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Rudolf Vrba

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Beschreibung

"Irgendwie fanden wir es nicht richtig, dass die Welt sich weitergedreht hatte, während es Auschwitz gab, dass die Leute gelacht und gescherzt, getrunken und sich geliebt hatten, während Millionen starben und wir um unser Leben kämpften." "Ich kann nicht vergeben - Meine Flucht aus Auschwitz" ist ein einmaliges Erinnerungsdokument. Es erzählt, wie ein erst siebzehnjähriger Slowake in Auschwitz überlebte. Wie er sich vor der Willkür der SS und ihren Kapos schützte, wie er Strafen und Krankheiten überstand, sich bei den Widerstandskämpfern im Lager Respekt verschaffte und sogar einen seltenen Augenblick der Liebe erlebte. Mehr noch: wie er es als einer der wenigen schaffte, zusammen mit seinem Freund Alfréd Wetzler dieser hermetisch abgeriegelten Hölle zu entfliehen. Doch dieser junge Mann war nicht allein auf seine Freiheit bedacht, sondern versuchte alles, um die letzte große Massenmordaktion der Nationalsozialisten, die Deportation der ungarischen Juden, zu verhindern. Tatsächlich rettete der im April 1944 erstattete Vrba-Wetzler-Bericht hunderttausend Menschenleben. "Rudolf Vrba war ungeheuer widerstandsfähig, ein tapferer, verwegener, zäher und unbestechlicher Mensch. Sein schwarzer Humor zusammen mit seiner bestechenden Intelligenz ermöglichten ihm das Überleben: zunächst während zweier Jahre in Majdanek, danach in Auschwitz, bis ihm die schier unmögliche Flucht aus der Gefangenschaft gelang. Rudolf Vrba erzählt ganz wunderbar, weder pathetisch noch selbstmitleidig, dafür mit einer unglaublichen Präzision, einer schneidenden Schärfe und, wo es angemessen ist, voller Menschlichkeit. Wie er in seinem Buch Ich kann nicht vergeben. MEINE FLUCHT AUS AUSCHWITZ unvorstellbare Greuel schildert und die dramatischen Ereignisse seiner Flucht beschreibt, ist für mich eines der prägendsten, erschütterndsten Leseerlebnisse über den Holocaust." Claude Lanzmann

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Seitenzahl: 666

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Inhalt

[Cover]TitelVorwort von Beate KlarsfeldVorwort des AutorsERSTES KAPITEL - Als die Musik verstummteZWEITES KAPITEL - Ein Sohn wie ichDRITTES KAPITEL - GesuchtVIERTES KAPITEL - Die SS in AktionFÜNFTES KAPITEL - Die Theorie der LagerSECHSTES KAPITEL - NeuzugängeSIEBTES KAPITEL - Nähere Bekanntschaft mit AuschwitzACHTES KAPITEL - Eine nackte WeltNEUNTES KAPITEL - Die Nacht des 29. AugustZEHNTES KAPITEL - »Hier ist keine Synagoge!«ELFTES KAPITEL - Mein Status verbessert sichZWÖLFTES KAPITEL - Iwan der SchrecklicheDREIZEHNTES KAPITEL - Menschen vergasen ist gar nicht so einfachVIERZEHNTES KAPITEL - »Traue nie einem Deutschen«FÜNFZEHNTES KAPITEL - EntkommenSECHZEHNTES KAPITEL - Auf der FluchtSIEBZEHNTES KAPITEL - Wir sagen es allenEpilogEditorische NotizNachwort der HerausgeberZeittafelBibliografieDanksagungAutorenporträtÜber das BuchImpressum[Leseprobe – Bei uns in Auschwitz]

Vorwort von Beate Klarsfeld

Mehr als eine Million Menschen sind in Auschwitz-Birkenau ums Leben gekommen, neun Zehntel wurden ermordet, weil sie Juden waren. Gelungene Fluchten aus dem deutschen Todeslager gab es nicht viele. Die Flucht von Rudolf Vrba und Alfréd Wetzler aus Auschwitz-Birkenau ist die zweifellos berühmteste. Getrieben von dem Ziel, die ungarischen Juden vor den bevorstehenden Deportationen in den Tod zu warnen und die Welt über die Todesfabrik Auschwitz-Birkenau zu informieren, flohen die beiden Häftlinge aus dem Lager und erstatteten Ende April 1944 dem slowakischen Judenrat ausführlich Bericht.

Der Vrba-Wetzler-Bericht fand seinen Weg nach London und Washington und in den Vatikan, wo er als authentisch anerkannt wurde. Die Alliierten wurden über die »Endlösung der Judenfrage« in Kenntnis gesetzt, sie bekamen eine Vorstellung davon und mussten nun ihr Gewissen sprechen lassen.

Es ist ganz außergewöhnlich, dass dieser detailgenaue Bericht über die Vernichtung der europäischen Juden von zwei jungen slowakischen Juden erstattet wurde, die eine zweijährige Erfahrung im Vernichtungslager Auschwitz gemacht hatten. Ebenso außergewöhnlich sind Vrbas 1963 nach dem Jerusalemer Eichmann-Prozess niedergeschriebene Erinnerungen, die hier in einer gründlich annotierten Neuübersetzung endlich wieder erscheinen.

Rudolf Vrba kam mit einem der ersten Transporte in diesem unermesslichen Schlachthof für Juden an. Es war am 30. Juni 1942. Die Gaskammern, die zur Ausmerzung der Juden errichtet wurden, liefen noch nicht auf Hochtouren, und bis zum Datum seiner außergewöhnlichen Flucht durchlief er alle wichtigen Stationen auf diesem neuen teuflischen Planeten. Dieser Planet war das Werk einer totalitären Ideologie, getragen vom Hitlerschen Antisemitismus. Als ihm die Häftlingsnummer 44070 tätowiert wurde, hatte er schon die Kunst des Überlebens erlernt. Es gelang ihm, sämtliche Hürden zu überwinden, die sich vor ihm aufbauten: die Lagerhäuser der SS, das Schleppen der schweren Zementsäcke auf der Baustelle der I.G. Farbenindustrie AG, die Selektionen, Krankheiten wie Typhus, den Handel in »Kanada«, die Knüppelschläge, die oft den Tod bedeuteten, die zermürbende Arbeit auf der Judenrampe, auf der die deportierten Juden in Empfang genommen wurden. Bei ihrer Ankunft wurde ein Fünftel zum Arbeitseinsatz abkommandiert, die anderen kamen sofort in die Gaskammern. Vrba musste auch das Raubgut in die Waggons verfrachten. Er wurde Zeuge der Vernichtung der Juden, die aus dem Ghetto Theresienstadt kamen. Zu ihnen zählte ein junges hübsches Mädchen, Alice, mit der er seine erste Liebesnacht verbrachte, bevor sie am nächsten Tag vergast wurde.

Mich erinnert Rudolf Vrbas Schicksal an das seines Leidensgenossen Primo Levi, der elf Monate in der letzten Phase in Auschwitz verbrachte, während Vrba dort fast zwei Jahre lang Grauenhaftes erdulden musste. Die »Evakuierung« von Auschwitz mit den Todesmärschen in Eiseskälte und Schnee und die Befreiung des Lagers erlebte Rudolf Vrba nicht mehr. Zu dieser Zeit kämpfte der Auschwitz-Überlebende mit der Waffe in der Hand gegen die deutschen Besatzer in der Slowakei. Die beiden Berichte von Primo Levi und Rudolf Vrba ergänzen sich, doch führt uns Vrba literarisch tiefer in die menschliche Natur der Täter ein als Levi, denn er selbst war in engerem und alltäglichem Kontakt mit der SS-Hierarchie. Auch diese Erkenntnisse haben Vrba erlaubt, so lange zu überleben, und er ist eines der wenigen Opfer, die im Sommer 1942 im Lager ankamen und bis zum Augenblick seiner Flucht im April 1944 noch überlebten.

Er war in enger Berührung mit den unbarmherzigsten der SS-Männer und lernte sie kennen. Er hatte eine große Verachtung für die Kapos, die sich willfährig zu Handlangern der SS machen ließen. Aber er begegnete auch Häftlingen, die sich ihre Menschlichkeit bewahrt hatten. Er hatte sich am Schwarzmarkt beteiligt, der die Raffgierigen befriedigte, aber auch Solidarität mit den anderen ermöglichte. Er musste mit ansehen, wie die Arbeitsunfähigen im Lager am 29. August 1942 liquidiert wurden, und in acht Monaten verfolgte er die Ankunft von über 200 Transporten auf der Judenrampe. Er war bei der Öffnung der Massengräber zugegen, wo die Leichen verbrannt wurden, und er sah die noch glühenden Knochen der Tausenden von Kindern, die lebendig ins Feuer gestoßen wurden. Rudolf Vrba nahm auch am Widerstand im Lager teil und konnte beobachten, wie die Kämpfer den Mut aufbrachten, lieber Selbstmord zu begehen, als unter der Folter die Kameraden zu verraten.

Tag für Tag, vom Hunger aufgezehrt, ließ er dennoch nie in seiner Wachsamkeit nach, um nicht seiner körperlichen Schwäche zu erliegen. Rudolf Vrba verlor nie die Hoffnung und auch nicht den Willen zur Flucht. Er korrigierte ständig seine Fluchtpläne, und endlich gelang ihm der Ausbruch aus dieser Hölle mit seinem Freund Fred.

Ihr Bericht hat es ermöglicht, dass Zehntausende von Juden der Deportation entkommen konnten, dank der zahlreichen Interventionen beim ungarischen Reichsverweser Horthy. Rudolf Vrba beendete den Krieg in den Reihen des slowakischen Widerstands mit der Waffe in der Hand, wie er es sich immer gewünscht hatte.

Seine Erinnerungen dokumentieren auch sein Bestreben, gegen die in der späteren BRD straffrei lebenden NS-Verbrecher auszusagen. Vrbas Brief an den Frankfurter Staatsanwalt, dem er sich als Zeuge im Auschwitz-Prozess anbot, und Fotos, unter anderem von seinem Aufenthalt in Deutschland aus dieser Zeit, werden hier erstmals veröffentlicht.

