer unsere Wohnung in der Hohen Straße durchsuchten, verstand nicht, weshalb ich mit einer Nachbarin in den Zirkus geschickt wurde und, als ich zurück kam, alle Blumentöpfe im kleinen Vorgarten umgekippt waren. Dass da eine Haussuchung stattgefunden hatte, sagte mir wenig. Mir hat auch keiner verständlich erklärt, weshalb mein Vater im Zuchthaus saß und was ein politischer Häftling war. Weshalb meine Mutti, obwohl eine Gelbsucht bei ihr noch nicht ausgeheilt war und sie sagte, dass sie braunen Urin hatte, anfing, in der Miederwarenfabrik, die mein Opa leitete, als Näherin zu arbeiten. Und weshalb meine Mutter, Oma und Opa viel weinten und mein Opa sagte, ihm bliebe wohl nur der Strick. Alle hielten mich offenbar für zu klein, um mich genau zu informieren. Aber vielleicht haben sie es auch versucht und ich habe es nicht begriffen. So lag von einem Tag zum anderen eine gedrückte Stimmung und eine bedrückende Unklarheit auf meinem Zuhause. Meine Mutter hatte wenig Zeit für mich, meine kleine, runde Oma saß oft stundenlang in der Küche und 'sinnierte', wie sie es nannte. Mein Opa machte sonntags schon mal einen Ausflug mit mir ins nächste Dorf, wo ich in der 'Kümmelschenke' eine leckere rote Brause bekam. Auf unserem Spaziergang brachte er mit bei, wie Weizen und die anderen Getreidesorten aussehen und er erzählte mir Geschichten vom Geisterreiter am Schwarzbach-Teich, von Räubern in der Kümmelschenke, vom weißen Hirsch…

Es war spannend mit meinem Opa, der für mich mit seinem flotten Schritt, unterstützt von einem imposanten, derben Spazierstock, nie gehbehindert wirkte. Er war ein sportlicher, starker Typ. Heute würde ich ihn wohl als Macho einstufen.

Im Umfeld wohnten kaum gleichaltrige Kinder, glaube ich. Ich muss mich ja beim Erzählen auf meine Erinnerungen verlassen. Vielleicht war ich damals auch einfach lieber bei den Hühnern, Tauben, Kaninchen und Schildkröten, die mein Opa hielt. Ich hockte bei den vier Landschildkröten, die mein Onkel, als er nach Kanada auswanderte, zurückgelassen hatte, und konnteihnen lange zusehen, wenn sie Löwenzahnblüten nach und nach in ihren Mündern mit der rosa Zunge verschwinden ließen.

Einmal schaffte ich es, als ich meiner Oma bei der Himbeerernte half, 23 Laubfrösche zwischen den Himbeerblättern zu fangen. Ich tat sie in ein großes Terrarium, das ein Aquarium war, und erinnere mich noch genau, wie fasziniert ich von ihren unterschiedlichen Grüntönen war. Ich merkte aber schnell, dass ich sie nicht ernähren konnte: Ich konnte nicht genug Fliegenund Spinnen fangen, deshalb ließ ich sie nach ein paar Tagen in den Himbeerpflanzen wieder frei.

Ich war viel draußen, wenn ich nicht in der Schule sein musste. Dabei fand ich Minka, eine große schwarz-weiße Katze. Schließlich konnte ich meine widerstrebende Mutter dazu bringen, dass sie mit uns in der Wohnung Hohe Straße wohnen durfte. Sie war eine Freigängerin. Reine Wohnungskatzen gab es damals noch gar nicht.

In meiner Erinnerung bedeutete der Winter in Zeulenroda Sonne und viel Schnee, Schnee, der liegen blieb, wenn er einmal runter gekommen war.