Es hatte lange gedauert, und viele spektakuläre, teils illegale Aktionen waren nötig, um die deutsche Öffentlichkeit aufzurütteln und die Staatsanwaltschaften zu veranlassen, sie überhaupt vor Gericht zu stellen, Verfahren gegen sie zu eröffnen und sie zu Gefängnisstrafen zu verurteilen. Unsere Organisation, die Söhne und Töchter der deportierten Juden aus Frankreich, darunter Auschwitz-Überlebende wie Rudolf Vrba, hat sich all dies zum Ziel gesetzt: Die Verurteilungen gegen die in Frankreich tätigen NS-Verbrecher wie Kurt Lischka, Herbert Hagen und Ernst Heinrichsohn sind nur ihrem endlosen Einsatz für Gerechtigkeit zu verdanken.

Rudolf Vrba war ein außergewöhnlicher junger Mann, der einen außergewöhnlichen Weg eingeschlagen hatte in einer außergewöhnlichen, kriminellen Welt. Seinem starken Willen ist es zu verdanken, dass die zivilisierte Welt über die Shoah aufgeklärt und auch aufgeschreckt wurde. Wir verdanken ihm sehr viel, und es ist notwendig, seinen Bericht und dieses Buch zu lesen. Er ist der beste Wegweiser durch diesen verteufelten Ort, verteufelt durch seine Henker, aber heilig geworden durch das Leiden der Opfer.

Paris, 2010

Vorwort des Autors

Die Ereignisse, um die es in diesem Buch geht, liegen heute mehr als fünfzig Jahre zurück. Aus der Erinnerung heraus habe ich 1963 zu beschreiben versucht, wie die Deutschen es schafften, mich gegen meinen Willen aus meinem Heimatland, der Tschechoslowakei, in die Todeslager von Majdanek und Auschwitz zu verschleppen, was ich von Juni 1942 bis April 1944 als Häftling in diesen Todeslagern erlebte, wie ich am 7. April 1944 mit meinem Mithäftling Alfréd Wetzler1 aus Auschwitz floh und was nach unserer Flucht geschah.

Zunächst aber ein paar Bemerkungen dazu, wie und warum es zum Aufschreiben dieser Erinnerungen kam. Nach Ende des Krieges 1945 zog ich nach Prag, in die Stadt, die mir zu einem wahren Zuhause wurde, bis ich 1958 das Land verließ. Dort studierte ich Chemie und Biochemie und begann meine wissenschaftliche Karriere auf dem Gebiet, auf dem ich bis heute beruflich tätig bin.

Ich kann mich nicht entsinnen, dass mich in all den Jahren, die ich in Prag lebte, irgendwann einmal irgendjemand gefragt hat, was eigentlich in Auschwitz war. Ich weiß nicht, ob das an mangelndem Interesse lag oder daran, dass das Thema tabu war. Auschwitz spielt ja in der Geschichte der tschechischen und slowakischen Länder keine geringe Rolle: Nie zuvor wurden so viele Bürger, die auf tschechischem Territorium ansässig waren, auf einmal ermordet, doch dieses Geschehen, das gleichzeitig Teil meines eigenen Lebens ist, wird vielleicht zum ersten Mal in meinem Buch beschrieben.2

Sicher, schon in den fünfziger Jahren organisierte der Bund Antifaschistischer Kämpfer3 in Prag einen jährlichen Auschwitz-Gedenkabend, und als ich einmal sogar dorthin gegangen bin, habe ich viel über die heldenhaften tschechischen Kommunisten gehört. Dutzende von ihnen starben – wie Hunderte anderer tschechischer Bürger eben auch (Ehre ihrem Andenken!) – in Auschwitz, weil sie Widerstand gegen die Nazis geleistet hatten. Bei der erwähnten Gedenkveranstaltung sprach allerdings niemand von dem Mord an vielen Tausenden Tschechisch sprechender jüdischer Kinder, die kaltblütig in Auschwitz umgebracht und, ob sie wollten oder nicht, nationale Märtyrer wurden. Niemand sprach überhaupt vom Schicksal der Juden. Allerdings erkannte ich auf dem Podium ein paar jüdische Ex-Häftlinge aus Auschwitz. Doch als nach der Veranstaltung ein verdächtig gut gekleideter Herr auf mich zukam und mich fragte, ob mir aufgefallen sei, dass auf dem Podium lauter Juden gesessen hätten, schwieg ich. Es war die Zeit der antisemitischen Slánský-Prozesse4 im Jahr 1952, und ich wollte mein Schicksal nicht herausfordern.

Von 1958 bis 1960 arbeitete ich in Israel und verbrachte viele Stunden in Rechovot in der Bibliothek des nach Chaim Weizmann benannten berühmten Weizmann-Instituts. Jahrzehnte vor und während des Zweiten Weltkrieges war er einer der führenden Zionisten. Vielleicht war er ja sogar, wie bisweilen behauptet wurde, der Führer aller Juden und wurde deshalb bei Gründung des jüdischen Staates 1948 dessen erster Ministerpräsident. Mit Interesse las ich seinen Bericht über sein Leben und seine herausragenden Aktivitäten. Seine Autobiografie trägt den bescheidenen Titel Trial and Error; in ihrem Index ist Rechovot mehr als ein Dutzend Mal aufgeführt.5

Ich freilich war neugierig, wie oft wohl Auschwitz vorkam, schließlich starben dort hunderte Male mehr Juden, als je in Rechovot lebten. Zu meiner Überraschung musste ich feststellen, dass das Wort »Auschwitz« in den Lebenserinnerungen dieses modernen jüdischen Führers nicht einer einzigen Erwähnung für wert befunden wurde. Ich weiß nicht, ob das die Interesselosigkeit Weizmanns und seines Kreises widerspiegelt oder ob das Wort Auschwitz zur Zeit der Niederschrift vielleicht auch in Israel ein Tabu war – wenn auch aus ganz anderen, nicht genannten Gründen.

1960 wurde mir in England eine Stelle als Forschungsmitarbeiter im British Medical Research Council angeboten. Der Council war ein Mekka für Wissenschaftler, mit Freuden zog ich nach England und nahm schon bald englische Angewohnheiten an: Ich wurde zum leidenschaftlichen Teetrinker und Zeitungsleser.

Im Jahre 1960 wurde auch Adolf Eichmann verhaftet und plötzlich in fast allen Sonntagszeitungen die Vernichtung der europäischen Juden diskutiert. Das Wort Auschwitz tauchte ständig auf und war bald in aller Munde. Einer meiner neuen Freunde, Alan Perry, ein BBC-Journalist, redete gern mit mir über das Thema, allzumal, als er merkte, dass ich mehr darüber wusste, als er je in den Zeitungen lesen würde. Und als eines der damals wichtigsten, heute nicht mehr existierenden Blätter, der vom Dachverband der Gewerkschaften herausgegebene Daily Herald, immer noch keinen ausführlichen Bericht über Eichmanns Taten gebracht hatte, meinte Alan, angesichts meiner persönlichen Kenntnisse sei man dort wahrscheinlich bereit, einen Artikel von mir zu bringen.

»Rede doch mal mit ihnen darüber«, sagte er.

Ich hörte auf seinen Rat und stattete schon bald dem Daily Herald einen vormittäglichen Besuch ab. Dort merkte ich allerdings schnell, dass man nicht mal einfach so mit einem Redakteur sprechen konnte. Die Fleet Street, Zentrum des britischen Zeitungswesens, hatte ihre eigenen Regeln. Weil ich keine genaue Wegbeschreibung hatte, landete ich schließlich in einem Raum voller Journalisten, die an einem riesigen, mit Papieren, Teetassen, Aschenbechern und Milchflaschen überhäuften Holztisch Tee tranken. Unaufhörlich klingelten Telefone; dichter Zigarettenqualm erfüllte den Raum. Teetasse in der einen, Zigarette in der anderen Hand, kam ein etwa vierzigjähriger Journalist auf mich zu und betrachtete mich, den Eindringling, höchst interessiert. Musterte meine randlose Trotzki-Brille, die ich mir vor Jahren während einer Vorlesungsreise in Moskau hatte machen lassen, nahm meinen italienischen Regenmantel zur Kenntnis, den ich auf dem Weg von Israel nach London gekauft hatte, und warf einen Blick auf meine guten alten Schuhe aus Prag mit ihren fünf Zentimeter hohen Sohlen, die in den Fünfzigern in der CSSR, aber sicher nicht mehr in London Mode waren. Er fragte mich, wo ich herkäme, und staunte nicht schlecht, als ich »aus der Tschechoslowakei« sagte. Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges verirrten sich nicht viele Leute aus diesem Land in ein Redaktionszimmer in der Fleet Street. Noch einmal musterte er meine Garderobe und erkundigte sich dann ganz direkt, ob ich ein Spion sei. Ich sagte ja, bat ihn aber nachdrücklich, es nicht weiterzuerzählen, weil es vertraulich sei. Er versicherte mich seiner Diskretion und stellte sich als Alan Bestic vor, freiberuflicher irischer Journalist, der seit seinem dritten Lebensjahr in London lebte.

Als ich ihm vom Zweck meines Besuchs und von dem Thema erzählte, über das ich für den Daily Herald schreiben wollte, fand er es wenig aussichtsreich, den zuständigen Redakteur so unkonventionell anzusprechen, und schlug vor, dass wir stattdessen den Artikel in der üblichen Form zusammen schrieben und ihn dann dem Redakteur anböten. Dann gingen wir in den nächsten Pub etwas trinken. (Damals gab es viele Pubs in der Fleet Street.) Zum Schluss lud mich mein neuer Freund übers Wochenende in sein Haus in Surrey ein, wo wir den Artikel verfassten.

An dem Wochenende tranken wir viele Tassen Tee und diskutierten stundenlang, was ich in den einundzwanzig Monaten und sieben Tagen als Häftling in Auschwitz erlebte hatte. Wir redeten über meinen Ausbruch (zusammen mit meinem Freund Alfréd Wetzler), darüber, wie wir unseren Bericht über das Vernichtungslager zu Protokoll gegeben hatten und was unmittelbar danach geschehen war. Hocherfreut sah ich, dass Bestic schneller stenografierte, als ich sprach. Als er das Ganze auf seiner klapprigen alten Schreibmaschine abtippte, klang es wie Maschinengewehrfeuer, und eine Seite nach der anderen wurde, fast ohne jeden Tippfehler, voll.

Doch dann meinte Bestic, wir bräuchten mehr als einen Artikel, damit die Geschichte lebendig und verständlich würde. Stirnrunzelnd fügte er allerdings hinzu, dass es beim Daily Herald nicht üblich sei, Artikel zu einem Thema in mehr als zwei Folgen zu bringen. Aber er tippte drei Texte von jeweils eintausend Wörtern und hoffte, dass er sich mit dem Redakteur auf zwei einigen würde. Eine Woche später rief er mich an und bat mich erneut zu einem Wochenende in Surrey. Der Redakteur hatte den vorgeschlagenen Artikel gelesen und wollte zu Bestics Überraschung nun fünf Teile von mir, die im Laufe einer Woche, von Montag bis Freitag, erscheinen sollten. Und so schilderten wir meine Geschichte in fünf Folgen, jede etwa eintausend Wörter lang.

Eine Woche danach lud mich Bestic wieder zu sich nach Hause ein, diesmal, um zu feiern, dass sein Redakteur unseren fünfteiligen Artikel von fünftausend Wörtern angenommen hatte. Ich unterzeichnete einen Vertrag, der dem Daily Herald das Recht einräumte, meinen Text zu veröffentlichen, und Alan gab mir einen Scheck, als Vergütung für »die Zeit, die ich für den Daily Herald aufgewendet hatte«. Ein Blick auf den Scheck, und ich sah, dass die Summe, die darauf stand, meinem (und nicht nur meinem) Jahresgehalt als Mitarbeiter des Medical Research Council entsprach. Später hörte ich gerüchteweise, dass der Redakteur bei einer Party mit Journalistenkollegen nicht nur stolz die Geschichte einer schon betagteren Dame zum Besten gab, die mit dem Gemälde eines alten Meisters ihre Küchentür aufzuhalten pflegte und das Kunstwerk für fast nichts an den ersten Bieter verkaufte, der dessen wahren Wert erkannte, sondern sich auch damit brüstete, dass er sogar noch ein besseres Geschäft mit einem verrückten Doktor aus der Tschechoslowakei gemacht habe, der sicherlich viel über den Holocaust wisse, aber nichts über die Geschäftsgepflogenheiten in der englischen Presse. Die Auflage des Daily Herald stieg in der Märzwoche 1961, als meine fünf Artikel vor Beginn des Eichmann-Prozesses erschienen, um vierzig Prozent!6

Mein Leben und meine Arbeit in London verliefen unterdes weiterhin angenehm. Jeden Morgen, bevor ich zur Arbeit ging, stellte ich eine leere Milchflasche mit einem Zettel vor die Haustür, auf dem vermerkt war, wie viel Eier, Butter, Milch und Sahne ich an dem Tag brauchte. Das war die dritte meiner neu erworbenen englischen Angewohnheiten. Abends stand das Gewünschte auf meiner Schwelle. Samstagmorgens, wenn die meisten Leute zu Hause waren, klopfte der Milchmann, eine dicke Kladde in der Hand, an meine Tür, las vor, was er mir in der vergangenen Woche geliefert hatte, und nannte mir die Summe, die ich ihm schuldete. Dann gab ich ihm einen Scheck, und er ging zu seinem kleinen dreirädrigen Lieferwagen zurück. Er war klein, hinkte stark, war aber sehr beweglich. Als ich ihm kurz nach Erscheinen meiner Artikel im Daily Herald bei seinem üblichen Samstagmorgenbesuch meinen Scheck gab, zögerte er ein paar Sekunden, obwohl er sonst stets kurz angebunden, aber höflich war, und sagte fast entschuldigend: »Verzeihung, Sir, haben Sie wohl ein paar Minuten Zeit? Ich würde gern über etwas Privates mit Ihnen sprechen.«

»Natürlich, bitte, kommen Sie herein«, erwiderte ich.

Wir setzten uns in mein Esszimmer, und er kam umgehend zur Sache. »Es geht um Ihre Artikel im Daily Herald von dieser Woche. Also, ich bin seit über dreißig Jahren Mitglied der Gewerkschaft und immer Abonnent des Daily Herald gewesen und glaube deshalb, ich habe das Recht, zu sagen, dass mir Ihre Artikel überhaupt nicht gefallen haben. Sie sollen Hass auf die Deutschen hier unter uns in England schüren. Ja, um ehrlich zu sein, glaube ich, dass Sie aus der Tschechoslowakei in dieses Land gekommen sind, um mit der Verbreitung von unglaublichen Lügen über die Deutschen unsere guten Nachkriegsbeziehungen zu Deutschland zu stören.«

Ich war überrascht, wie vorwurfsvoll und unverblümt er mir das alles sagte, doch er hatte natürlich nur wenig Zeit; er musste seine Waren ausliefern und die Schecks einkassieren. »Warum glauben Sie, dass ich lüge?«, fragte ich.

Meine sachliche, ruhige Frage entwaffnete ihn. Wieder sagte er beinahe entschuldigend: »Bitte, glauben Sie nicht, dass ich auch so ein Faschist bin. Im Gegenteil, ich bin Mitglied der Labour Party und habe gegen die Deutschen gekämpft, als es nötig war.« Bei diesen Worten klopfte er sich auf sein rechtes Bein, den Grund seines schweren Humpelns. Es klang nach Holz. Nach kurzer Pause fuhr er fort: »Ich habe bei unserer Landung in Frankreich 1944 als britischer Soldat mein Bein verloren. Dass ich besonders deutschenfreundlich bin, kann man mir sicherlich nicht vorwerfen. Aber jetzt haben wir Frieden, und die Deutschen sind unsere Verbündeten. Heutzutage besteht für antideutsche Propaganda kein Grund mehr. Sie können mir glauben, dass ich in der Hitlerzeit keine Illusionen über die Deutschen hatte. Doch was Sie heute in Ihren Artikeln sagen, ist nur bösartig und unglaubwürdig.«

»Warum halten Sie es für unglaubwürdig?«, fragte ich.

Einen Moment lang schwieg er, dann sagte er: »Ich will Ihnen etwas über mich erzählen. Ich bin verheiratet und habe drei Kinder.« Ich hörte zu. Er beugte sich ein wenig zu mir vor und redete jetzt in leiserem, vertraulicherem Ton. »Und von Mann zu Mann möchte ich Ihnen sagen, dass meine Frau zwar sehr nett, aber sehr einfach ist – ein bisschen schlicht gestrickt. Ich würde sogar sagen, sie ist ziemlich dumm.« Wieder schwieg er kurz.

Was wollte er mir damit sagen? Als er meine fragende Miene sah, hob er die Stimme und rief zunehmend aufgeregt: »Aber erzählen Sie meiner Frau, jemand wolle unseren Kindern ein Leid antun! Dann würde sie sofort zur Axt oder zum Küchenmesser greifen, und an unsere Kinder käme man nur über ihre Leiche. Dumm oder nicht, ist völlig unerheblich! Sie jedoch wollen mir erzählen, dass all die schlauen Juden überall in Europa ihre Kinder an die Hand genommen und sie, hunderte Meilen entfernt, in irgendwelche gruseligen Gaskammern in Oberschlesien gebracht haben! Nein, das kann ich nicht glauben!«

Ich begriff sofort, dass ich in meinen Artikeln im Daily Herald recht gut erklärt hatte, was den Juden in Auschwitz letztendlich widerfahren war. Doch ich hatte nicht gut genug erklärt, wie umsichtig das alles von der perfiden deutschen Regierung organisiert worden war.

Und ich begriff, dass ich ein Buch schreiben musste, um einem denkenden Menschen zu vermitteln, was ich in Auschwitz erlebt hatte. Ich musste den raffinierten Betrug der Deutschen detailliert beschreiben; manche Leute nennen ihn ja aus Mangel an besseren Worten »den verschlungenen Weg nach Auschwitz«.7 Doch diese elegante Wendung gibt die ausgebufften, tückischen, niederträchtigen Methoden, mit denen die Deutschen nicht nur die Juden, sondern die gesamte zivilisierte Welt täuschten, nicht im Entferntesten wieder. Außer in ihrem erbarmungslosen Kampf gegen die Juden wandten die Nazis rasch, aber hemmungslos gegen alle Menschen Gewalt an, die ihren Gesetzen und ihrer Ordnung nicht gehorchten. Und für die Drecksarbeit hielten sie sich immer eine ausreichende Zahl von Helfershelfern, die sich hinterhältig, aber allzeit bereit, gnadenlos und mit erstaunlicher Grausamkeit auf ausgewählte Opfer stürzten. Das war ein wichtiger Teil der Maschinerie des Massenmordes, der die Erfahrung und Vorstellungskraft meines Milchmannes ganz offensichtlich bei weitem überstieg.

Ein Jahr später bekam ich einen Brief aus Deutschland, unterzeichnet von einem Dr. Düx, Untersuchungsrichter am Landgericht Frankfurt/Main.8 Man bat mich, nach Deutschland zu kommen, um bei der Vorbereitung des Prozesses gegen etwa ein Dutzend SS-Offiziere mitzuwirken, die man in Auschwitz begangener Verbrechen anklagen wollte. Dr. Düx hatte mich lange gesucht, weil er von den tschechoslowakischen Behörden meine Adresse nicht bekommen hatte. Doch als meine Artikel im Daily Herald erschienen waren, fand die deutsche Staatsanwaltschaft heraus, dass ich in England lebte, und setzte sich mit mir in Verbindung. Es war der Beginn meiner mehr als dreißig Jahre währenden Zusammenarbeit mit den deutschen Behörden bei der Verfolgung einiger deutscher Verbrecher, die direkt am Holocaust mitgewirkt hatten. Doch selbst während ich diese Zeilen schreibe, laufen immer noch etliche von ihnen frei herum. Bei meinem ersten Besuch in Deutschland nach dem Krieg, im Jahr 1963, zeigte mir Dr. Düx in seinem Büro eine große Sammlung dicker brauner Aktenbände auf einem riesigen Regal. »Hier habe ich achtzig volle Bände mit schriftlichen Zeugenaussagen und weiß immer noch nicht alles über Auschwitz«, sagte er.