In den Straßen fuhren kaum Autos, so konnte sich der Schnee zwischen Straßen und Fußwegen als Wall anhäufen. Ich fuhr auf alten Skiern, für die der Begriff Bretter sehr treffend war, über die verschneiten Felder am Stadtrand und auch schon mal durch die Straßen, dabei rutschte ich auch auf den Schneewällen am Straßenrand entlang. So auf Brettern unterwegs entdeckte ich hinter einem Zaun ein Hundekind: ein braun- weiß geflecktes, kurzhaariges Kerlchen. Ich hielt natürlich an und streichelte den Kleinen durch den Zaun hindurch. Der Welpe explodierte regelrecht vor Freude über die Zuwendung. Hinter ihm tauchte eine Frau in Kittelschürze auf. Sie sah uns eine Weile zu und fragte plötzlich: „Willst du ihn haben?“ Natürlich wollte ich! Und so mühte ich mich kurz darauf, Hund, Skier und Skistöcke heim zu tragen. Wie auch immer, Tatsache ist, dass ich mit dem Welpen in der Küche meiner Großeltern erschien und glücklich verkündete: “Das ist meiner!“

Ich weiß nicht, ob meine Mutter oder die Großeltern sich vergewisserten, dass es mit dem Geschenk seine Richtigkeit hatte. Ich erinnere auch nicht, ob sich jemand über diese Form, einen Welpen loszuwerden, Gedanken machte. Sicher ist nur überliefert, dass ich wirklich mit dem Welpen im Arm nach Hause kam und dass der verängstigte Kleine sich sofort unter dem Sofa verkroch und dort hinmachte…

Keiner in meiner Familie - außer mir - war erfreut über den Kleinen, aber ich durfte ihn erst mal behalten. Er bekam den Namen Flocki und sah offenbar aus wie ein junger Jack Russell Terrier. Die gab es damals aber noch gar nicht. Fotos gibt es von Flocki nur zwei und die zeigen ihn von vorn. ich kann mich leider nicht daran erinnern, ob er einen kupierten Schwanz hatte. Für mich waren Hunde mit kupierten Schwänzen damals einfach Hunde mit kurzen Schwänzen. Der Gedanke, dass Menschen Tieren einfach ein Stück Schwanz 'ohne Not' abschnitten, kam mir nicht im Traum. Wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, hatte er ein kurzes Terrierschwänzchen. Ich frage mich nur, weshalb man einem Welpen, den man als wertlos einfach wegschenkt, den Schwanz abschneidet … Wollte man ihn vielleicht dadurch in den Rang eines Rassehundes heben!?

Im Haus meiner Großeltern durfte er nicht wohnen. So kam er in die Wohnung Hohe Straße. Ich war viel zu jung, um wirklich Verantwortung übernehmen zu können und meine Mutter hatte andere Probleme genug und keine Zeit für Flocki. So war der Kleine viel allein zu Hause; er lernte nicht, stubenrein zu werden, ihn mit der Nase in seine Pfützen zu drücken nützte auch nichts, führte aber wahrscheinlich dazu, dass Flocki nach uns schnappte, wenn er hilflos war.

Drohend hing über der Situation, dass meine Mutter ihn wieder weggeben wollte. Schließlich war da auch noch Minka, die Katze.

Die Hilfsmaßnahme, zu der ich daraufhin schritt, ist verbürgt: Zur Freigängerin Minka hatte ich nicht so den Draht und so entschloss ich mich, sie 'zu opfern'.

Aus Gesprächen der Großen hatte ich entnommen, dass die Katze des Friseurs, die er lange hatte, gestorben war. Darin sah ich meine Chance: Ich nahm Minka und trug sie zum Friseur. Bei dem war viel los, als ich mit Minka dort erschien. Wie ich es schaffte, die große, kräftige Katze dahin zu tragen, ohne dass sie sich befreite, frage ich mich heute noch. Ich stand da und fragte: „Wollen Sie die haben?“ Ob er sie wirklich wolle, weiß ich nicht, jedenfalls nahm er sie mir ab und trug sie in einen Nebenraum. Er bedankte sich und gab mir 50 Pfennig. Minka lebte viele Jahre bei ihm und versorgte die Nachbarschaft mit ihren Jungen. Sie bekam mehrere reinweiße Babys, die schnell Abnehmer fanden.