Kurz nach meiner Rückkehr von meiner ersten Deutschlandreise meinte Alan Bestic, dass die britische Öffentlichkeit während des bevorstehenden Auschwitz-Prozesses vielleicht daran interessiert sei, mehr von meinen Erfahrungen zu lesen. Denn nach Erscheinen meiner Artikel im Daily Herald wurde ich häufig in Fernsehen und Radio über Probleme der Verfolgung der SS-Verbrecher aus Auschwitz interviewt und mein Name über meine beruflichen Kreise hinaus in London bekannt. Alan fand schon bald einen Verleger, der bereit war, ein Buch über meine persönlichen Erfahrungen zu veröffentlichen, wenn es nicht länger als zweihundert Seiten lang würde. Als ich dann während meines Sommerurlaubs im August 1963 Zeit hatte, mich von der Arbeit freizumachen, fing ich damit an. Alan besuchte mich jeden Tag. Jeden Tag schrieb er nach meinem Diktat in Kurzschrift ein Kapitel, tippte es über Nacht, korrigierte sprachliche Mängel und lektorierte es nach bestem Wissen und Gewissen.

Doch schon bald war uns klar, dass wir all die Informationen, die wir bringen wollten, nicht auf zweihundert Seiten packen konnten; und nach längeren Verhandlungen bekamen wir grünes Licht für maximal dreihundert Seiten.

Noch vor Ende meines dreiwöchigen Urlaubs gaben wir das Manuskript dem Verleger. Das Buch erschien noch im selben Jahr und wurde extrem gut aufgenommen. Es war wahrscheinlich das erste Buch zum Thema, das sich an ein allgemeines Publikum und nicht an Experten richtete. Es richtete sich auch an meinen netten Milchmann. Er sollte wissen, dass er sein Bein im Kampf gegen das Naziregime nicht umsonst verloren hatte. Wie wir alle wissen, hat es harte Arbeit, Blut, Schweiß und Tränen gekostet, den schlimmsten Feind der Menschheit zu besiegen – den Nationalsozialismus.

Obwohl das Buch seit seinem Erscheinen in vielen Sprachen durchgängig lieferbar war, ist es in Großbritannien seit vielen Jahren vergriffen. Deshalb freue ich mich ganz besonders, dass nun eine Ausgabe für eine neue Generation erscheint. Ich habe das Buch voller Dankbarkeit für all jene geschrieben, die zur Niederschlagung des Nationalsozialismus beigetragen haben. Ich hoffe nur, dass auch ich nach bestem Wissen und Gewissen diesem Ziel gedient habe und dass es hilft, möglichst vielen die Augen zu öffnen und zu verhindern, dass sich die bestialischen Kräfte, die wir für endgültig besiegt halten, je wieder regen.

Rudolf VrbaVancouver, KanadaMai 2002

Anmerkungen

1 Alfréd Wetzler (1918–1988) war im April 1942 aus der Slowakei nach Auschwitz deportiert worden. Ihm wurde die Nummer 29162 in den linken Unterarm tätowiert. Unter anderem war Wetzler im »Leichenträgerkommando« und als Blockschreiber in Auschwitz-Birkenau eingesetzt. Zu Wetzlers Veröffentlichungen siehe das Nachwort der Herausgeber.

2Die nach der Abtrennung des Sudentenlandes in der so genannten Rest-Tschechei (im März 1939 von der deutschen Wehrmacht besetzt und als »Protektorat Böhmen und Mähren« ausgerufen) lebenden Juden wurden in ihrer überwiegenden Mehrheit seit Herbst 1941 ins Ghetto Theresienstadt verbracht. Tausende starben dort an Hunger und Krankheiten, Zehntausende wurden »nach dem Osten« in die Vernichtungslager deportiert und ermordet. Über 77000 tschechische Juden fielen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik zum Opfer.

3Der 1951 gegründete Verband Svaz Protifašistických Bojovníků (SPB) war eine Vereinigung von ehemaligen tschechischen und slowakischen Widerstandskämpfern gegen das NS-Regime.

4 Rudolf Slánský (1901–1952), von 1945 bis 1951 Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KSČ), wurde in einem antisemitisch motivierten Schauprozess wegen angeblichen Hochverrats zum Tode verurteilt und hingerichtet.

5Die Erinnerungen von Weizmann (1874–1952) erschienen 1949. Unter dem Titel Memoiren. Das Werden des Staates Israel (aus dem Engl. von Thea-Maria Lenz, Zürich: Phaidon-Verlag) wurden sie 1953 in deutscher Übersetzung publiziert.

6 Der Prozess gegen Adolf Eichmann (1906–1962) vor dem Bezirksgericht in Jerusalem begann am 11. April 1961 und endete am 15. Dezember 1961 mit der Verkündung des Strafmaßes. Eichmann wurde zum Tode verurteilt und nach der Bestätigung des Urteils durch den Obersten Gerichtshof Israels Mitte 1962 gehängt.

7Vrba spielt an auf das Werk von Karl A. Schleunes: The Twisted Road to Auschwitz. Nazi Policy towards German Jews 1933–1939. Urbana, Ill.: University of Illinois Press, 1970.

8Landgerichtsdirektor Heinz Düx (*1924) führte seit August 1961 die gerichtliche Voruntersuchung im ersten Frankfurter Auschwitz-Verfahren. In den Akten des zweiten Auschwitz-Prozesses (1965–1966) findet sich ein Schreiben Vrbas vom 1. Januar 1963 an die Staatsanwaltschaft beim Landgericht Frankfurt am Main. In dem Brief verwies Vrba auf seine Artikelserie von 1961 und bot sich der Ermittlungsbehörde als Zeuge an. Düx nahm das Angebot im Rahmen der von ihm geführten gerichtlichen Voruntersuchung zum zweiten Frankfurter Auschwitz-Prozess (LG Frankfurt am Main, 4 Ks 3/63) an. Am 11. und 12. März 1963 wurde Vrba in Frankfurt am Main von Düx richterlich vernommen. Siehe das Vernehmungsprotokoll, in: Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main, 4 Ks 3/63, Hauptakten, Bd. 78, Bl. 14724–14735. Auf Grund seiner Vernehmung wurde Vrba zum ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess geladen und am 30. November 1964 gehört.

ERSTES KAPITEL

Als die Musik verstummte

Am 17. Juli 1942, dem Tag, an dem Heinrich Himmler nach Auschwitz kam, starb Jankel Meisel, weil drei Knöpfe an der Jacke seiner gestreiften Häftlingsuniform fehlten – wahrscheinlich die erste, auf jeden Fall aber die letzte Nachlässigkeit, die er sich je im Leben zuschulden kommen ließ.

Die meisten von uns mochten den kleinen alten Jankel, obwohl wir ihn nicht besonders gut kannten. Die schwarzen Knopfaugen stets gesenkt, erledigte er lautlos alles, was ihm aufgetragen wurde, befolgte gehorsam alle Befehle und fügte sich so nahtlos wie nur irgend möglich in das dumpfgraue Gewebe des Lagerlebens ein.

Falls er überhaupt einen Wunsch hatte, dann wahrscheinlich den, unsichtbar zu sein. Letztendlich gelang es ihm nicht, dieses verständliche Ziel zu erreichen, und ich bin noch heute fest davon überzeugt, dass die Folgen seines Versagens ihn weniger schmerzten als die aufsehenerregende, theatralische Art, auf die dieses Versagen ans Licht gezerrt wurde. Er, der es hasste, aufzufallen, zog am Schluss alle Aufmerksamkeit auf sich.

Als sich Himmlers Entourage dem Tor von Auschwitz näherte, wurde Jankel Meisel aufgrund seiner Nachlässigkeit ins Scheinwerferlicht trauriger Berühmtheit gezerrt. Sein Blockältester erspähte den klaffenden Kragen seiner Jacke, woraufhin Jankel in aller Hast zu Tode geprügelt und nur Minuten, bevor der hohe Herr zur Inspektion des Hauses eintraf, sozusagen unter den Teppich gekehrt wurde.

Jankel konnte nicht wissen, dass er an eben dem Tag starb, an dem über die Zukunft von Auschwitz entschieden wurde. Wir anderen, die wir sorgfältiger auf unsere Kleidung geachtet hatten, erfuhren erst nach und nach, was diese Zukunft bereithielt.

Ich selbst wusste zu diesem Zeitpunkt kaum, was um mich herum vorging, geschweige denn, was kommen würde, denn ich war erst seit siebzehn Tagen als Häftling im Lager. Überhaupt war mein ganzes Denken einzig und allein von Himmlers Besuch beherrscht, weil wir seit Tagen kaum über etwas anderes gesprochen hatten.

Ungefähr eine Woche vorher, als wir uns gerade schlafen legen wollten, war unser Blockältester in die Stube gepoltert gekommen, und alle waren vorschriftsmäßig sofort verstummt, denn der Blockälteste war ein mächtiger Mann, der unser Schicksal unmittelbar in Händen hielt. Zwar war auch er nur ein Häftling, genau wie wir, aber er war ein Berufsverbrecher, genauer gesagt ein Mörder, und damit befand er sich eine Stufe über uns, deren Verbrechen darin bestand, Jude zu sein. Und die Tatsache, dass er Deutscher war, erhöhte seinen Status noch mehr.

»In einer Woche«, sagte er, »wird im Lager ein sehr großes Ereignis stattfinden. Der Reichsführer SS, Heinrich Himmler, wird uns einen Besuch abstatten. Die Anweisungen für das Verhalten der Häftlinge lauten wie folgt: Wann immer möglich antworten sie nur mit ›ja‹ oder ›nein‹, allerdings mit größtmöglichem Respekt. Das heißt, sie antworten mit: ›Jawohl, melde gehorsamst‹ oder ›Nein, melde gehorsamst‹. Sollte das nicht ausreichen, hat die Antwort so kurz und bündig wie möglich auszufallen. Sollte jemand nach den Bedingungen im Lager gefragt werden, sagt er: ›Danke der Nachfrage, ich fühle mich hier sehr wohl.‹ Alles im Lager, einschließlich der Häftlinge, hat pieksauber zu sein – wie aus dem Ei gepellt. Es muss absolute Ordnung herrschen. Jeder, der sich nicht peinlichst genau an diese Anweisungen hält, wird mit äußerster Härte bestraft.«

Als ich an diesem Abend auf meiner Pritsche lag, war ich noch nervöser als sonst. Den anderen ging es genauso, denn wir wussten, dass ein einziger Patzer in Anwesenheit des Reichsführers Prügel oder sogar Erhängen nach sich ziehen würde, oder beides. Unser Blockältester muss jedoch noch nervöser gewesen sein als wir, denn gleich am nächsten Tag fing er an, uns mit der Verbissenheit eines Feldwebels in einer preußischen Kadettenanstalt für den hohen Besuch zu drillen.

Er ließ uns antreten und brüllte: »Ich bin der Reichsführer SS. Wollen wir doch mal sehen, ob ihr euch entsprechend benehmen könnt.«

Langsam schritt er unsere Reihen ab und musterte jeden von uns mit grimmigem Blick, ein kleiner Mörder, der einen großen nachäffte. Entdeckte er schmutzige Fingernägel oder Holzpantinen, die nicht ordentlich geschwärzt waren, überschüttete er den Missetäter mit den übelsten Beschimpfungen und drosch mit seinem Knüppel auf ihn ein. Als wären wir kleine Kinder, guckte er uns sogar hinter die Ohren. Anschließend machte er sich im Block auf die Suche nach Decken, die nicht akkurat genug gefaltet waren.

Je mehr Tage vergingen, desto mehr wuchs die Spannung. Sie durchdrang das ganze Lager und ergriff nicht nur uns Häftlinge, sondern auch unsere Bewacher. Die SS-Männer, die sich schon normalerweise nicht gerade durch Geduld auszeichneten, fingen an, sich gegenseitig anzublaffen. Die Kranken wurden besonders genau in Augenschein genommen und schleunigst liquidiert, wenn sie keinen präsentablen Eindruck machten. Saubere Uniformen wurden ausgegeben, und alle Häftlinge durften sich jeden Tag gründlich waschen.

Doch die vielen Proben vor dem großen Ereignis machten weder Wachmannschaften noch Häftlinge sicherer oder gelassener. Im Gegenteil. Als der Tag des hohen Besuchs endlich kam, waren die Nerven aller bis zum Zerreißen gespannt. Bei warmem, freundlichem Sonnenschein, der die harschen Konturen des Lagers in ein weicheres Licht tauchte, jedoch nichts zu unserer Beruhigung beitrug, nahmen wir Aufstellung und verharrten zwei lange, ereignislose Stunden in Habachtstellung, schwitzend vor Hitze und Aufregung.

Wahrscheinlich gaben wir trotz der makabren Umstände, unter denen wir angetreten waren, ein ganz passables Bild ab. In Reih und Glied standen wir in unserer gestreiften Häftlingskleidung vor den Blocks, sauber und hoch aufgerichtet, perfekt abgerichtete Zebras. Ich selbst war ein sehr augenfälliges Zebra, denn ich stand gleich in der ersten Reihe meines Blocks, wohin ich mit Absicht platziert worden war, weil ich nach nur siebzehn Tagen im Lager noch relativ kräftig und gesund aussah.

Tatsächlich hatte ich sogar einen Logenplatz, denn ich stand nicht nur in der ersten Reihe, sondern würde, da mein Block direkt neben dem Tor mit der erhebenden Inschrift ARBEIT MACHT FREI lag, Himmler auch als einer der ersten zu Gesicht bekommen.

Es war ein Privileg, auf das ich gern verzichtet hätte, denn an diesem exponierten und daher gefährlichen Platz befand ich mich voll im Blickfeld der vor dem Appellplatz aufgebauten SS-Offiziere und -Männer mit ihren untadelig gebügelten Uniformen, ihren in der Sonne blitzenden Schaftstiefeln und ihren blank liegenden Nerven.

Erträglich gemacht wurde meine Lage nur durch die Musik des wirklich herausragenden Orchesters von Auschwitz, das sich aus Musikern aus allen Hauptstädten Europas zusammensetzte. Der Dirigent, der später die Warschauer Philharmoniker leitete, versuchte nun, uns die Wartezeit mit einer exzellenten Darbietung einer berühmten Arie aus Smetanas Die verkaufte Braut zu verkürzen: »Warum sollten wir nicht froh sein, wenn uns Gott Gesundheit gibt, Freude gibt?«9

Es war vielleicht nicht gerade die geeigneteste Arie für Männer, die permanent den Gestank des Todes in der Nase hatten und wussten, dass sie vielleicht schon bald selbst dazu beitragen würden, aber merkwürdigerweise dachten nur die wenigsten von uns an das, was uns vielleicht bevorstand. Im Augenblick zählte einzig und allein die Ankunft des Reichsführers SS. Dieses eine Mal empfanden wir genau dasselbe wie die SS-Männer – auch wir wollten nicht, dass irgendetwas schiefging.

Plötzlich verstummte die Musik. Aus dem Augenwinkel – ich wagte nicht, den Kopf zu drehen – sah ich den Dirigenten erwartungsvoll zum Tor blicken, wo ein SS-Mann postiert war und ihm ein Zeichen geben sollte, wenn der Konvoi in Sicht kam. Reglos, den Taktstock in der hoch erhobenen Hand, wartete er darauf, die Musik für den Ehrengast erklingen zu lassen.

Und dann geschah sie, die Katastrophe, die jeder Schauspieler fürchtet. Das Unfassbare, das auf große Gelegenheiten lauert, die Krise, die jedem Augenblick der Wahrheit unweigerlich auf dem Fuß folgt.

In der zehnten Reihe unseres angetretenen Blocks entdeckte der Blockälteste Jankel Meisels fehlende Jackenknöpfe.

Es dauerte ein paar Sekunden, bis er die Ungeheuerlichkeit dieses Verbrechens vollständig erfasst hatte. Dann streckte er Jankel mit einem einzigen Hieb zu Boden. Eine kaum merkliche Bewegung ging durch unsere Reihen. Die SS-Männer wechselten nervöse Blicke. Dann zerrten der Blockälteste und zwei seiner Gehilfen Jankel in den Block hinein.

Dort, unseren Blicken entzogen, taten sie, was Männer tun, die sich verraten und verkauft fühlen. Sie schlugen und traten ihn tot. Sie taten es hastig, hektisch, wollten ihn weg haben, wollten ihn aus dem Bild und aus ihren Köpfen tilgen. Und Jankel, der vergessen hatte, seine Knöpfe anzunähen, besaß nicht einmal den Anstand, schnell und leise zu sterben.

Er schrie. Es war ein lauter, klagender, abgehackter Schrei, der die stille, heiße Luft zerriss. Dann verwandelte er sich in das hohe, klägliche Gewinsel eines achtlos abgelegten Dudelsacks, bloß verhallte es nicht so schnell. Es dauerte und dauerte, füllte das Vakuum der Stille, zerrte an mühsam unter Kontrolle gehaltenen Nerven, erfüllte alle mit Panik, übertönte das hässliche, dumpfe Geräusch der herabprasselnden Schläge. Ich glaube, in diesem Augenblick gab es keinen von uns, der Jankel Meisel nicht hasste, den kleinen alten Juden, der alles verdarb, allen nichts als Ärger machte mit seinem langen, einsamen, vergeblichen Protest.

Inzwischen wimmerte er nur noch. Ein SS-Führer mit schweißglänzendem Gesicht nickte kurz in Richtung unseres Blocks. Zwei Unterführer liefen hin. Einen Augenblick später trat Stille ein.

Die SS-Männer kamen zackigen Schritts aus dem steinernen Gebäude und nahmen ihre Plätze wieder ein. Der Blockälteste und seine stümperhaften Schlägergehilfen trotteten hinter ihnen her wie Schafe, gekränkt und beleidigt über die Ungerechtigkeit des Ganzen. Dass von allen Blocks ausgerechnet ihrer ein derartiges Spektakel veranstalten musste, ausgerechnet jetzt, wo Himmler jeden Augenblick auftauchen konnte. Dass von allen Männern ausgerechnet der stille Jankel Meisel so ein Theater machen musste.

Der Dirigent auf dem Podium hatte sich nicht gerührt, hatte die Augen keinen Moment von dem SS-Mann am Tor abgewandt, dem Mann, der ihm das Zeichen geben würde. Die Musik wartete auf die erste Bewegung seines Taktstocks. Das war für ihn alles, was zählte.

Eine schnelle, lautlose Warnung. Himmler und sein Gefolge waren nur noch zwanzig Meter entfernt. Der Taktstock bewegte sich mit zarter Präzision, das Orchester folgte gehorsam, wunderschön, unverzüglich, mit dem »Triumphmarsch« aus Aida.

Das Tor schwang auf. Ein langer, offener, schwarzer Mercedes fuhr langsam und unendlich würdevoll ins Lager ein. Vorn saßen der Chauffeur und ein schwarz uniformierter SS-Offizier, hinten der Reichsführer SS, Heinrich Himmler, und neben ihm Rudolf Höß, der Kommandant des Lagers. Ihnen folgte zu Fuß ein ganzer Trupp hochrangiger Offiziere. Die Formation bewegte sich im Beerdigungstempo, was mehr als passend war, denn Auschwitz sollte in den folgenden Jahren ein riesiger Friedhof werden.