Ich ging beruhigt heim und war mir sicher, damit Flockis Aufenthaltsrecht abgesichert zu haben, auch weil mein Vater als Antwort auf die Briefe meiner Mutter aus dem Zuchthaus geschrieben hatte.

Brief meiner Mutter an meinem Vater im Zuchthaus:

5.1.1951, Zeulenroda

…... Unser Putzerle ist seit vorgestern Hundebesitzerin. Kommt sie plötzlich nachmittags glückstrahlend mit einem jungen Hund im Arm bei der Oma an: “Den hat mir eine Frau auf der Hohen Straße geschenkt.“ Und so haben wir zur Katze auch noch einen Hund. Das wird meinen Nerven wohl noch den Rest geben. Aber süß ist der Kerl und weil wir ihn haben, hält ihn auch jeder für einen Rassehund, sogar die Kneiseln. Vielleicht ist er ja auch einer, Opa meint auch, er sähe aus wie ein richtiger Fox. Na, wir werden ja vielleicht sehen, was sich daraus entwickelt. Erst habe ich ihn natürlich mal gebadet und in der ersten Nacht lag er im Korbstühlchen neben meinem Bett; in der vergangenen Nacht hat er aber schon brav allein hier in der Küche geschlafen. Das tut er jetzt eben ( es ist ja auch schon Mitternacht ) auch wieder in seinem Körbchen ganz neben mir. Goldig sieht er aus und mit so unschuldigen dunklen Äuglein schaut er in die Welt, so als ob er kein Wässerchen trüben könnte. Dabei ist er lebhaft wie ein kleiner Teufel und zerlegt alles in Einzelteile, was nicht niet- und nagelfest ist. Du hättest bestimmt auch viel Freude an ihm. Wir rufen ihn Flocki. Franz hat ihn auch schon für dich geknipst. Hoffentlich ist's was geworden. ….“

Brief meines Vaters an mich:

Zwickau, den 3.Februar 1951

…. Mutti erzählte mir, daß Flocki dich schon zum zweiten Mal schlimm gebissen hat. Das tun lebhafte Hunde gern bei Kindern, weil sie sich da stark fühlen. Wenn er es noch einmal tun oder versuchen sollte, muß Mutti ihn gleich tüchtig verhauen und einige Stunden ins Waschhaus sperren, damit er es nicht wieder vergißt. Du selbst darfst ihn nicht strafen, sonst wird er nur böse auf dich. Es ist mit jungen Hunden wie mit Kindern, ja manchmal auch Erwachsenen, nur daß man die nicht verhaut. Die Strafe darf aber auch nicht so sein, daß er nachher gar kein richtiger munterer Hund mehr ist, sondern nur noch traurig mit eingezogenem Schwanz herumläuft.- Mich hat, als ich so alt war wie du, ein schwarzer Spitz von Nachbarn auch sehr ins Bein gebissen, sodaß ich zum Arzt musste und lange einen Verband trug.

Zeulenroda, 27.02.1951

Mit unserem Flocki hätte es beinahe ein schlimmes Ende genommen. Als er am Freitag zur Verrichtung eines Geschäftchens draußen war und ich – zum Glück – sein Badewasser vorbereitet hatte, fand ihn Putz, die ihn holen sollte, nicht mehr. Wir suchten und suchten, denn ab und zu ertönte ein Flocki-Klageton. War er doch durch ein Loch in die Jauchegrube gefallen, hatte sich dann wohl schwimmend auf eine kleine Insel aus Heu und Stroh gerettet und jammerte nun kläglich. Diese Unglücksgestalt hättest Du sehen sollen: Nur gut, daß es nicht passiert ist, als wir nicht da waren. Wir möchten ihn doch nicht mehr hergeben. Gerade wenn ich so abends allein hier sitze, habe ich doch das Gefühl, nicht ganz allein zu sein. Sogar die Mutter hat ihn jetzt gern. Er stöhnt und grunzt so entzückend, wenn man gut zu ihm ist, und das hört sie so gern. Er ist aber auch köstlich. Dich würde er wahrscheinlich schrecklich anbellen, denn Männer mag er nicht leiden. Jetzt beim Schreiben liegt er mir übrigens auch auf dem Schoß. . . .“