Vor dem Orchester kamen sie zum Stehen. Himmler stieg lächelnd aus, offensichtlich überrascht und erfreut über die Musik. Er verharrte, lauschte einen Augenblick und schlenderte dann, mit Höß plaudernd, auf unseren Block zu. Als er näher kam, empfand ich ein absurdes Gefühl überwältigender Erleichterung.

Tagelang hatten wir diesen Augenblick gefürchtet, Stunde um Stunde, Tag und Nacht. Allein der Gedanke hatte uns in Angst und Schrecken versetzt, bis Himmler in unserer Vorstellung zu einer allmächtigen Schreckgestalt geworden war, einem grimmigen, hässlichen Unhold, der uns wegen eines schmutzigen Fingernagels in Grund und Boden stampfen würde. Und jetzt war er unter uns, bewegte sich mit der Lässigkeit und der unbekümmerten Nonchalance eines englischen Landadligen, genoss die Atmosphäre, die an eine englische Gartengesellschaft erinnerte.

Ähnlich wie ein englischer Landadliger besaß offenbar auch er das Talent, andere schnell und mühelos dazu zu bringen, sich in seiner Gesellschaft wohlzufühlen. Lagerführer Aumeier10 trat steif vor, schlug die Hacken zusammen und schlitzte den Hitlergruß in die Luft. Himmler lächelte liebenswürdig und nahm Aumeier sofort in die heimelige Wärme des inneren Kreises auf. Die Steifheit des Lagerführers schwand und machte respektvoller Leutseligkeit Platz.

Ich sah der Gruppe, die langsam auf mich zukam, gespannt entgegen, denn ich empfand sie inzwischen als absolut außergewöhnliche Wesen. Nazis, das ja. Aber hohe Nazis.

Hassenswert? Auf jeden Fall. Aber trotzdem etwas Besonderes. Männer, die Leben und Tod von Millionen in Händen hielten. Fast ehrfürchtig betrachtete ich ihre Uniformen mit den rasiermesserscharfen Bügelfalten und den tadellos gebügelten Hemden und spürte die unglaubliche Kluft, die zwischen uns lag, obwohl sie nur fünf Meter von mir entfernt waren.

Himmler kam näher. Ich betrachtete sein blasses, rundliches Gesicht mit dem nachsichtigen, herablassenden Ausdruck, milde gelangweilt und leicht amüsiert. Seine randlose Brille blitzte im Sonnenlicht. Anders als bei allen anderen schien seine Uniform nicht sonderlich gut zu sitzen, und ich dachte: »Dieser Mann ist kein Monster. Er sieht eher aus wie ein Mathematiklehrer. Ein ganz gewöhnlicher, stinknormaler Mathematiklehrer!«11 Auf jeden Fall war der Tod für ihn nichts weiter als eine simple Rechenaufgabe, nichts anderes als eine Folge endloser Zahlenreihen in einem ordentlich geführten Kontenbuch.

Er war jetzt auf einer Höhe mit mir. Fotografen mit klickenden Leicas und surrenden Filmkameras scharwenzelten um ihn herum. Aus allen möglichen Posen, immer rückwärts gehend, knipsten sie aus der Hocke, aus Hüfthöhe, stets auf der Suche nach neuen, noch nie da gewesenen Sichtweisen auf dieses kleine Stückchen Geschichte, wuselten um ihn herum wie Schlepper um einen Ozeandampfer.

Himmler erreichte das Ende der Reihe, machte kehrt und kam zurück, wobei er uns mit höflichem Interesse musterte. Wieder ging er dicht an mir vorbei, so dicht, dass ich ihn hätte berühren können, und einen Moment sahen wir uns in die Augen. Seine waren kalt und unpersönlich, Augen, die nur wenig wahrzunehmen schienen. Und doch dachte ich: »Wenn er merkt, was hier vor sich geht, sorgt er vielleicht dafür, dass es besser wird. Vielleicht wird das Essen besser. Oder wir werden nicht mehr so viel geprügelt. Vielleicht … vielleicht wird es hier zur Abwechslung bald ein bisschen gerechter zugehen.«

Wie Sie sehen, hatte ich Jankel Meisel schon vergessen. Auch die anderen hatten ihn vergessen, denn Heinrich Himmler lächelte. Ich weiß noch, dass ich dachte: »Hoffentlich zeigen sie ihm wirklich alles! Hoffentlich besteht er darauf, wirklich alles zu sehen … die Vergasungen, das Krematorium, die Brutalität, alles!«

Er bestand tatsächlich darauf, alles zu sehen. Das erfuhr ich kurz nach dem Krieg. Da nämlich schrieb Rudolf Höß in seiner Gefängniszelle in Krakau seine Autobiografie, bevor er in Auschwitz gehängt wurde. Ich wurde von den Verlegern gebeten, die Fahnen dieses furchtbaren Dokuments auf Richtigkeit durchzusehen und las: »Vom Eingangsturm aus ließ er [Himmler] sich die Lage-Einteilung [sic] und die im Bau befindlichen Be- und Entwässerungsanlagen erklären, ebenso die beabsichtigten Erweiterungen. Er sah die Häftlinge bei der Arbeit, besichtigte Unterkünfte und Küchen und Krankenreviere. Von mir wurde er dauernd auf alle Mißstände hingewiesen. Er sah sie auch. Sah die ausgemergelten Seuchenopfer – die Ärzte gaben rücksichtslos und eindeutig die Erklärung – sah die überfüllten Krankenreviere, sah die Kindersterblichkeit Noma [sic, gemeint ist die tödliche bakterielle Erkrankung Noma, die Weich- und Knochenteile des Gesichts zerfrisst. Anm. d. Übs.]; Himmler sah weiter die – damals schon – überbelegten Baracken, sah die primitiven und nicht zureichenden Abort- und Waschanlagen. Er hörte von den Ärzten die hohen Kranken- und Todesziffern und vor allem deren Ursachen. Er ließ sich alles genauestens erklären, sah alles genau und richtig, kraß und wirklichkeitsgetreu – und schwieg dazu … Nach der Besichtigung von Birkenau sah er sich den gesamten Vorgang der Vernichtung eines gerade eingetroffenen Juden-Transportes an. Auch bei der Aussonderung der Arbeitsfähigen sah er eine Weile zu, ohne etwas zu beanstanden. Zu dem Vernichtungsvorgang äußerte er sich in keiner Weise, er sah nur ganz stumm zu. Dabei beobachtete er mehrere Male unauffällig die bei dem Vorgang beteiligten Führer und Unterführer und mich …. Er sah im Frauenlager die engste Belegung, die unzureichenden Abortanlagen und den Wassermangel, ließ sich vom Verwaltungsführer die Bekleidungs- und Wäschebestände sagen, sah den Mangel an allem. Er ließ sich bis ins kleinste die Verpflegungssätze und die Schwerarbeiterzulagen erklären. Im Frauenlager ließ er sich die Durchführung einer Prügelstrafe an einer Berufsverbrecherin (Prostituierten), die laufend einbrach und stahl, was sie erreichen konnte, vorführen, um die Wirkung festzustellen.«12

Für den Reichsführer SS bestand der Besuch jedoch nicht nur aus Arbeit ohne jedes Vergnügen.13 Neben den offiziellen Verpflichtungen gab es auch Geselligkeiten. So nahm er am ersten Tag an einem Abendessen für alle »Gäste und Führer des Standortes Auschwitz« teil. Er bestand darauf, sie alle kennenzulernen und plauderte mit ihnen über ihre Arbeit und ihre Familien.14

Zu einem späteren Zeitpunkt besuchte er Höß’ Haus, war charmant zu dessen Frau und Kindern, bewunderte die Einrichtung und gab dem Kommandanten den Auftrag, das Haus aus repräsentativen Gründen auszubauen, da es sich um eine offizielle Adresse handle. Zum Abschluss einer Dienstbesprechung sagte er zu Höß: »Ihre Arbeit und Leistung habe ich gesehen, ich bin zufrieden und danke Ihnen, ich befördere Sie zum Obersturmbannführer.«

Tatsächlich war er alles andere als zufrieden mit dem, was er gesehen hatte, aber es waren nicht etwa die entsetzlichen Bedingungen, die ihm missfielen, sondern die hochgradig ineffizienten Methoden bei der Ausrottung der Juden, die inzwischen zu Tausenden aus allen Teilen Europas eintrafen.

Die Gaskammern waren kaum mehr als Provisorien. Das Verbrennen der Leichen in offenen Gruben15 war eine Verschwendung von kostbarem Brennmaterial und führte dazu, dass sich die Deutschen, die mittlerweile die nahe gelegene polnische Kleinstadt Auschwitz bewohnten, über den Gestank beklagten. Jedenfalls war Himmler der ganze Ablauf viel zu willkürlich und zufällig.

Und so erteilte er Anweisungen für die Errichtung der größten, effektivsten Vernichtungsfabrik der Welt. Für die modernen Gaskammern aus Beton und die riesigen Krematorien, in denen binnen vierundzwanzig Stunden bis zu 12000 Leichen verbrannt werden konnten und verbrannt wurden. Für die Maschinerie, die innerhalb von drei Jahren 2500000 Männer, Frauen und Kinder verschlang und als harmlosen schwarzen Rauch wieder ausspuckte.16

***

Heinrich Himmler besuchte Auschwitz noch einmal, im Januar 1943.17 Dieses Mal war ich froh über sein Kommen, allerdings nicht, weil ich noch die leise Hoffnung gehegt hätte, er würde unser Los durch Güte oder Gerechtigkeitsempfinden verbessern. Seine Anwesenheit war uns allen nur deshalb willkommen, weil sie bedeutete, dass einen Tag lang niemand einfach so totgeprügelt oder sonst wie umgebracht werden würde.

Wieder nahmen wir wie aus dem Ei gepellt Aufstellung, die Kranken hinten, die Gesunden vorn. Wieder spielte die Musik, wieder knallten die Hacken und die Schaftstiefel blitzten und blinkten im Glanz des hohen Herrn. Wieder inspizierte er das Lager bis in den hintersten Winkel, strich auf der Suche nach übersehenen Staubkörnchen mit dicklichen Fingern penibel über jeden Sims und jede Kante. Und dieses Mal gab es kein störendes Sandkorn namens Jankel Meisel, das die gut geölte Maschinerie zum Stocken brachte.

Obwohl Himmler die Inspektion des Lagers mit der für ihn typischen Gründlichkeit durchführte, diente sie nur als Aperitif für das Mahl, das folgen sollte. Der Hauptzweck seines Besuchs war, die Anlagen in Augenschein zu nehmen, die entsprechend den Plänen entstanden waren, die er vor sieben Monaten18 in Auschwitz grob umrissen hatte.

Er wollte Zeuge der ersten Fließbandermordungen der Welt werden und der Einweihung von Kommandant Höß’ brandneuem Spielzeug beiwohnen, dem Krematorium, einer wirklich beeindruckenden Einrichtung, hundert Meter lang, fünfzig Meter breit, mit fünfzehn Öfen, die jeweils drei Leichen auf einmal binnen zwanzig Minuten verbrennen konnten.19 Ein in Beton gegossenes Monument für seinen Erbauer, Herrn Walter Dejaco.20

Auschwitz-Überlebende, die, so wie ich, zu den Arbeitssklaven gehörten, die es erbauten, sind vielleicht interessiert zu hören, dass Herr Dejaco in Reutte, einem kleinen Ort im österreichischen Tirol, weiterhin seinem Beruf nachgeht und 1963 vom Innsbrucker Bischof Rusk für das schöne Pfarrhaus, das er für den Gemeindepfarrer von Reutte erbaute, hoch gelobt wurde.

1943 jedoch war Krieg und Herr Dejaco beschäftigte sich mit praktischeren Anwendungen seiner Kunst. Die Vernichtungsindustrie steckte noch in den Kinderschuhen, aber dank Herrn Dejacos Tüchtigkeit sollte sie an dem Morgen, an dem Himmler uns besuchen kam, ihren ersten wirklich dramatischen Schritt in Richtung Größe machen.

Himmler bekam tatsächlich eine beeindruckende Demonstration geboten, nur beeinträchtigt durch eine zeitliche Verzögerung, die in manch einem kleinen deutschen Bahnhof für Unruhe gesorgt hätte. Kommandant Höß, dem daran gelegen war, sein neues Spielzeug auf dem Höhepunkt seiner Leistungsfähigkeit vorzuführen, hatte dafür gesorgt, dass ein Sondertransport von 3000 polnischen Juden für die Vernichtung auf moderne deutsche Art zur Verfügung stand.

Himmler traf um acht Uhr morgens ein, die Vorführung sollte eine Stunde später beginnen. Um Viertel vor neun war die neue Gaskammer mit ihren raffinierten Duschattrappen und ihren mit »Halte dich sauber«, »Ruhe bitte« und so weiter beschrifteten Hinweisschildern zum Bersten gefüllt.

Die SS-Aufseher hatten dafür gesorgt, dass kein Millimeter Platz verschwendet wurde, und am Eingang mehrere Schüsse abgefeuert, woraufhin die Menschen, die bereits in der Kammer waren, von den Türen zurückwichen, so dass weitere Opfer hineingezwängt werden konnten. Dann wurden Babys und Kleinkinder in die Menge geworfen und die Türen verschlossen und verriegelt.

Ein SS-Mann mit Gasmaske stand auf dem Dach der Kammer, bereit, das Zyklon-B hineinzuwerfen, das Blausäure freisetzte. An jenem Tag hatte er wahrlich einen Ehrenposten inne, denn nur selten würde es für ihn ein so hochrangiges Publikum geben. Wahrscheinlich war er genauso aufgeregt wie ein Läufer kurz vor dem Start.

Um fünf vor neun war die Spannung fast unerträglich geworden. Der Mann mit der Gasmaske, unter sich ein erfreulich volles Haus, hantierte mit den Zyklon-B-Dosen herum. Aber der Reichsführer SS, der mit Kommandant Höß frühstückte, ließ auf sich warten.

Irgendwo läutete ein Telefon. Alle Köpfe wandten sich dem Geräusch zu. Ein junger Unterführer hastete zu dem SS-Offizier, der für die ganze Operation verantwortlich war, salutierte und stieß außer Atem eine Nachricht hervor. Das Gesicht des SS-Offiziers erstarrte, doch er sagte kein Wort.

Die Nachricht lautete: »Der Reichsführer SS ist noch nicht mit Frühstücken fertig.«

Alle entspannten sich ein wenig. Dann ein weiterer Anruf. Ein weiterer Spurt des schwitzenden Unterführers. Eine weitere Mitteilung. Der Diensthabende fluchte leise und sagte etwas zu den anderen Offizieren um ihn herum.

Allem Anschein nach saß der Reichsführer SS immer noch beim Frühstück. Der SS-Mann auf dem Dach der Gaskammer ging in die Hocke. Im Inneren der Kammer schrien verzweifelte Männer und Frauen, die inzwischen wussten, was eine Dusche in Auschwitz bedeutete, um Hilfe und hämmerten kraftlos an die Tür. Aber niemand draußen hörte sie, da die neue Gaskammer nicht nur gas-, sondern auch schalldicht war.

Aber selbst wenn man sie gehört hätte, hätte es niemanden gekümmert. Die SS-Männer hatten andere Sorgen. Der Morgen zog sich hin, die Überbringer von Nachrichten kamen und gingen. Um zehn war das Marathon-Frühstück immer noch im Gange. Um halb elf waren die SS-Männer fast immun geworden gegen den ständigen falschen Alarm, und der Mann auf dem Dach blieb selbst dann in der Hocke, wenn das Telefon in der Ferne klingelte.

Aber um elf, mit zwei Stunden Verspätung, fuhr ein Auto vor. Himmler und Höß stiegen aus und unterhielten sich eine Weile mit den anwesenden Offizieren der höheren Ränge. Himmler hörte aufmerksam zu, während sie ihm Einzelheiten der Prozedur erläuterten. Er schlenderte zu der gasdichten Tür, warf einen Blick durch das kleine, dicke Guckloch auf das Gewimmel der Körper und kam zurück, um seinen Leuten weitere Fragen zu stellen.

Endlich war es so weit. Ein scharfer Befehl erging an den SS-Mann auf dem Dach. Er öffnete eine runde Abdeckung und ließ das Zyklon-B in die Kammer fallen. Er wusste, alle wussten, dass die Hitze der im Inneren zusammengepferchten Körper dafür sorgen würde, dass das Granulat das Gas binnen Minuten freisetzte. Hastig schloss er die Abdeckung.

Die Vergasung hatte begonnen. Nachdem alle eine Weile gewartet hatten, damit das Gas sich ausbreiten konnte, forderte Höß seinen Gast höflich auf, einen weiteren Blick in die Gaskammer zu werfen. Mehrere Minuten spähte Himmler, sichtlich beeindruckt, hinein, wandte sich dann mit neuem Interesse an den Kommandanten und stellte ihm abermals Fragen.

Was er gesehen hatte, schien ihn zufriedengestellt und in gute Laune versetzt zu haben. Obwohl er nur selten rauchte, ließ er sich von einem der Offiziere eine Zigarette geben und scherzte und lachte, während er eher ungeschickt daran zog.

Die entspannte Atmosphäre bedeutete natürlich nicht, dass das Wesentliche in Vergessenheit geriet. Mehrmals verließ er die Gruppe der Offiziere, um durch das Guckloch die Fortschritte zu beobachten; und als alle in der Kammer tot waren, zeigte er großes Interesse an dem nun folgenden Prozedere.

Mit einem speziellen Lift wurden die Leichen ins Krematorium gebracht, aber sie wurden nicht gleich verbrannt. Erst mussten Goldzähne ausgebrochen werden, Haare, die dazu benutzt wurden, die Sprengköpfe von Torpedos21 wasserdicht zu machen, mussten von den Köpfen der Frauen abgeschnitten werden und die Leichen wohlhabender Juden, die man schon im Vorfeld ins Auge gefasst hatte, mussten für den Fall, dass sie versucht hatten, Juwelen – Diamanten vielleicht – in und an ihren Körpern zu verstecken, seziert werden.

Es war eine komplizierte Prozedur, aber die neue Maschinerie, bedient von erfahrenen, geschickten Händen, funktionierte reibungslos. Himmler wartete, bis der Rauch über den Schornsteinen dichter wurde, dann sah er auf die Uhr.

Ein Uhr. Zeit fürs Mittagessen. Er schüttelte den ranghöheren Offizieren die Hand, erwiderte lässig den Salut der niedrigeren Ränge und stieg gut gelaunt mit Höß ins Auto.

Der Betrieb in Auschwitz war angelaufen. Und zwar in einer Größenordnung, angesichts derer der kleine alte Jankel Meisel nur verwundert und ungläubig den Kopf geschüttelt hätte. Er hatte nie große Ambitionen gehabt, und die Vorstellung von einer derart rationellen Massenvernichtung wäre für sein schlichtes Gemüt unbegreiflich gewesen.

Aber schließlich hatte er auch nie von der Endlösung gehört, geschweige denn von der Rolle, die Auschwitz dabei spielen sollte.

Anmerkungen

9Das Männerorchester im Stammlager wurde unter anderem von dem Komponisten und Dirigenten Adam Kopyciński (1907–1982) dirigiert, der von 1942 bis 1945 in Auschwitz inhaftiert war (Häftlings-Nr. 25294). Nach dem Krieg leitete Kopyciński die Orchester der Krakauer und der Breslauer Oper; 1949 war er Gastdirigent der Warschauer Philharmoniker.

10SS-Sturmbannführer Hans Aumeier (1906–1948) war von Februar 1942 bis Juli 1943 erster Schutzhaftlagerführer in Auschwitz. Im Prozess gegen vierzig Angehörige des SS-Personals von Auschwitz vor dem Obersten Nationalgerichtshof in Krakau (24. November bis 22. Dezember 1947) wurde Aumeier zum Tode verurteilt und hingerichtet.