Zeulenroda, 4.März 51

Heute früh, als ich mit Putz, Flocki ( er war ganz frisch gebadet) und der neuen Mama-Puppe etwas länger im Bett lag, meinte unsere Tochter, noch schöner wäre es doch, wenn wir ein richtiges Baby mit im Bett hätten, aber ohne unseren Putsch (= Vater)können wir ja keins bestellen.

Zeulenroda, 21. März 51

Niedlich war es, als ich vor einer Woche heimkam und die Wäsche von Dir aus dem Koffer nahm. Unser Flocki beschnüffelte sie von allen Seiten, dann machte er es sich darauf bequem und schlief ein. Deine Tochter meinte:“Der riecht gleich, daß der Putsch unser Fleisch und Blut ist.“ Nun werden wir ihn aber doch, wenn auch schweren Herzens, wieder hergeben, denn wir müßten jetzt 35 DM Steuern für ihn bezahlen. Morgen wird die Anzeige wohl erscheinen. - Heute früh bin ich zum Bäcker gegangen, plötzlich war der Hund weg. Ich lief, nichts Gutes ahnend, zurück. Saß der Kerl doch in der HO hinter dem Ladentisch und knurrte jeden wütend an, der sich ihm zu nähern wagte. Als ich dann auf der Bildfläche erschien, brach er in ein Freudengeheul aus, denn im Grunde hatte er ja selbst Angst vor den Leuten. …..“

Zwickau, den 29.3. 1951

Mein liebes Mahialein!

Gestern erhielt ich Brigittes und deinen Brief. Deiner hat mir viel Kummer gemacht, ich habe deshalb um diesen Sonderbrief gebeten und hoffe, dass er noch rechtzeitig zu Euch kommt: Ihr dürft Flocki nicht verkaufen! Hättest du diesen schlechten Gedanken nur einmal erwähnt – hoffentlich ist es nicht zu spät. Wie freute ich mich immer, wenn du von dem kleinen Kerl schriebst. Wie hängst du doch an ihm und wie Brigitte. Ich will ab sofort für ein Vierteljahr nicht mehr rauchen, nehme auch nichts mehr an, damit die Steuer wieder herauskommt. - Wollt Ihr denn ganz ohne Freude, nur mit dem Notwendigsten dahinleben? Ich merke es doch an Euren Briefen, wie schwer euch die Trennung fällt. Und wer weiß, wann wir wieder solche Hundeseele finden würden.

Also, du kannst mir keine größere Freude machen als mit der Nachricht, daß Ihr ihn behaltet. Und mit dem Rauchen bleibt es dabei.

Ganz herzlich grüße ich Euch zwei, hoffentlich noch mit meinem männlichen Vertreter vereint. Der kleine Kerl!

Dein und Euer Uwe

PS Die Zeitung für März ist auch schon mit Zigaretten bezahlt.

Und plötzlich war er weg

Oft ging ich mit dem kleinen Flocki von der Wohnung meiner Eltern auf der Hohen Straße zum Haus meiner Großeltern. Das war für ein siebenjähriges Kind wie mich ein Fußweg von etwa zehn Minuten. Meistens lief der Kleine ohne Leine mit. Damals fuhren kaum Autos, doch Pferdefuhrwerke gab es einige.

Die Pferde trugen schwere Kummets, damit sie die Steigungen mit ihren schwer beladenen Fuhrwerken besser bewältigen konnten. Kartoffeln, Kohlen … alles Mögliche wurde so transportiert. Briketts und Kartoffeln wurden einfach auf den Fußweg vor die bodennahen kleinen Kellerfenster geschüttet und von dort in die Keller befördert, manchmal wurden sie eimerweise nach unten geschleppt, manchmal gelangten sie auf Rutschen in die Kellerräume.