11Peter Longerich zufolge war Himmler nach seinem Landwirtschaftsstudium 1922 in der Firma Stickstoff-Land-GmbH in Schleißheim bei München als Hilfssachbearbeiter tätig; vgl. Peter Longerich: Heinrich Himmler. Biographie. Berlin: Siedler Verlag, 2008, S. 72.

12Aus: Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen von Rudolf Höß. Eingeleitet und kommentiertvon Martin Broszat. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1958, S. 176ff.

13Zu Himmlers Besuchsprogramm siehe Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1941/42. Im Auftrag der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg bearb., komm. und eingel. von Peter Witte u.a. Hamburg: Hans Christians Verlag, 1999, S. 491ff.

14Anlässlich von Himmlers Besuch erging an alle SS-Führer folgendes »Rundschreiben« vom 17. Juli 1942 zur »Kleiderordnung«: »An sämtliche Führer des Standortes AuschwitzSämtliche Führer des Standortes Auschwitz haben sich am 17. Juli 1942, 20 Uhr im Führerheim einzufinden. Dienstanzug: möglichst lange Hose. i.V. [Unterschrift Mulka] SS-Hauptsturmführer u. Stabsführer« Aus: Standort- und Kommandanturbefehle des Konzentrationslagers Auschwitz 1940–1945. Hrsg. von Norbert Frei, Thomas Grotum, Jan Parcer, Sybille Steinbacher und Bernd C. Wagner. München: K. G. Saur Verlag, 2000, S. 154f.

15Im Juli 1942 wurden in Birkenau noch keine Leichen in Gruben verbrannt. Die Öffnung der Massengräber und die Verbrennung der Leichen begann im September 1942. Vgl. Danuta Czech: Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939–1945. Mit einem Vorwort von Walter Laqueur. Dt. von Jochen August, Nina Kozlowski, Silke Lent und Jan Parcer. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag, 1989, S. 305f.

16In Auschwitz wurden mindestens 1,1 Millionen Menschen ermordet. Vgl. Franciszek Piper: Die Zahl der Opfer von Auschwitz. Aufgrund der Quellen und der Erträge der Forschung 1945 bis 1990. Aus dem Poln. von Jochen August. Oświęcim: Verlag des Staatl. Museums Auschwitz-Birkenau, 1993, S. 202.

17Nach Czech war Himmler das nächste Mal im Sommer 1943 in Auschwitz. Der Anlass seines Besuchs stimmt mit der Darstellung Vrbas überein, Himmler habe den »Betrieb« der Krematorien besichtigt. Vgl. Czech: Kalendarium, S. 374.

18Hier irrt Vrba in der Zeitangabe, siehe Anm. 9.

19Die Krematorien II–V in Birkenau wurden in den Monaten März bis Juni 1943 »in Betrieb« genommen.

20SS-Untersturmführer Walter Dejaco (1909–1978) war von Juni 1940 bis Herbst 1944 Mitarbeiter der Zentralbauleitung der Waffen-SS und Polizei (Abt. Hochbau) in Auschwitz und leitete das Planungsbüro. Gegen Dejaco erstattete der österreichische Auschwitz-Überlebende Hermann Langbein (1912–1995) im Juni 1961 Anzeige bei der Staatsanwaltschaft Wien. Über ein Jahrzehnt dauerte es, bis Dejaco sich vom 19. Januar 1972 bis 10. März 1972 vor dem Landesgericht in Wien zusammen mit dem Mitangeklagten Fritz Karl Ertl zu verantworten hatte. Beide Angeklagten wurden vom Geschworenengericht freigesprochen. Vgl. Sabine Loitfellner: »Auschwitz-Verfahren in Österreich. Hintergründe und Ursachen eines Scheiterns«, in: Thomas Albrich u.a. (Hrsg.): Holocaust und Kriegsverbrechen vor Gericht. Der Fall Österreich. Innsbruck u.a.: Studien Verlag, 2006, S. 183–197.

21Menschenhaar wurde u.a. zur Herstellung von Filz, Garn, Füßlingen, Strümpfen, Seilen und Schiffstauen verwandt. Vgl. Andrzej Strzelecki: »Die Verwertung der Leichen der Opfer«, in: Wacław Długoborski, Franciszek Piper (Hrsg.): Auschwitz 1940–1945. Studien zur Geschichte des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz. Aus dem Poln. von Jochen August. Oświęcim: Verlag des Staatl. Museums Auschwitz-Birkenau, 1999, Bd. II,S. 499f.

ZWEITES KAPITEL

Ein Sohn wie ich

Im Februar 1942 saß ich in Trnava, einer kleinen Stadt in der Slowakei, zu Hause in unserem Wohnzimmer vor einer aufgeschlagenen russischen Grammatik, die allerdings unbeachtet blieb, da ich wusste, dass es in diesem Augenblick keinen Zweck hatte, weiterlernen zu wollen. Ich hörte meine Mutter in der Küche nebenan herumstampfen und mit den Töpfen klappern, als hätten sie ihr etwas getan, ein untrügliches Zeichen dafür, dass es Streit geben würde.

Dafür gab es gute Gründe. Vor einer Stunde hatte ich ihr nämlich gesagt, dass ich nach England gehen wollte, um mich der tschechoslowakischen Exilarmee anzuschließen. Und für meine Mutter, hier in unserem kleinen Trnava, vielleicht fünfzig Kilometer von Bratislava entfernt, war England genauso weit weg wie die unerforschten Dschungel Südamerikas.

Ihre Stimme, triefend vor Sarkasmus, schwang sich über das misstönende Küchenorchester hinweg und drang laut und klar durch die offene Tür zu mir.

»Wieso kletterst du nicht gleich zum Mond und schneidest dir ein Stück Käse davon ab? Aber mach gefälligst, dass du pünktlich zum Abendessen wieder zurück bist!«

Ich sagte nichts. Ein köstlicher Geruch, eine wundervolle Mischung aus Wiener Schnitzel, Apfelstrudel und Bratkartoffeln, lenkte mich vorübergehend von der Diskussion ab, die, wie ich wusste, gerade erst angefangen hatte.

»Ich weiß wirklich nicht, wie wir ausgerechnet an dich geraten sind. Von meiner Seite der Familie hast du das alles jedenfalls nicht. Erst diese Englischlernerei. Und als wäre das noch nicht schlimm genug, jetzt auch noch Russisch. Also wirklich!«

Ein abfälliges Schnauben. Mehr vereinzeltes Geschepper. Gemurmel, das vielleicht mir galt, vielleicht auch dem Schnitzel. Dann: »Russisch! Wieso kannst du nicht einfach einen anständigen Beruf lernen wie alle anderen auch? Wo hast du nur immer diese Flausen her?«

Ich schlug die russische Grammatik zu, ging in die Küche und sagte: »Mama, ich werde mich nicht lammfromm wie ein Schaf abtransportieren lassen.«

Das Geschepper verstummte. Meine Mutter wischte sich die Hände an ihrer riesigen Schürze ab, bedachte mich mit einem langen, durchdringenden, wissenden Blick, seufzte und sagte: »Nein, wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich hast du sogar Recht.«

Dann sprang sie an den Gasherd und riss einen Topf von der Flamme, als gelte es, ein Kind aus der Donau zu retten.

»Jetzt sieh nur, wozu du mich gebracht hast!«, schimpfte sie. »Jetzt habe ich doch glatt die Kartoffeln anbrennen lassen!«

Und das war in unserem Haus ein wirklich unverzeihliches Verbrechen, denn Mama war mit Recht stolz auf ihre Kochkünste.

***

Jede jüdische Mutter hätte sich über einen Sohn wie mich gesorgt, denn in der autonomen slowakischen Republik, die sich durch ihren Präsidenten, den katholischen Geistlichen Jozef Tiso, verpflichtet hatte, Seite an Seite mit den Nazis, ihren Förderern und Gönnern zu kämpfen, hatten Juden nicht nach Höherem zu streben. Im Gegenteil, es war ihnen sogar per Gesetz verboten.22

Dabei ging es Mama gar nicht so sehr um die Gesetze. Für sie war es mehr eine Frage des Gewissens, der Wunsch, das Richtige zu tun. Denn ihr Denken war von den willfährigen Ältesten ihrer Gemeinde derart beeinflusst worden, dass sie ihren Status als Mensch zweiter Klasse mehr oder weniger als angemessen und richtig akzeptiert hatte.

Als ich anfing, Englisch zu lernen, schüttelte sie besorgt den Kopf, wie englische Eltern es vielleicht taten, wenn der Sohn des Hauses sich weigerte, Kricket zu spielen, und sich stattdessen auf Baseball verlegte. Für sie waren meine englischen Sprachübungen etwas überaus Exzentrisches.

Doch als ich dann auch noch mit Russisch anfing, zweifelte sie dermaßen an meinem Geisteszustand, dass sie mit mir zum Arzt ging. Zum Glück hatte der selbst angefangen, Russisch zu lernen, und konnte ihr versichern, dass meine Ambitionen vielleicht ungewöhnlich, medizinisch gesehen aber unbedenklich waren.

Wenn ich auf meine eigene damalige Einstellung zurückblicke, bin ich überrascht, dass auch ich so vieles so selbstverständlich akzeptierte. Ich kann nur vermuten, dass es daran lag, dass die Gesetze, die unsere Rechte beschnitten, so langsam und allmählich eingeführt wurden, dass sie wie zarte Schneeflocken fast unmerklich auf uns herabrieselten.

Bewusst wurden sie mir erst mit fünfzehn, als ich plötzlich nicht mehr aufs Gymnasium durfte. Privatunterricht war mir ebenfalls verboten, und ich durfte nicht einmal für mich allein lernen, eine Vorschrift, die sich natürlich unmöglich durchsetzen ließ und an die ich mich ebenso natürlich nicht hielt. Aber da ich nicht mehr zur Schule durfte, musste ich mir eine Arbeit suchen.